Gisela Greil Dunkle Wolken über den Highlands Roman 1. Kapitel Es ist Samstagnachmittag. Das Wetter ist ausnahmsweise trocken, kein Wölkchen trübt den blauen Himmel und es lässt sich sogar die Sonne blicken. Die Stimmung im Stadion ist ausgezeichnet. Vielleicht hat es ja auch damit zu tun, dass morgen Sonntag und anschließend der Early May Bank Holiday ist und die Zuschauer noch einen zusätzlichen freien Tag haben. Das Fußballspiel läuft schleppend, als plötzlich ein greller Pfiff ertönt. Ein Teil der Zuschauer springt aufgeregt auf und beginnt zu buhen, andere pfeifen. Wieder andere klatschen dem Schiedsrichter Beifall. John Bitchby geht gemächlich auf die junge Spielerin zu. Neben ihr liegt eine sich vor Schmerzen windende Frau am Boden. Er zieht die Rote Karte wegen groben Foulspiels aus der Gesäßtasche seines schwarzen Schiedsrichtertrikots. Erst deutet er in Richtung Elfmeterpunkt und dann hält er die Karte unübersehbar vor dem Gesicht der unfairen Spielerin in die Höhe. Die Frau mit hochrotem Kopf versucht zu protestieren. Sie weiß genau, dass ihre Mannschaft mit einer Spielerin weniger so gut wie verloren hat. Natürlich hat sie keine Chance. Missmutig verlässt sie das Spielfeld. Aber in dieser Beziehung ist John Bitchby hart und das muss er auch sein. Er notiert den Namen und die Spielernummer auf der Rückseite der Karte. Dann kommt es zum entscheidenden Elfmeter kurz vor Ende des Spieles. Es sind fast neunzig Minuten gespielt und es ist immer noch kein Tor gefallen. Ziemlich ungewöhnlich für eine englische Frauenmannschaft, gegen die schottischen Damen haben sie für gewöhnlich fast immer leichtes Spiel. Das zeigt schon die aktuelle Weltrangliste der FIFA vom neunzehnten Dezember zweitausendvierzehn. Während die schottische Frauenmannschaft auf Rang einundzwanzig steht, befindet sich die englische Mannschaft auf Rang sechs. Vielleicht liegt es ja auch daran, dass es sich nur um ein Freundschaftsspiel zwischen dem Liverpool Ladies FC und dem Celtic FC handelt. Die junge Spielerin aus der schottischen Mannschaft legt sich den Ball zurecht und schießt. Tor! Jetzt gibt es kein Halten mehr, die Fans springen von den Plätzen und jubeln. Kurz darauf ertönt der Schlusspfiff. Die schottische Mannschaft gewinnt endlich wieder einmal gegen die meist so überlegenen Konkurrentinnen. Eins zu null, zwar knapp, aber egal. Gewonnen ist gewonnen. John Bitchby und seine zwei Schiedsrichterassistenten gehen in aller Ruhe vom Platz in Richtung Kabinen. Dieses Spiel zu pfeifen hat eigentlich nicht zu seinen Aufgaben gehört, aber ein Kollege hatte ihn darum gebeten. Er selbst musste zur Taufe seines ersten Enkelkindes. Nachdem sich John geduscht, umgezogen und seinen Spielbericht ausgefüllt hat, geht er mit seiner Aktentasche zurück ins Stadion. Er hat es nicht eilig, nach Hause zu kommen. Seine Frau ist mit ihrer Mutter unterwegs und aus Erfahrung weiß er, dass so etwas dauern kann. Er setzt sich in aller Ruhe auf einen Platz auf der Tribüne und zündet sich erst einmal eine Zigarette an. Nach einem langen, tiefen Zug wird er ruhig. Es ist jetzt fast gespenstisch still und die Abendsonne scheint warm auf sein Gesicht. Wieder nimmt er einen tiefen Zug, während er den Platzwart beobachtet, der versucht, schadhafte Rasenstellen gleich auszubessern. Er scheint der Einzige zu sein, der jetzt mit ihm das Stadion teilt. Wieder zieht John an seiner Zigarette und lässt das Spiel Revue passieren. Er ist zweiundfünfzig Jahre alt, circa einen Meter fünfundsiebzig groß und hat eine sportliche Figur mit einem leichten Bauchansatz, was aber seiner Kondition keinen Abbruch tut, wie er eben wieder eindrucksvoll bewiesen hat. Er hat kurzes, circa ein Zentimeter langes dunkelblondes Haar. Einen modernen, einfachen Männerhaarschnitt, der ohne großen Aufwand zu stylen ist. Zum Lesen braucht er mittlerweile eine Brille. Er spürt, dass der Zahn der Zeit auch an ihm nagt. Finlay und Mark, seine beiden Assistenten, haben sich mittlerweile auch umgezogen und sind auf der Suche nach John. »Hier bist du!« Mark sieht John auf der Tribüne sitzen und steuert, dicht gefolgt von Finlay, auf ihn zu. Die beiden sind richtige Greenhorns mit einem jugendlichen Alter von fünfundzwanzig Jahren. John ist ihr großes Vorbild, zu ihm schauen sie auf. So wie er wollen sie auch einmal werden. »Was machen wir noch? Du willst doch nicht etwa nach Hause, oder?« Finlay grinst John an. John macht seinen Zigarettenstummel aus und sieht die beiden etwas überrascht an. Nach eingehender Überlegung beschließen die drei, den Tag mit einem guten Bier ausklingen zu lassen. John steht auf und nach einem kurzen Gespräch mit dem Platzwart machen sie sich auf den Weg zum Parkplatz. Finlay ist mit Mark hier. Sie parken ganz nah am Stadion. Schnell schmeißen die beiden ihre Sporttaschen auf den Rücksitz des alten VW Polos. Der Wagen war zu seinen Glanzzeiten einmal rot, jetzt ist der Lack von der Sonne gebleicht und an einigen Stellen nur noch zart rosa, von den braunen Roststellen einmal abgesehen. Nachdem auch John seine Tasche im Kofferraum seines kleinen, frisch gewaschenen und in der Abendsonne glänzenden schwarzen Daihatsu verstaut hat, geht er mit den anderen quer über den Parkplatz zum Pub. Das Pub gehört praktisch zum Fußballstadion. Nach dem Spiel treffen sich hier die Spieler beider Mannschaften und ihre Fans, um gemeinsam zu feiern. Als die drei eintreten, schlagen ihnen lautes Stimmengewirr und Musik entgegen. Der Gastraum ist voller feiernder Gäste. Die einen feiern den Sieg und die anderen müssen sich die Enttäuschung schöntrinken. Die drei drängeln sich geschickt durch die Menge zur Bar. In der Ecke sind noch zwei Plätze frei. Eine junge Dame sitzt am Tresen und kehrt ihnen den Rücken zu, neben ihr haben die drei noch einen leeren Platz erspäht. »Ist hier noch frei?«, schreit John die junge Frau an. Nicht weil er unhöflich sein will, sondern weil sie ihn sonst bestimmt nicht verstehen würde, es ist einfach viel zu laut. »Na klar!«, kommt es kurz zurück. Johns Schiedsrichterassistenten setzen sich auf die Plätze in der Ecke und grinsen ihn bedeutungsschwanger an. Er schüttelt leicht verärgert den Kopf und bestellt sich ein Bier. Jetzt wendet sich die junge Frau dem Neuankömmling zu. Sie dürfte auch nicht älter als zwanzig bis fünfundzwanzig Jahre sein. Ein dunkelbrauner Bob rahmt das fröhliche Gesicht mit den großen blauen Augen ein. Unverhohlen mustert sie ihn. »Ich kenn dich doch … oder? Moment … nichts sagen … ich komm gleich drauf!« Sie überlegt noch einen Moment und dann beginnt sie zu grinsen. »Mensch, ich hätte dich fast nicht erkannt ohne dein schwarzes Outfit. Du bist doch der Schiedsrichter, oder?« »Stimmt!«, kommt es kurz angebunden von John. Eigentlich will er nur in Ruhe sein Bier trinken, neugierige Frauen kann er jetzt gar nicht gebrauchen. »Du bist der Held des Tages, schließlich hast du uns zum Sieg verholfen!« John sieht die Frau verdutzt an. »Das ist so nicht richtig! Eigentlich ist die englische Spielerin die Heldin des Tages, wenn du es schon so nennst. Wegen ihres Foulspiels musste ich schließlich den Elfmeter geben! Ich habe nur meine Arbeit getan!« »Ich finde trotzdem, dass du der Held des Tages bist! Kann ich dich auf ein Glas Whisky einladen?« »Nein danke, ich trinke keinen Alkohol!« Die junge Frau sieht erst ihn und dann sein Glas Bier etwas verwirrt an. »Und was ist dann … das?« »Das ist ein Glas Bier, hat man dir nicht gesagt, wie man so etwas nennt?« »Moooment … aber Bier ist doch auch Alkohol!« »Nein, Bier ist ein Lebensmittel … kein Alkohol!« »Okay, wenn du meinst! ... Übrigens mein Name ist Elisabeth Brown, nur falls es dich interessiert!« »Eigentlich nicht, außerdem habe ich die Liste mit den Namen der Spielerinnen und da steht deiner auch drauf. Ich könnte also jederzeit nachsehen … wenn ich das will!« »Ist ja schon gut! Du magst mich nicht, oder? Kannst du mir sagen, was ich dir getan habe?« »Nichts, ich will nur einfach in Ruhe mein Bier trinken! Und jetzt gehe ich erst einmal eine rauchen!« »Gute Idee, ich komm mit!« John macht einen tiefen Atemzug und verdreht die Augen, dann rutscht er von seinem Barhocker und macht sich auf den Weg nach draußen, ohne darauf zu achten, was die junge Frau macht. Tapfer kämpft sie sich hinter John durch die Menge. Kaum steht John vor der Tür, ist sie auch schon da. Er lehnt sich mit dem Rücken gegen die Wand und zündet sich eine Zigarette an, dann nimmt er einen tiefen Zug. Er braucht seine Zigaretten, nur mit ihnen lässt sich so manches ertragen. Langsam wird er ganz ruhig. Elisabeth beobachtet ihn die ganze Zeit, ohne ein Wort zu sagen. Irgendwann bricht sie doch das Schweigen. »Ich habe nachgesehen … der Schiedsrichter, der das Spiel heute gepfiffen hat, heißt Thomas Smith, stimmt’s? Du heißt also Thomas?« John lächelt sie an, ohne etwas zu sagen. Er überlegt. Soll er das neugierige Fräulein in dem Glauben lassen, oder soll er sie über seinen Namen aufklären? Er beschließt, Zweites zu tun. »Nein, das ist nicht richtig! Mein Name ist John! John Bitchby. Ich habe das Spiel heute für einen verhinderten Kollegen übernommen!« »Oh … das wusste ich nicht! Also … John! Schön dich kennenzulernen!« Sie hält ihm ihre Hand entgegen und John schlägt lächelnd ein. Das Eis ist gebrochen. »Woher kommst du eigentlich?«, fragt sie unverhohlen weiter. »Dein zweiter Name ist wohl Neugier, oder?« »Ich will doch einfach nur wissen, mit wem ich es zu tun habe!« John zieht wieder an seiner Zigarette und überlegt kurz. »Ich wohne in London und du?« »Ich komme aus Callander!« »Klar … Schottland, was sonst!« »Du sagt das so abfällig, magst du die Schotten nicht?« »Wenn ich ehrlich bin … nein! Nein, ich mag keine Schotten!« »Und warum nicht?« Neugierig mustert sie sein Gesicht, um keine Regung zu verpassen. John atmet tief durch und zieht ein letztes Mal an seiner Zigarette, bevor er sie im Aschenbecher ausdrückt. Dann wendet er sich wieder Elisabeth zu. »Ist lange her, aber ich hatte mal eine Freundin, nein … das ist zu wenig! Ich habe diese Frau wirklich geliebt, verstehst du? Ein Schotte hat sie mir ausgespannt, er war mein Freund, obwohl er genau wusste, dass sie zu mir gehört. Fremdes Eigentum ausspannen … geht gar nicht!« Mit einem verbitterten Gesichtsausdruck schüttelt er den Kopf. »Aber du kannst doch deswegen nicht alle Schotten in einen Topf schmeißen! Es gibt da wirklich verdammt nette Leute, glaub mir!« »Kann sein, interessiert mich nicht! Ich muss jetzt wieder rein, bevor mein Bier schal wird!« John dreht sich um und geht durch die Tür in den Schankraum, dicht gefolgt von … Elisabeth. Als sie wieder an der Bar sitzen, trinkt John sein Bier in einem Zug aus und bestellt ein zweites. Finlay und Mark sitzen immer noch in ihrer Ecke und unterhalten sich angeregt. Elisabeth schaut etwas gelangweilt in die Runde, bevor sie sich wieder ihrem Opfer zuwendet. »Du kommst also aus London, magst du das Stadtleben, hast du immer schon hier gewohnt?« John nimmt einen Schluck Bier und überlegt kurz, ob er ihr antworten soll. So unnachgiebig und hartnäckig, wie die junge Frau ist, wird sie wohl sowieso keine Ruhe geben. Also antwortet er möglichst freundlich. »Nein, ursprünglich komme ich aus Glasgow!« »Ha! Auch ein Schotte!«, fällt sie ihm ins Wort. John beginnt herzhaft zu lachen und schüttelt dabei den Kopf. »Meine Mom hat früher auch in Glasgow gelebt, vielleicht hast du sie ja gekannt!« »Weißt du eigentlich, wie viele Leute in Glasgow leben, ziemlich unwahrscheinlich, dass ich sie gekannt habe! Aber wenn du meinst! Wie hieß deine Mutter früher, ich meine den Mädchennamen, und wie alt ist sie?