BITTERERREGENBOGEN-Kapitel8DieskurilleWe[...]

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Die Farben meines Regenbogens schmecken bitter
Kapitel 8 – Die skurrile Welt des Mannes mit dem Filzhut
Die Rückkehr aus den Flitterwochen kam mir vor, als würde ich aus einem
Wolkentraummobil aussteigen und in die dagegen farblos wirkende Welt, der Realität
treten. Es war auch sehr ungewohnt für mich in ein neues, großes Heim, in Form einer
Luxusvilla zu treten. Als mich Sascha nach der Hochzeitsfeier über die Schwelle trug, war
noch alles Teil eines ablaufenden Märchenstreifens. Als wir jetzt nach den Flitterwochen
erneut vor der Schwelle standen, war ich erst einmal von dem beeindruckenden Anwesen
ergriffen und konnte gar nicht begreifen, dass ich jetzt die Hausherrin von diesem
Märchenschloss war. Als Sahnehäubchen wartete auch noch ein riesiger Stapel von
Geschenken auf uns, die während unserer Abwesenheit, von mir unbekannten
Heinzelmännchen, im riesigen Wohnzimmer aufgebaut wurden. Beim Geschenke
auspacken achtete Sascha nicht, wie sonst üblich, auf die Wertigkeit der Gaben, sondern
auf die ausgefallene Art der Anteilnahme, in Form der Begleitschreiben und Karten. Dabei
freute er sich wie ein Kind über geistreiche Textpassagen, die Begebenheiten oder
Eigenarten von Persönlichkeiten auf den Punkt brachten, oder über selbstangefertigte
Arbeiten, die für Sascha Kreativgeburten aus der inneren Welt eines Erschaffers darstellen.
Auf einmal wurde mein Gemahl kreidebleich im Gesicht. „Wo ist unser wertvollstes
Geschenk?“ fragte er erschrocken, während er alles panisch durchwühlte. Da ich der
Meinung war, dass alle bedeutenden Geschenke anwesend waren, fragte ich Sascha „ von
wem war denn das gesuchte Geschenk, Schatz?“ „Von Deutschlands bedeutendsten
Künstler der Nachkriegszeit, Professor Beuys“, antwortete mein Gemahl, wobei ihm tiefste
Verzweiflung im Gesicht geschrieben stand. Ich war total verwirrt und fragte meinen in
Panik aufgelösten Ehemann „ du meinst doch nicht etwa dieses bazillenverseuchte
Sperrmüll-Filzobjekt?“ Sascha schaute jetzt wie Frankensteins Monster, das von einer
wütenden Menge gehetzt wird und fragte in Panik „was ist damit passiert? Was ist bloß
damit passiert?“ Ich traute mich kaum noch zu antworten und sagte kleinlaut „ich wollte
unser Heim vor Vieren und Bazillen schützen, da habe ich dieses scheußliche Filzobjekt
meinem Vater gegeben und ihn gebeten, das Teil an den Meistbietenden zu verkaufen.“
Sascha heulte auf wie ein Kojote und führte einen Veitstanz auf, der Rumpelstilzchen mit
Sicherheit in den Schatten gestellt hätte. Nie hätte ich gedacht, dass ein hässliches
Filzgebilde, der Grund für die erste Disharmonie, in unserer frischen, idyllischen Liebe
sein würde. Zum Glück war dieses traumatische Erlebnis, denn ich hätte nie gedacht, dass
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Sascha zu solchen Gefühlsausbrüchen fähig wäre, nur von kurzer Dauer, denn es läutete an
der Hausanlage und der Erlöser stand vor der Tür. War es etwa Joseph Beuys? Nein es war
Vati, der das heiß umstrittene Kunstobjekt behutsam aus Zeitungspapier auspackte und
beim Eintreten besorgt anmerkte „Kinder, ich konnte es nicht über das Herz bringen,
dieses Kunstwerk zu verkaufen. Habt ihr denn nicht die Widmung darauf gelesen?“ Sascha
eilte herbei und rief erleichtert „ Vati, du bist ein Goldstück. Noch nie hat Beuys zu einer
Hochzeit ein Werk mit persönlicher Widmung verschenkt.“ In diesem Moment wäre ich
am liebsten in den Erdboden versunken. „Man soll eben nicht nur auf das Äußere achten“
sagte Vati. „Ja genau“, bestätigte Sascha, während er das Filzgebilde aufrollte. „ Liebe ist
das höchste Gut und geladen voller Energie. Packt Eure Energie in diesen Energiespeicher
und das Glück ist Euch ewig hold“, las Sascha die eingeritzte Botschaft vor. Ich war total
perplex und während Joseph Beuys den Sitz meiner Gefühle gewann, eroberte Vati das
Herz meines Gemahls. Das sind die skurrilen, manchmal lustigen, aber auch so oft
bedeutenden Augenblicke eines bewegten Lebens. Wieder hatte der Mann mit dem Filzhut
zugeschlagen und obwohl es seine inhaltsgeschwängerten Wortbotschaften sind, welche
die Werke des Professors unsterblich werden ließen, bekehrte mich sein bescheiden
wirkendes Werk, dessen Wert im Inneren verborgen war. Wollte Beuys uns prüfen, weil er
die aussagekräftige Botschaft im Inneren versteckte, oder wollte er die intime Botschaft
vor neugierigen Blicken schützen, für die dieses wertvolle Kleinod nicht bestimmt war?
Jetzt wollte ich den Mann mit dem Filzhut unbedingt kennen lernen und durchlöcherte
Sascha, welcher ein großer Fan von ihm war, mit zahlreichen Fragen. Dabei erfuhr ich,
dass Professor Joseph Beuys seinen Filzhut deshalb trug, weil eine Stahlplatte in seinem
Schädel eingearbeitet war. Diese schwerwiegende Verletzung, die ihm fast das Leben
kostete, zog er sich zu, als er im Krieg mit dem Kampfflieger abstürzte. Beuys stürzte über
der Krim ab und wie er selbst berichtet, pflegten ihn die Tartaren gesund, indem sie ihn mit
Fett einrieben und in Filz einwickelten. Dieses verinnerlichte Erlebnis bewog ihn dazu,
mit den Materialien Fett und Filz zu arbeiten. Als ich diese Botschaft verarbeitete, kam erst
einmal richtige Wertschätzung für sein kostbares Filzobjekt auf und in diesem Moment
wurde aus dem hässlichen Entlein ein stolzer Schwan, welchen ich für kein Geld der Welt
mehr abgeben würde. Jetzt vermochte ich auch zwei Seiten gleichzeitig zu verstehen: die
eine Seite der Gegner, welche Beuys´ Botschaften nicht verstand und ihn daher als
blendenden Scharlatan hinstellte und die Seite der Bewunderer, welche durch sein
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Schaffen zu großen Werken bewegt wurde. Obwohl ich mittlerweile erwachsen geworden
war, erweckte der Mann mit dem Filzhut Alice zurück ins Leben, welche nun das
Wunderland der Kunst durchleben sollte; eine genau so bunte Welt, wie die Welt von
Woodstock und der daraus folgenden Blumenkinderzeit. Und hier schließt sich wieder ein
Kreis, denn Beuys war ein großer Kämpfer für die Friedensbewegung; willkommen in
Woodstock! Durch Professor Joseph Beuys lebte Woodstock in Düsseldorf an der
Kunstakademie weiter, denn während Woodstock viele bunte Musikerkarrieren ins Leben
rief, zog Beuys wie ein Magnet oder Rattenfänger sämtliche Künstler nach Düsseldorf und
formte aus Ihnen anerkannte Meister von Weltruf; bekanntestes Beispiel ist dabei Jörg
Immendorf. In der `Längsten Theke der Welt´, der Altstadt von Düsseldorf gab es ein
Szenelokal namens `Creamcheese´ , in dem man den Begriff `längste Theke´ durch einen
zwanzig Meter langen Tresen mit Spiegel-Lamellen-Rückwand ,wörtlich nehmen konnte.
Als Sascha mich dort das erste mal reinführte, hatte ich das Gefühl, mit der Zeitmaschine
zu reisen, denn das `Creamcheesee´ wirkte wie eine komprimierte Form von Woodstock.
