Paradoxen: Drei Tage auf dem Wege nach Tian’anmen-platz Eine Reisebeschreibung von Moira Laidlaw Übersetzung Herbst, 2006. 1 Für Anke und Matthias: An unsere Freundschaft. Juni 2009. Liebe Anke! Lieber Matthias! Ich habe dieses Tagebuch in Fußnoten erläutert, damit die Gewohnheiten und Umstände Euch verständlicher werden. Ich habe Euch auch ab und zu mal im Text angeredet, damit es Euch hoffentlich mehr bedeutet. Diese Übersetzung hat zehn Tage gedauert, aber es hat mir sehr viel Spaß gebracht. Ich hoffe, daß es für Euch die selbe Vernügung beim Lesen ist, daß es für mich beim Schreiben gewesen ist. Mit dieser Übersetzung habe ich diese Tage innerlich nachvollgezogen. Ihr seid gereist. Ich bin gereist. Ihr habt eine Tour unternommen. Ich habe meine Erinnerungen übersetzt. Eure, Moira. 2009/06/02 2 Die Reise nahm nicht wirklich drei Tage, und sie führte nicht nach Tian’anmen. Alles Übrige ist wahr. 3 Den 20tn Oktober, 2006. Ich habe gestern einen Brief aus Amerika empfangen, der mir über die Herbstaussichten erzählte: die Mosaikfarben, die Knusprigkeit der frostempfindlichen Blätter. Ich schrieb zurück, daß ich die Augen offenhalten würde, aber ich könnte nicht darauf bestehen, etwas Natürliches zu sehen! Von meiner Wohnung heraus, sehe ich eine doppelte Fahrbahn, obgleich ich nicht brauche, sie anzugucken, denn sie ist vierundzwanzig Stunden pro Tag laut genug, damit ich nicht erahnen muß, wo ich bin; ich bin von Gebäuden aus Beton, einem grauen Himmel wegen der Verschmützung, und Reklamen, die nachts aufleuchtern, umgeben. Ich bin nicht sicher, daß überhaupt eine Jahreszeit hier sich bemerkbar machen kann, ausgenommen daß die Temperatur ein unfehlbarer Hinweis daraufhin deutet. Der Sommer ist glühend heiß, und der Winter eiskalt. Der Herbst und der Frühlung können nur durch die Industriegebäude, den Verkehrsstau und auch die beschäftigte Metropolis durchsickern. Mit einem Herzen, das vieles beobachtet und vieles auch empfindet1, habe ich es mir vor, nach Tian’anmen-platz zu Fuß zu gehen. Ich könnte es von hier aus leicht innerhalb zwei Stunden schaffen, aber daran geht es nicht. Es ist viel zu schwierig, Tian’anmen-platz in kurzer Zeit zu erbeuten. Zum Beispiel, wenn ich an einem Ende des Platzes stünde, und dann bis zum anderen Ende liefe, jede baukünstliche Eigenschaft beschriebe, und mir jedes historische und politische Merkmal überläge, könnte ich es ihnen gerecht werden? Ich zweifele daran. Und auch nicht erst in drei Tagen! Tian’anmen ist nicht nur ein Ort, sondern auch ein Symbol. Und auch kein eindeutiges. Steht er nicht für den Mut gegen die Tyrannei? Symbolisiert er nicht die Redefreiheit in einer Kultur der Unterdrückung? Ist er vielleicht auch ein Mahnmal für uralte imperialistische Hochkulturen? Es ist auch emblematisch für Beijings Macht als Hauptstadt des Mittleren Reichs. 2 Als entwickelste der Entwicklungsländer darstellt dieser chinesische Tian’anmen das nationale und internationale Gesicht der Welt gegenüber. Der Tian’anmen-platz wird auf eine Million Oberfläche hineingeprägt, gemalt, gezeichnet, fotografiert, von Schüsseln und Tassen zu Juwelierwaren, T-Shirts und sogar Herzen. Für viele Chineser repräsentiert Tian’anmen die vielen Paradoxen dieses riesigen Landes. Es hat sovielen Menschen soviel bedeutet, und auf sehr verschiedenen Weisen auch. Jetzt bedeutet er sowohl geehrter Platz als auch verlorene Seele. Der Grund ist wahrscheinlich, weil die Chineser immer 1 Diese Zeile ist ein Wordsworthzitat. Wordsworth war englischer, romantischer Dichter, der an der neunzehnhundertjahrhundertwende geschrieben hat. Er wollte immer, daß wir natürliche Wesen sein sollen, daß wir die Natur zu schätzen wissen. 2 China heißt auf Chinesisch Zhongguo. Mit anderen Worten, Zhong (mittlerer) und Guo (Reich). Es ist typisch für sie einen solchen Namen zu fabulieren. Sie sind sehr mit sich selbst beschäftigt. 4 die rücksichtlosen Tyrannen, Leiter und die perfekten Bastarde geehrt haben, aber zur selben Zeit haben sie auch wirklich ihre Familien, ihre Kinder, die Arglosigkeit, das Ebenmaß und die Harmonie geschätzt. Deswegen besetzt Tian’anmen eine zweideutige Stelle in der chinesischen Psyche. Tian’anmen heißt das Tor des himmlischen Friedens (seht unten). Der Platz, der um sich befindet, hat eine komplizierte Vergangeheit. Er liegt am Zentrum von Beijing, physisch, geographisch und seelisch. Während der Qing und Ming Dynastien, war es verboten fürs gemeine Volk durch die Tore zu gehen. Sie mußten den Kopf beugen, als sie die Straße daneben gingen, „damit sie nicht von der Schönheit überwunden wurden.“ Die Wächter durften nicht zu Pferd herübergehen, und mußten schweigend zu Fuß (mit dem Pferd zur Seite) unter das Tor heruntergehen. Es wurde verboten, die innere Situation mit Außenstehenden zu besprechen. Außenstehender waren diejenigen Menschen, die keinen offiziellen Rank hatten. Den Führern gegenüber konnte natürlich alles erlaubt werden! Sie verkörpeten die Regeln. Dieses Tor war ein Mahnmal dafür. Es ist mit einem Freiheitsgefühl, daß ich zu dieser ungewöhnlichen Reise aufbreche, ein langsamer Bummel auf etwas Unklares, aber dennoch Starkes. Aus einem wahren Geist dieser Recherche laufe ich die Hauptstraße entlang, und wende mich an die Gegenrichtung des Tian’anmen-platzes. Ich könnte ebensogut mein Stammland ein wenig ausspähen, bevor ich mich auf mein Reiseziel setze. Ich laufe Richtung Dong Zhimen. In diesem Gebiet wurde vor vierzig Jahren Peking-Mann gefunden, der vor einer hälften Million Jahren gelebt hat. Peking „Mann“ war genau wie Ihr und ich – Homo Sapiens. Sie/Er hatte