« »Brown! Lucinda Brown! Meine Mutter wäre … «, sie überlegt kurz, »zweiundfünfzig Jahre alt, sie lebt leider nicht mehr!« »Oh, das tut mir leid!« John überlegt, das kann man seinem angespannten Gesichtsausdruck ansehen. »Ganz ehrlich, ich glaube, ich kann mich sogar an eine Lucinda Brown in meinem Jahrgang erinnern. Ich war erst auf der Craigholme School und dann auf der Highschool of Glasgow.« »Auf der Highschool of Glasgow war meine Mom auch.« John lächelt. »Könnte tatsächlich sein, dass ich sie gekannt habe, was ist mit ihr passiert?« »Sie ist vor drei Jahren an Krebs gestorben!« »Scheiß Krebs … Entschuldigung! Ich habe auch schon Menschen, die mir nahe gestanden haben, durch Krebs verloren! Glaub mir, ich weiß, wie man sich da fühlt!« Beide starren einen Moment auf ihre Gläser, dann nimmt Elisabeth ihr Glas und prostet John aufmunternd zu. Wieder überlegt sie kurz, dann greift sie an ihren Hals. »Ich habe ein Bild von meiner Mutter, willst du es sehen?« »Na klar, gerne!« Er hilft ihr beim Abnehmen des herzförmigen Medaillons, das sie um den Hals trägt. Vorsichtig öffnet er den Deckel. Auf einer Innenseite ist das Bild einer lebenslustigen Frau, die aufs Haar Elisabeth gleicht, und auf der anderen Seite eine Gravur. Ich werde immer über dich wachen! Gerührt schließt er den Deckel und legt das Medaillon vorsichtig in Elisabeths Hand zurück. »Das Medaillon ist das wichtigste, was ich besitze!«, versucht sie zu erklären. Sie legt das Schmuckstück wieder um den Hals und nestelt mit den Händen am Verschluss. »Was machst du eigentlich, wenn du nicht als Schiedsrichter arbeitest?« »Ich bin Tiefbauingenieur! Und du?« »Oh, ich bin seit zwei Jahren im Blair Drummond Safari Park beschäftigt!« »Und was machst du da, Raubtiere vollquatschen?« »Das war jetzt nicht nett!«, kontert Elisabeth etwas beleidigt. »Stimmt! ... Entschuldigung! Also, was machst du dort?« »Ich arbeite im Büro! Kümmere mich um Futterbestellungen und andere organisatorische Sachen!« »Bestimmt ganz interessant«, murmelt John, während er auf seine Armbanduhr sieht. »Was, schon so spät! Tut mir leid, aber ich muss jetzt gehen, sonst bekomm ich Probleme mit meiner Frau! War schön, dich kennenzulernen. Wenn du noch Unterhaltung suchst, da drüben sitzen meine beiden Assistenten Mark und Finlay, die freuen sich bestimmt, wenn du dich ein bisschen mit ihnen abgibst! Tut mir leid, aber ich muss jetzt wirklich gehen!« Er trinkt sein Bier aus und zahlt. Dann rutscht er von seinem Barhocker und wendet sich zum Gehen. »Kannst du mich vielleicht ein Stück mitnehmen?«, hört er Elisabeth hinter seinem Rücken sagen. John atmet wieder tief durch und dreht sich langsam um. »Wo musst du denn hin?« »Richtung Stadtmitte … vielleicht?« »O.k., komm!« Elisabeth zahlt schnell ihre Zeche, während er noch ein paar Worte mit Finlay und Mark wechselt, dann geht er mit ihr im Schlepptau zum Parkplatz. Er drückt die Fernbedienung am Autoschlüssel und die Lichter seines Wagens leuchten kurz auf. Verwundert bleibt Elisabeth vor seinem kleinen schwarzen Daihatsu stehen. »Und da passt du hinein?« »Na klar, der braucht wenig Benzin und kleine Parklücken sind im Londoner Straßenverkehr auch kein Problem!«, versichert er ihr grinsend. »Wenn du meinst, ich dachte nur …!« »Was dachtest du?« »Nichts!« Elisabeth klettert auf den Beifahrersitz und schließt, kurz in Gedanken versunken, die Autotür. John nutzt die momentane Stille und schaltet das Autoradio ein. Schweigend ordnet er sich in den nächtlichen Verkehr ein. Als die beiden die Stadtmitte erreicht haben, bittet Elisabeth John, an die Seite zu fahren. Sie steigt aus und geht zur Fahrerseite. John öffnet das Seitenfenster. »Also vielen, vielen Dank und … ich wünsch dir eine schöne Zukunft!«, verabschiedet sie sich und haucht ihm noch einen Kuss auf die Wange. Sie wendet sich um und geht, ohne sich noch einmal umzudrehen. Jetzt ist er tatsächlich etwas enttäuscht. Hatte er wirklich geglaubt, dass diese junge, attraktive Frau, mehr von ihm will? Irgendwie hat ihn der Gedanke zumindest etwas erregt. Was soll’s! Da habe ich mir wohl etwas eingebildet, denkt er resigniert. Kopfschüttelnd setzt er seine Fahrt nach Hause fort, wo er schon von seiner Frau erwartet wird. Am nächsten Morgen macht er sich schon früh auf, um bei der Tankstelle frische Brötchen zu holen. Er will mit seiner guten Tat die Wogen etwas glätten. Seine Frau war gestern etwas stinkig, weil es so spät geworden ist. Heute will er ihr deshalb besonders viel Zeit widmen. Als er in seinen Wagen steigt, lacht die Sonne schon in voller Pracht vom Himmel, den kein Wölkchen trübt. Bevor er sein Auto startet, fällt ihm ein Glitzern am Boden vor dem Beifahrersitz auf. Als er genauer hinsieht, staunt er nicht schlecht. Das Medaillon von Elisabeth scheint sich selbstständig gemacht zu haben! John hebt es auf. Wahrscheinlich hat sie den Verschluss nicht richtig zugemacht, sinniert er während der Fahrt zur Tankstelle. Was soll er jetzt machen? Er weiß, wie wichtig ihr das Schmuckstück ist. Plötzlich kommt ihm ein Gedanke. Heute ist Sonntag und morgen der erste Montag im Mai, also frei. Er könnte doch … Ich werde meine Frau zu einem Kurztrip überreden und zwei Fliegen mit einer Klappe schlagen!, denkt John. Zufrieden mit seinem Einfall fährt er rasch nach Hause. Leider zeigt sich seine Frau gar nicht so begeistert, wie er sich das erhofft hatte, außerdem hat sie den Tag bereits mit ihrer Freundin im Wellness-Tempel verplant. Und den würde sie nur sehr ungern absagen. Zudem übernachtet sie gar nicht gerne auswärts. Sie hasst es, in Betten schlafen zu müssen, in denen, wer weiß, wer geschlafen hat. »Fahr doch alleine!« Damit waren die Würfel gefallen. John setzt sich nach dem Frühstück an den Computer, um den Safaripark zu googeln. Dass es in Schottland einen Safaripark mit wilden Tieren gibt, ist ihm absolut neu. Nachdem er sein Navi programmiert hat, geht er noch einmal kurz zu seiner Frau. »Ich bin dann so weit. Die Fahrt dauert fast acht Stunden. Es sind vierhundertvierundvierzig Meilen. Aber der Park scheint wirklich sehenswert zu sein. Willst du wirklich nicht mitkommen? Du wolltest doch schon lange wieder einmal nach Schottland. Auf der Strecke gibt es noch mehr Sehenswürdigkeiten.« Sie lehnt dankend ab und versichert ihm, dass sie sich ohne ihn schon nicht allzu sehr langweilen wird, sie hat ja ihre beste Freundin. Da stört ihr Mann sowieso nur, aber das sagt sie ihm nicht, sonst wäre er beleidigt. Und so macht sich John eine Stunde später alleine mit dem Medaillon auf den Weg nach Schottland in das Städtchen Callander. 2. Kapitel Elisabeth Brown ist am Sonntagmorgen mit dem Flugzeug nach Edinburgh zurückgeflogen. Ihr Medaillon hat sie noch nicht vermisst. Nach einer eineinhalbstündigen Autofahrt hat sie am späten Vormittag ihre Wohnung in Callander erreicht. Sie überlegt kurz, wie sie diesen wundervollen, sonnigen angebrochenen Tag wohl am besten nutzen kann und beschließt dann, eine Wanderung auf den Ben Ledi zu machen. Der Ben Ledi ist ein für Schottland recht anspruchsvoller Berg, der achthundertneunundsiebzig Meter hoch ist. Sie sucht bequeme Klamotten und die guten Wanderschuhe heraus und zieht sich in Windeseile um. Elisabeth hat eine kleine Zwei-Zimmer-Wohnung im Zentrum von Callander. Sie ist nicht besonders anspruchsvoll, was ihre Wohnverhältnisse angeht. Tagsüber ist sie in der Arbeit und am Wochenende ist sie viel wandern. Nichts ist ihr lieber, als in der Natur zu sein. Natürlich nehmen auch das Fußballtraining und die Spiele viel Zeit in Anspruch. Kein Wunder also, dass ihr spartanisch eingerichtetes Heim nicht allzu viel Komfort bietet. Wozu auch? Nachdem sie sich umgezogen hat, geht sie noch rasch in die Küche und holt eine Flasche Milch aus dem Kühlschrank. Lächelnd schenkt sie sich ein großes Glas bis zum Rand voll ein und trinkt mit einem Zug das halbe Glas leer. Eiskalt rinnt es die Speiseröhre hinunter und Elisabeth spürt, wie die kalte Milch den Magen füllt. Sie muss an ihre Mutter denken. Von der kalten Milch bekommst du bestimmt Bauchschmerzen, hat diese ihre Tochter immer getadelt. Ihr erster Weg ging nach dem Fußball immer zum Kühlschrank, um einen großen Schluck kalte Milch zu trinken. Manchmal vermisst sie ihre Mom schon sehr. Gedankenversunken greift sie an ihren Hals, um das Medaillon zu drücken. Erst jetzt stellt sie mit Bestürzung fest, dass es nicht da ist. Krampfhaft versucht sie sich zu erinnern, wo sie es zum letzten Mal, bewusst wahrgenommen hatte. Nach kurzer Überlegung kommt sie zu dem Schluss, dass sie es in London, im Hotel, oder im Flugzeug verloren haben muss. Sie beginnt sofort, die in Frage kommenden Stellen anzurufen. Ohne Ergebnis. Nach einer halben Stunde bricht sie resigniert ab. Gleich am Dienstag Früh wird sie weiter versuchen, das so geliebte Schmuckstück wieder zu finden, die Fundstellen sind sonn- und feiertags nicht besetzt. Etwas bedrückt trinkt sie ihre Milch aus, schmiert sich noch ein Sandwich und packt das Brot und eine Flasche Wasser in den Rucksack. Dann macht sich auf den Weg nach draußen. Der kleine grüne Mini glänzt in der Sonne. Es ist wirklich ein wunderbarer Tag. Sie startet den Wagen und ist eine viertel Stunde später auf dem Parkplatz, an dem ihre Wanderroute beginnt. Aus dem Kofferraum holt sie noch rasch eine moosgrüne Regenjacke. In Schottland weiß man nie, was das Wetter macht, und so ist sie für alle Fälle gerüstet. Elisabeth ist eine durchtrainierte junge Frau, der Aufstieg macht ihr mit ihren vierundzwanzig Jahren keine Probleme. Auf dem Weg zum Gipfel hat sie sogar noch genug Luft, um mit Jamie, ihrem Kollegen, zu telefonieren. Jamie Mitchell ist sechsundzwanzig Jahre alt und ein langer, schlaksiger Kerl. Er hat kupferfarbenes lockiges Haar und ist über und über mit Sommersprossen übersät. Seine Augen leuchten in einem zarten Himmelblau. Er sitzt Elisabeth im Büro genau gegenüber und hatte sie von Anfang an sofort ins Herz geschlossen. Ihre natürliche freundliche Art hat ihn gleich fasziniert. Jeans und Turnschuhe, dazu ein T-Shirt, anders kennt er sie gar nicht. Keine Bürotussi, die glaubt, nicht ohne dickes Make-up und High Heels arbeiten zu können. Nein, Elisabeth ist eine Frau, mit der man Pferde stehlen kann, davon ist er überzeugt. »Hallo Jamie! ... Ja, es ist super gelaufen, wir haben eins zu null gewonnen! ... Und was machst du heute? ... Nein, das wäre nichts für mich, ich brauche Bewegung! ... Warum ich so atmen muss? Ich bin gleich auf dem Gipfel vom Ben Ledi! ... Ich sag dir, da verpasst du etwas … eine Wahnsinns-Aussicht heute, glaub mir! Warum ich anrufe, hast du Lust, heute Abend noch etwas trinken zu gehen? ... Ja, gut, dann treffen wir uns um neun im Pub Original! ... Gut, ich freu mich, also dann bis heute Abend!