Alles war hier unter einem Dach vereint: Kunstobjekte, die Musik von Woodstock und
Persönlichkeiten der Szene. Nirgendwo anders, habe ich die Verschmelzung von Kunst,
Musik und Emotion wieder gespürt wie hier. Während die angesagteste neue AvantgardeRockmusik den Körper in Bewegung versetzte, sorgte das Ambiente wie zum Beispiel eine
Wand zusammengesetzt aus 24 laufenden Fernsehern, etliche Kunstobjekte, wie zum
Beispiel ein gigantischer Nagel in einem Metallkäfig mit Titel èlectric garden´, von dem
ebenso bedeutenden Düsseldorfer Künstler Günther Uecker, und eine zum Podium
erhobene Tanzfläche, für ein besonderes Flair. Das `Creamcheese´ war nicht nur für mich,
keine Kneipe, sondern ein kompaktes Gesamtkunstwerk und für die, welche dabei waren,
eine Zeittunnel, der direkt nach Woodstock führte. Nachdem ich Sascha Tag für Tag
nervte, arrangierte er genau hier ein erstes Treffen mit Großmeister Beuys, weil ich mir in
den Kopf gesetzt hatte über diesen besonderen Mann einen Sonderbericht zu schreiben.
Beuys legte großen Wert darauf, dass seine Botschaft von der `Sozialen Plastik´, einer
Vorstellung von einer gesellschaftsverändernden Kunst, in der das menschliche Handeln,
welches sich auf eine effektive Formung der Gesellschaft ausrichtet, verstärkt einbezogen
wird, alle Menschen erreicht. Aus diesem Grund war er an einem Sonderbericht sehr
interessiert. Seine Theorie besagt, dass jeder Mensch durch kreatives Handeln zum Wohl
der Gemeinschaft beitragen könne und das in diesem Sinne dann auch jeder Mensch ein
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Künstler sei, was dadurch `plastizierend´ oder konstruktiv auf die Gesellschaft einwirkt.
Jeder könnte, oder besser gesagt müsste, deshalb das Leben insbesondere in der Politik und
Wirtschaft sozial und kreativ gestalten. Die Grundlage der Idee einer `Sozialen Plastik´ ist
also der Mensch, der durch Denken und Sprache soziale Strukturen entwickelt. Ich hatte
mich , wie zu Unizeiten, akribisch auf unser Treffen vorbereitet und dann war es endlich so
weit. Doch es kommt ja meistens anders, als man es sich vornimmt und so auch heute.
Vielleicht lag es an der lockeren, beschwingten und dennoch ultralauten Atmosphäre vom
`Creamcheese´ , oder Professor Beuys wollte mich erst einmal kennen lernen; auf jeden
Fall kam kein richtiges Interview zustande. Als wir das `Creamcheese´ betraten, arbeiteten
wir uns durch buntbeleuchtete Nebelwände, während unser Blick sich auf eine
Personenkontur mit Hut konzentrierte. Erst suchten wir eine Weile vergeblich, doch
plötzlich sagte Sascha „ da ist er.“ In der hintersten Ecke, die ansonsten kaum Beachtung
findet, saß er mit drei weiteren Personen, wahrscheinlich seine Lieblingsschüler. Als der
Professor mit Filzhut mich sah stand er auf und sagte „ da ist ja die hübsche Redakteurin
und ihr Gemahl. Na, wie waren denn eure Flitterwochen? Komm, Sascha erzähl mal.“
Sascha hatte das Glück, den Professor schon seit einiger Zeit gut zu kennen. Mein Gemahl
war sogar schon drei, vier mal bei ihm in der Akademie, um nach einem Bericht, so eine
Art Privatunterricht zu nehmen. Aber leider war und ist die Zeit eines Chefredakteurs zu
begrenzt, um eine solche zweite intensive Arbeit in Angriff zu nehmen. Joseph Beuys war
in richtiger Partylaune und so floss eine Bierrunde nach der anderen. Während jeder
Normalbürger zu einer Sache einmal ja oder nein sagt, machte Beuys sich einen Spaß
daraus, einer langen Ja-Kette eine Nein-Kette folgen zu lassen. So sehr ich mich auch
bemühte, Beuys zu einem tiefsinnigen Gespräch zu ermutigen, gab er mir zu verstehen,
dass es für alles eine bestimmte Zeit gibt und heute reichte die Zeit wohl leider nur, zum
gegenseitigen `Beschnuppern´. Durch das viele Bier spürte ich, wie auf einmal alles
lustiger wurde. Leider war aber auch meine Motorik in Mitleidenschaft gezogen. Als die
Beuysbegleiter und Sascha auf der Tanzfläche waren, schöpfte ich ein letztes mal
Hoffnung dem Professor ein paar Weisheiten zu entlocken, aber der schien wohl zu
bemerken, dass ich nun sowieso nicht mehr richtig aufnahmefähig war und sagte „Marie,
weist du eigentlich, dass du eine Künstlerin bist?“ Ich horchte auf und wurde noch mal
nüchtern, doch da kam schon die nüchterne Aussage „auch Künstler müssen mal
entspannen, nicht wahr Marie?“ Ich wollte jetzt aufs ganze gehen und mit einer
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ausholenden Geste schmiss ich sowohl das volle Bierglas des Professors sowie das meinige
um. Ich holte eine Packung Papiertaschentücher heraus, um die Bierlache aufzusaugen,
doch die Packung reichte bei weitem nicht aus. In diesem Moment eilte die Bedienung
vorbei und fragte „ na, was wird denn hier Lustiges veranstaltet?“ Da jetzt sowieso nur
noch Spaß angesagt war, sagte ich „ich mache mich selbstständig.“ Beuys lachte und fragte
„ willst du mir etwa als Aktionskünstlerin Konkurrenz machen?“ Ich tunkte weitere, von
der Bedienung gereichte Papiertücher, in die Bierlache und sagte mit Schalk im Nacken
„nein, ich mache Erfrischungstücher für Alkoholiker. Wie findet ihr das?“ Professor Beuys
und die Bedienung schüttelten sich vor lachen. Von da an wurde es dunkel um mich und
mein frisch angetrauter Mann, musste mich zum Auto tragen. Als ich morgens im
verkaterten Zustand Sascha sowohl um Entschuldigung, als auch um einen Lagebericht
bat, war ich total erstaunt, dass mein Mann mir berichtete, wie begeistert Professor Beuys
von mir war und mich gerne wieder treffen möchte, um mir dann das versprochene
Interview zu geben. Damit hatte ich mit bestem Willen nicht gerechnet. „So ist er eben; ein
richtiger Mensch“, sagte Sascha dazu, mit einem Lächeln und Augenzwinkern. Meine
Möbel und die doppelten Haushaltsgegenstände haben wir dann übrigens Joseph Beuys
und seinen Studenten, für die Atelierräume in der Kunstakademie gespendet. Vielleicht ist
ja mittlerweile so mancher Gegenstand, als umfunktioniertes Kunstobjekt, in einer Galerie
oder einem Museum gelandet. In der Redaktion fand ich es ziemlich interessant, dass die
Kollegen mich, nach meiner Hochzeit mit dem Chefredakteur, respektvoller, aber auch
reservierter behandelten, als ob ich jetzt zu einer anderen Person mutiert wäre. Um gegen
diesen Wind anzusteuern, bemühte ich mich total darum, allen zu zeigen, dass sich ihnen,
meinen Kollegen gegenüber, absolut gar nichts verändert hat. Ich, Marie, habe mich nicht
verbogen, denn ich bin eine ehrliche Haut. Das nächste Treffen mit Professor Beuys
musste auf jeden Fall besser organisiert sein, aber wie sollte man diesen `in Freiheit
schwebenden Geist´ , der stets Herr aller kreativen Prozesse ist, in meinen geplanten
Ordnungsrahmen eingliedern? Irgendwie hatte ich Respekt vor der Aufgabe, diesen
Leithengst einer Kulturepoche einzufangen, um mit ihm in die Prärie, der für mich noch
fremden Welt der Künste, auszureiten. Ich beschloss demnach, für meinen geplanten
Exklusivbericht schon mal die gesammelten Daten zu ordnen und auszuwerten, um dann
durch ein durchdachtes, sich essenziell befruchtendes Gespräch, ein gutes, fertiges Produkt
zusammenstellen zu können. Sollte ich mit der Absturzgeschichte und der wundersamen
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Rettung des Professors, durch Fettsalbung und Einwicklung in Filz, im Krieg, beginnen,
oder sie erst einbauen, wenn ich darstellen wollte, dass Filz und Fett für ihn nicht nur
autobiographische Elemente sind, die sein Leben verlängerten, sondern Inbegriffe
Beuys´scher Kunstmaterialien ausmachen, die ihren ausdrucksvollen Sinn hier als
Kalorienspeicher und schmiegsame Natursubstanz und da als schützende und wärmende
Isoliermasse haben? Die Natur war für Beuys eine verpflichtende Ordnung, welche als
bildliche Darstellung eines abstrakten Begriffes unbegreiflich wirken müsste, aber in der
künstlerisch ausgedrückten Anwendung oft multidimensional plausibel wird. Sascha
erklärte, dass Beuys seine dauerhaften Kunstwerke nicht bloß als statische Schauobjekte
verstanden haben wollte. Für ihn handeln sie zugleich von Wandlungsprozessen und durch
Kreativität beeinflusst Energien. Für Joseph Beuys stand immer die Einheit zwischen
Kunst und Leben im Mittelpunkt. Seine Gedankenstrukturen, sein Kampf gegen die
Zerstörung der Umwelt und für idealere Gestaltungsprozesse des Lebens, ja sein
komplexes Universum, durchdachter Gedanken, all dieses, versuchte er in seinen Werken
umzusetzen und durch mediale Verlautbarungen zu befruchten. Die skurrile Welt des
Professors mit dem Filzhut war einfach zu komplex, um sie all zu nüchtern, mit
Aufzählung von Daten auszufüllen, aber ich war voller Optimismus, dass ein gut
durchdachtes Interview, ein neues, konstruktives Gesamtbild ergeben wird und so verwarf
ich den Gedanken, schon vor dem Treffen mit der Niederschrift der Reportage anzufangen.