ein wärmeres Klima, bastelte Steinwerkzeuge, lebte in Höhlen, beerdigte die gestorbenen Familienmitglieder mit Ritual und manchmal auch Opfer, machte Feuer, damit die Winternächte nicht so kalt waren, und erschuf Fächer aus Goldräuschen, damit die Sommertage nicht zu erschöpfend heiß wurden. Die Leichenreste sind die ältesten Menschensaltertümer, die in China entdeckt worden sind. Hier steht eine Tafel auf einer Backsteinmauer am Eingang eines Pavillons. Ich halte, um den Text zu lesen. Es besteht aus einem matten goldenen Hintergrund mit schwarzen Buchstaben darauf. „Die Kulturdämmerung“ steht darauf. „Der Anfang von Chinas Größe“. Ich muß an diese typische Art und Weise Chinas anlächeln, jedes natürliche Ereignis 5 zum nationalen Heldenmut darzustellen. Die Französen tun das auch, aber bei ihnen geht es mir auf die Nerven, obgleich es auch in mir eine geheime Bewunderung erregt. Aber in anderen Ländern, wie in England zum Beispiel, ist diese Eigenschaft massenhaft zum Razißmus und zur Grausamkeit geworden. Deswegen verdränge ich mich meine Bewunderung und laufe weiter. Auf meiner rechten Seite stehen Wohnblöcke in einer hellen Lachsfarbe. Dong Gan (Östlicher Mut) ist der Name auf der Seite des Gebäudes in blauund weißemaillierten Fliesen. Jeder einzelne Block besitzt einen Eingangswächter. Ich lächele jedem jungen Mann zu, als ich vorbeilaufe, identisch uniformiert in grün mit roten Besätzen, pfeilgerade und ausdrückslos. Ich übertreibe mein Lächeln, wie man bei einem Ausländer anschreit, um Bedeutung ins Gebabbel hineinzuimpfen. Viele Männer lächeln mir auch jetzt zu, ihre Gesichter mit frechen Grinsen strahlen. Ich fühle mich wie ein kleines Kind, das zum ersten Mal in ein Dom hineintret, und die Marmornase des Heiligen zwicken will! Um der Auslandsbeziehungen willen, widerstehe ich diesen Antrieb, und setze meinen Weg fort. Ich gehe die Straße hinauf und dann nach links, nachdem ich über eine weitere Straße gegangen bin. In Beijing ist das Straßenübergehen eine Kunstform. Genau wie die Hohe Kunst sich vom Leben und Tod handelt, so auch ist das Straßenübergehen in Beijing. Eine falsche Bewegung und ihr seid tot! Es gibt viele Straßenunterführungen, und ich soll sie verwenden, aber ich gehe gern einige Risikos ein, und in Beijing ist dieses das größte Risiko von allem. Tja, und ich will einfach so laufen, wie es mir paßt, nicht wie es Beijing paßt. Die zweibahnige Straße hinüber, schnell beten, und dann sehe ich Dongzhimenstraße vor mir. Dongzhimenstraße ist eine der größten Verkehrsadern Beijings. Ich sehe einen großen konstruierten Torbogen in hellgelb und mohnrot, in aufgeblasenem Kunststoff: eine enorme Struktur, die oft in China gebraucht wird, um uns in ein fantastisches Reklamedisplay einzuleiten. Ich frage mich was los ist, und gehe auf die Jagd. Es ist Chongyangmens Lichtfest, das jedes Jahr vorkommt, oder so informieren mir die Poster: rote Poster, die an die Wände angeklebt worden sind mit heftiger, schwarzer Kalligrafie, die traditionelle Art den Menschen etwas zu berichten. Auf der rechten Seite des Eingangs steht ein riesengroßer Fernsehschirm, der CCTV13 schildert – CCTV 1 ist die beliebste Sendung in China, und zeigt Seifenoper, Epen der chinesischen Geschichte (meistens 3 CCTV heißt: Chinas Zentrale Sendung. 6 Qing oder Ming Dynastien, mit Männern zu Pferd, die die üblen Menschen vernichten, und der guten Menschen retten) und auch die Nachtrichten. (Ich lese immer die Subtiteln, um zu verstehen, was läuft.) Leute wirbeln um mich herum. Es ist noch nicht 10 Uhr, aber schon entwickelt sich eine lange Schlange um den halbkreisförmigen Platz herum. Die meisten Leute schauen den großen Schirm an. Kinder spielen Fangen; eine Gruppe junger Knaben tollen um den Platz umher, rot-golde Halstuch um Kopf und Handgelenk gebunden, die Schlange in zwei einteilen, aber sie lassen sich nichts anmerken, und die wartenden Menschen geniessen ihre jugendliche Begeisterung. Da stehen auch einige Feldherren, gelbe Schulterklappen, breite Schultern, fast in Losgrößen. Einige von ihnen scheinen sehr wichtig zu sein, und sind sowieso von vielen kriecherischen Gefolgsmännern umgeben. Ich wünsche, ich wüßte, wer diese Promis wären. Ich gehe auf eine Soldatin zu, die mit olivgrüner Jacke und anpassendem Rock alles brav aufpaßt, ihre Baskenmütze im hellem Scharlach, aber köstlicherweise an einem schnittigen Winkel! „Wer sind sie?“ frage ich sie zögernd, indem ich auf die „wichtigen“ Menschen hindeute. „Sie sind die Polizeichefs,“ antwortet sie mir, als ob ich das hätte wissen sollen, aber immernoch zärtlich und höflich. „Ach so. Aber warum sind sie hier?“ Sie guckt mich an, als ob ich nicht alle Tassen im Schrank habe! „Um die Menschen zu vertreten, natürlich!“ „Ach so!“ Ich frage mich, was das bedeuten kann, aber ich fahre nicht fort. Was soll das bezwecken? Wir stammen aus verschiedenen Welten. „Sind Sie Engländerin?“ fragt sie mich plötzlich. „Ja, das bin ich.“ „Es freut mich, Sie zu begegnen!“ ruft sie aus, und auf einmal, ganz auf einmal wandelt sich ihre Stimme der Förmlichkeit in eine offene Vergnügung. Sie tritt auf mich zu und streckt ihre Hand aus. Sie drückt mir die Hand mit einer solchen Geste der echten Freundlichkeit, daß ich fast weinen muß. Ihre Freundlichkeit ist so unerwartet, aber bei solchen Gesten finde ich oft meine dauernhafte Liebe dieses Landes. „Ich heiße Moira,“ sage ich, und lächele in freundlicher Weise. „Ich bin Zhang Zhelin, und es freut mich Sie kennenzulernen,“ wiederholt sie. Sie ist fast so groß wie ich, was in China ziemlich selten vorkommt, denn die im Norden wohnenden Menschen sind normalerweise klein. Ihr Haar ist mit Haarnadeln zurückgezogen worden, in einem Stil, den ich in schwarz-weiß Bildern im zweiten Weltkriegszeitraum von meiner Mutter gesehen habe. „Gleichfalls gut Sie kennenzulernen,“ sage ich. „Was tun Sie hier?