« Ein wenig außer Puste erreicht sie den Gipfel. Eine herrliche Aussicht empfängt sie. Dieser Blick ist die Mühe auf alle Fälle wert. Sie atmet tief durch und lässt die warmen Sonnenstrahlen und die Weite auf sich wirken. Hier oben ist sie glücklich, hier fühlt sie sich ihrer Mutter besonders nahe. Man könnte meinen, dass man die Hand nur auszustrecken braucht, um den Himmel berühren zu können. Und seltsamerweise ist sie im Moment auch noch ganz alleine hier oben. Gut, sie hat einige Leute überholt, aber dass so gar keiner bei dem tollen Wetter hier ist, ist schon ein wahrer Glücksmoment, den sie besonders genießt. Der Aufstieg hat circa eineinhalb Stunden gedauert. Es ist jetzt früher Nachmittag. Sie beschließt, eine kleine Pause einzulegen und die Aussicht ausgiebig zu genießen, bevor sie sich wieder an den Abstieg macht. Etwas abseits vom Gipfelkreuz breitet sie, geschützt hinter einem Felsen, ihre Regenjacke auf dem kargen Boden aus, um sich daraufzusetzen. Aus dem Rucksack holt sie ihr belegtes Brot und die Flasche Wasser. Während sie ins Brot beißt, schweift ihr Blick über die atemberaubend schöne Natur. Blühende Bäume und Sträucher überall, dazu die zarten Grüntöne der Blätter, einfach wunderbar. Von Callander wird behauptet, dass es das Tor zu den Highlands sei, aber noch schöner geht es fast gar nicht, denkt sie. Elisabeth ist oft zum Wandern in der atemberaubenden Natur der Highlands unterwegs. Sie schätzt besonders die Einsamkeit, die man dort genießen kann. Ausflugsziele wie der Ben Ledi oder der Safaripark sind oft von Touristen und Tagesausflüglern so überlaufen, dass sie sich richtiggehend nach der Einsamkeit der Highlands sehnt. Sie trinkt einen kräftigen Schluck Wasser, bevor sie alles zur Seite legt und einfach nur die Aussicht genießt. Sie schließt die Augen und legt sich zurück auf die Jacke. Es weht ein leichter Wind, aber sie spürt ganz deutlich die warmen Sonnenstrahlen auf ihrem Gesicht. Wunderbar, denkt sie noch, bevor sie unter Vogelgezwitscher einnickt. Irgendwann wird sie von Kindergeschrei aufgeweckt. Jetzt war sie doch tatsächlich eingeschlafen. Etwas schlaftrunken reibt sie sich die Augen, dann schaut sie auf die Uhr. Sie hat fast eine ganze Stunde geschlafen, wie konnte ihr das nur passieren? Schnell packt sie alle Sachen in den Rucksack. Ihr Gesicht fühlt sich warm an. Die Sonne hat ganze Arbeit geleistet und jetzt hat sie sich hinter dicken, finsteren Wolken versteckt. Elisabeth schaut prüfend zum Himmel. Da ist es wieder, das launische schottische Wetter. Es wird wohl in Kürze Regen geben, da ist sie sich sicher. Sofort beginnt sie mit dem Abstieg. Sie eilt trittsicher, vorbei an einigen anderen Touristen, steil bergab. Stürmischer Wind setzt ein, er schüttelt die frischen, jungen Blätter der Bäume kräftig durch und kündigt das nahende Unwetter an. So sehr sich Elisabeth auch beeilt, der Regen ist schneller. Notdürftig von der Regenjacke geschützt läuft sie weiter. Es gießt mittlerweile wie aus Kübeln. Der Wind weht ihr immer wieder die Kapuze der Regenjacke vom Kopf. Sie spürt wie ihre Hose vor Nässe an den Oberschenkeln klebt. Das Wasser läuft von der Jacke nach unten über die Hose bis in die Schuhe. Als es auch noch zu donnern und blitzen beginnt, beschließt sie, unter einem großen Felsvorsprung Schutz zu suchen und erst einmal den größten Regen abzuwarten. Dicht an den Felsen gekauert wartet sie nun auf das Ende des Frühlingsgewitters. Der starke Wind treibt den Regen schwallartig immer wieder in ihre Richtung, Schutz vor Wind und Regen findet man nirgends, auch nicht unter Felsvorsprüngen. Grelle Blitze lassen Elisabeth immer wieder zusammenzucken. Tapfer zählt sie, bis der Donner einsetzt, um zu wissen, wie weit das Unwetter noch entfernt ist. Das Gewitter kommt ganz nahe, sie kann nur noch bis drei zählen. Nach einer Weile merkt sie, dass sich das Gewitter entfernt. Von Blitz zu Blitz verlängert sich der Abstand zwischen Blitz und Donner. Ihr Haar hängt nass aus der Kapuze der Regenjacke und nach kurzer Zeit, beginnt sie zu frösteln. Zur selben Zeit sitzen vier Männer im Pub The Crown am Fuße des Berges. Die vier führen eine so rege Unterhaltung, dass sie gar nicht mitbekommen haben, was draußen für ein Sauwetter herrscht. Auf der einen Seite des Tisches sitzen drei ältere Bauern. Sie haben sonnengegerbte Haut, karierte Hemden und schmutzige Hosen an. Auf der anderen Seite sitzt ein Mann, der wesentlich besser gekleidet ist. Douglas Anderson ist fünfundsechzig Jahre alt, schlank und hochgewachsen. Sein Kopf ist kahl geschoren und eine acht Zentimeter lange Narbe zieht sich über seine gesamte rechte Wangenseite. Seine Haut ist sonnengegerbt und er hat viele Falten um die stahlblauen Augen und auf der Stirn. Sein Bart besteht aus kurzen grauen Bartstoppeln. Er hat etwas Maskulines, Verwegenes, was ihm wahrscheinlich die Narbe verleiht. Er trägt eine dunkelblaue Jeans und einen braunen, grobgestrickten Wollpullover mit dunkelbraunen Lederbesätzen an Schultern und Ellenbogen. Am rechten Ohr glänzt ein goldener Ohrring. Eine teure Uhr und nagelneue Lederstiefel runden sein Erscheinungsbild ab. Er ist definitiv kein einfacher Bauer. Erst streiten die Männer über Politik und den Verfall des Landpreises, aber dann greifen die drei Bauern Douglas Anderson persönlich an. »Ich habe gehört, dass dir schon wieder eine Frau weggelaufen ist!« »Das geht keinen von euch etwas an, außerdem ist sie nicht weggelaufen, sondern ich habe sie zum Teufel geschickt! Zeit, dass ich mir wieder was Jüngeres suche!« Er grinst über das ganze Gesicht, sodass eine Reihe blütenweißer Zähne zum Vorschein kommt. »Du bist doch verrückt, deine Letzte war doch kaum älter als dreißig Jahre, oder?« »Achtundzwanzig, um genau zu sein, aber das kann euch Alten doch egal sein!« »Und wie alt bist du? Doch bestimmt schon weit über sechzig, oder? Was ist das für ein Lebenswandel? Schämst du dich denn gar nicht? In den letzten fünf Jahren hast du doch nur lauter so junges Gemüse gehabt. Und alle waren nach kurzer Zeit ausgemergelt und nur noch ein Schatten ihrer selbst! Verdammt, was machst du bloß mit den Frauen?« Der alte Mann hat sich richtig in Rage geredet, seine Stimme wird immer lauter. Ein anderer setzt hinzu: »Wie viele waren es, bestimmt fünf oder sechs Frauen, stimmts? Und alle blutjung! Das geht doch nicht mit rechten Dingen zu!« »Ich will eben nicht so leben wie ihr, seht eure Frauen doch an! Ich würde mit keiner freiwillig ins Bett steigen! Ihr tut mir alle leid. Wenn ich will, kann ich jede haben!« Großspurig baut er sich vor den anderen auf. »Das musst du uns erst beweisen!« »Was meinst du damit?« Douglas Andersons Augen beginnen angriffslustig zu funkeln. Seine Adern treten am Hals und an den Armen noch stärker hervor, so angespannt ist sein Körper. »Beweise es! Die nächste Frau, die zur Tür hereinkommt ...« Douglas Anderson beginnt dreckig zu grinsen. »Aber sie darf nicht älter als dreißig Jahre sein, das muss klar sein!« »O.k.! Die nächste Frau, die zur Tür hereinkommt und nicht älter als dreißig Jahre ist!« »Abgemacht! Was, wenn ich gewinne? Was bekomme ich dann?« »Wieder eine junge Frau, die du verbrauchen kannst?«, schreit ein Zuhörer von hinten. »Halts Maul! Du bist nicht gefragt!«, ruft Douglas wütend. »Also?« Stille. Alle drei überlegen, sie wissen, dass sie sich auf dünnem Eis befinden. Nachdem Douglas voller Ungeduld einen Moment hat verstreichen lassen, schnaubt er und raunt den anderen gefährlich leise zu: »Jetzt passt mal gut auf. Wenn ihr denkt, dass ihr mich einfach so herausfordern könnt, habt ihr euch geschnitten. Ich will einen Einsatz … der richtig wehtut, versteht ihr!« Seine Stimme ist ein bedrohliches Zischen geworden. Eingeschüchtert sehen ihn die drei an. Douglas Anderson verlangt nach einem Stück Papier und einem Stift. Nachdem er etwas auf das Papier gekritzelt hat, reicht er es mit dem Stift den drei Männern und gebietet ihnen, zu unterschreiben. Als der Erste liest, was auf dem Papier steht, protestiert er. »Das kannst du nicht machen, du bringst uns um Haus und Hof!« »So ist es eben, wenn man sich mit mir anlegt, das hättet ihr euch früher überlegen müssen!« Nach weiterem Disput bleibt den Herausforderern nichts anderes übrig, als zu unterschreiben. Alle drei haben ihren gesamten Grundbesitz als Wetteinsatz geben müssen. Nun zittern und bangen sie. Die einzige Chance, die ihnen bleibt, ist die, dass einfach keine Frau unter dreißig Jahren hereinkommt. Es wird still im Pub. Alle starren gebannt auf die Tür. Als der Regen und das Donnern endlich nachlassen, zittert Elisabeth wie ein frisch geschorenes Schaf. Eiligen Schrittes macht sie sich auf den restlichen Rückweg. Der Parkplatz ist mittlerweile leer, nur ihr Wagen steht noch da. Mit einer Decke, die sie aus dem Kofferraum holt, trocknet sie sich notdürftig ab und legt sie dann auf den Fahrersitz, damit die feuchte Hose den Bezug nicht ruiniert. Weit hat sie es nicht nach Hause, aber dort wartet eine kalte Wohnung auf sie und auf die hat sie so gar keine Lust. Deshalb bleibt sie bei einem einladend aussehenden Pub stehen und beschließt, sich etwas aufzuwärmen und eine warme Suppe zu essen, bevor sie sich auf die Heimfahrt macht. Es bleibt dann immer noch genug Zeit, um heiß zu duschen und sich in Schale zu werfen, bevor sie sich mit Jamie trifft. Als sie das Pub betritt, fällt ihr sofort auf, dass eisige Stille herrscht, obwohl der Gastraum gut gefüllt ist. Etwas irritiert sucht sich Elisabeth einen freien Tisch nahe am Kamin. Die Wärme tut ihr gut. Als Douglas Anderson die junge Frau sieht, ist sein Jagdinstinkt geweckt. Genau sein Beuteschema! Dreckig grinst er die drei Bauern an. Und jede Menge Land bekommt er noch dazu. Das scheint ein lohnendes Unterfangen zu werden. Die junge Frau hat praktisch gar keine Chance gegen ihn, seit sie zur Tür hereingekommen ist, sieht er sie als seinen Besitz an. Der Wirt kommt hinter der Bar hervor und steuert direkt auf die junge Frau zu. »Oh, Sie scheinen in einen heftigen Regen gekommen zu sein?« »Ja leider, ich war auf dem Ben Ledi und auf dem Rückweg bin ich in ein Gewitter geraten. Haben Sie von dem Gewitter gar nichts mitbekommen?« Sie schaut den Wirt etwas ungläubig an. »Nein, wenn sich hier die ganzen Leute unterhalten, ist es so laut, da hört man nicht, was draußen passiert! Was kann ich Ihnen Gutes tun?« »Irgendetwas Warmes wäre gut, vielleicht eine Suppe?« »Gerne, bring ich gleich! Etwas zu trinken? Einen Grog vielleicht?« »Nein, danke! Ich muss noch fahren! Aber Tee wäre toll!« »Und wo müssen Sie noch hinfahren, wenn ich fragen darf?« »Nicht sehr weit, ich wohne in Callander!« Mit einem »Aha« verschwindet der Wirt in der Küche. Kurz darauf kommt eine junge Kellnerin mit einer großen Suppentasse voller dampfender Flüssigkeit zurück. Sie stellt die Tasse vor der jungen Frau ab und flüstert ihr schnell etwas zu. »Hüten Sie sich vor Douglas Anderson!« Und dann hört sie auch schon seine wütende Stimme. »Ich würde gerne noch etwas bestellen, wenn du mit dem Geflüster fertig bist!« Als die Kellnerin mit hochrotem Kopf vor ihm steht, packt er sie unsanft mit einem Griff wie ein Schraubstock am Handgelenk und raunt sie wütend an. »Wenn das wegen dir schief geht, nehm ich dich mit und du kannst deine Schulden bei mir abarbeiten! Hast du mich verstanden?« »Welche Schulden?«, fragt sie verschreckt. »Den Wert der Ländereien, die mir dann, dank dir, durch die Lappen gegangen sind!« Sie schüttelt zaghaft den Kopf und windet sich aus seiner schmerzhaften Umklammerung. Dann verschwindet sie schnell in der Küche. Der Wirt bringt Elisabeth den Tee und eine Decke, die er ihr lächelnd um die Schultern legt. Dann versteckt er sich hinter seinem Tresen, um das weitere Geschehen still zu beobachten. Elisabeth löffelt still ihre Suppe, sie kann gar nicht verstehen, dass niemand etwas von dem Gewitter mitbekommen hat. In diesem Pub ist es fast stiller als in einer Leichenhalle. Irgendwann steht jemand auf und schmeißt ein paar Groschen in die Jukebox. Don‘t tell me that it’s over von Amy Macdonald erklingt leise im Hintergrund. Jetzt ist es wenigstes nicht mehr ganz so bedrückend still. Douglas steht auf und geht mit leicht hinkenden Schritten zum Tisch von Elisabeth. »Guten Tag, darf ich mich setzen?« Er lächelt sie freundlich an. »Ja, warum nicht?«, erwidert sie etwas verwundert. »Ich habe gehört, wie Sie mit dem Wirt gesprochen haben. Sie waren auf dem Ben Ledi?« »Ja!« »Das ist mein Hausberg!«, lügt Douglas. »Ich gehe da bestimmt fünf bis sechs Mal rauf, jedes Jahr, meine ich natürlich!« »Natürlich!