Wann würde er mich wohl kontaktieren und wo würde unser erneutes Treffen wohl
stattfinden? Bevor der schwer beschäftigte Professor wieder Zeit für mich hätte, wollte ich
zu dem magischen Treffpunkt zurückkehren, der mich an Woodstock erinnerte, der aber
noch eine weitere bunte Facette, in Form des mehrschichtigen Weltreichs der Kunst,
hinzufügte. Ein Magnet zog mich wieder in die Neubrückstrasse 12, in der Altstadt. Sascha
hatte noch einige Zeit im Verlag zu tun und so bat ich ihn, dass er mich im Creamcheese
abholen kommen solle. Da ich heute zu einem früheren Zeitpunkt dort war und es sich
daher noch nicht so gefüllt hatte, konnte ich das Ambiente des `Gesamtkunstwerkes´ auf
mich einwirken lassen. Ein direkter Blick auf die Decke des Eingangsbereiches vermittelte
mir das Gefühl, dass ich ein multimediales Kunstobjekt betreten habe, denn dort hingen an
den Füßen angebrachte, aufgeblasene Plastikenten, die nach unten hingen. Von der
Mediawand mit den 24 Fernsehern flimmerten entfremdend gefilmte Aktivitäten der
Tanzfläche und während ich weiter durch das Wunderland schritt, steuerte ich auf die
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endlos wirkende, mit hochglänzenden Aluminiumlamellen verkleidete Theke, in der sich
das wild flackernde Discolicht wiederspiegelte; als würden bunte Lichtgestalten einen
futuristischen Tanz aufführen. Im Hintergrund schien die ebenfalls strahlende Thekenwand
zu vibrieren, da sich darin jede Bewegung aktiv, aber verzerrt spiegelte. Überall wimmelte
es von avantgardistischen Kunstwerken, wie utopisch wirkende Hohlspiegelobjekte und
andere betrachtenswerte Fantasieskulpturen, die durch grellbunte Neonwände verstärkt
betont wurden. Eine große Wandfläche setzte sich jedoch durch das Gemälde eines
hübschen Pop-Up-Girls ab, welches dem Betrachter den Allerwertesten entgegenstreckt.
Vielleicht war dieses Motiv ein bisschen zu gewagt, denn genau an der Pofläche konnte
man erkennen, dass hier zahlreiche Raucher ihre Zigaretten ausgedrückt haben. Über der
empor gehobenen Tanzfläche konnte ich jetzt deutlich erkennen, dass dort ausgefallene
Experimentierfilme von einer Bildschirmdecke herunterstrahlten, so dass man sich selbst
in der Tanzbewegung, in eine skurrile Fantasiewelt hineinträumen kann. Während meines
multimedialen Betrachtungsexkurses dachte ich darüber nach, was einem doch so alles
entgeht, wenn man auf andere Dinge konzentriert ist. In die genau entgegengesetzte
Richtung gedacht, konnte ich nun verstehen, dass Betrachter von tiefsinnigen Kunstwerken
kein Verständnis aufbringen können, wenn sie eine Sache minimalistisch oder objektiv
naiv betrachten. Plötzlich vernahm ich ein disharmonisches Schlaggeräusch, dass nicht
zum Takt der Musik passte und als ich zur hinteren Ecke schritt, wo Sascha und ich mit
Beuys und seinen Meisterschülern saßen, war dort ein Mann damit beschäftigt, Nägel in
ein Objekt zu hämmern. Ich ging auf ihn zu und fragte ihn, ob dies so eine Art LivePerformance sei. Erst schaute mich der Mann verdutzt an und dann fing er an zu lachen
und sagte „ nein, nein, ich gehöre praktisch mit zum Inventar und habe das ganze mit ins
Leben gerufen. Wer bist denn du?“ Jetzt wurde ich neugierig und sagte „ich bin Marie vom
Düsseldorfer Kurier und möchte einen Sonderbericht über Professor Beuys machen.“ Der
Mann strahlte und erwiderte lächelnd „ über Joseph?, wir sind gute Freund und Kollegen.
Der wollte übrigens auch gleich kommen, weil der sich wirklich auf eine LivePerformance vorbereiten will.“ Der nette Mann stellte jetzt sein Kunstobjekt beiseite und
fuhr weiter fort „ich bin übrigens der Jünther“, wobei er mir seine Hand reichte. Dann
fragte er mich „kennst du die Entstehungsgeschichte mit samt der Namensgebung vom
Creamcheese?“ Ich verneinte, während die Bedienung auf uns zukam und mich lächelnd
wiedererkannte „du bist doch die Marie, die sich mit Erfrischungstüchern selbstständig
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machen will. Was wollt ihr denn trinken?“ Jünther übernahm die Initiative und sagte
„bring uns mal zwei Bier Blinky.“ Erst dann fragte er mich „du trinkst doch eins mit,
Marie?“, was ich natürlich nicht abschlagen konnte. Als der nette und adrette Kellner
wieder zur Theke schritt, sagte Jünther „das ist übrigens Blinky Palermo, ein Kunststudent
vom Joseph Beuys.“ Ich war total überrascht und fragte „ und der arbeitet hier?“ Jünther
erwiderte „Ja und er ist nicht der einzige Student der Kunstakademie, der hier involviert
ist, denn wie du siehst ist ja das ganze Creamcheese ein tolles Kunstobjekt.“ Jetzt begann
ein echt tolles Gespräch, bei dem ich erfuhr, dass Jünther in der weltberühmten New
Yorker Underground-Kultstätte `the Dome´, wo Andy Warhol mit der Gruppe Velvet
Underground multimediale Happenings inszenierte, sich Inspirationen für diese
gleichgepolte Kulturfusion- Location geholt hat, in der wir uns gerade befanden. In
Düsseldorf hat er sich dann mit Künstlerfreunden der Szene zusammengesetzt, wobei erst
die Ideen und dann die Planungen nur so aus ihnen heraussprudelten. Ganz stolz erzählte
Jünther mir dann, dass er mit einer Infrarotkamera Tanzszenen, die er lebende kinetische
Plastiken nannte, auf der Bühne gedreht hat, die jetzt über die Bildschirme der TVWandinstalation laufen und dass er in der Anfangszeit auch die Lichtorgeln im Takt zu den
Musikrhythmen gesteuert hat. Dies war alles ein Novum, genauso wie das selbstgebaute
Stroboskop und die blinkende Leuchtreklame im Schaufenster. Jünther steuerte auch den
`elektrischen Garten´ und die `Windmaschine´ zur Einrichtung der Kultur-Wunderwelt bei.