“ fragt sie. „Nur ‘Rumgucken. Ich wohne in Beijing.“ 7 „Sie wohnen hier!“ ruft sie wieder aus, als ob es selten vorkomme, daß eine Fremdin überhaupt in Beijing wohnt! „Haben Sie den Sommerpalast und den Tian’anmen-platz schon gesehen?“ Sie spricht mit einer gewissen Dringlichkeit, als ob die Welt am Ende wäre, wenn ich diese Orte nicht sähe. „Den Sommerpalast noch nicht, aber er steht auf meiner Liste,“ sage ich lächelnd, meine Tasche auch tätschelnd, als ob die Liste darin stehe. Sie nickt beruhigend. Und dann schaut sie mir fest in die Augen. Dies kommt oft in China vor. Es ist ein Blick, den wir uns im Westeuropa bei Unbekannten nicht erlauben, denn es kann als Frechheit genommen werden, aber hier nicht, besonders wenn sie jemanden schnell verstehen wollen. Es scheint mir, daß diese junge Frau mich aufspeichern will, damit sie mich später aus ihrer Erinnerung völlig hervorbringen kann. Es ist ein merkwürdiges Gefühl für einen Menschen aus dem Westen so angestarrt zu werden, aber ich dulde es, weil sie es nur freundlich meint. Sie drückt mir die Hände, und dann läßt sie mich los. „Darf ich fragen, möchten Sie sich mit mir fotografieren lassen?“ „Ja gern,“ antworte ich glücklich, weil ich verstehe, daß dieses „Lassen uns zusammen fotografieren!“ das immer bei uns in China vorkommt – jeder will mit dem Laowai (Fremden) fotografieren lassen - hier nicht der Fall ist. Wir haben eine echte, obwohl auch kurze Beziehung, erschaffen. Ich erinnere mich an den ersten Tag in Beijing in 2001, als ich mit vierzig anderen Freiwilligen in Tian’anmen gelandet bin, und an dem späten Sommertage saßen wir an einer Mauer dieses enormen Platzes, und wurden sofort von Kindern und auch Erwachsenen umgeben, die alle mit uns fotografieren lassen wollten. Zuerst war es ziemlich nett so beliebt zu sein! Aber es wurde zu etwas anderem. Es wurde zur Belastung und manchmal auch zum Ärger, als sie uns physisch hin und her zogen, damit sie ein lustiges Bild mit den „komischen Ausländern“ machen konnten! Fräulein Zhang macht ihren Genossen aufmerksam, indem sie eine Digitalkamera aus ihrer ledernen Handtasche herausholt. Sie gibt sie ihm und steht neben mich. „Was sagen wir, um uns lächeln lassen?“ frage ich sie grinsend. „In China sagen wir qiezi (Aubergine),“ sagt sie. „Was sagen Sie in England?“ „Cheese!“ (Käse) antworte ich, und sie lacht. Ihr Freund schießt in diesem Moment das Foto, und es ist gut gelungen. Wir sehen uns an und 8 lachen. Es ist ein perfekter Moment, und es kann ich ihn jetzt in diesem Tagebuch eine Ewigkeit erhalten. „Ich sollte eigentlich gehen,“ sagt sie. „Ich bin hier im Dienst.“ „Ach so, also ich freue mich sehr, Sie begegnet zu haben. Tschüß!“ „Lebewohl,“ sagt sie, und ich sehe überrascht, daß sie die Tränen in den Augen hat. „Was machst du jetzt?“ fragt sie, ihr Ton plötzlich vertraut. „Ich mache einen Spaziergang, um Beijing besser kennenzulernen.“ Ich fahre fort. Diese nette Frau ist eine Wächterin, und ich hoffe, daß diese Menschen der Muhe wert sind, ihre Menschlichkeit auszuwenden. Ich zweifle daran, aber man muß immer die Hoffnung am Leben erhalten. Jetzt gehe ich in den Chaoyanger Park herein. Dieser Park besteht aus einer grünen Fläche mit Blumenbeeten und Statuen. Männer lassen Drachen steigen. Das haben viele Männer in der Vergangeheit gemacht, habe ich gehört: die Fähigkeit eines Individuums gegen die Elementen messen, oder vielleicht nach der Freiheit greifen, in einer solchen hierarchischen und struktuierten Gesellschaft. Das ist bloß Schrulle. Ich habe eigentlich keine Ahnung davon. Ihr aber wisst es sicherlich. Ich erinnere mich aber an eine Kurzgeschichte von Somerset Maugham4, die von einem Jungen handelt, der einen Drachen steigen läßt, weil er ein miserables Leben führt, und diese Tat ein Symbol der Freiheit darstellt. Die Geschichte ist ziemlich dämlich, aber ich kann nicht von dieser fixen Idee loskommen. Hier in Beijing sind die Drachen meistens mit Raubvögel geschildert, und diese weiß-schwarzen Überspanntheiten segeln über uns im Himmel herum. Ich beobachte in einer Entfernung einen Mann, seine dunkelblaue Mütze stur auf seinen Kopf gestellt, verwitterte Finger flink mit der Leine hantieren. Seine Augen funkeln. Plötzlich reißt er die Leine, und der Vogel dreht sich völlig im Himmel herum. Ich habe nie sowas gesehen. Ich muß klatschen. Ich will ihn nicht stören, aber das tue ich jedenfalls! Er guckt mich an. „Jetzt bist du dran!“ sagt er, seine Augen freundlich funkeln. Schon wieder diese chinesische Gastfreundlichkeit. Wenn jemand mich bei so einer Tat störte, bin ich nicht davon überzeugt, daß ich so kulant wäre. „Ich kann es leider nicht,“ sage ich schüchtern. „Kannst du doch!“ erwidert er. „Es braucht einfach viel Übung. Man muß immer alles üben.“ 4 Ein englischer Schriftsteller, der viele Romane und Kurzgeschichten über die Leben der einfachen Leute geschrieben hat. Ich habe seine Bücher zuerst als Schülerin gelesen, und lese sie noch heute sehr gerne! 9 „Sie machen es so toll!“ sage ich bewundernd. „Ich könnte damit nichts anfangen. Darf ich nur anschauen?