« Elisabeths Stimme klingt etwas reserviert. Sie mag keine Aufschneider und das hier ist ganz offensichtlich einer von der ganz üblen Sorte. »Kann ich Sie zu irgendetwas einladen!«, flötet er ihr zu. »Nein danke, ich denke, ich habe alles, was ich brauche!« »Schade, kann man wohl nichts machen!« Eine Abfuhr ist er nicht gewohnt, jetzt klingt er leicht verärgert. »Dann entschuldigen Sie die Störung!« »Kein Problem, Sie wollten doch nur nett sein! Ich wünsche Ihnen noch einen schönen Abend!« »Den wünsch ich Ihnen auch!« Die drei Bauern atmen auf, Douglas scheint abgeblitzt zu sein. Gott sei Dank! Zehn Minuten später macht sich Douglas auf den Weg Richtung Toiletten. Er geht durch eine Tür, hinter der sich ein langer dunkler Gang befindet. Links sind die Toilettentüren und auf der rechten Seite ist eine Tür, die zur Küche führt. Douglas hat jedoch ein ganz anderes Ziel. Er geht bis zum Ende des Flurs und huscht dann durch eine Tür, die zum Hinterhof führt. Er läuft, vorbei an den Mülltonnen, direkt auf den angrenzenden Parkplatz. Dort sieht er sich in der Dämmerung um. Schnell ist ihm klar, welcher Wagen der jungen Frau im Pub gehört, denn er kennt so ziemlich jeden in der Gegend und kann alle Wagen auf dem Parkplatz zuordnen bis auf den grünen Mini. Nachdem er kurz überlegt hat, geht er zu den Mülltonnen und stöbert darin herum. Schnell hat er gefunden, was er gesucht hat. Er fischt ein paar große Glasscherben aus einer Tonne und geht zurück zum Parkplatz. Es ist absolut still, er hört nur seinen eigenen Atem, als er aus seiner Hosentasche ein Klappmesser zieht. Mit etwas Mühe sticht er ein Loch in den rechten Vorder- und Hinterreifen. Dann platziert er die Glasscherben um beide Reifen, als ob sie an den Platten schuld wären. Zufrieden mit sich und seiner Arbeit, macht er sich wieder auf den Rückweg ins Pub, genau so, wie er gekommen war. Seelenruhig setzt er sich wieder auf seinen Platz und bestellt sich noch ein Bier. Jetzt muss er nur noch abwarten, bis die Frau ihr Missgeschick entdeckt und ihr dann großzügig seine Hilfe anbieten. Lächelnd streicht er sich mit der Hand über den Hals. Nachdem Elisabeth Brown ihre Suppe ausgelöffelt hat, trinkt sie noch den Rest Tee aus und geht dann zum Wirt, um zu bezahlen und die Decke zurückzugeben. Mit einem wohlig warmen Bauch macht sie sich dann auf den Weg nach draußen. Douglas sitzt mit eisiger Mine da und wartet. Nach einer Weile kommt die junge Frau völlig verdattert zurück in den Pub und geht zum Tresen. »Entschuldigen Sie, gibt es hier Zimmer zum Übernachten?« »Sie wollen ein Zimmer? Tut mir leid, ich habe nur den Gastraum und oben sind meine Privaträume. Ich habe leider keine Zimmer zum Vermieten!« »Wissen Sie, wo ich eine Übernachtungsmöglichkeit bekommen kann?« »Aber Sie sagten doch, dass Sie aus Callander sind, warum fahren Sie nicht einfach nach Hause?« »Das ist ja mein Problem!« Sie sieht den Wirt mit zerknirschtem Gesicht an. »Als ich eben in den Wagen steigen wollte, habe ich festgestellt, dass ich zwei Platten habe. Auf dem Parkplatz liegen Glasscherben und zwar ziemlich große und kantige! Einen Ersatzreifen hätte ich ja, aber zwei …«. »Da liegen Scherben, kann ich mir gar nicht vorstellen!« Douglas steht auf und geht zu den beiden am Tresen. »Kann ich irgendwie behilflich sein?« »Danke, aber ich glaube, mir kann im Moment keiner helfen!« »Sie suchen eine Übernachtungsmöglichkeit, habe ich mitbekommen?« »Ja! Wissen Sie, wo ich noch ein Bett bekomme?« »Bei mir!« Er sieht sie mit glühenden Augen an. Elisabeth muss schlucken. Dann beginnt sie zu lächeln. »Nein Sir, nicht so eine Übernachtungsmöglichkeit!« Douglas spielt den Entrüsteten. »Sie werden mir doch jetzt nichts Unmoralisches unterstellen wollen, oder?« »Nein, natürlich nicht!« Elisabeth fühlt sich ertappt und bekommt einen roten Kopf. »Ich habe ein großes Haus mit vier geräumigen Gästezimmern und keine Hintergedanken, glauben Sie mir, bitte!« Er hebt schwörend die Finger ans Herz. »Entschuldigung, wenn Sie wirklich genug Platz haben, nehme ich ihr Angebot natürlich gerne an!«, flüstert sie eingeschüchtert. »Gut, abgemacht! Um ihren Wagen kümmern wir uns dann gleich morgen Früh! Gehen wir!« Er legt noch rasch ein paar Geldscheine für seine Zeche auf den Tresen und holt seine Jacke. Dann bittet er Elisabeth galant, vorauszugehen. Er folgt ihr in kurzem Abstand. Als er am Tisch der drei Bauern vorbeigeht, zieht er den Zettel aus der Tasche und winkt den blassen verdatterten Bauern damit zu. Es scheint, als hätten sie eben ihren ganzen Grund und Boden verspielt. Douglas Anderson folgt Elisabeth auf den Parkplatz. Er drückt auf die Fernbedienung und sein knallroter Porsche Cayenne blinkt kurz auf. Elisabeth ist keineswegs überrascht. Ein so großes Ego braucht einen so großen auffälligen Wagen. Sie muss kurz an John Bitchby denken, nein, so etwas hat Bitchby nicht nötig. Dieser Mann überzeugt mit Klasse. Sie muss bei dem Gedanken an ihn schmunzeln. »Was ist so lustig, gefällt Ihnen mein Wagen nicht?« »Nein, nein! Ein tolles Auto, gefällt mir, ganz ehrlich!« Er öffnet ihr galant die Beifahrertür. Als sie im Wagen sitzt, fällt ihr wieder ihre Verabredung mit ihrem Kollegen Jamie Mitchell ein. »Stört es Sie, wenn ich kurz telefoniere?« »Nein, absolut nicht!«, versichert ihr Douglas, während er den Wagen startet. »Jamie … ja … du, ich muss unsere Verabredung für heute Abend absagen … nein ich habe mein Auto auf einem Haufen Glasscherben geparkt und dafür zwei platte Reifen kassiert. Nein, ich lass das morgen Früh gleich in Ordnung bringen … ja, ich weiß, dass morgen ein Feiertag ist, aber ich hoffe, dass man mir an einer Tankstelle weiterhelfen kann. Ich melde mich dann morgen bei dir ... Nein, mach dir keine Sorgen … ich habe schon einen Schlafplatz für die Nacht … nein, es ist alles o.k.! Ja … bis morgen.« Douglas hat ihrer Unterhaltung mit finsterer Miene und viel Aufmerksamkeit verfolgt, obwohl er getan hat, als ob er gar nicht zuhört. Nach einer Weile fragt er vorsichtig nach. »Das war wohl Ihr Freund, oder? Er macht sich sicherlich Sorgen!« »Nein, ich habe keinen Freund. Das war mein Arbeitskollege. Eigentlich wollten wir heute Abend noch etwas trinken gehen. Aber jetzt musste ich ihm leider absagen und das nur wegen meiner Schussligkeit!« Erleichterung macht sich bei Douglas breit, er atmet tief durch. »Der Parkplatz ist ziemlich dunkel, ich hätte die Scherben garantiert auch übersehen. Schuld hat eigentlich nur der Wirt, wenn Sie mich fragen. Er hat seinen Parkplatz sauber zu halten!« »Sie haben natürlich recht, aber ein bisschen muss ich mich schon über mich selber ärgern.« Es ist bedrückend still im Wagen, nur das leise Summen des Motors ist zu hören. Douglas atmet wieder tief durch und versucht, noch mehr über Elisabeths Lebensumstände in Erfahrung zu bringen. »Leben Ihre Eltern auch in Callander?« »Nein, meinen Dad habe ich gar nicht kennengelernt, der hat sich aus dem Staub gemacht, als meine Mom mit mir schwanger war, und meine Mom ist vor drei Jahren gestorben!« »Und kein fester Freund! Das klingt ja gerade so, als ob sie ganz allein auf der Welt wären!« »Wenn ich so richtig darüber nachdenke … stimmt eigentlich! Aber das ist mir noch nie so richtig aufgefallen. Ich habe, Gott sei Dank, viele Freunde. Alleine bei meinem Fußballverein und dann in der Firma. Nein, nein … ich bin nicht alleine!« Sie lächelt Douglas freundlich an. »Und Sie, haben Sie Familie?« »Nein, ich lebe mit einer Haushälterin und einem Verwalter in einem viel zu großem Haus, keine Kinder, keine Frau. Dieses Glück war mir wohl nicht vergönnt.« »Und was machen Sie beruflich, wenn ich fragen darf? Ein einfacher Bauer sind Sie doch bestimmt nicht?« Douglas lacht hell auf. »Nein … kein einfacher Bauer, aber die Richtung stimmt schon!« »Wie meinen Sie das?« »Ich züchte schottische Hochlandrinder, unter anderem Highland Cattle! Ein recht einträgliches Geschäft. Das Fleisch ist cholesterinarm und sehr saftig. Es wird immer mehr geschätzt. Also, ich kann über Absatzprobleme nicht klagen. Gerade habe ich beschlossen, meine Herden noch weiter zu vergrößern, ich bin völlig unerwartet zu einigen sehr schönen Weideflächen gekommen!« »Das freut mich für Sie, aber sind das nicht die schönen Rinder, die wie zu groß geratene Teddybären aussehen?« »Genau die!« »Und die werden geschlachtet und gegessen?« Sie sieht Douglas mit leichtem Entsetzen an. »Natürlich, wirklich besonders schmackhaftes Fleisch, was diese Biester produzieren!« Er biegt in einen Waldweg ein und kurz darauf taucht ein sehr beachtliches Herrenhaus vor ihnen auf. »Wir sind da!« »Wow!«, ist alles, was Elisabeth im Moment einfällt. Staunend steigt sie aus dem Auto, nachdem Douglas vor der Eingangstür gestoppt hat. Zwei große Marmorsäulen und eine dreistufige Marmortreppe weisen zum Eingang. Das riesig wirkende Haus hat an der Front drei Fensterreihen mit je acht Fenstern in Dunkelgrün und dunkelgrünen Fensterläden. Die Eingangstür ist auch dunkelgrün und zweiflüglig. Das Grün bietet einen wunderbaren Kontrast zu der schneeweißen Fassade. Ein alter, griesgrämig dreinschauender Mann kommt aus dem Haus. Er trägt eine schäbige Harris-Tweed-Jacke und ein typisches britisches Country Cap. »Sir?« »Ah, Roy! Wir haben Besuch, das ist … Ich weiß noch gar nicht, wie Sie eigentlich heißen?« »Oh, stimmt! Entschuldigung! Mein Name ist Elisabeth Brown!« »Da fällt mir ein, ich glaube, ich habe mich auch noch nicht vorgestellt! Gestatten, mein Name ist Douglas Anderson!« Sie macht einen Knicks und beginnt zu lachen. »Ich gestatte!« »Roy! Können Sie bitte den Wagen in die Garage bringen. Ich brauche Sie dann heute nicht mehr!« »Ist gut, Sir! ... Ma’am!« Er nickt ihr kurz zu, nimmt die Autoschlüssel entgegen und setzt sich in den Wagen. »Kommen Sie!« Douglas nickt ihr aufmunternd zu und schubst sie ins Haus. Der Eingangsbereich ist im Kolonialstil eingerichtet, mit dunklen, fast schwarzen Möbeln, edlen Gemälden und Teppichen. Fast wie aus einer anderen Zeit. Elisabeth sieht sich staunend um. Ein Gedanke drängt sich ihr auf, der sie wieder schmunzeln lässt. Jetzt fehlt nur noch, dass ein dunkelhäutiger Sklave ums Eck kommt und Douglas Anderson mit Massa anredet. »Lassen Sie mich an Ihren Gedanken teilhaben?« Douglas mustert sie eindringlich und reißt Elisabeth mit einem verächtlichen Ton aus ihren Überlegungen. Verlegenheit und Unsicherheit machen sich bei Elisabeth breit. Weiß er, was sie denkt? Nein, das kann nicht sein. Sie schüttelt kurz den Kopf und lächelt dann Douglas beschwichtigend an. »Entschuldigung, mir kam die Einrichtung irgendwie bekannt vor. Hier sieht es fast wie … im Film ›Vom Winde verweht‹ aus!« »Ich weiß, was Sie meinen … und was Sie jetzt denken!« Seine Augen beginnen zu funkeln. »Glauben Sie mir, das war bestimmt keine schlechte Zeit damals.« »Kommt darauf an für wen, die Sklaven hatten bestimmt nichts zu lachen!«, kommt es etwas feindseliger als gewollt aus ihrem Mund. »Oh, Sie möchten sich über Politik mit mir unterhalten, schön! Sie fangen an, mich zu amüsieren. Ich möchte noch mehr von Ihren Ansichten hören, wenn ich darf. Gehen wir doch noch auf einen Drink ins Wohnzimmer!« »Gerne!« In Elisabeth ist die Lust zum Streiten geweckt. Douglas kann ihre Angriffslust förmlich spüren. Er mag Frauen, die glauben, ihn belehren zu können, und er freut sich darauf, sie in ihre Schranken zu weisen. »Kommen Sie!