Jünther berichtete, dass der Name des Lokals auf Suzi Creamcheese, eine Kunstfigur aus
Frank Zappas, im Jahre 1966 herausgegebenen Albums zurück geht und das Zappa schon
paar mal hier persönlich gewesen sei. Als ich ihm dann von Woodstock erzählte, erwiderte
Jünther begeistert, dass es bereits im Juli 1967 einen `Summer of Love´ gab und dass dann
das Creamcheese eröffnet wurde. Schließlich stand er da, der große Meister mit dem
Filzhut und war ganz verdutzt, als er mich sah, doch schon im nächsten Augenblick, blitzte
der Schalk aus seinen Augen und fragte mich auf Jünther deutend „ du hast ihm doch nicht
etwa deine neuen Erfrischungstücher angeboten?“ Jünther fragte ganz neugierig „ was
denn für Erfrischungstücher?“ Beuys sah mich an und bemerkte, dass ich knallrot wurde
und winkte mit dem Kommentar ab „ach Jünther, die sind eh nix für dich“, konnte es aber
nicht sein lassen mir folgenden Jux ins Ohr zu flüstern: „Wir bestellen jetzt Bier und
Taschentücher und dann kannst du für die Live-Performance heute Abend welche
anfertigen.“ In diesem Moment wusste ich wirklich nicht, ob er das ernst meinte und mich
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vielleicht in eine Art `Spontan-Fluxus-Kunstaktion´ einbinden wollte. Beuys hatte aber
auch noch einen prägnanten Lehrsatz für mich parat: „siehst du Marie, Zufälle sind doch
öfters positive Energien.“ Ich freute mich wirklich mit zwei so tollen und interessanten
Männern reden zu dürfen. Unser erweitertes Gespräch zu dritt ergab dann auch so
fruchtbare Feststellungen, wie, dass der Werbemacher von Afro-Cola seine abgefahrenen
Ideen hier im Creamcheese gefunden haben muss. Professor Beuys erzählte mir dann noch,
dass Jünther der Meister der Nägel ist und Frank Zappa recht gut kenne. Jetzt wo Beuys
dabei war, wurde es unter den beiden Kollegen richtig philosophisch und so sprachen sie
davon, dass aus dem Laborversuch `Creamcheese´ mit den Anfangsslogans `Bewegt euch,
lasst euch bewegen´ und `Kunst als Unterhaltung und Unterhaltung als Kunst´ , ein
internationales, multimediales Kunstobjekt geworden ist; eine dynamische Skulptur, bei
der die Leidenschaftsverschmelzung der ganzen Ereignisse zu einer befreienden,
berauschenden Reizüberflutung geführt hat und sich alle Beteiligten im Spektakel
produzieren. So erfuhr ich, dass im Creamcheese eine futuristische Modenschau
stattgefunden hat, bei der die nur mit Sprühcreme und Gemüseblätter bekleideten Models
nicht viel von ihren Auftritten hatten, weil sie das Pech hatten, dass zu dieser Zeit eine
Polizeirazzia durchgeführt wurde und man die Halbnackten wie Straftäter abführte. Dazu
sagte Beuys zu mir „ siehst du Marie wie wichtig es ist, dass wir durch Kunst die Welt
verändern und im Prozess der sozialen Skulptur langsam die Macht übernehmen.“ Jetzt
warf er mir endlich ein Stichwort zu, um die Gelegenheit wahrzunehmen, um für meinen
Sonderbericht Fakten zu sammeln und ich fragt ihn „ und das willst du allen durch Filz und
Fett klarmachen? Verstehe mich bitte nicht falsch, aber wie soll man Fett oder
Schimmelkäse für die Nachwelt erhalten?“ Als ich den Gedanken ausgesprochen hatte,
dachte ich noch „Mist, jetzt hast du dir durch deine Provokation alles versaut“, doch was
antwortete der Professor? „Oder durch Erfrischungstücher“ sagte er lachend und schlug
mich mit meinen eigenen Waffen, aber er sagte auch nachdenklich „Mensch du,
Schimmelkäse wäre mal ein farblich wirkender Gegensatz zu Fett, der aber leider schon zu
sehr durch humane Prozesse beeinflusst wurde.“ Dann sagte er aber gleich, warum er noch
nicht auf meinen Interviewwunsch eingehen wollte „Marie, das klären wir noch alles in
einem persönlichen Gespräch. Du hast ja schon beim letzten Treffen gemerkt, dass es hier
für ein tiefsinniges Gespräch zu lebhaft ist.“ Ich nickte einsichtig und sagte schon fast
ehrfürchtig „Okay, Herr Professor“, worauf er schon fast beleidigt antworte „ nenn mich
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bitte Joseph, Marie. Wir müssen uns von diesen eingeimpften Zwängen lösen und lockerer
auf einander zugehen.“ Danach bereitete er sich auf seine Performance, für den
gemeinsamen Auftritt, mit einer experimentellen Avantgardeband vor, in dem er
yogaartige Bewegungen machte, oder mimische Grimassen zog. Da Jünther die
Vorbereitungen des Professors nicht mit seinem Gehämmer stören wollte, zog er sich mit
seinem Nagelobjekt wohl in sein Werkstattatelier zurück, wobei er sich locker mit den
Worten „ich bin dann mal weg“ und „man sieht sich“ verabschiedete. Joseph Beuys ließ,
ganz in seiner `künstlerischen Arbeit´ versunken, eine Verabschiedungsgeste in seinen
Bewegungsablauf mit einfließen. Anstatt, dass nun mehr Aktivität in die
Übungsperformance des Filzhutträgers einfloss, schien sein Gesichtsausdruck einzufrieren.
Als ich glaubte, dass Joseph eine Pause machte, fragte ich ihn „ kommt denn jetzt noch
eine verbale- oder gesangliche Einlage?“ Beuys machte erst eine Ruhe fordernde Geste,
doch dann musste er lachen und sagte „wenn ich singe ist die ganze Bühnenshow im
Eimer.“ In diesem Moment sah ich im Lichtnebelgemisch die Kontur meines geliebten
Mannes auf mich zukommen. Während er mich schließlich herzlich begrüßte, warf er dem
Professor nur einen Gruß entgegen, um ihn nicht zu stören. Ich war total gespannt, den
berühmten Kunstprofessor bei der Liveaktion mitzuerleben, doch Sascha kam leider nur
vorbei, um mich zu einem kurzfristig angesetzten Gespräch mit dem Big Boss, unserem
Verleger, abzuholen. Klar, dass dieses schlechte Timing meine Laune in den Keller sinken
ließ. Um den Professor nicht weiter zu stören, winkten wir ihm zum Abschied nur zu,
wobei sich bei ihm nur seine Augen als Abschiedsgeste auf und zu bewegten. Was mochte
das wohl für ein wichtiger Antrittsbesuch beim Chef sein, dass er uns noch so spät zu sich
kommen ließ? Wenn er mich bei dem Liveauftritt im Creamcheese gelassen hätte, wäre
mein Besuch, zu einem späteren Termin, fruchtbarer gewesen, denn unser Chef hat wohl
einen Bericht über Professor Beuys im Fernsehen gesehen, was wiederum seine Neugierde
bezüglich meiner Recherchen geweckt hatte. Mensch, war das ein megablödes Timing,
denn außer einem improvisierten Bericht hatte ich nicht mehr vorzuweisen. Sascha half
mir mit seinem Wissen zwar noch unter die Arme und der Chef war auch nicht sauer, aber
man merkte auch, dass er nicht sonderlich befriedigt war und so lastete nun ein noch
stärkerer Druck auf mich. Glücklicherweise dauerte es dann auch nicht lange, bis sich
Professor Beuys bei mir im Büro telefonisch meldete. „Hallo Marie, wenn du möchtest,
können wir uns heute Mittag vor dem Kaufhof, gegenüber der Tritonengruppe , treffen“,
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lautete seine erfreuliche Botschaft. Ich war total happy und sagte voller Freude und
Enthusiasmus zu. Als ich mich dann mittags vom Verlag, über die Kö, zum Kaufhof
aufmachte, überlegte ich unterwegs schon, welche Fragen bei unserem Gespräch Priorität
hätten. Mein Gedankenrepertoire löste sich aber in alle Bestandteile auf, als ich vor dem
Eingang der Kaufhoffiliale an der Kö einen kalkweiß geschminkten Menschen neben dem
auffälligen Filzhutträger Flugblätter verteilen sah. Was hatte Beuys bloß vor? Sollte das
geplante Interview etwa öffentlich, als Bestandteil einer Demo, stattfinden? Als ich vor