“ „Das tust du schon,“ sagt er leicht. Eins zu null für ihn! Ich sehe jetzt zum ersten Mal, daß er sehr alt ist. Vielleicht achtzig Jahre alt. Seine Haltung wirkt aber sehr jung. Sein Gesicht ist tief gerunzelt, ein kluges Gesicht, ein starkes Antlitz. Er hantiert wieder flink mit der Leine, und der Drachen wölbt durch die Luft in einer Parabelsbefähigung. Ich schaue den Anblick lächelend an. Ich fange vor Freude zu glühen. Ich liebe dieses Land, diesen Wünsch immer alles gemeinzuhaben. Ich liebe wie die leichten Leute handeln, als ob wir alle Geschwister wären. Ich liebe es, daß wir ohne Formalitäten als Fremder und Familienmitglieder zur gleichen Zeit da stehen können, und an etwas Bedeutsamem teilhaben. Ich sehe ihn an: er ist völlig in seiner Kunst vertieft. „Wie alt sind Sie?“ frage ich ihn. Mir wird immernoch bange ums Herz, wenn ich diese Frage stelle, weil sie in England so unhöflich ist. Aber hier wird es gestattet, es zur ersten Begegnung zu fragen. Für diese Menschen geht es nur um Zahlen, und sie verehren die Alten, wie wir auch in England tun sollen, aber leider micht mehr so sehr. „Einundachtzig,“ beantwortet er mir. Er lächelt mir einen Moment zu, und dann richtet sein Augenmerk wieder auf den Drachen hin. „Sie machen das echt prima!“ sage ich. „Ich dachte, Sie wirken viel jünger.“ Er lacht voller Freude, und schüttelt den Kopf. „Lassen wir uns hinsetzen,“ schlägt er vor, holt die Leine ein und deutet auf eine Sitzbank hin. „Hast du Lust dazu?“ „Ja, gerne,“ sage ich, glücklich. „Nach Ihnen!“ und dann setze ich mich zu ihm hin. „Ich muß mich ab und zu mal entspannen, weißt du. Ich bin alt.“ Ich lache nochmal vor Freude. So ein netter Mann, so offen und freundlich. „Wie heißt du?“ „Ich heiße Moira.“ „Engländerin?“ „Ja, und Sie?“ „Ich bin Chineser!“ Er lacht vor meiner Ungewißheit. „Ja ich weiß, du meinst meinen Namen. Ich heiße Wang, Wang Fuqin. Und du bist Engländerin. Was machst du denn hier in China?“ „Ich bin Freiwilligerin.“ 10 „Wieso hier in Beijing? Brauchen wir dich?“ Er lächelt mir mit Ironie zu, aber er ist ein freundlicher Mann, und ich mag ihn schon sehr, und fühle mich bequem in seiner Gesellschaft. „Ich arbeite mit einer Organisation, die viele Filialen in den armen Provinzen hat, zum Beispiel in Ningxia.“ „Ningxia“! Seine Stimme wird auf einmal lebendig, und er strahlt. „Ich kenne sie gut.“ „Wirklich! Die meisten Leute, mit denen ich in Beijing rede, wissen nichts davon, wissen sogar nicht, wo es ist, oder das es sogar existiert.“ Ich fühle mich auch sehr begeistert, weil ich endlich über meine beliebte Guyuan sprechen mag, aber seine nächsten Worte rauben mir die Freude weg. „Ich habe acht Jahre da verbracht, als ich jünger war.“ Er guckt mich an, und sieht mein betrübtes Gesicht. „Du weißt, was das bedeutet. Ich kann es an dir sehen.“ „Sie sind weg von Ihrem Zuhause in der Hauptstadt abgeschickt worden, damit die auf dem Lande wohnenden Bauern Ihnen ‚was Nützliches beibringen könnten,“ sage ich schwerlich, als ob ich vom Text läse. „Acht Jahre. Mein Gott! Wie haben Sie es augehalten, überlebt sogar?“ „Im Jahre 1968 bis zum Ende der Revolution. Zwar im Jahre 1976,“ sagt er automatisch, als ob diese Geschichte kein Leben mehr an sich habe, und er weiß nicht mehr wie er sie erzählen solle. Ich weiß auch nicht, ob ich eine weitere Geschichte aus dieser schrecklichen Zeit ausstehen kann. Aber er hat sie überlebt. Das bedeutet etwas. Ich sollte mich siegreich fühlen, aber irgendwie unter diesem ergrauenden Himmel und bei diesem stürmischen Wind verspüre ich nur eine tiefe Traurigkeit und eine gewisse Sinnlosigkeit des Menschenleidens. Dieser Mann hat während der Kulturrevolution gelebt, und hat dabei vieles durchgemacht, und jetzt läßt er einen Drachen steigen. „Das ist eine sehr lange Zeit,“ sage ich nützlos. „Einige mußten elf oder zwölf Jahre mitmachen. Ich war in Penyang.“ „Penyang!“ rufe ich aus. „Das ist ganz in der Nähe von meiner Stadt – ich meine Guyuan. Kennen Sie sie?“ „Ja.“ Nur das. Das einzelne Wort. Ich sehe ihn an, ich sitze da, und warte auf seine Erinnerungen. Ich kann Guyuan fast riechen, das Rathaus wieder erkennen, einige Leute schon sehen, Eigenschaften meiner Kollegen wieder geniessen...Wie war Guyuan zu der Zeit? Wie waren die Leute? Was hielten sie von Mao Zedong? 11 „Fünf Jahre wohnte ich in Guyuan,“ sage ich, die ganze Zeit versuchen, meine Stimme unter Kontrolle zu bringen. „Du hast es auch gewählt,“ sagt er, als ob er meine Worte schmecken könne, als ob er meine Beigeisterung versuche, überhaupt zu verstehen. Wie könnte er das? „Du hast es gewählt,“ wiederholt er, „und ich mußte hin. Das Leben ist echt lustig!“ Er lacht. Ich kann nicht lachen, obgleich ich da eine solche Freude gefunden, aber er hat da nur gelitten. „Ja, aber für mich, für Sie, war es anders,“ fange ich damit an, aber ich habe keine Erfahrung, womit ich diese Lücke füllen kann. Was soll ich jetzt sagen, um etwas von ihm zu bekommen, was mich erfüllen könnte, und was ihn nicht stört? „Sind Sie überhaupt nach Guyuan gegangen?“ frage ich. „Ja, einmal,“ sagt er. Er lächelt jetzt. Ein heimliches Lächeln auf einem in seiner Erinnerung verbirgten Wege, wohin ich ihm nicht folgen kann. Ich kann nur außerhalb seiner Reflexionen sitzen, und ihn beobachten. „Waren sie schlechte Zeiten für Sie?“ frage ich. Eine dumme Frage. Natürlich waren sie schlecht. Aber dieser netter Mann lacht, freundlich, mit Vernügung, als ob meine idiotische Frage doch sinnvoll sei. „Wir hatten es alle schwierig,“ sagt er. „Aber wir haben doch gelernt. Und wie!“ „Was haben Sie gelernt?“ frage ich kühn, denn ich will wirklich wissen. „Die Geduld. Die Toleranz. Die Menschlichkeit. Und wie man einen Drachen steigen läßt.