1 Schönste einer Minderheit Von Josepha Franziska Konsek Ein Gefühl von Trauer hielt sie umfangen; hatte sich der kleinen, muschelförmigen Schönheit wie ein Gürtel aus Blei um den Brustkorb gelegt. Sie und Ihresgleichen, die mit äußerster Sorgfalt Erschaffenen, lagen nun unbeachtet in einem Etwas, das man wohl Tüte nennt. Sie waren zu klein geraten; entsprachen nicht der Norm. Die Kleinste aber Schönste unter ihnen machte sich Sorgen. Weniger um sich selbst, als um die anderen. Diese lagen regungslos in dem Behältnis, während sie sich bereits bis zum Verschluss vorgekämpft hatte. „Was soll nur aus uns werden? Wie nur können wir uns aus der Enge befreien?“, sinnierte sie. Da hatte sie eine Idee! „Hüpfen! Hüpft, Mädels, hüpft!“ Müde, gefangen in Hoffnungslosigkeit fragten sie: „Warum sollen wir hüpfen, was soll das bringen?“ „Fragt nicht, tut es!“ Die Antwort kam in einem Tonfall, der keinen Widerspruch zuließ. Ein kleines Flämmchen Hoffnung züngelte empor, beendete den lethargischen Zustand der rundbauchigen, weißen Wesen im Nu. „Du sollst unsere Anführerin sein!“, riefen sie im Chor. „Zeig uns den Weg zur Erfüllung unseres Daseins. Zeig uns den Weg unserer Bestimmung!“ „Haltet einander an den Händen und bewegt Euch. Springt und tanzt so gut ihr es könnt!“ Sie hüpften, schüttelten sich, tanzten und sprangen solange gegen die Hülle, die sie gefangen hielt, bis diese die kleine Schar in die Freiheit entließ. Eine nach der anderen landete auf der Platte eines Küchentisches. Die Welt um sie herum hatte eine andere Dimension angenommen. Sie waren für zu klein befunden worden, um auf einer edlen Tafel ihren Platz einnehmen zu dürfen, das mussten sie als gegeben hinnehmen. Jedoch die Möglichkeit zur Erweiterung ihres Horizontes, die konnte ihnen niemand nehmen. Die von ihnen gewählte Anführerin, eine ungewöhnlich ebenmäßige Erscheinung für eine Nudel, ergriff einen Zahnstocher und befestigte eine Zwiebelschale daran. Die so konstruierte Fahne hoch haltend marschierte sie hoch erhobenen Hauptes vor den anderen her. 2 „Mädels, ein Lied!“ „Wir singen, wir laufen, wir tanzen durch die Welt. Wir schwimmen, wie fliegen Entspannung ist’s was zählt!“ „Da vorne ist Wasser!“, rief die kleine Nudel aufgeregt. „Wasser mit Salz! Mineralwasser!“ „Auf Mädels, springt hinein! Schwimmt!“ Die Fahne aus Zahnstocher und Zwiebelschale flog in hohem Bogen durch die Luft. Einige Nudeln fragten ängstlich: „Was geschieht nun mit uns?“ Da hörten sie die beruhigende Stimme ihrer Anführerin: „Wir werden schwimmen, viele Abenteuer erleben, und irgendwann landen wir im Ligurischen Meer, versprochen!“ Sie sprangen in das heiße, salzige Wasser. Wohlige Entspannung machte sich breit, ließ ein Glücksgefühl aufkommen. Jedoch, dieses Gefühl war von kurzer Dauer, und schon mussten die Nudeln den Topf verlassen, landeten in einer Schüssel und wurden weiter befördert auf tiefe Teller, von wo aus sie in menschlichen Mündern verschwanden. Sie rutschten in unbekanntes Dunkel. „Gehen wir nun ins Ligurische Meer?“ „Ja, das habe ich Euch versprochen!“, rief ihnen die schöne muschelförmige Anführerin zu. „Wir treffen uns im Ligurischen Meer wieder. Versprochen!“ J.F.K. 13. März 2016