dem Professor stand, drückte er mir ein Päckchen Flugblätter in die Hand und sagte „ wenn
du willst, kannst du dich nützlich machen.“ Während ich mir daraufhin den Titel `Regiert
euch selbst´ und dann die Botschaft des Handzettels durchlas, waren Professor Beuys und
sein kalkweiß geschminkter Mitarbeiter damit beschäftigt, engagiert mit Passanten über
das Erreichen von politischen Veränderungen zu diskutieren. Nachdem ich das Flugblatt
durchgelesen hatte, stand ich da in mitten des Passantengewimmels, mit den Flugblättern
in den Händen und wusste nicht wie ich reagieren sollte. Als ich mich einigermaßen
gesammelt hatte, war ich fest entschlossen die Gespräche mitzuschreiben und so hatte ich
schließlich das erste Berichtsmaterial zusammen, ohne selbst verbal einschreiten zu
müssen. Als die beiden Aktivisten keine Flugblätter mehr hatten, kam das `Politgespenst´
auf mich zu und befreite mich von der ungewohnten Last, der restlichen Handzettel. Diese
waren dann zum Glück schnell verteilt und so am frühen Nachmittag sagte Professor
Filzhut frohgelaunt zu mir „So Marie, komm jetzt gehen wir zur Kunstakademie, da
werden wir uns dann unterhalten. Das Kalkgespenst kam natürlich auch mit. Beuys hatte
sich von seiner politischen Aktivität noch gar nicht richtig gelöst und warf unterwegs nur
politische Themen in den Raum. Daher hoffte ich in der Kunstakademie auf meine große
Chance, doch der kalkweiß geschminkte Aktivist wich einfach nicht von unserer Seite, bis
ich endlich begriff, das er auch ein Schüler vom Professor war. Aber würde der bei
unserem geplanten Interview etwa dabei sein?, war meine quälende Frage, die mich
ziemlich beunruhigte. Es sollte dann noch schlimmer kommen, denn wir schritten in einen
saalgroßen Atelierraum, der gerammelt voll mit sämtlichen Schülern des Großmeisters
war. Ich hatte das Gefühl, dass sämtliche Nachbarklassen der Akademie anwesend waren,
denn so groß konnte niemals eine Klasse der Kunstakademie sein. Bevor ich weitere
Eindrücke sammeln konnte wurde ich auch schon der Menge vorgestellt: „Das ist Marie,
welche als mein persönlicher Gast, bei unserem heutigen Ringgespräch mit anwesend sein
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wird.“ Ich wurde echt nett begrüßt und außer Blinky Palermo, der netten Bedienung aus
dem Creamcheese, erkannte ich noch den Mann mit schwarzem Gewand und schwarzem,
breitwandigen Hut und jene Künstlerin, welche selbst wie ein Kunstwerk umherwandelte,
die beim ersten Treffen im Creamcheese mit am Tisch saßen. Blinky ließ sich den Spaß
nicht nehmen und stellte mich vor versammelter Mannschaft als
`Erfrischungstuchkünstlerin´ vor, was einzelne Kommilitonen sogar als tolle Idee
empfanden und mich wiederum in den Zugzwang brachten, meine `fiktive Idee´ zu
erläutern. Zum Glück ratterte in diesem Moment ein Motorrad im Akademieflur herbei und
lenkte von meiner Erklärungsnot ab. Als ich dann einen Polizisten den Ateliersaal betreten
sah, dachte ich erst, dass der bestimmt wegen der Flugblattaktion vor dem Kaufhof
gekommen ist. Nach der Aufklärung, dass der Polizist auch ein Beuysschüler war, hätte ich
gern mein verdutztes Gesicht gesehen. So war ich nun anstatt bei einem erhofften
Vieraugengespräch mit dem berühmten Filzhutträger, inmitten eines der Ringgespräche
gelandet, welches der Professor in gewissen Abständen mit seinen Studenten abhielt. Da
ich wieder fleißig mitschrieb, gab dies auch wieder fruchtbaren Berichterstattungshumus
für meinen Bericht. Heutige Themen waren die heutige Flugblattaktion `Regiert euch
selbst´ , die Organisation eines freien internationalen Kunstmarktes, welchen man im
Herbst in der Kunsthalle abhalten wollte und natürlich auch die `Soziale Plastik´ und wie
jeder Anwesende dazu beitragen könne, sie lebendig werden zu lassen. Bei den
Erläuterungen wurden strukturelle Bezüge hergestellt, die aufzeigten, dass alle
geschaffenen Werke nicht ausdruckslos bleiben dürften, sondern auch eine
Auseinandersetzung mit der Philosophie, der Literatur, der Natur- und Sozialwissenschaft
und weiteren wichtigen Sparten der Kultur hervorrufen müssen. Beuys wollte nicht nur
seinen Studenten vermitteln, dass jeder Mensch, der den Wunsch hat Kunst zu studieren,
unabhängig vom Zulassungsverfahren und Numerus Clausus und so sorgte seine jetzige
Botschaft für spitze Ohren, denn er gab offiziell bekannt, dass er alle von seinen Kollegen
abgewiesenen Bewerber, in seine Klasse aufnehmen werde. Deshalb war der Ateliersaal
heute auch so gerammelt voll. Bei dieser Verlautbarung mischte sich ein akustisches
Gemenge aus Raunen und Beifall klatschen. Da war er, der dicke Aufhänger für meinen
Sonderbericht. `Zufälle sind öfters positive Energien´ sagte Beuys noch zu mir, aber wie er
mich heute gesteuert und selbst hat recherchieren lassen, zeigte mir, welch ein großer
Lehrmeister er war. Als alle Studenten die Akademie verlassen und ich die wichtigste
Die skurrile Welt des Mannes mit dem Filzhut - 13
Berichtsessenz zusammengefasst hatte, schritt der große Professor mit dem Filzhut zu
einer Besenkammer, schnappte sich dort Besen, Handkehrer, Aufkehrschaufel und
Plastikbeutel und bewegte sich zum Flurgang und sagte mir, dass ich ihm noch Fragen
stellen könnte, die ich auf dem Herzen habe, während er zum Ausgang marschierte. Der
Professor fegte nun den ganzen Bürgersteig und sogar die Strasse sauber, wobei er mir
noch Rede und Antwort stand. Dabei erfuhr ich, dass Mitte Juli 142 von 232 Bewerber für
ein Lehramtsstudium im normalen Zulassungsverfahren abgelehnt wurden und dass er
daraufhin dem Akademiedirektor einen Brief geschrieben hatte, in dem er diesem mitteilte,
dass er alle 142 abgewiesenen Anwärter in seiner Klasse aufgenommen hat. Während ich
die Schippe hielt, auf die Beuys den Dreck kehrte, welchen wir dann in den Müllsack
kippten, erklärte er weiter, dass sich der Direktor stur stelle und er deshalb morgen vor der
Presse den Brief öffentlich vorlesen werde. In mir fuhren sämtliche Eilzüge Achterbahn,
weil bereits morgen die ganze Presse von dieser kleinen Sensation erfahren würde.
Nachdem ich mich beim Professor bedankt und verabschiedet hatte, hetzte ich wie eine
Marathonläuferin zum Verlag. Nassgeschwitzt und außer Atem stürzte ich in Saschas
Büro, der vor Schreck richtig zusammenfuhr. Doch bevor er sich beschweren konnte,
berichtete ich ihm von meinem wertvollen Insiderwissen und wir kamen überein, schon in
der Morgenausgabe, als erste mit dieser Schlagzeile an die Öffentlichkeit zu treten. Sascha
rief sofort seinen Chef an, welcher begeistert den Auftrag an Sascha erteilte, in der
Druckabteilung Meldung zu machen, dass der Fall auf Seite Eins erscheint. So sorgte der
Mann mit dem Filzhut dafür, dass mein erster Bericht, gleich als Aufmacher auf der ersten
Seite erscheint. Sowohl mein Gatte, als auch unser Chef lobten mich, dass dies ein echt
gelungenes Debüt gewesen sei, welches nur wenigen Anfängern der schreibenden Zunft
gelungen ist. Am nächsten Morgen war unser Kurier tatsächlich das erste Blatt, welches
über diese kulturgeschichtliche Meldung schon im Vorfeld so detailliert Auskunft geben
konnte. Als Professor Beuys dann seinen Brief vor der Presse öffentlich vorlas, war eine
riesige Menschenmenge, hauptsächlich aus Presse- Fernseh- und Radioleuten anwesend.