« Er öffnet eine große, schwere, kunstvoll geschnitzte Tür und dahinter kommt ein riesiges Wohnzimmer zum Vorschein. Eine braune Chesterfield Sitzgruppe aus Leder dominiert den Raum. An den blutroten Wänden stehen dunkle Mahagonischränke und Regale, die mit alten, kostbaren Büchern bestückt sind. In einem riesigen offenen Kamin lodert der Rest eines kleinen Feuers. Douglas nimmt ein großes Holzscheit und schmeißt es in die Glut, kurze Zeit später lodert wieder ein gemütliches Feuer im Kamin. Es spendet wohlige Wärme und ein angenehmes, warmes Licht. »Setzen Sie sich doch, was darf ich Ihnen anbieten? Wein, Sherry oder ein Glas Whisky?« »Nein danke! Ein Glas Wasser vielleicht?« Etwas enttäuscht nickt Douglas und eilt hinaus. Kurze Zeit später ist er mit einer großen Karaffe Wasser zurück. Er stellt sie mit einem Trinkglas vor Elisabeth auf den Tisch. Dann holt er sich ein Glas Whisky aus der gut bestückten Bar und setzt sich ihr gegenüber. »Also … worüber möchten Sie sich unterhalten?« Amüsiert blickt er sie an. »Ich würde sagen … bleiben wir doch bei dem Thema, das wir gerade angeschnitten hatten, oder kneifen Sie?« »Mutig, mutig! Warum sollte ich kneifen?« »Ihre Aussage, dass die Zeit damals nicht schlecht war, war hoffentlich nicht ernst gemeint, oder?« »Was ist an dieser Aussage falsch? Die Menschen hatten Arbeit, Essen und einen geregelten Tagesablauf!« Elisabeth lacht hell auf. »Das meinen Sie jetzt nicht ernst oder? Wir reden von den Sklaven, die mit der Peitsche ausgebeutet wurden! Ich denke, das war wohl die düsterste Zeit in der Geschichte von Amerika und wenn wir schon dabei sind: Wir Engländer haben uns auch nicht mit Ruhm bekleckert.« Sie hat sich richtig in Rage geredet. Douglas sieht sie überrascht an. So viel Feuer hätte er ihr gar nicht zugetraut. »Der Sklavenhandel hat Großbritannien doch erst groß und reich gemacht«, kontert er. »Die ganzen Kolonien, nein, meine Liebe, das soll jetzt alles falsch gewesen sein? Sie sind gewaltig im Irrtum, wenn Sie glauben, dass England ohne die Sklaverei je zu so einer Macht und Weltherrschaft gekommen wäre. Wir waren damals auf den Sklavenhandel angewiesen! Was glauben Sie, wer hätte die Felder in den Kolonien bestellt, wer hätte Baumwolle, Getreide, Kaffee, Tabak oder Zuckerrohr angebaut oder geerntet? Nein, der Sklavenhandel und die Sklavenarbeit waren notwendig für das Britische Empire!« »Mein Gott, wie kann man nur so menschenverachtende Reden schwingen. In welcher Zeit leben Sie?« Elisabeth sieht Douglas mit entsetzten Augen an. Sie kann nicht glauben, was sie da eben gehört hat. Douglas hingegen ist sich keiner Schuld bewusst. Was er gesagt hat, ist für ihn keine Meinung, sondern eine Lebenseinstellung. Für ihn sind die meisten Menschen nur Mittel zum Zweck, besonders Frauen. Kopfschüttelnd steht Elisabeth auf. Sie ist stinksauer und wütend. »Ich denke, eine weitere Unterhaltung hat wohl keinen Sinn. Unsere Meinungen trennen Welten. Wir werden wohl keine Freunde werden. Wenn Sie mir jetzt bitte zeigen würden, wo ich heute Nacht schlafen kann, wäre ich Ihnen sehr dankbar!« »Natürlich, gerne!« Douglas bleibt ruhig und gelassen, für ihn steht fest, dass er die besseren Argumente hatte. Nur wer sich nicht mehr zu helfen weiß, tritt freiwillig den Rückzug an. »Ich finde es schade, dass Sie schon zu Bett gehen, vielleicht hätte ich Sie ja doch noch von meiner Meinung überzeugen können!«, beginnt er wieder zu sticheln. »Ganz bestimmt nicht!« Elisabeth wirft ihm einen finsteren Blick zu. Douglas geht amüsiert voran. Eine große geschwungene Treppe bringt die beiden ins obere Geschoß, wo mehrere Türen nebeneinander angeordnet sind. Er öffnet eine der Türen und geht hinein. Elisabeth folgt ihm zögerlich. Auch in diesem Zimmer stehen dunkle Mahagoni-Möbel. Das große Bett mit dem dunkelroten Baldachin muss jedem Besucher sofort ins Auge fallen. Eine wunderbare Arbeit eines überaus geschickten Künstlers, hoffentlich keines Sklaven, denkt sie kurz, verwirft den Gedanken aber gleich wieder, weil er ihr so abwegig erscheint. Filigrane Schnitzereien an allen vier Bettpfosten und an Kopf- und Fußteil des Bettes. An den Wänden sind edle Seidentapeten und die Vorhänge an den beiden großen Fenstern sind vom gleichen dunkelroten Stoff wie der Baldachin. Elisabeth sieht sich bewundernd um. »Ein wunderbares Zimmer, ich muss zugeben, Sie haben einen edlen Geschmack! Wenn wir auch in Sachen Menschenrechte offensichtlich nicht der gleichen Meinung sind!« Sie kann sich einen kleinen Seitenhieb einfach nicht verkneifen. »Lassen wir das Thema! Ich freue mich, wenn Ihnen das Zimmer zusagt, und wünsche Ihnen eine gute Nacht!«, versucht er sie mit sanfter Stimme wieder versöhnlich zu stimmen. Er dreht sich um, verlässt das Zimmer und geht nach unten in die Bibliothek, wo er zum Telefon greift. »Simon … gut, dass ich dich heute noch erreiche … ja, ich brauche eine Lieferung … dringend … ja, es hat sich ein junges Fräulein zu mir verirrt … gut … ich schicke morgen Früh gleich Roy zu dir … drei Schachteln … genau … so wie immer … gut … ich kann mich darauf verlassen.« Dann nimmt er das Haustelefon und wählt die Nummer von Roy. Ein paar Minuten später betritt Roy die Bibliothek. »Gut, dass du kommst! Du musst morgen wieder eine Lieferung abholen!« »Aber Sir, denken Sie nicht, dass das Ganze etwas zu riskant wird. Alice haben wir erst vor vier Wochen nach London gebracht, bald wird man unangenehme Fragen stellen.« »Das lass nur meine Sorge sein, ich dachte ja auch, dass eine größere Pause von Nöten ist, aber diese Bauern … ich musste es einfach tun. Die gute Nachricht ist, dass sich mein Grundbesitz um einige Hektar erweitert hat und wir die Rinderzucht wieder einmal vergrößern können.« »Ja Sir … wie Sie meinen, Sir! Was wird mit der Frau? So wie immer?« »Ich weiß noch nicht genau, aber es wird wohl darauf hinauslaufen!« »Ich fahre dann morgen, wenn es hell wird, gleich zu Mister Landon!« »Mach das, und ich sage dir dann, wie wir weiter vorgehen! Gute Nacht!« »Gute Nacht, Sir!« Roy schleicht aus der Bibliothek und Douglas trinkt in Ruhe seinen Whisky, während er überlegt, was er mit Elisabeth macht. Eigentlich ist ihre Art sehr erfrischend, eine Frau, die ihm so energisch widerspricht, ist wohl eher selten, aber auf der anderen Seite, ist die Gefahr, die von einer eigenständig denkenden Frau ausgeht, einfach zu groß für ihn. Er trinkt seinen Whisky aus und macht sich auf den Weg, in sein Schlafzimmer. 3. Kapitel John Bitchby ist nach einer schier endlos scheinenden Fahrt am späten Nachmittag in Callander angekommen. Er muss sich über sich selber ärgern, er hatte die Strecke einfach unterschätzt. Es wäre wohl besser gewesen wenn er bis Glasgow geflogen wäre und die restliche Strecke dann mit einem Mietwagen zurückgelegt hätte. Dann wäre er schon lange hier angekommen und hätte bereits mit Elisabeth Kontakt aufnehmen können. So bleibt ihm nur der morgige Vormittag, bevor er sich mittags wieder auf den Weg nach London machen muss. Er hat in einer kleinen Bed-and-Breakfast-Pension eingecheckt und ist anschließend ausgiebig essen gegangen. Mit gut gefülltem Magen und nach reichlichem Bierkonsum macht er sich wieder auf den Weg zu seiner Pension. Sein Zimmer hat einen kleinen Balkon und die Zimmerwirtin hat ihm das Rauchen auf dem Balkon erlaubt. So macht er es sich mit seinem Handy und seinen Zigaretten auf einem Plastikstuhl auf dem Balkon bequem. Nach dem Gewitterregen ist die Luft frisch und klar, das muss Bitchby sofort ändern. Er zündet sich eine Zigarette an und legt seine Beine auf das Balkongeländer, dann ruft er seine Frau an, um ihr zu sagen, dass er gut angekommen ist. Er holt das Medaillon aus seiner Jackentasche und öffnet es. Eine hübsche Frau, die Mutter von Elisabeth. Er versucht, sich krampfhaft daran zu erinnern, ob er wirklich mit ihr zur Schule gegangen ist. Doch je länger er überlegt, desto müder wird er, das Bier und die lange Fahrt zeigen Wirkung. Also beschließt er, schlafen zu gehen und das Grübeln auf den nächsten Tag zu verschieben. Am nächsten Morgen wird er unsanft geweckt. Am Abend zuvor hat er die Kirche neben seiner Pension gar nicht wahrgenommen. Die Glocken, die jetzt seinen Schlaf stören, sind allerdings nicht zu überhören. Schlaftrunken steht er auf und wankt zum Balkon. Nachdem er die offene Balkontür geschlossen hat, sucht er in seiner Reisetasche nach einer Flasche Cola. Morgens fühlt er sich oft wie mindestens achtzig Jahre alt, besonders, wenn der Vorabend etwas feuchtfröhlich verlaufen ist. Das Atmen fällt ihm schwer und sein morgendlicher Husten hört sich gar nicht gut an. Die vielen Zigaretten haben eben ihre Spuren hinterlassen, denkt er etwas resigniert und macht sich auf, um zu duschen. Nach einer ausgiebigen kalten Dusche fühlt er sich frisch und ist wieder voller Tatendrang. Gleich nach der ersten Zigarette auf dem Balkon geht er frühstücken, dann will er in den Safari Park, um nach Elisabeth Brown zu fragen. Vielleicht bekommt er ja ihre Handynummer, dann könnte er sie anrufen, einen Treffpunkt ausmachen und ihr das Medaillon persönlich übergeben. Wenn nicht, will er es einfach im Büro abgeben, damit es an die rechtmäßige Besitzerin weitergeleitet wird. Aber lieber würde er es persönlich abgeben. Erstens, weil er Elisabeth mag und zweitens, weil er ihr Gesicht sehen möchte, wenn sie erfährt, dass er extra den weiten Weg gemacht hat, um ihr das geliebte Schmuckstück zu bringen. Ein bisschen fühlt er sich als Held. Das Frühstück in der Pension ist gut und reichlich. John Bitchby ist sehr zufrieden. Nach dem Essen macht er sich gleich auf den Weg in den Blair Drummond Safari Park. Voller Vorfreude auf ein Wiedersehen mit der jungen hübschen, neugierigen Elisabeth Brown. Elisabeth ist inzwischen auch wach geworden. Verschlafen schaut sie sich um, langsam dämmert es ihr wieder, wo sie sich befindet. Bei Douglas Anderson. Irgendwie ist ihr der Mann unsympathisch und das nicht erst seit dem Gespräch gestern Abend. Sie findet ihn arrogant und selbstverliebt. Außerdem scheint er Gerechtigkeitsempfinden nicht unbedingt mit dem Löffel bekommen zu haben. Was ist das für ein Mensch, der Sklaverei gut findet, und das in der heutigen aufgeklärten Zeit? Sie beschließt, seine Gastfreundschaft so wenig wie möglich zu strapazieren und gleich nach dem Frühstück zu verschwinden. Im angrenzenden Bad findet sie neue Pflegeartikel vor. Sie nimmt sich eine Zahnbürste, Kamm, Zahnpasta und Duschbad aus einem Körbchen und geht unter die Dusche. Irgendwie fühlt sie sich nicht besonders wohl. Elisabeth weiß nicht, ob es an der fragwürdigen Gesellschaft dieses Mannes liegt, oder ob sie sich bei dem gestrigen Gewitter eine Erkältung eingefangen hat. Auf jeden Fall will sie so schnell wie möglich verschwinden. Nach einer ausgiebigen Dusche findet sie zu ihrer Überraschung ihre Kleidung frisch gewaschen und gebügelt auf einem kleinen Tischchen neben der Tür wieder. Nachdem sie sich angezogen hat, macht sie sich, leicht verwirrt, auf den Weg nach unten. Die Haushälterin, Miss Green, wartet bereits in der Eingangshalle auf sie. Die Frau scheint zwischen fünfzig und fünfundfünfzig Jahre alt zu sein. Sie hat kurzes, braunes lockiges Haar, wahrscheinlich eine Dauerwelle. Ihre Figur ist eher rundlich, was durch die blütenweiße Rüschenschürze noch betont wird. Nach einem freundlichen »Guten Morgen« bedankt sich Elisabeth bei der freundlichen aber etwas reservierten Frau für das Reinigen und Bügeln ihrer Wäsche. Mehrmals betont sie, dass es nicht notwendig gewesen wäre und sie niemandem Umstände bereiten möchte. Miss Green bringt Elisabeth sofort ins Esszimmer, wo sie von Douglas am gedeckten Frühstückstisch erwartet wird. Als Elisabeth den Raum betritt, legt er seine Zeitung beiseite und steht auf. Er gibt ihr einen galanten Handkuss und rückt ihr den Stuhl zurecht. Es gibt ein typisch englisches Frühstück: Gebratene Würstchen und Blutwurst, gebratener Frühstücksspeck, Baked Beans, Toast, Spiegelei und gegrillte Tomaten. Orangensaft, Earl Grey Tea und eine Flasche Brown Sauce stehen auch auf dem Frühstückstisch. Elisabeth setzt sich etwas verwundert auf den eingedeckten Platz ihm gegenüber. »Darf ich fragen, wie Sie geschlafen haben? Haben Sie alles gefunden, ich meine … im Bad?