“ Das Letzte hängt in der Luft zwischen uns und wir lächeln einander an. Ich fühle mich wieder so privilegiert, einen solchen Menschen begegnet zu haben. Und dieses Ereignis ist fast vor meiner Wohnung passiert! „Das ist eine große Menge,“ füge ich hinzu. Ich will mit ihm ein Gespräch führen, aber ich will ihn weder beleidigen noch benützen. Er ist kein interaktives historisches Dokument, sondern ein lebendiger Mensch, der sehr gelitten hat, und wessen Kenntnis ganz anders von meinem Erlebnis ist. Er starrt in die mittlere Entfernung hinein. „Soll ich dir beibringen, den Drachen steigen zu lassen?“ fragt er, und grinst. Ich beiße mir die Lippen, damit ich nichts Falsches sage. „Was suchst du?“ fragt er plötzlich, mit niederschmetternder Einsicht. „Was suche ich?“ wiederhole ich, damit ich mir mehr Zeit geben kann, aber ich weiß in diesem Moment, daß er meine Neugier völlig versteht, und der Moment von großer Tragweite wird. „Ich will China verstehen,“ antworte ich, leise, sogar sanftmütig, was für mich gar nicht typisch ist! „China ist voller Gegensätze,“ füge ich hinzu. „So ist jedes Land, nehme ich an,“ erwidert er. „Ich weiß nicht, ob das so ist,“ sage ich, „vielleicht, aber nicht so massenhaft. Was Sie in Ihrem Leben erlebt haben, ist etwas, was ich verstehen möchte.“ 12 „Und wenn ich dir alles erzähle, dann wirst du es verstehen?“ „Wahrscheinlich nicht, aber das wäre besser als dies.“ „Und was ist dies?“ „Während der Kulturrevolution haben Sie auf bessere Zeiten gehofft?“ „Meistens habe ich auf Schweinefleisch mit Reis gehofft.“ Ich bin so frustriert, ich fühle mich, als ob ich weinen könnte. Ich lebe schon seit fünf Jahren hier in China, und ich verstehe immernoch nicht, wie dieses Land funktioniert. Ich spüre, daß ich hier eine Chance habe, etwas Wichtiges zu verstehen, und ich will diese Gelegenheit nicht verpassen. Die Antwort auf meine Frage ist tiefsinnig, aber ich kenne die richtige Frage nicht. „Manchmal mußten Sie viele Probleme gehabt, sich zu ernähren.“ „Ja, das hatten wir. Aber die Ningxiamenschen haben sich besondere Mühe gegeben, hilfsbereit zu sein.“ „Sie sind gute Menschen.“ „Hattest du sie gern?“ „Ich liebe sie.“ „Bist du Lehrerin?“ „Ja.“ „Lehrerin zu sein ist gut,“ sagt er. Eine Pause. „Es waren meistens junge Leute, die aufs Land geschickt worden sind, oder?“ frage ich. „Studenten und so.“ „Ja, aber manchmal gab es Menschen, die es brauchten hingeschickt zu werden. Lassen wir uns den Drachen steigen lassen,“ sagt er, und steht auf. „Wenn wir auf und ab zu Fuß gehen, wird der Drachen sich mit dem Gedanken vertraut machen.“ „Sich mit dem Gedanken vertraut machen?“ „Ja, du mußt sie trainieren, weißt du. Ich trainiere seit siebzehn Jahren diesen Drachen. Er wird gut!“ Ich lache. „O.K., Sie zeigen mir, und ich werde aufmerksam sein.“ „Mm,“ murmelt er skeptisch. „Echt!“ Er zeigt mir, und dann erwartet er, daß ich es selbst probiere. Ich tue mein Bestes, das sage ich Euch ehrlich, aber nach dem zehnten Unfall grinst er, und findet die Leine wiederauf, bevor ich seinen Träumen noch mehr antun kann. Ich stehe da und beobachte ihn, wie er diesen Drachen wie einen König im Himmel steigen läßt. Ich sehe sein interessantes Gesicht an, das mir schon soviel erzäht hat, und weiß, daß es jetzt Zeit ist, weiterzugehen. 13 „Es hat mir viel bedeutet, Sie begegnet zu haben,“ sage ich zögernd. Er nickt als Antwort. „Ich werde Sie nie vergessen,“ füge ich hinzu. Er lächelt, seinen Kopf jetzt stationär, als er an die Leine hantiert. Er formt die Worte „再见“ (Auf-wiedersehen) mit den Lippen, und ich kehre mich von ihm ab. Es fällt mir schwer, diese Menschen zu verlassen, aber es ist mir höchst wichtig, solche Personen kennenzulernen, sonst habe ich gar keine Chance, dieses Land zu verstehen. Ich blicke dieses Mal nicht zurück, weil ich weiß, es tut mir weh, wenn er mich ansieht, und es tut mir weh, wenn er es nicht tut. Zeit zu gehen. Ich habe Durst, so halte ich an der Seite der Straße und gucke meine Landkarte an, aber nach einigen Sekunden lege ich sie ab, denn ich will nicht an einer Landkarte gegrenzt werden. Ich trinke einen Schluck Wassers, das ich in einer Plastikflasche mitgebracht habe, stehe auf, und mit scheinbaren Würfeln jonglieren, biege nach links ab. Das Verkehr schwindet jetzt, und ich nähe dem Offenland. Es ist zumeist baufälliges Land, viele Müllplätze die Stadt mit Fransen umsäumen. Ich gehe eine Chaussee mit Weidenbäumen entlang. Ein Bube kommt aus einem traditionellen Haus heraus, ein dreiseitiges Haus um einen Hof mit Bäumen darin, sieht mich, und läuft schnell ins Haus hinein und schreit etwas. Genau wie in Guyuan! Mehrere Radfahrer mit Einkaufswagen treppeln in alle Richtungen vorbei. Ich sehe einen Bahnübergang vor mir. Ich habe nie in China die Bahnlinien überquert. Ich frage mich, ob ich direkt hinüber darf, oder ob ich eine Brücke dort drüben gehen müsse. Aber nein, es sieht genau aus wie die Bahnlinien in England. Moosbedeckte Bahnlinien kreuz und quer über die Landschaft. Autos fahren langsamer hinüber, die Aufhängungen der Wagen und Lastwagen klirren. Das Verkehr fährt aber nicht in meine Richtung her, und die Wolken dräuen hinter mir. Da stehen die Stadtszitadellen – postmodern, aus Beton, blendend. Ich kehre um, und ein flacher Ausblick öffnet sich breit auf. Ich höre die Vögel singen. Die Amseln. Wie Wunderbar! Diese sind die ersten Amseln, die ich überhaupt in Beijing gehört habe. Und die Spatzen natürlich, um die Knicks herumflattern. Und sogar einige Goldamseln! Dort drüben, sitzt ein bildschöner Vogel, stillgestanden auf einem Telegraphenmast, ihr Gelb ein Wunder bewirken: ich höre auch das Geräusch eines Spechts, wie er auf einem entfernten Baumstamm bohrt. Ich zittere, aber nicht vor Angst oder Kälte. Es wird mir, als ob ich schon hier gewesen sei, aber ich weiß, daß das nicht der Fall sein kann. Ich kibbele vor Aufregung, aber ich weiß nicht warum. Hier spukt es. Es besteht hier eine Straßenverzweigung. Wohin jetzt? Eine Amsel landet schwarz und gebieterisch meinen Füßen nahe, dahinjägt, herumwühlt. 