Die Antwort kam schon am nächsten Tag vom obersten Arbeitgeber des Professors, dem
Wissenschaftsministerium. Dort wurde uns, der Presse mitgeteilt, dass die Zulassung der
Studiumsbewerber nicht genehmigt und ihnen ein Studium an einer anderen Akademie
angeboten werde, da die Düsseldorfer Akademie mittlerweile total überfüllt sei. Nach
diesen ereignisreichen zwei Tagen hatte ich wieder einen interessanten Traum. In dieser
Die skurrile Welt des Mannes mit dem Filzhut - 14
Fantasiewelt vermischte ich zwei beeindruckende Welten miteinander: Zum einen die
bunte Multimediawelt von Woodstock und zum anderen die skurrile Welt des
Großmeisters mit dem Filzhut. Ja, in meinem Traum war Joseph Beuys tatsächlich in
Woodstock. Während sich Santana, Hendrix und Cocker ein `Stelldichein´ auf der Bühne
gaben, verhüllte Beuys die ganze Bühne in Fett, bis ein musikboxähnlicher Block
fertiggestellt war, aus dem Psychedellic Rockmusik erklang. Die ausgehungerten Hippies,
alles mit Farbklecksen beschmierte Beuysschüler, stürzten sich auf die immer bunter
werdende Fetttorte um sie aufzuessen. Plötzlich rückte ein Heer von Polizisten an, um die
`Heuschreckenplage´ zu vertreiben, doch die `Kunsthippies´ zauberten aus dem
Bühnenboden riesige Flugblätter, in welche die Polizisten eingewickelt wurden. Als ich
wach wurde überlegte ich, ob die psychedellisch bunte Wunderwelt von Woodstock, oder
die skurrile, plastisch werdende soziale Skulptur des Großmeisters mit Filzhut, massiver
auf mich eingewirkt haben und ich kam zu dem Entschluss, dass die Lösung irgendwo in
der Verschmelzung beider Regenbogenenden im fernen Fantasiebereich des Wunderlandes
von Oz liegen muss. Aufgrund der Vorkommnisse um die Schlüsselfigur Beuys kamen
Sascha und ich zu dem Fazit, dass das nächste Ringgespräch ein journalistischer Hammer
werden müsste und so ließen wir es uns nicht nehmen, zu diesem Ereignis, welches
ungefähr zwei Wochen später stattfand, anwesend zu sein. Es wurde dann noch
ergreifender, als wir es uns vorgestellt hatten, denn als wir die Akademie betraten und uns
den Atelierräumen von Professor Beuys näherten saßen Kunststudenten mit Tischen in den
Gängen, oder sogar auf Treppen und Böden; alles war gerammelt voll und es gab kein
Durchkommen mehr. Dementsprechend schwer war es schließlich auch, zum anberaumten
Ringgespräch überhaupt noch Zugang zu bekommen. Professor Beuys stellte den
Rattenfänger von Hameln bei weiten in den Schatten, denn der ganze Presserummel
bewegte sämtliche Studenten dazu, die irgend ein anderes Studium abbrachen, nur um bei
Beuys zu studieren, nach Düsseldorf zu kommen. Sascha sprach eine Studentin an, die
verkniffen an ihrem, auf dem Boden ausgerollten Werk arbeitete und fragte sie nach der
Aufgabenstellung des Professors. Die junge Studentin schaute meinen Mann fragend an
und erklärte dann, dass Gespräche in der Gruppe stattfanden und dass daraufhin jeder dazu
angehalten wurde, auf seinen Intentionen aufzubauen und nur bei desorientierten Phasen
Fragen stellen könne, damit sich der in Gang gesetzte Prozess dann klären würde. Ein
etablierter Meisterschüler, der vom Professor beauftragt wurde, mal nach dem Rechten zu
schauen, trat hinzu und erklärte, dass Professor Beuys nur selten konkrete Aufgaben erteilt,
Die skurrile Welt des Mannes mit dem Filzhut - 15
da er größeren Wert darauf lege, dass die Studenten eigene Inhalte, Ziele und
Lösungswege finden. Wenn man sich dann wirklich sicher sei, zu einem fruchtbaren
Endergebnis gekommen zu sein, kann man ihm sein Ergebnis zur Korrekturbesprechung
vorlegen. Genau in diesem Moment rannte eine Schülerin weinend und mit zerrissenem
Gemälde in ihren Händen aus einem Atelierraum genau in unsere Arme. Ich wollte sie
trösten und fragen, ob sie Streit mit einer Kommilitonin gehabt hätte, worauf sie
schluchzend erklärte, dass Professor Beuys persönlich ihr Bild zerrissen und sie
aufgefordert hat, noch einmal ernsthaft zu überdenken, ob denn Kunst überhaupt das
Richtige für sie sei. Ich schaute den bei uns stehenden Meisterschüler provokativ fragend
an, worauf dieser klarstellte: „das sind produktive Reinigungsprozesse unseres Professors“,
und als wäre der Vorfall Normalität des Kunstalltags gewesen fügte er hinzu „Professor
Beuys hat sogar schon einmal eine Plastik zerhackt und als skulpturalen Akt deklariert,
aber so ein Vorgang kann eine reinigende Wirkung nach sich ziehen.“ Wow, ich war platt,
denn das hätte ich dem Bildner der sozialen Plastik nicht zugetraut. Das Ringgespräch, das
im größten Ateliersaal, welches Beuys zur Verfügung stand, stattfand, war dennoch
überfüllt und wurde sogar noch von im Gang stehenden Leuten mitverfolgt. Alles starrte
gespannt auf den Retter der abgewiesenen Kunststudiumsbewerber und wenn man in ihre
Augen schaute, sah man, dass sie von der charismatischen Ausstrahlung des Professors
beeindruckt waren. Wer auch sonst setzte sich so für sie ein? Nur Beuys war für sie der
personifizierte Widerstand gegen das konservative Establishment, welches den starren,
stagnierenden Zeitgeist verkörperte. Professor Beuys bot den Ignoranten die Stirn und
stellte nicht nur durch seine `Verlängerung der Gedanken´ in Form seiner Werke, etablierte
Wirtschaftswunderwerte, die mittlerweile zur Bewegungslosigkeit und unproduktiven
Statik geführt haben, in Frage, welche Mitgenossen seiner Generation aber wortlos
hinnahmen. Ja, Beuys war trotz seines Alters offen und produktiv rebellisch und heute war
er besonders aufgebracht. Er gab bekannt , dass man ihm vom Minister Rau, dem Chef des
Wissenschaftsministeriums mitgeteilt habe, dass man den abgewiesenen und von ihm
aufgenommenen 142 Bewerbern, nicht einmal die von ihm angebotenen zwei
Probesemester gewähren will, weil sie die Akademie, durch das notwendige
Aufnahmeverfahren, arbeitsfähig erhalten wollen. Beuys ließ nun seine Schützlinge zu
Wort kommen und kündigte dann an, dass er die Willkür des Ministers nicht
widerstandslos hinnehmen werde. In der Redaktion führte ich schließlich mit Sascha ein
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resümierendes Nachfolgegespräch, bei dem ich die Frage aufwarf, warum Beuys sich wohl
so intensiv für die abgewiesenen Studienplatzbewerber einsetze und seinen eigenen
Lehrstuhl gefährde, obwohl die Akademie mittlerweile einem überfüllten Flüchtlingslager
gleiche. Sascha sagte darauf mit ernster Miene „ Professor Beuys ist in Wirklichkeit ein
weiser Diplomat, der mit voraussichtlichem Weitblick verhindern möchte, dass wieder aus
einem abgewiesenen Kunststudiumsanwärter ein Diktator aufersteht, der nach seiner
erlittenen Schmach seine ganze Kraft, anstatt in Werke des Schaffens, in destruktive
Elemente des Hasses steckt, um sich an seine `Peiniger´ zu rächen, die sein
Selbstwertgefühl zutiefst verletzt haben.“ Bei seiner Energie, die Beuys in seinem
Widerstand gegen die Landesregierung aufwand, konnte man wirklich das Gefühl
entwickeln, dass er einen dritten Weltkrieg verhindern wollte. Aber in Wirklichkeit
kämpfte der Professor, meiner Meinung nach, für die Umsetzung seiner sozialen Plastik