« »Ja danke, Sie scheinen öfter Besuch zu haben«, erwidert sie freundlich. Douglas sieht mit prüfendem Blick über den Frühstückstisch. »Sollte etwas fehlen, dann sagen Sie es, bitte. Ich bin mir sicher, dass sich in unserer Speisekammer so ziemlich alles finden lässt!« »Nein, nein! Wo denken Sie hin. Ich frühstücke für gewöhnlich gar nicht. Sie müssen wissen, dass ich zu der Sorte Mensch gehöre, die morgens bis zur letzen Minute im Bett bleibt, und dann habe ich einfach keine Zeit, um zu frühstücken. Wenn ich ehrlich bin, schmeckt es mir einfach alleine auch gar nicht so gut. Bei der Arbeit reicht mir dann in der Regel ein Kaffee.« »Aber das Frühstück ist die wichtigste Mahlzeit des Tages, Sie müssen essen, um leistungsfähig zu sein!« Seine Stimme klingt tadelnd und vorwurfsvoll. »Sie hören sich schon wie meine Mutter an!« Elisabeth muss lächeln. »Dann muss ich Ihrer Mutter absolut recht geben!« »Ist ja schon gut!« Elisabeth atmet etwas gequält durch und nimmt sich dann eine Scheibe Toast und ein Spiegelei, dazu ein Glas Orangensaft und eine Tasse Tee mit Milch.« »Was machen wir nach dem Frühstück?«, fragt Douglas mit sanfter Stimme. »Ich denke, ich habe Ihre Gastfreundschaft lange genug in Anspruch genommen, ich werde so schnell wie möglich verschwinden!« »Oh nein, ich freue mich doch über Ihren Besuch, Sie sind doch keine Last!« Ihre Worte scheinen ihn etwas in Panik zu versetzen, verstohlen schaut er auf seine Uhr. »Wie wäre es, wenn ich Ihnen meine Rinderherde zeige. Sie wissen schon, die kleinen niedlichen Teddybären, ich habe ganz viele davon!« Elisabeth überlegt kurz, ja, die Rinder würde sie schon gerne sehen und eigentlich hat sie ja noch Zeit, aber ihre Reifen haben jetzt eindeutig Priorität. Douglas scheint ihre Gedanken erahnen zu können. »Roy soll sich in der Zwischenzeit um ihren Wagen kümmern, was meinen Sie.« »Das Angebot klingt wirklich verlockend! Gut! Sehen wir uns Ihre Rinderherde an!«, lenkt Elisabeth versöhnlich ein. Beruhigt nimmt Douglas sein Handy und wählt die Nummer von Roy an. »Wo bist du, Roy? ... Und, hast du alles bekommen … sehr gut … ich zeige unserem Gast noch die Rinderherden … wenn du dich dann bitte um den Wagen kümmern würdest … gut … wir lassen die Autoschlüssel hier!« »Und?« »Er ist noch unterwegs, ein paar Besorgungen machen. Aber wenn er wieder da ist, kümmert er sich sofort um Ihren Wagen. Ich denke, dass die Reifen ausgetauscht sein werden, bis wir von unserem Ausflug zurück sind!« »Das klingt wirklich wunderbar, also los, lassen Sie uns die kleinen niedlichen Teddybären bestaunen!« Nach dem Frühstück machen sich die beiden mit einem geländegängigen moosgrünen Land Rover auf den Weg zu den Weiden. Douglas schildert ihr alle Vorzüge der kleinen, robusten Tiere mit dem langen Deckhaar. »Die Rinder sind ideal für die ganzjährige Freilandhaltung, weil sie so widerstandsfähig und anspruchslos sind. Eine wirklich uralte Rinderrasse, die bereits zweihundert Jahre vor Christus bei den Römern erwähnt wurde. Es gibt sie in Dunkelbraun, Rotbraun und auch Schwarz. Die Galloways sind eine Rinderrasse der Highlandrinder ohne Hörner. Aber die habe ich weiter oben in den Highlands. Wir fahren jetzt zu einer Weide mit Highland Cattle!« »Und Sie brauchen sich gar nicht um die Tiere kümmern?«, bemerkt Elisabeth verwundert. »Nein, eigentlich nicht. Gut, ab und an muss man mal nach ihnen sehen. Natürlich müssen kranke oder verletzte Tiere aussortiert werden. Sie kalben alleine ohne fremde Hilfe und sind auch mit kargem Futter zufrieden. Ihre kleinen Hufe zerstören den Boden nicht, sie sind ideal für die Landschaftspflege, glauben Sie mir. Eigentlich sind diese Tiere gutmütig und friedfertig trotz ihres furchteinflößenden und imposanten Gehörns. Außerdem züchte ich noch Aberdeen Angus. Auch eine Rasse ohne Hörner, die allerdings etwas schneller wächst als die anderen Rassen. Aber diese Tiere stehen auch auf anderen Weiden. Sie müssten schon ein paar Tage bleiben, damit ich ihnen alles zeigen kann! Aber ich glaube, das möchten Sie nicht, oder?« Er sieht sie lauernd an. »Nein, ich möchte Ihre Gastfreundschaft auf keinen Fall überstrapazieren! Aber Ihre Rinderzucht finde ich wirklich sehr interessant, glauben Sie mir!« »Schon gut, wir sind da!« Douglas stellt den Wagen am Rande eines Feldweges ab und steigt aus. Elisabeth steigt ebenfalls aus und folgt ihm über eine felsige Kuppe. Und dann stehen sie vor einer Herde mit bestimmt hundertfünfzig Tieren. Elisabeth ist überwältigt. Dass Anderson so große Herden besitzt, hatte sie nicht erwartet. »Hier wächst gutes Gras, deshalb sind es so viele, nächste Woche werden die Zweijährigen aussortiert und kommen zum Schlachter, dann reduziert sich die Herde gleich um einige Tiere!« »Sie wollen diese wunderbaren Tiere wirklich schlachten?« »Natürlich, das ist mein Geschäft, davon lebe ich hauptsächlich!« Elisabeth beachtet Douglas nicht weiter, sie hat ein besonders süßes Jungtier in der Nähe entdeckt und geht vorsichtig darauf zu. Zum Glück entdeckt Anderson das Muttertier in der Herde rechtzeitig, das sich gerade aufmacht und sich immer schneller in Richtung Elisabeth bewegt. Dabei beginnt es wütend zu schnauben. Er eilt zu Elisabeth und reißt sie etwas unsanft am Arm zurück. »Sind Sie lebensmüde?« Elisabeth sieht ihn mit großen, verschreckten Augen an, bevor sie ängstlich leise flüstert. »Aber ich wollte doch nur eins streicheln!« »Da hinter dem Kleinen steht seine Mutter, die ist gar nicht begeistert, wenn Sie zu ihrem Jungen gehen. Meine Rinder leben das ganze Jahr draußen. Sie sind Menschen nicht gewohnt und reagieren auch genau so. Schauen Sie mich an. Meine Narbe stammt vom Horn eines erwachsenen Rindes. Ich wollte ihm damals nur helfen, es hatte sich am Fuß verletzt. Das Mistvieh hat mir die ganze Wange aufgerissen, also bitte unterschätzen Sie die Rinder nicht! Das kann verdammt dumm enden«. »Verstanden!« Elisabeth ist total eingeschüchtert, jetzt will sie eigentlich nur noch zurück zu ihrem Wagen. Die hübschen Teddybären machen ihr plötzlich Angst. »Können wir zurückfahren?« Ihre Augen haben einen feuchten Glanz bekommen, sie ist kurz davor, in Tränen auszubrechen. »Wird wohl das Beste sein!« Immer noch verärgert über den Leichtsinn von Elisabeth ruft er Roy an. »Wo bist du … und … gut, beeil dich! Wir machen uns dann auf den Rückweg. Ich denke, wir sind so in einer halben Stunde am Haus!« Der Rückweg verläuft schweigend. Douglas scheint über irgendetwas nachzudenken. Wieder und wieder wirft er einen kurzen Blick auf sein Handydisplay. Roy hat sich nicht mehr gemeldet. Als sie auf der Auffahrt zum Haus sind, sieht er schon von Weiten das Auto seines Verwalters. Erleichtert atmet er durch. Als der Wagen hält, kommt Roy aus dem Haus, er nickt seinem Chef kurz zu und wendet sich dann an Elisabeth. »Ich habe den Reifen in einer Tankstelle mit Reparaturservice in der Nähe geordert, er ist leider noch nicht da. Den Vorderreifen habe ich bereits gewechselt und sowie ich einen Anruf von der Tankstelle habe, wird der zweite Reifen gewechselt. Ich denke, das dürfte bis Mittag erledigt sein, Ma’am!« »Dankeschön für Ihre Mühe! – Dann werden Sie mich wohl oder übel noch zwei Stunden ertragen müssen.« Etwas schuldbewusst sieht sie Douglas an. »Ertragen müssen, was soll das dumme Gerede? Ich habe doch schon mehrmals betont, dass ich mich über Ihre Gesellschaft sehr freue!« »Und jetzt?« Sie sieht ihn etwas ratlos an. »Setzen Sie sich doch in die Bibliothek und schmökern Sie etwas in den Büchern!« »Eine gute Idee!« »Kommen Sie!« Er geht voraus in die Bibliothek. Elisabeth ist sichtlich beeindruckt von den vielen historischen Büchern. »Haben Sie die alle gelesen?« »Nein, ich halte Lesen für verschwendete Zeit!« Vor einer halben Stunde klang er noch richtig besorgt, aber jetzt klingt seine Stimme wieder genau so arrogant und unsympathisch wie gestern. »Warum habe ich nur gefragt«, flüstert sie und wendet ihm den Rücken zu. Douglas setzt sich in einen bequemen großen Ohrensessel und beobachtet sie. Jede Bewegung, jede Regung, nichts entgeht seinen wachsamen Augen. Elisabeth fühlt sich gar nicht wohl so unter seiner Beobachtung. Er ist wie ein Wolf, der kurz davor ist, seine Beute zu reißen. Schnell nimmt sie irgendein Buch und setzt sich in den Ohrensessel gegenüber von Douglas. Vorsichtig blickt sie zu ihm auf. Seine Augen glühen förmlich wie flüssige Lava, kalt und heiß zugleich. Dazu der fast maskenhafte Gesichtsausdruck. Er atmet langsam und schwer, während er sie die ganze Zeit anstarrt. Die Situation wird für Elisabeth fast unerträglich. Sie fühlt sich wie eine Maus, die vor der Schlange sitzt. Wann wird sie zuschnappen? Irgendwann bricht Douglas das Schweigen. »Können Sie sich vorstellen, bei mir zu bleiben?« Seine Stimme klingt heiser und bedrohlich leise. Elisabeth wird heiß und kalt. Sie muss bei dem Gedanken benommen schlucken. »Wie meinen Sie das?«, flüstert sie. »So wie ich das sage, können Sie sich vorstellen bei mir zu leben?« In Elisabeth steigt Angst auf. Was will er von ihr? Warum diese Frage? Mit zitternder Stimme versucht sie, möglichst laut und selbstbestimmt zu antworten. »Ich glaube nicht, dass ich das möchte, außerdem muss ich wöchentlich zum Fußballtraining.« »Ach ja, das Fußballtraining.« Er lächelt arrogant. »Fußball ist doch sowieso nicht der richtige Sport für Frauen, viel zu brutal.« »Ich spiele aber sehr gerne, und ich bin wirklich gut«, antwortet sie trotzig. »Ich möchte trotzdem, dass Sie bei mir bleiben! Ihre Ansichten sind erfrischend, mit Ihnen kann man gut streiten!« Seine Stimme ist immer noch bedrohlich leise. »Suchen Sie nach solchen merkwürdigen Kriterien Ihre Partnerin aus?« Verwundert sieht sie ihn an. Er beachtet gar nicht, was sie sagt, denn er beginnt laut zu überlegen. »Unwichtig! … Ja! … Ich will, dass du bleibst!« »Aber ich möchte nicht bleiben!«, antwortet sie entrüstet. Er beginnt dreckig zu grinsen. »Ich habe mich noch nie nach der Meinung einer Frau gerichtet, und ich werde, verdammt noch mal, nicht heute damit anfangen. Es ist beschlossen, du bleibst!« Er steht auf und geht gemächlich zu einem Schrank, nimmt einen Kugelschreiber aus einer Schatulle und steckt ihn in die Jackentasche. Elisabeth fühlt sich unbeobachtet und steht ganz langsam auf. Das Herz klopft ihr bis zum Hals, als sie ganz langsam Richtung Tür schleicht. Als sie ihr Ziel fast erreicht hat, springt Douglas mit ein paar großen Schritten zwischen sie und die Tür. »Du willst doch nicht etwa weglaufen, oder!« Sein Gesicht wirkt wie versteinert, die Augen sind eiskalt. »Ich, ich …. Bitte lassen Sie mich gehen!« »Zu spät! Ich kann dich nicht gehen lassen, aber glaub mir, ein paar Tage und du willst gar nicht mehr weg!«, raunt er ihr mit belegter Stimme zu. Er drängt sie in eine Ecke der Bibliothek. Sie fühlt sich wie ein Kaninchen in der Falle, aus der es keinerlei Fluchtmöglichkeit gibt. Dann schlingt er plötzlich seine starken Arme um sie und drückt sie zu Boden. Verzweifelt versucht sie, sich aus seinen Fängen zu winden, aber sie hat keine Chance. In Windeseile drückt er sie ganz nieder und setzt sich auf sie, sodass sie sich nicht mehr wehren kann. Dann schiebt er den Ärmel ihrer Jacke zurück und zieht eine Gummischlinge über ihren Arm. Nachdem er die Schlinge festgezogen hat, holt er schwer atmend den Kugelschreiber aus der Jacke und zieht die Kappe ab. Eine lange Nadel kommt zum Vorschein. Elisabeth ergreift Panik, als sie die Spritze sieht. Mit aller Kraft versucht sie, Douglas von sich runter zu schubsen. Aber es geht nicht, so sehr sie sich auch müht, er ist viel zu stark. Er beachtet ihre Gegenwehr gar nicht. Und dann setzt er die Spritze in ihrer Armbeuge an. Ein kurzer Pieks, erst zieht er etwas dunkelrotes Blut aus ihrer Vene und dann spürt sie ein leichtes Brennen. Er wartet noch einen Moment, dann lockert er die Gummischlinge und zieht sie vom Arm ab. Mit vor Angst geweiteten Augen sieht ihn Elisabeth an. »Was haben Sie mir gespritzt, Sie sind ja wahnsinnig! Lassen Sie mich endlich los!