14 Wohin jetzt? Ich weiß es nicht. Die Amsel zwitschert zu meinen Füßen, anscheinend ohne Angst vor mir zu haben. Ich gehe wieder nach links. Innerhalb von Metern treffe ich auf einen Plakat mit holzernem Rahmen: 欢迎在北豆名庄 (Willkommen in Bohnendorf Nord) Die Straße ist in Bäumen vor mir getaucht: Purpurweiden, Buchen, Tannen und Ulmen. Ein Einkaufswagen klappert an mich vorbei; der Fahrer ist ein Landmann, der bauerliche Kleider anhat, alles zerlumpt und eingerissen. Er guckt mich zweifelnd an, und ich lächele ihm ungeschickt zu. Sein Blick ist nicht wie der Blick vor hundert Metern zuvor. Dieser Blick ist ganz anders. Auf beiden Seiten der Straße stehen kleine Läden: Einzimmergeschäfte, Männer und Frauen draußen sitzen, plaudern, stricken (Frauen natürlich), Tee trinken (Männer natürlich!), die Wäsche auf provisorischen Wäscheleine aufgehängt (Frauen schon wieder!). Ich halte. Dieses Dorf ist nicht Beijing, es ist Guyuan. Aber das kann nicht möglich sein. Das Gebrüll der Stadt sollte überall sein, aber ich höre nur den Vogelgesang und das Knacken der Stricknadeln, oder einige Stimmen, die in Begrüßung oder Abschied erhoben werden. Ein kleiner Bube stürmt aus einem Geschäft heraus, und wird von einem älteren Bruder hintergejagt. Der Kleine prescht auf seine Mutti zu, damit sie ihn verteidigt, aber sie tritt beiseite, indem sie eine Hose auf die Waschleine aufhängt; und der ältere Bruder packt ihm den Arm zu. Der arme Junge kreischt und kämpft mit dem stärkeren Bruder, aber endlich befreit er sich von ihm. Die Jagd fängt an! Die beiden Jungen laufen Amok im Dorf herum. Ich höre sie andauernd vor mir, immer außer Sicht. Die Mutter sieht mich jetzt, und läßt die Hose fallen, die sie gerade aus dem Korb herausgeholt hat. Ich vermute, meine Gegenwart sei ihr ziemlich unerwartet! Ich fühle mich nicht unwilkommen, aber wenn es hier doch nicht Beijing sondern Guyuan ist, dann bin ich wieder „die Fremdstämmige“. Ich lächele ihr zu, und ihre Augen funkeln. Ich fühle mich hier zu sichtbar, so fange ich an, durchs Dorf zu schlendern. Auf beiden Seiten besteht Behausung: Hütten oder Ziegehäuser mit Wellblechdächern oder zinnenartigen Backsteinen, mit Geschäften, die direkt auf den Bürgerstein aufleiten. Die Leute sitzen außerhalb 15 der Imbißstuben, das Frühstück essen, mit den Eßstäbchen schnappen, die Suppe schlürfen, und auch den Schleim an den Boden spücken5, was mich immer ekelt. An jedem Eingang sitzt jemand, der zu mir zublickt, aber anscheinend die Welt über sich ergehen läßt. Aber ich weiß, sie gucken mich auch an. Wenn ich mich von dem merkwürdigen Gefühl erholen kann, daß ich gerade binnen Momenten und Metern anderthalbtausend Kilometer gereist, und Jahrhunderte zurück gegangen sei, dann ist dieser Ort Guyuan, und ich bin wieder zu Hause. Wo liegt das Problem? Es besteht eine Atmosphäre der Kameradschaft, eine Duft der Gemeinschaft, ganz anders von der Außenseite. Einige Hünde laufen hin und her, und die Kinder necken sie und werfen ihnen Hölzchen an. Ich begrüße eine Dame, die Altersgenossin ist. Sie rührt vor ihrem winzigkleinen Restaurant eine Art Häferschleim in einen großen Topf. Sie trägt ein rotes Nickituch um den Hals, und schwitzt mit der Anstrengung. Es ist ein großes Faß, und ich frage mich, wer das alles aufessen wird (oder es aufessen möchte?). Zwei Männer sitzen einandergegenüber auf niedrigen, wackerligen Hockern, und spielen Damenspiel. Beide ältlich, beide mit Tellermützen, schmuddeligen Kleidern, und zahngelückten Lächeln. Einer von denen kaut Tabak, daß seine braunen Zähnen erklären mag. Er spuckt ein großes glitzeriges Kügelchen an den Boden neben ihn hin, wo es liegt, gleißend. Er erspäht mich, und stupst seinen Freund, um mich auch anzuglotzen. Sie starren mich an, als ob ich Beweisstück im Schauspiel sei. Also, genau wie in Guyuan. Ich gehe langsamer weiter, nehme den Gang eines Landesmenschen über, anstatt des zuversichtlichen Schritts, der mich als Stadtbewohner und 老 外 (Ausländerin) bezeichnet. Ich nicke vage in ihre Richtung; es fällt mir ein, ich sollte auch nicht glotzen. Sie sind nicht Tiere im Tierpark, genau wie ich es nicht bin. Aber ich will sie zuschauen. Ich will hier ewig stehen und zuschauen, und es mich alles durchsickern lassen. Hier ist Guyuan ohne Huimützen6. Guyuan, die Oase in der Wüste, die ländliche Gemeinde von der Freundlichkeit, Großzügigkeit, Einfältigkeit, und der Hoffnung. Anstatt meiner Augen zu schliessen, brauche ich nur zu zuschauen, Es steht alles gerade vor mir. Ich habe nicht mitgekriegt, wie krank ich vor Heimweh war. Ich bin entzückt! 5 Auf dem Lande ist es üblich den Schleim auf den Boden (und Fußboden sogar) zu spücken. Diese Gewohnheit hat mich immer sehr geekelt, und ich konnte mich nie darangewöhnen. 6 Hui heißt muslimisch. 48% der Guyuanbewohner sind Huimenschen. Sie tragen (Männer) nach dem einundzwanzigstenLebensjahr weiße Mützen. Frauen tragen solche Mützen, nur nachdem sie geheiratet haben! 