und wollte nicht, dass seine in die Praxis umgesetzte Idee, nun schon im Keim erstickt
werden sollte. Später erklärte Beuys auch seine Tätigkeit als Lehrer, zu seinem größten
Kunstwerk und wenn man die Vielzahl der Kunstkarrieren bedenkt, die aus seiner Klasse
hervorgegangen sind, hatte er damit recht. Professor Beuys wollte die verloren gegangene
Einheit von Geist und Natur wieder zusammenbringen und das zweckgerichtete Denken zu
einem `ganzheitlichen Verstehen´ umlenken. Die Welt musste zur Neuorientierung bewegt
werden und eine neue soziale Bewegung musste entstehen. Der sich daraus entwickelnde
soziale Organismus, in dem sich jeder Mensch kreativ beteiligt und dadurch gleichzeitig
auch zum Künstler wird, war für Beuys ein globales Kunstwerk, welches er als `soziale
Plastik´ deklarierte. Wenn die gesamte Menschheit an diesem neuen sozialen
Gesellschaftssystem mitarbeitet, würden sie zur `lebendigen Substanz dieser Welt´. Der
Professor mit dem Filzhut sah also seine Mission in Gefahr und kämpfte wie Don
Quichotte gegen das politische Windmühlensystem. So kam es dazu, dass Beuys am
15.Oktober (1971) mit 17 Studenten seiner Gruppe das Sekretariat der Kunstakademie
besetzte. Wir waren schließlich alle positiv überrascht, als der `Don Quichotte der Kunst´ ,
auch durch unseren medialen Druck, erreichte, dass der Wissenschaftsminister Johannes
Rau, ein versöhnliches Gespräch mit ihm führte, was dazu führte, dass die Kunstakademie,
gegen den Willen des Akademiedirektors, jedoch mit Empfehlung des
Wissenschaftsministeriums, die abgewiesenen Bewerber aufnahm. So wurde noch im
gleichen Monat in Münster eine Ausbildungsstätte für Kunsterzieher, als Außenstelle der
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Düsseldorfer Kunsthochschule, oder auch ein Auffangbecken für den riesigen Schwarm
bunt schillernder Kunstfische, gegründet. Das Ministerium ließ aber klar und deutlich
verlautbaren, dass dies eine Ausnahme war und solche Situationen nicht mehr geduldet
werden. Ende Januar 1972 fand an der Düsseldorfer Kunstakademie, eine Konferenz über
das Zulassungsverfahren statt, in der beschlossen wurde, dass die Größe einer Klasse auf
30 Studenten begrenzt wird. Joseph Beuys war selber anwesend und hatte alles
mitbekommen und obwohl seine Klasse im Sommer 268 immatrikulierte Kunststudenten
ausmachte, was ja schon den Rahmen total sprengte, wollte er die 125 abgewiesenen
Studenten wieder in seine Klasse aufnehmen. Dieses mal wurden die Regeln bereits
Anfang des Jahres klar festgelegt, um sich auch gegen die Gewalt der Öffentlichkeit und
Medien abzusichern. Der `Don Quichotte der Kunst´ hatte aber eine Vision verinnerlicht,
die ihn unumstößlich dazu antrieb, wieder das Sekretariat der Kunstakademie zu besetzen.
Dieses mal folgten ihm 80 Studenten, eigentlich 79, denn Joseph ließ mich
freundlicherweise Anteil nehmen. Der Direktor war verständlicherweise außer sich vor
Wut, da man sich schon wieder über ihn hinwegsetzte , doch Professor Beuys ermutigte
uns mit dem Slogan „das hier ist ein überaus wichtiger künstlerischer Prozess“, und „der
höchste Sinn der Plastik liegt im Menschen bilden und dafür sind wir hier und kämpfen.“
In seiner ohnmächtigen Lage sah sich der Direktor wieder dazu genötigt, sich hilfesuchend
an Minister Rau zu wenden, der daraufhin unseren Professor ein letztes mal zur Vernunft
aufrufen wollte. Doch Beuys blieb seinen Prinzipien treu und somit eisenhart, was dazu
führte, dass der Direx mit Siegespose in das Sekretariat eintrat, um unserem Professor die
fristlose Kündigung mitzuteilen. Eigentlich war damit doch alles verloren, aber wie
reagierte unser großer Meister? „Und wenn sie mit Panzern kommen“, rief er aus „ich
bleibe“. Jetzt waren die Fronten verhärtet und der Minister wollte auch nicht mehr
diskutieren; drohte sogar mit dienstrechtlichen Konsequenzen. Das Spektakel rief wieder
sämtliche Medien auf den Plan, doch nur ich hatte das Vorrecht mitten drin statt nur dabei
zu sein. So kommunizierten Professor und Minister nur noch über die Medien. Rau ließ
verlautbaren „auch wenn Herr Beuys malt, darf er keinen Hausfriedensbruch begehen“,
worauf Beuys entgegnete „ich halte mich an höheres Recht.“ Als Rau und das restliche
Deutschland schon im Bett lagen, verharrten wir bei Kerzenlicht im Sekretariat. Es
herrschte eine Mischung aus beklemmenden Druck und romantischem
Zusammengehörigkeitsgefühl. Eigentlich müsste man diese Nacht als
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`Sonderringgespräch´ bezeichnen, denn Professor Beuys malte mit Kreide auf dem Boden
Gebilde aus Kunstbegrifflichkeiten und politisch, sozialen Strukturen. Er unterrichtete für
seine Vision selbst nachts, obwohl der Hintergrundgedanke der fristlosen Kündigung über
uns schwebte. Als ich ihn fragte, ob er denn gar nicht müde sei, winkte der Professor ab
und mahnte, dass er unter den gegebenen Umständen wieder seinen `Lieblingsalptraum´
haben werde. Nachdem nun sämtliche Studenten und Bewerber darum bettelten, dass er
seinen Traum doch zum Besten geben möge, fing er auch schon an zu erzählen: „Dieser
Alptraum hat mich schon Hunderte mal genervt. Ich stehe also morgens aus dem Bett auf
und stelle fest, dass mein Bein im Bett geblieben ist. Ich hole mir daraufhin
Zeitungspapier, um mein Bein darin einzuwickeln und gehe damit zum Arzt. Der Arzt
schaut sich das Problem an, holt mein Bein aus dem Papier und hält es einfach an meinem
Körper dran und schon ist wieder alles in Ordnung.“ Jetzt stellte ich fest, dass mich mit
dem Professor eine Welt der verrückten Träume verband, nur das ich das Glück habe, nicht
immer das gleiche träumen zu müssen. Was würde wohl der Morgen bringen? Viel Schlaf
haben wir im Sekretariat alle nicht gefunden. Ich war eigentlich die einzige, die einen
sicheren Job hatte, denn sowohl Sascha, als auch die Redaktion waren bei diesem
Sondereinsatz eingeweiht. Am anderen Morgen standen dann zwar keine Panzer vor der
Tür, aber dafür ein Trupp Polizisten, welche dem Professor nun die fristlose Kündigung
auch schriftlich überreichten. Jetzt mussten wir uns der Übermacht leider beugen und unser
Abenteuer beenden. Das Wissenschaftsministerium ließ uns, der Presse, zu dieser
Maßnahme mitteilen, dass der Rausschmiss das endgültig letzte Glied, einer Kette
ständiger Konfrontationen des Professors mit der Akademie war. Ich hatte wieder einen
tollen Exklusivbericht vorzuweisen, aber der Titelheld hatte seinen ersten Kampf verloren.
Doch seine Anhängerschar ließ ihn nicht im Stich und reagierte mit Hungerstreiks,
Unterschriftenaktionen, Transparenten auf denen zum Beispiel `1000 Raus ersetzen noch
keinen Beuys´ stand, einem dreitägigen Vorlesungsboykott und Infowänden. Das war aber
noch nicht alles, denn der Eklat hatte die ganze Welt erreicht, was dazu führte, das
zahlreiche Telegramme und Protestbriefe aus der ganzen Welt das
Wissenschaftsministerium zuschüttete. Auch wir, die Medien, ließen nicht locker und
wühlten die Angelegenheit immer wieder aus dem Papierkorb der Vergangenheit.