«, flüstert sie. Tränen schießen ihr in die Augen, dann beginnt sie zu betteln. »Bitte, bitte, lassen Sie mich doch gehen. Ich werde auch niemandem etwas erzählen, versprochen!« »Keine Chance, aber es wird gleich besser, glaub mir!« Seine Stimme hat nichts von der Arroganz verloren. »Was war in der Spritze?«, flüstert sie. »Diacetylmorphin!« »Was ist das?« »Reinstes Heroin, meine Liebe!« Elisabeth wird heiß und kalt. Alles dreht sich und dann wird es finster. Douglas lässt sie los. Wehrlos fallen ihre Arme zur Seite. Er steht auf und nimmt sein Handy. »Roy! Du musst mir kurz helfen, komm bitte in die Bibliothek!« Zufrieden starrt er auf Elisabeth hinunter, sie liegt blass und völlig weggetreten vor ihm. Roy betritt den Raum und sieht Elisabeth am Boden liegen. »Was ist mit ihr?« »Die Dosis war wohl etwas hoch für das erste Mal! Sie wird sich schnell daran gewöhnen, genau wie die anderen!« Wieder starrt er sie grinsend an. »So mag ich die Frauen am liebsten, wehrlos und nicht fähig, dummes Zeug zu reden, oder gar zu widersprechen! Hilf mir, wir bringen sie erst einmal für ein paar Tage in das Gästezimmer im Keller! Sicher ist sicher!« Douglas fasst ihr unter die Arme und hebt den Oberkörper an, Roy nimmt die Beine. Schnaufend schleppen sie Elisabeth die Treppe zum Keller hinunter. Dann öffnet Roy eine Tür und dreht das Licht an. Ein spartanisch eingerichtetes Zimmer ohne Fenster kommt zum Vorschein. Ein breites Futonbett, daneben ein Nachtkästchen, ein Tisch mit zwei Stühlen und ganz hoch oben an der Wand ein Flatscreen-Fernseher. Eine Tür führt in einen kleinen Waschraum mit Dusche, Toilette und einem Waschbecken mit Spiegel. Die beiden schleppen Elisabeth zum Bett und legen sie darauf. Douglas nimmt ihr das Handy ab, wirft noch eine Decke über sie und fühlt anschließend am Hals den Puls. »Alles in Ordnung, lass uns gehen! Lassen wir sie in Ruhe ihren ersten Trip genießen!« Wieder grinst er, als er sich noch einmal umdreht. Dann schaut er auf seine Uhr. »Den nächsten Schuss gibt’s so in acht Stunden. Schöne Träume!« Dann schließt er hinter Roy die Tür und sperrt ab. »Ich möchte, dass du sofort zum Pub fährst und den Wagen holst, lass ihn in einer Scheune verschwinden! Ich will nicht, dass jemand unangenehme Fragen stellt!« »Ist gut, Sir, ich fahr sofort los!« Roy nimmt den großen Viehtransporter, der kleine Mini passt da locker hinein, und eine breite Rampe, damit das Auto bequem verladen werden kann, hat er auch. 4. Kapitel John Bitchby macht sich nach seinem ausgiebigen Frühstück, seiner gewohnten Zigarette am Morgen und nachdem er sich bei seiner Frau erkundigt hat, was sie heute so plant, auf den Weg zum Safari Park. Er kann es sich selber nicht erklären, aber er ist aufgeregt wie ein kleiner Junge. Da sind plötzlich Gefühle, die er lange nicht gespürt hat. Die Vorfreude auf Elisabeth lässt Schmetterlinge in seinem Bauch tanzen. Aber egal, was sein Herz und sein Bauch sagen, sein Kopf ist Gott sei Dank immer noch klar. Er weiß, dass er um einiges älter ist und dass das junge Ding bestimmt nichts von ihm will. Außerdem ist er verheiratet. Er fährt eine viertel Stunde auf der A84 und sucht sich dann einen der großzügig ausgeschilderten Parkplätze. Es ist noch ziemlich ruhig auf dem Gelände. John sieht auf seine Uhr als er aussteigt. Neun Uhr fünfundvierzig zeigt sie an. Der Park macht um zehn Uhr auf, John macht sich auf den Weg zu den Kassen. Er muss an einer Schlange mit etwa zwanzig Personen anstehen, darunter viele Kinder. Er sieht sich um und kommt sich irgendwie etwas fehl am Platz vor. Lauter Familien. Ein jung verliebtes Pärchen ist, allem Anschein nach, auch dabei. Die beiden können die ganze Zeit nicht voneinander lassen. Ungeniert schmusen sie vor den anderen Wartenden und scheinen sich so die Zeit gut zu vertreiben. John Bitchby ist in Gedanken bereits beim Wiedersehen mit Elisabeth. Wieder und wieder spielt er die verschiedensten Situationen in seinem Kopf durch. Was wird sie wohl sagen, wenn sie erfährt, dass er extra den weiten Weg gemacht hat, nur um ihr das geliebte Schmuckstück wieder zu bringen? Dann ist es zehn Uhr. Die wartende Schlange setzt sich in Bewegung. Es dauert gar nicht lange und John steht vor der Frau mit den Tickets. »Guten Morgen, ich hätte bitte gerne ein Ticket! Und könnten Sie mir bitte sagen, wie ich zu den Büros komme?« Hinter der Scheibe sitzt eine ältere Frau mit kurzer Grauhaarfrisur. Die Frau sieht ihn etwas erstaunt über ihren Brillenrand an. »Möchten Sie sich beschweren, obwohl Sie noch gar nichts gesehen haben?« »Nein, in einem ihrer Büros arbeitet eine Bekannte von mir, ich möchte sie überraschen!« »Dann hoffe ich für Sie, dass diese Dame Dienst hat, am Wochenende und an Feiertagen ist das Büro nur notdürftig besetzt. Jeder freut sich, wenn er Samstag und Sonntag frei hat und dann noch das lange Wochenende mit dem Feiertag, da werden nicht viele in den Büros arbeiten! Aber vielleicht haben Sie ja Glück, wenn nicht, dann ist der Park auf jeden Fall den Besuch wert gewesen, glauben Sie mir! Ich bekomme dann dreizehn Pfund und fünfzig Pence von Ihnen!« John zählt ihr das Geld hin und nimmt die Eintrittskarte entgegen. »Ich wünsche Ihnen noch einen schönen Tag!«, ruft ihm die nette Frau hinterher. Er dreht sich kurz um. »Wünsch ich Ihnen auch!« Nachdem er seine Geldbörse wieder in der Hosentasche verstaut hat, sieht er sich um. Zehn Uhr, er weiß, dass er spätestens am Mittag wieder die Heimreise antreten muss, schließlich hat er dann wieder acht Stunden Fahrt vor sich. Er sucht sich eine Informationswand, um herauszufinden, wo die Bürogebäude sind. Als er vor einer riesigen Informationswand steht, zündet er sich noch eine Zigarette an. Eigentlich hätte er vorhin beim Warten genug Zeit gehabt, um zu rauchen, aber er ist ein rücksichtsvoller Mensch, es waren einfach zu viele Kinder in der Schlange. Genussvoll zieht er an der Zigarette, während er den Plan studiert. Er staunt nicht schlecht. So groß hatte er sich das ganze Areal gar nicht vorgestellt. Ein riesiges Naturschutzgebiet voller exotischer und natürlich auch einheimischer Tiere. Von Elefanten über Kamele, Zebras, Giraffen, Löwen und Tiger, Strauße, Pinguine und Shetlandponys ist so ziemlich jede Tierart vertreten. Dass es sozusagen in den Highlands von Schottland Elefanten und Tiger gibt, hätte sich John nicht träumen lassen. Seelöwenshow, Greifvogelvorführungen, eine Bootsfahrt rund um die Schimpanseninsel und noch vieles mehr ist geboten. Das Areal mit den Tieren kann mit dem Auto durchfahren werden, so gibt es keine störenden Zäune. Man kann in den integrierten Freizeitpark gehen, mit Fahrgeschäften wie auf dem Rummel oder Tretboot fahren. Für Familien mit Kindern ein idealer Freizeitspaß. Nach langem Suchen hat er endlich die Bürogebäude ausfindig gemacht. Er marschiert zielstrebig in die angegebene Richtung. Die Straßen und Wege füllen sich langsam mit den heran strebenden Menschenmassen. John sieht sich um. Da hatte er die Arbeit von Elisabeth wohl total unterschätzt. Er hatte geglaubt, dass sie in irgendeinem popeligen Park die Zeit totschlägt, aber wenn er sich hier so umsieht, dann riecht das Ganze nach gewaltigem Stress. Er betritt ein Gebäude, an dessen Eingang ein Schild mit der Aufschrift Verwaltung glänzt. Er klopft an die erste Tür auf dem langen Flur und wartet einen Moment. Nachdem er geglaubt hat, ein Herein gehört zu haben, betritt er den Raum. Eine junge schlanke Frau sitzt an einem riesen Schreibtisch vor ihrem Computer. Sie hat ihr langes blondes Haar mit einem roten Tuch zu einem Pferdeschwanz zusammengebunden, dazu trägt sie ein rotes Kleid mit lauter weißen Punkten. »Guten Morgen, kommen Sie nur herein!«, flötet sie John lächelnd zu. »Guten Morgen, ich bin auf der Suche nach einer Mitarbeiterin von Ihnen. Miss Elisabeth Brown!« »Ach die Lissy, woher kennen Sie denn unsere Lissy?« »Vom Fußball. Sie hat etwas verloren und ich würde ihr den Fund gerne persönlich zurückgeben!« »Moment!« Die Frau tippt etwas in den Computer. »Das tut mir leid, aber sie ist heute nicht eingeteilt. Erst morgen wieder!« Es klopft an der Tür. Ein junger rothaariger Lockenkopf steckt den Kopf durch den Türschlitz. »Entschuldigung! Darf ich kurz, es geht auch ganz schnell!« »Natürlich!«, entgegnet John verständnisvoll und tritt einen Schritt zurück. »Ich kann heute nicht arbeiten, ich habe einfach keine Ruhe! Ich habe gestern mit Lissy telefoniert und jetzt kann ich sie nicht mehr erreichen. Das ist gar nicht ihre Art, da muss irgendetwas passiert sein!« John wird hellhörig. »Reden Sie von Elisabeth Brown?« »Ja, Sie kennen Lissy?« Der junge Mann sieht ihn überrascht an. »Was ist mit ihr?« »Ich weiß es nicht, aber ich werde es herausfinden!« »Kann ich Ihnen helfen?« »Hmm!« Der Rotschopf überlegt kurz. »Na klar, warum nicht! Vier Augen sehen mehr als zwei! Haben Sie ein Auto?« »Ja, warum?« »Ich habe nämlich keins! Ich fahre mit dem Rad, aber ich habe das Gefühl, wir müssen zum Ben Ledi, und da wäre ein Wagen nicht schlecht!« »Gut, gehen wir!« John wendet sich entschlossen zum Gehen. Angst um Elisabeth keimt in ihm auf. »Und, was ist jetzt, kann ich freihaben?« Die Stimme des jungen Mannes klingt nervös und angespannt. »Ja, geh ruhig! Ich zieh dir die Stunden von deinen Überstunden ab, ist das in Ordnung?« »Natürlich, du hättest mir auch einen Tag Urlaub abziehen können!« »Ich hoffe, ihr findet sie und es ist nichts Ernsthaftes passiert!« »Ja, das hoffe ich auch!« »Melde dich, wenn du etwas weißt!« »Mach ich!« Dann wendet er sich an John. »Kommen Sie!« Als sie unterwegs zu Johns Wagen sind, hält ihm der junge Rotschopf plötzlich die Hand entgegen. »Übrigens, mein Name ist Jamie. Jamie Mitchell, ich arbeite mit Elisabeth in einem Büro.« John lächelt ihn an, dann nimmt er seine Hand. »Mein Name ist John, John Bitchby! Elisabeth hat ihr Medaillon in meinem Wagen verloren und ich wollte es ihr zurückbringen!« Jamie bleibt abrupt stehen, um die Nase ist er leicht blass geworden, das kann John trotz der vielen Sommersprossen erkennen. »In Ihrem Wagen verloren?«, wiederholt er mit etwas Misstrauen in der Stimme. »Keine Angst, es gibt dafür eine ganz harmlose Erklärung! Ich bin Schiedsrichter und habe das Spiel am Samstagnachmittag gepfiffen. Elisabeth habe ich nach dem Spiel im Pub kennengelernt. Ich habe sie ein Stück mitgenommen und sie hat von ihrer Mutter erzählt. Dann hat sie das Medaillon abgenommen, um mir das Bild zu zeigen. Als sie es wieder angelegt hat, muss wohl der Verschluss nicht ganz eingerastet sein. Auf jeden Fall habe ich es am nächsten Tag im Fußraum des Beifahrersitzes gefunden. Und weil ihr anscheinend sehr viel an dem Schmuckstück liegt, wollte ich es ihr persönlich vorbeibringen!« Jamie atmet hörbar durch, sein Gesicht hat wieder Farbe bekommen. »Und ich dachte schon …« »Was dachten Sie, dass wir eine wilde Nacht in meinem Wagen verbracht haben und sie dabei ihre Kette verloren hat?« »Nein, natürlich nicht! So etwas würde Lissy nie tut und außerdem …« Er mustert John von oben bis unten. »Bin ich zu alt für Elisabeth, oder? Das denken Sie doch, nicht wahr?