16 Wenn ich jetzt dort drüben hingehe, um etwas aus meinem Rucksack zu holen, kann ich auf Zeit spielen und doch zuschauen. Ich überquere die Straße, um einen Grasfläche zu erreichen. Da darf ich mich hinsetzen, und mich ein bißchen entspannen. Ich schaue auf. Ein ganzes Dorf guckt mich an! Ich lächele, und jedermann – und ich meine jedermann – strahlt! Eine Frau knetet das Teig, indem sie unter den Sonnensegeln ihres Einzimmerhauses steht; eine Gruppe der Kartenspieler – alle Männer natürlich, denn die Frauen haben immer zuviel zu tun, etwas Mußezeit zu haben – sitzen und lachen, rauchen 7 und trinken; eine Kindergruppe (wie eine Gänseschar, alle sehr junge Mädchen und Buben) jägt sich mit großen Reifen gegenseitig, die sie mit Stäbchen drehen. Ich habe das einmal als Kind in Schottland gesehen, als wir meine Großeltern besucht haben. Hier aber sind die Kinder dürr, aber sie schreien genauso laut wie in Edinburgh! Sie bleiben stehen, und starren mich an. Ich zucke mit den Schultern. Ich will mich nun nicht bewegen. Ich will, daß sie weitergehen. Ich will nicht wie ein bunter Hund auffallen. „Tag!“ sage ich ihnen allen an. Dann gehen sie weiter, kichern und grinsen, und wie alle ländliche Leute in China, sehr freundlich den Fremden gegenüber. Auf einmal sehe ich ein Streifenhörnchen auf dem Gras neben mir sitzen, und wie es eine Ecke meines Rucksacks nascht. Ich beobachte es mit zärtlicher Bezauberung. Es ist länger als meine Hand, pelzig, mit einer ausgeprägten Streife am lohrfarbenen Rücken. Es tanzt eine Weile auf der Leinwand, und dann läuft er davon, ins Gestrüpp hinein. Teresita 8 hatte auch in Guyuan ein Streifenhörnchen, aber es ist gestorben. Sie sind anscheinend einsiedlerische Tiere, so war es nicht die Einsamkeit das es getötet hat. Vielleicht war es die Geiselhaft. Mein Streifenhörnschen ist jetzt verschwunden, und ich weiß, daß es an der Zeit zu gehen ist, aber ich will es nicht. Wenn ich diese Straße entlang gehe, dann wird sie hinter mir, und nicht vor mir. Wenn nur solche Augenblicke irgendwie im Bernstein aufbewahrt werden könnten! Aber ich kann dieses Dorf nur einmal zum ersten Mal entdecken. Die Straße liegt vor mir, eine Chausee nicht im Takt, unzeitgemäß. Da an der Seite der Straße repariert ein Mann sein Fahrrad. Er grinst, als er mich sieht. Er geht wieder an die Arbeit, klopft leicht an die Radfelge. Ein Pferd kommt auf mich zu, einen Einkaufswagen voller Obst ziehen: Äpfel, Birnen, Mangos und Litschi. Der Besitzer sitzt auf dem Rande des Einkaufswagens, 7 Das Rauchen ist normalerweise eine Männergewohnheit, und es schien meinen Kollegen in Guyuan sehr komisch, daß ich auch rauchte. Mein Chef und ich haben oft in seinem Büro gesessen, Tee getrunken, geraucht, und die Welt zusammen erledigt! Seit meinem Fußenzustand habe ich aber fast gar nicht geraucht. 8 Teresita war meine Kollegin und Freundin in Guyuan. Sie gehört zur selben Organisation, und stammt aus der Republik der Philippinen. 17 hält die Zügel locker, schreit: „Frische Obst! Alles heute morgen gepflückt!“ Ich muß lachen, und er bemerkt mich, und lacht gutgelaunt. „Vielleicht aber gestern gepflückt!“ sagt er mit einem enormen Grinsen. Er könnte mir seinen ganzen Wagen verkaufen, er ist so lieb. Als er vorbeifährt, rieche ich den beißender Geruch des Pferds; das köstliche Getrappel erinnert mich an ländliche Wege und langsamer Zeiten. Es gibt links ein VCD-Geschäft9, sein Lager hinter einem schmützigen Vorhang, genau so wie in Guyuan. Und sie sind doch VCDs nicht DVDs wie üblich in Ostchina, weil VCDs billiger sind, und die Qualität wesentlich schlimmer ist. Ein junger Mann lehnt gegen der Außenwand, raucht eine Zigarettenkippe, der Rauch in träge Wirbel in die Luft hinein schwebend. Er hat ein dunkelblaue Hose an, die schäbig und schmucklos ist, mit einem Kittel aus verblichener Baumwolle. Er trägt eine Maomütze aus dem selben dunklen Blau. Seine Hände sind rissig und tief mit Dreck eingewurzelt, und er schnippt die Kippe in die vom Regenwasser gefurchte Rinne hinein, und zündet sofort wieder eine neue Zigarette an. Er ruft eine Begrüßung auf einen Radfahrer, kennt ihn dem Namen nach, der aber als Antwort bloß winkt. Sein Einkaufswagen ist von Haushaltsgadgets und mechanischen Innereien überwuchet: er besitzt wahrscheinlich weiterhin eine Art Reparaturwerkstatt. Der Raucher schaut in den Himmel hinein, als ob er irgendeine Landung erwarte. Es ist eine Geste, die man am Ende des Tages erwarten möge, eine abschiednehmende Zeichenerkennung des Himmels. Es scheint ahnungsvoll zu sein; und vielleicht ist es auch. Er findet aber nichts, und verschwindet hinter den Vorhang hin. Weiterhin am Grasrande schätzen zwei Männer eine Fahrradfelge ab, als ob dieser Artikel von ihnen wegrollen will, bevor sie ihre Kompliziertheiten fangen dürfen! Zuerst hebt einer von ihnen sie auf, dann setzt er sie wieder ab, und dann macht der andere genau dasselbe, übergibt sie dem anderen, wie beim berühmten Kinderspiel10. Ein Mann, viel älter als der andere, in bauerlichen Klamotten und dreckigen Fingern gekleidet, schüttelt den Kopf und flucht. Legt die Felge angewidert ab. Kratz sich am Kopf. Sein jüngerer Kamerad (obligatorische Kippe zwischen den Lippen) 9 VCDs sind die chinesischen DVDs. Sie sind billiger und halten nicht so viel Information auf den Datenscheibe. 10 “Das Paket Übergeben“ist ein Kinderspiel, worin die Kinder mit Musik ein dickeingepacktes Paket von Hand-zu-Hand übergeben mussen, bis die Musik aufhört. Dann muß das Kind, das in diesem Moment das Paket in der Hand hat, das Papier auspacken, bis die Musik wieder anfängt. Um den Sieg zu erringen, muß ein Kind die letzte Papierschicht auspacken. Darin ist normalerweise eine Kleinigkeit, wie Süßigkeiten oder ein kleines Juwelierstück. Ich weiß nicht, ob Ihr dieses Spiel kennt. Ich habe es nie in Deutschland gesehen, als ich da wohnte. Aber vielleicht bin ich nicht in den besten Kreisen gewesen!!! 