Bedeutende Künstlerkollegen des Professors wie Böll, Walzer, Richter und Uecker, um nur
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ein paar zu nennen, forderten die Wiedereinsetzung `nicht nur eines Kollegen, sondern
eines der bedeutendsten Künstlers, der deutschen Nachkriegszeit´ . Alles prallte gegen
harte Mauern der Legislative ab, denn `wegen Hausfriedensbruch´ blieb die Entlassung
aufrecht stehen, während man `seine künstlerische Persönlichkeit (gnädigerweise) in keiner
Weise in Frage stellte´. Doch der `Don Quichotte der Künste´ kämpfte sich im juristischen
Verfahren, verbissen weiter durch alle Instanzen. Es gingen sechs Jahre ins Land, bis man
sich auf einen Vergleich einigte. Der neue Wissenschaftsminister Jochimsen musste zwar
zum 30. September 1973 das Arbeitsverhältnis als beendet erklären, gewährte Joseph
Beuys jedoch, dass er seinen Professortitel weiter führen und sein Atelier bis zur
Vollendung seines 65. Lebensjahres nutzen darf; als ob man damals schon wusste, dass er
einmal genau so alt würde. Ungefähr ein Jahr nach seiner Entlassung gab es noch einmal
so eine Art `aufbäumendes Spektakulum´, in Form einer Art `Liveperformance´, bei der
Joseph Beuys in einem Einbaum, den sein Meisterschüler Anatol angefertigt hatte, den
Rhein überquerte. Dabei ging es symbolisch um eine `Heimholung´, denn die, wegen des
Schiffverkehrs nicht ganz so ungefährliche Aktion, startete vom Oberkasseler Ufer, wo
sich seine Wohnstätte mit Atelier befanden und führte rüber, zum gegenüber liegenden
Ufer, wo sich wiederum die Kunstakademie befand. Wie nutzte Professor Beuys jedoch
sein wieder zur Verfügung gestelltes Atelier in der Kunstakademie? Trotz fristloser
Entlassung ging sein Kampf gegen das für ihn verbliebene, unbefriedigende
Bildungssystem, weiter. Um die alten Einrichtungen nach und nach zu überwinden musste
er eine neue, konkurrierende Bildungseinrichtung schaffen, damit seiner Meinung nach,
erste Schritte unternommen werden, damit es eine Möglichkeit gibt, die autonome
Gestaltung des Schulbereiches, ins Leben zu rufen. So gründete Beuys am 27. April 1973
in seinem Atelierraum der Kunstakademie mit drei Mitstreiter die FIU (Freie Internationale
Hochschule Für Kreativität und Interdisziplinäre Forschung),als gemeinnützig anerkannten
Trägerverein, um als organisatorischen Ort des Forschens, Arbeitens und Kommunizierens,
die Umsetzung der `sozialen Plastik´ planend zu gestalten. Das Jahr 1973 hatte es
überhaupt in sich, denn in diesem Jahr sollte ich Mutter werden und Beuys sorgte ohne
Schuld, aber dennoch durch eines seiner Werke für Aufsehen, welches ein Jahr später als
Werbegag verfilmt wurde. Alles begann im Herbst 1972, als der Kunstsammler Lothar
Schirmer Beuysobjekte auf eine Wanderausstellung, mit dem Thema `Realität´ schickte,
welche durch sieben deutsche Städte gehen sollte. Erst am 03.11.1973, also ein gutes Jahr
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später, kam es auf der letzten Ausstellungsstation, dem Leverkusener Schloss Morsbroich,
zum Eklat. Hauptobjekt dieser Geschichte mit satyrischem Charakter, war die
Kinderbadewanne aus Emaille von Joseph Beuys, die als Beiwerk mit Heftpflaster,
Mullbinden und Fett von dem Professor `veredelt´ wurde. Für die letzte Station im Schloss
Morsbroich, wurde das Kunstwerk im dortigen Magazinraum eingelagert. Einen Tag bevor
die Ausstellung hergerichtet werden sollte, hatte sich die lokale Ortsgruppe LeverkusenAlkenrath einer großen Partei, mit samt Stadtverordneter, das Erdgeschoss des Schlosses
für eine interne Feier reserviert. Um die Festlichkeiten richtig in Gang zu bekommen,
musste das Bier kalt gestellt und Gläser gespült werden, woraufhin man auf der Suche
nach einer geeigneten Möglichkeit dafür war. Zwei fleißige Parteimitgliederrinnen
wandten sich deshalb an eine Aushilfskraft, des Schlosspersonals, welche die beiden
`Aktivistinnen´ , wohl aus Unkenntnis, ausgerechnet in jenen Magazinraum führte, wo
diese nicht nur weiteres Gestühl für das Parteifest, sondern eben auch das
Badewannenkunstwerk, welches den Kunstbanausen aber als total vernachlässigter
Gebrauchsgegenstand vorkam, entdeckten. Der authentische Wortlaut der unglücklichen
Kunstzerstörer war „ wir dachten, das alte Ding könnten wir schön sauber machen und
benutzen, um darin unsere Gläser zu spülen“, und weiter „so wie die aussah, konnten wir
die Wanne nicht gebrauchen und so haben wir sie geschrubbt.“ Die störenden unerkannten
Kunstbeigaben waren bei der Feierlaune schnell entsorgt und das Objekt der
Kunstgeschichte war schnell blank und damit ruiniert, was dazu führte, dass die
Ausstellung am nächsten Tag, natürlich ohne Badewanne stattfand. Nicht nur das, denn die
Episode hatte einen langen Prozess zur Folge, der für allerhand Medienrummel sorgte. In
den Jahren 1974 und 1975 gab es bezüglich dieses Vorfalls einen Werbefilm eines
beliebten Scheuermittels, in dem zwei typische Putzfrauen in Kittel und Kopftuch in einem
Museum für moderne Kunst eine Badewanne blank scheuern. In diesem Moment kommt
der Künstler des Kunstwerks herbei und traut mit entsetztem Gesicht seinen Augen nicht.
Die Putzfrauen fragen „Na, Meister glänzt´s ?“ Der Meister ist schockiert und dann kommt
der Werbeslogan `XY von Haus aus gründlich, so oder so´ . Durch das Ereignis und die
überspitzelte Werbung ist der Vorfall in den deutschen Kunstanekdotenschatz
eingegangen, wobei die Weiterreichung der Erzählung zu einer facettenreiche Palette der
Anekdotenpräsentation geführt hat. Anfang 1974 bekam Kunstsammler Schirmer nach
Abschluss der Tournee seine Kunstobjekte zurück. Als er die blanke Badewanne sah,
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entlockte ihm eine Art Galgenhumor den Vergleich von einem rasierten Kaktus. Als
weitere Kollateralschäden , waren auch noch zwei weitere Beuysarbeiten abgeliefert
worden, denn ein Beuys-Pappdeckel kam irreparabel fettdurchtränkt zurück und an einem
Gemälde eines Fisches auf einem Ofen wurde trotz Vitrinenschutz von ungeübter, fremder
Hand weitergemalt. Die Badewanne blieb während der sechs Ausstellungstage, also bis sie
in Leverkusen landete, unbehelligt; nur ein Scherzkeks wollte sich auf der Hinweistafel
verewigen. Auf der Tafel stand `in diesem Gefäß ist einst der Säugling Beuys gebadet
worden´, und ein vermeintlicher Gegner der modernen Kunst hat dazu geschrieben `
offenbar zu heiß´ . Der Mann mit dem Filzhut hat nicht nur meine Welt beeinflusst. Selbst
Andy Warhol hat mit ihm zusammengearbeitet und auf seinen berühmten Neon-Pop-ArtBildern war Beuys neben Marilyn Monroe mit dem markanten Filzhut verewigt worden.
Als ich den Professor Beuys bei einem weiteren Treffen in Köln, wo er demonstrativ Müll
in der Fußgängerzone zusammensammelte und die Klarsichtmüllbeutel als Kunstobjekte
stehen ließ, auf das platte Rheinland ansprach, sagte er mir mit einem Lächeln „ Tja Marie,
wenn du hier bei uns Berge sehen willst, dann musst du sie dir schon selbst bauen.“ Dank
meines Tagebuches habe ich mir so viel Kulturgut, bei Bedarf immer wieder abrufbar, für
die Zukunft erhalten. Bei sämtlichen beobachteten Konflikten, die jeden Tag in der Welt
Schauergeschichten offenbaren, denke ich immer an die sozial strukturierten Pläne des
Professors und an seine soziale Plastik. In welcher Zeit und unter welchen Umständen
würden wir heute leben, wenn sich sein Gedanke und sein Plan durchgesetzt hätte? „Wo
ich bin“ sagte Beuys, „ist Akademie“ und fügte hinzu „wenn jemand meine Sachen sieht,
dem trete ich schon in Erscheinung.“ Ja, die skurrile Welt des Mannes mit dem Filzhut ist
bei genauer Betrachtung nicht skurril, sondern bedeutet sozial gesteuertes Leben, in dem
jeder Mensch durch seine Kreativität ein Künstler ist. Leben ist Kunst und Kunst als
soziale Plastik, das ist Beuys.
11.04. – 27.04.2010
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