« »Nein, ein Altersunterschied würde ihr wahrscheinlich nichts ausmachen, da bin ich mir ziemlich sicher!« »Was dann? Bin ich zu dick, zu unsportlich?« »Nein, das sind außerdem alles Oberflächlichkeiten, Lissy achtet auf andere Dinge, da bin ich mir sicher! Ich kenne sie gut, glauben Sie mir!« »Also warum glauben Sie, dass Elisabeth und ich nicht …« »Ihr Ring, Sie sind doch verheiratet, oder?« »Ja!« »Eben, und das ist der Grund, warum sie nie etwas mit Ihnen anfangen würde. Sie würde sich nie in eine Ehe drängen, glauben Sie mir!« »Wenn Sie das sagen!« John versucht zu lächeln. Seine Schmetterlinge haben sich ganz schnell in das hinterste Eck seines Bauches verzogen, außerdem überwiegt im Moment sowieso die Sorge um Elisabeth. Wo ist sie nur? Was ist mit ihr geschehen? Die beiden sind auf dem Parkplatz bei Bitchbys Wagen angekommen. Jamie scheint es nicht zu stören, dass kein dicker Schlitten auf sie wartet. Er ist kein bisschen überrascht, vielleicht liegt es auch daran, dass er sich um ein Auto keinen Kopf macht, weil er in Gedanken voller Sorge um Elisabeth ist. Er würde auch mit einem Traktor fahren. »Und jetzt?«, fragt John, als beide angeschnallt im Wagen sitzen. »Lissy hat mich gestern am späten Vormittag vom Ben Ledi aus angerufen. Sie hat gesagt, dass sie wandern ist. Wir haben uns für den Abend verabredet. Am Nachmittag hat es dann ein heftiges Gewitter gegeben. Sie muss in den Regen gekommen sein. Am Abend hat sie dann angerufen und die Verabredung abgesagt. Sie hat erzählt, dass sie den Wagen auf einem Parkplatz in Glasscherben geparkt hat und dass zwei ihrer Reifen kaputt sind. Da hilft auch ein Ersatzreifen nicht viel. Jedenfalls hat sie gesagt, dass ich mir keine Sorgen machen soll und dass sie schon einen Schlafplatz für die Nacht hat. Das war das Letzte, was ich von ihr gehört habe. Seit heute Morgen versuche ich wirklich alle zehn Minuten, sie zu erreichen, aber sie meldet sich einfach nicht. Ich habe ihr schon x Nachrichten auf die Mailbox gesprochen, nichts, keine Antwort! Das ist nicht meine Lissy, da stimmt irgendetwas nicht!« »Ihre Lissy, ist Sie ihre Freundin?« Jamie wird rot. Irgendwie hat er zu diesem fremden Mann sofort Vertrauen gefasst, warum, kann er sich auch nicht erklären. »Nein, ich habe mich einfach noch nicht getraut, sie zu fragen. Ich würde schon gerne … was, wenn sie Nein sagt? … ich habe einfach Angst, sie dann als gute Freundin zu verlieren, können Sie das verstehen?« »Natürlich, so eine unerwiderte Liebe kann viel zerstören!« »Wie lange sind Sie eigentlich verheiratet?« »Schon eine halbe Ewigkeit!« »Und?« »Was und?« »Sind Sie immer noch glücklich?« »Ich weiß ehrlich nicht, ob ich so ein Thema gerade mit Ihnen bereden soll, wir kennen uns ja gar nicht! Ich denke, es ist besser, wir fahren endlich los, oder?« »Sie haben vollkommen recht!« John biegt wieder auf die A84 ein und fährt nach Jamies Anweisungen vorbei an Callander zum Parkplatz vom Ben Ledi. Nach circa einer halben Stunde haben sie ihr Ziel erreicht. Die beiden steigen aus und sehen sich um, John nutzt die Zeit, um eine Zigarette zu rauchen. Im Auto rauchen ist für ihn tabu, das mag auch seine Frau nicht. Nichts, kein kleiner dunkelgrüner Mini und nicht die kleinste Glasscherbe. Sosehr sie auch suchen, es ist nicht die Spur von Glas zu finden. »Das muss ein anderer Parkplatz gewesen sein!« Jamie ist richtig verzweifelt. »Versuchen Sie sich zu erinnern, hat sie denn gar nichts gesagt, wo sie sein könnte, gar kein Hinweis?« »Nein, nein verdammt! Nur, dass die Reifen kaputt sind wegen der Scherben und dass sie einen Schlafplatz hat!« »Ruhig, junger Mann, Panik bringt uns jetzt auch nicht weiter. Fassen wir zusammen. Sie war dort oben. Dann hat es ein Gewitter gegeben, oder?« »Ja!« Jamie nickt eifrig. »Gut! Nehmen wir an, dass sie vom Regen erwischt worden ist. Sie war also pitschnass! Was macht man, wenn man nass ist?« »Sich etwas Trockenes anziehen?« »Ja, wenn man zu Hause ist!«, wirft John tadelnd ein. »Was aber, wenn man unterwegs ist?« »Hm ...« Die beiden denken angestrengt nach. Jamie versucht, sich in Elisabeth hineinzuversetzen. »Wahrscheinlich würde mich frieren, besonders wenn ich eine Frau wäre, oder? Ich glaube, ich würde mir einen Platz zum Aufwärmen suchen!« »Sehr gut!«, lobt John. »Und, wo kann man sich hier in der Nähe aufwärmen?« »Da unten ist ein Pub!« Jamie zeigt mit der Hand zum Waldrand. »Und genau da fahren wir jetzt hin!« Nach ein paar Minuten biegen die beiden auf den Parkplatz, der zum Pub The Crown gehört. Jamie zieht sofort ein langes Gesicht. Kein grüner Mini. Elisabeth ist nicht hier. Der Parkplatz ist leer. Er kann seine Enttäuschung nicht verbergen. John Bitchby stellt den Wagen ab und steigt aus. Er schaut sich in aller Ruhe um. Nichts, der Parkplatz ist total sauber, nicht ein einziges Blatt, kein Fussel, nichts! Als ob hier vor Kurzem gründlich gefegt worden wäre. »Merken Sie nicht, wie sauber der Parkplatz ist, macht Sie das nicht stutzig?« Erst jetzt beginnt Jamie, sich umzusehen. »Stimmt, Sie haben vollkommen recht, als ob hier gerade jemand gefegt hätte!« »Genau!« John geht zu den Mülltonnen und sieht hinein. »Kommen Sie, schnell!« Jamie sieht in die offene Mülltonne. »Sie haben recht, die Tonne ist voller Scherben. Das muss der richtige Parkplatz sein. Aber wo ist Elisabeth?« »Das werden wir auch noch herausfinden, gehen wir hinein!« John sperrt den Wagen ab und dann gehen beide in das Pub. Es ist zwar geöffnet, aber im Gastraum herrscht Totenstille. Es hat sich am heutigen Tag noch niemand dorthin verirrt, obwohl langsam das Mittagsgeschäft anlaufen könnte. Die beiden setzen sich an einen Tisch, von dem aus sie den ganzen Gastraum gut überblicken können. Der Wirt kommt mit einem freundlichen Gruß aus der Küche. »Schönen guten Tag, die Herren. Na, was darf ich Ihnen bringen?« Eigentlich herrscht in Pubs ja Selbstbedienung, besonders, wenn es abends voll ist. In diesem Gasthaus scheint wohl nie so besonders viel los zu sein, weil es sich eingebürgert hat, dass die Gäste am Tisch bedient werden, so wie in vielen anderen Ländern auch. »Zwei Strong Ale bitte!« John übernimmt unaufgefordert die Bestellung. »Sofort, die Herren!« Kurze Zeit später kommt der Wirt mit zwei frisch gezapften Bieren zurück. »Bitte, die Herren, etwas zu essen?« »Ja gerne, Fish and Chips, das Ganze zwei Mal, bitte!« Jamie sieht John Bitchby etwas erstaunt an, er traut sich aber nichts zu sagen, die Bestellung ist ja auch eigentlich in seinem Sinn. Fish and Chips isst er für sein Leben gerne. Das ist eigentlich fast täglich seine Hauptmahlzeit im Safari Park. Die Touristen stehen auf Fish and Chips und besonders die Kinder essen das Zeug genau wie Jamie für ihr Leben gerne. John hebt das Glas und prostet Jamie zu. »Auf Elisabeth!«, flüstert er. »Ja, auf Lissy und ich denke, es ist endlich an der Zeit, du zu sagen, oder?« »Ja, ich bin John!« »Und ich bin Jamie!« »Dann ist ja alles klar, glaub mir, wir werden sie finden!« Der Wirt kommt mit dem Essen, hinter ihm lugt eine junge Frau schüchtern aus der Küche. Sie steht hinter der Tür und beobachtet neugierig die beiden Gäste. »Das Essen sieht aber gut aus!«, lobt John den Wirt. Dieser nickt freudig und setzt sich ohne Aufforderung zu den beiden. »Ich habe Sie hier noch nie gesehen, sind Sie zum ersten Mal in der Gegend?« »Ja, stimmt. Ich bin noch nie in der Gegend hier gewesen. Und du?« John sieht Jamie neugierig an. Jamie stopft sich schnell noch ein dickes Stück Kartoffel in den Mund und wendet sich an den Wirt. »Einfach super, Ihre Fish and Chips und, glauben Sie mir, ich bin sozusagen Fachmann. Die Kartoffeln und der Fisch sind absolut kross. Das Fett ist einwandfrei und frisch, ehrlich, ich bin begeistert.« Der Wirt wächst bei jedem seiner lobenden Worte. Endlich einmal jemand, an dem seine Bemühungen nicht spurlos vorübergegangen sind. »Hast du meine Frage gehört?« John sieht Jamie etwas irritiert an. »Tschuldigung, was hast du gefragt?« »Ob du schon einmal in der Gegend hier warst.« »Nein, ich bin kein so großer Naturfreund wie Lissy und Bergsteigen ist so gar nicht mein Ding!« Wieder stopft er sich den Mund mit Essen voll und beginnt, genussvoll zu kauen. »Sie müssen wissen, wir sind nicht hier, weil uns die Gegend so gefällt, sonder weil wir eine gemeinsame Freundin suchen!«, nuschelt er mit vollem Mund. Der Gesichtsausdruck des Wirts hat sich schlagartig verändert. »Ich glaube, ich habe noch etwas auf dem Herd stehen! Ich lasse Sie dann mal in Ruhe essen!« Er steht auf und verzieht sich rasch in die Küche. »Hast du das bemerkt, wie sich seine Laune verändert hat, als er gehört hat, dass wir Elisabeth suchen? Ich habe das Gefühl, wir sind hier genau richtig, und dann die Scherben in der Tonne!« Jamie stimmt schmatzend zu und John nimmt sich vor, den Wirt nach dem Essen noch einmal direkt auf Elisabeth anzusprechen. Aber diese Chance bekommt er nicht, der Wirt geht ihnen aus dem Weg. Er schickt die Küchenhilfe mit der Rechnung zu den beiden. Die junge Frau weiß, dass sie aus der Küche mit Argusaugen beobachtet wird, deshalb gibt sie sich etwas kühl und reserviert. Aber selbstverständlich hat sie das Gespräch zwischen dem Wirt und den Gästen mitbekommen, und sie möchte den beiden helfen. Als sie das Wechselgeld auf den Tisch legt wispert sie John zu: »Gleich, draußen!« John sieht sie kurz an, er hat verstanden und nickt. Dann steckt er das Wechselgeld ein und nickt Jamie zu. »Lass uns gehen!« »Aber du wolltest doch noch mit dem Wirt …« »Er hat sich verdrückt, das sagt doch alles. Ich denke, es ist besser, wenn wir jetzt verschwinden!« John Bitchby steht ohne jedes weitere Wort auf und geht zur Tür. Jamie trinkt noch schnell aus und folgt dann John nach draußen. Der bleibt auf dem Parkplatz bei seinem Wagen stehen und zündet sich eine Zigarette an. Nervös inhaliert er den Rauch und bläst ihn ganz langsam aus, jetzt wird er ruhiger. Wieder zieht er an seiner Zigarette. Jamie sieht ihm dabei zu. »Das war wohl ein Schuss in den Ofen, oder?« »Ganz und gar nicht … wir warten!« »Und worauf warten wir?« Seine Frage wird soeben beantwortet. Die junge Küchenhilfe kommt mit einem Eimer aus der Hinterhoftür. Sie nickt den beiden zu. John schmeißt seine Zigarette zu Boden und drückt sie mit dem Schuh aus. »Setz dich ins Auto!«, raunt er Jamie zu. Dann geht er langsam zu den Abfalltonnen, die etwas abseits stehen. »Sie suchen eine junge Frau, habe ich gehört?«, flüstert die Küchenhilfe ganz leise. John nickt. »Gestern war eine da. Zwischen zwanzig und fünfundzwanzig Jahre, dunkelbraune Haare, der Haarschnitt … ein Bob, wenn ich mich nicht täusche!« John nickt wieder. »Das ist sie!«, flüstert er. »Douglas Anderson! Er hat sie mitgenommen, ich habe sie noch gewarnt. Der Mann ist ein Teufel, eine Bestie! Sie müssen sie retten!« »Wo finden wir diesen Douglas Anderson?« Aus dem Haus hört man die Stimme des Wirtes, der nach seiner Küchenhilfe ruft. »Ich muss gehen!«, flüstert sie panisch. Sie nimmt ihren Eimer und eilt zur Tür. Noch einmal schaut sie sich schüchtern um, bevor sie im Pub verschwindet. John steigt zu Jamie, der schon gespannt auf ihn wartet, in den Wagen. »Was hat sie gesagt?« »Douglas Anderson!« »Wer ist das?« »Weiß ich noch nicht, aber er hat sie mitgenommen und wir werden herausfinden, warum!« »Ich bin froh, dass du da bist!« »Apropos … ich muss morgen wieder arbeiten, das ist dir hoffentlich klar. Ich muss wieder nach Hause!« »Aber du kannst mich doch jetzt nicht alleine lassen!« »Keine Angst, jetzt suchen wir erst einmal diesen Douglas Anderson.« Die beiden fahren vom Parkplatz in Richtung Dorf.