Paulo Coelho Globo 571 Seite 1 Sichtweisen Über die Veränderung

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Paulo Coelho
Globo 571
Seite 1
Sichtweisen
Über die Veränderung
Ein heiliger Mann rief seine Freunde zu sich: „Ich bin
alt“, sagte er.
„Du bist weise“, entgegnete einer seiner Freunde. „Wir
haben dich immer beten sehen. Worüber redest du mit
Gott?“
„Anfangs hatte ich die Begeisterung der Jugend. Ich
bat Gott, mir Kraft zu geben, um die Menschheit zu
verändern. Ganz allmählich begriff ich, dass dies
unmöglich war, also bat ich Gott, mir Kraft zu geben,
diejenigen zu verändern, die mich umgaben.
Jetzt, wo ich alt bin, ist mein Gebet einfacher. Ich
bitte Gott um etwas, um das ich ihn gleich zu Anfang
hätte bitten sollen.“
„Und worum bittest du ihn?“
„Ich bitte ihn, mir zu helfen, mich selber zu
verändern.“
Nichts bleibt.
Ein Novize befand sich in der Küche und wusch
Salatblätter für das Mittagessen, als ein alter, für
seine übermäßige Strenge bekannter Mönch eintrat
„Kannst du mir sagen, was der Abt heute in seiner
Predigt gesagt hat?“
„Daran kann ich mich nicht genau erinnern. Aber es hat
mir sehr gefallen.“
„Ausgerechnet du, der du Gott unbedingt dienen willst,
bist außerstande den Worten derer zu lauschen, die den
Weg zu ihm besser kennen? Das ist der Grund, weshalb die
heutige Generation verdorben ist. Sie achte nicht mehr
auf das, was die Alten ihnen beibringen können.“
Paulo Coelho
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„Schauen Sie, was ich gerade tue: Ich wasche
Salatblätter. Das Wasser reinigt sie, bleibt aber nicht
an ihnen haften. Es läuft durch den Abfluss des Beckens
ab. Genauso können Worte meine Seele läutern, aber nicht
immer im Gedächtnis bleiben.
Ich werde nicht alles in meinem Gedächtnis behalten,
was mir gesagt wird, nur um zu beweisen, dass ich
gebildet und den anderen überlegen bin. Alles, was mich
leichter macht wie Musik und die Worte Gottes, bleibt in
einem geheimen Winkel meines Herzens. Und dort bleibt es
für immer und kommt nur dann hervor, wenn ich Hilfe,
Freude oder Trost brauche.
Das Fenster und der Spiegel
Ein junger Mann bat den Rabbiner um einen Rat für sein
Leben. Dieser führte ihn ans Fenster.
„Was siehst du durch die Scheiben?“
„Ich sehe Menschen vorbeigehen, einen Blinden, der an
einer Straßenecke bettelt.“
Der Rabbiner zeigte ihm einen großen Spiegel.
„Und was siehst du jetzt?“
„Ich sehe mich selber.“
„Und du siehst die anderen nicht mehr. Nun, das
Fenster und der Spiegel sind beide aus Glas gemacht.
Doch im Spiegel siehst du, weil hinter dem Glas eine
feine Silberschicht aufgebracht ist, nur dich selber. Du
solltest dich mit diesen beiden Glasarten vergleichen.
Bist du arm, achtest du auf die anderen und fühlst mit
ihnen. Mit Silber bedeckt – als reicher Mann – siehst du
nur dich selber.“
Übersetzung: Maralde Meyer-Minnemann
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