18 greift danach und murmelt etwas Versöhnliches. Plötzlich ruft der ältere Mann heraus, und eine junge Frau tritt hinter dem Vorhang hervor – die Frau des jüngeren Mannes vielleicht – die Schwiegertochter des älteren Mannes, vielleicht. Sie hat die apfelrunden Wangen des ländlichen Volkes, und trägt einen in der Taille sehr eng bändefüllenden grauen Rock. Auf dem Kopf trägt sie ein grünes, schäbiges Tuch. Sie lächelt ihren Buben zu, und sagt einige gedämpfte Worte; sie schneiden ihr Grimassen zu. Sie zieht sich gleichgültig hinter den Vorhang hin. Ich schaue nach hinten und sehe nur Dorf. Ich schaue nach vorne und sehe, wie Wolkenkratzer sich schon eindrängen. Es sind nur noch ein hundert Meter in diesem Dorf zu treten, das von der Landschaft und Buschland umgeben ist, und mit Vögeln, Insekten, und kleinen pelzigen Getieren besiedelt ist; und auch von Menschen, die an einer früheren Zeit leben. Am Ende der Straße befindet sich eine Art Treffgebäude, wovor eine große Anschlagtafel steht. Bei Dou Ming Dorfs Anschlagtafel hat eine stattliche Ausdehnung. Zwischen zwei heftigen Metallstangen angelenkt, erzählen die hellen, mosaikartigen Poster von Gemeindeabenden, Festen und draufgängerischen Heldentaten. Eine Kinderscharr versammelt sich um meine Beine, und kichert. Sie sind alle Schmuddelkinder, schmützig, muffig, und anscheinend mit ihrem Los völlig zufrieden! Ich sage hallo, und sie kreischen und springen alle rückwärts, mit einem Wonneschauer, der immer den Kindern zutrifft: sie mögen manchmal eine kleine Angst verspüren, solange sie dieses Gefühl alle zusammen in Sicherheit verspüren können. Das ist so niedlich für Erwachsene anzuschauen, finde ich. Sie schreien vor Vernügung und sprengen auseinander. Ich grinse und lese die Poster wieder. Sie bewegen sich Zentimeter für Zentimeter, übertreiben ihre kriescherischen Bewegungen bis ich mich umdrehe, und sie mitten unter Freudenschreier wieder auseinandersprengen. Wir machen das einigemal, bis die Kinder des Spiels müde werden! Ich schiebe aber das Unvermeidliche auf: ich muß nach Hause, um mich genügend auf morgen zu entspannen. Indem ich das Dorf verlasse, blicke ich nicht zurück. Es wird immer mehr wie Brigadoon11. Ich muß wieder einen unbeschrankten Bahnübergang überqueren, der den ländlichen von dem urbanen Raum, die Reichen von den Armen, und die modernen Zeiten von den Mittelalterlichen spaltet. “Brigadoon” ist ein berühmter Film. Zwei amerikanische Touristen Tom und Jeff stoßen während ihres Urlaubs in Schottland in den Bergen auf das kleine Brigadoon, ein sagenhaftes Dorf im Dornröschenschlaf, das noch in der Welt des Jahres 1753 lebt. Nur einmal in 100 Jahren erwacht es für einen Tag zu buntem fröhlichem Leben. Eine heile harmonische Welt tut sich vor den der hektischen Millionenstadt entflohenen Männern auf. An diesem Tag verliebt sich Tom in die schöne Fiona. Aber der Tag geht unwiderruflich vorbei. 11 19 Die Wolkenkratzer zeichen sich drohend ab. Die Reise ist heute vorbei. Den 21tn Oktober. Der Mensch wird immer näher daran kommen, wenn er sich bewegt. (Thom Gunn12) Ich beschließe mich, heute eine organisiertere Route durch den Hauptstadt zu machen, so trage ich meine Landkarte in der Tasche, und meinen Rucksack samt Notizbuch, Bleistift, Agatha Christie Krimie – Die Morde des Herrn ABC – auf Chinesisch, und eine Flasche Wasser. Ich habe auch einen Roman über Deng Xiaoping mitgebracht, der von seiner Tochter über die Kulturrevolution geschrieben worden ist, und vieles über den Tian’anmen-platz enthält. Ich setze mich auf den entgegengesetzen Weg auf Tian’anmen-platz auf, aber ich will ihn morgen erst erreichen. Ich schlage in der Karte nach und sehe eine lange Straße, 工 人 体 育 场 路 (Arbeiterstadionsstraße) die vollkommen dazu paßt. Ich gehe jeden Tag diese Straße zu Fuß entlang 13 , weil sie ins Büro führt. “Arbeiterstadionsstraße“ ist eine faszinierende Straße. Wie sehr viele Straßen in China ist sie im Moskaustil gebaut worden, sehr breit und geradelinig, keine mit Rüschen besetzten Gassen, bis Ihr ein Stadion für die Bejinger Olympiade erreicht. Das Stadion hat eine breite halbkreisförmige Enklave am Eingang, deren Mittelstück mit Blumen ausgeschmückt worden ist. Wenn Ihr von der Ausstellung zurück tretet, seht Ihr, daß die Blumen alle zusammen die fünf Farben der Olympiaden darstellen: rote, weiße und gelbe Wucherblumen konkurrierien mit violetten Tulpen und grünen Sträußen in einem hervorragenden Display. In der Mitte dieses Ergusses stehen die fünf Maskottchen, die die meisten Menschen niedlich finden, aber ehrlich gesagt ich nicht! Bevor ich Guyuan verlassen habe, und eine Reise nach Beijing (wegen meiner Zähnen – ich mußte in Beijing zum Zahnartz) gemacht hatte, habe ich He Xiao Hua 14 und ihren Schwestern und Eltern eine Reihe Olympiadenpuppen gekauft (seht das Bild oben), weil sie zu fünft waren, und die Olympiaden auch aus fünf Farben bestehen. Sie waren gleichmäßig davor 12 Thom Gunn (1929- 2004), Englischer Dichter, den ich auf der Uni (1973-1976) studiert habe. Es dauerte eine Dreiviertelstunde, um zu Fuß ins Büro zu gehen. Ich hatte keine Ahnung, daß ich mir den Fußen so beschädigen könnte. Wenn ich nur gewußt hätte! Hinterher ist man aber immer klüger, nicht wahr? 14 He Xiao Hua ist das freche, niedliche Kind, das von mir nebenan gewohnt hat. Sie hat mich einmal geraten, im Wörterbuch nachzuschauen, weil ich ein Wort auf Chinesisch nicht gekannt habe. 13 20 vergnügt, aber ich ahne, daß es mehr damit zu tun haben möge, daß sie aus einem Laden mit goldgestempeltem Siegel gestammt hatten – das bewies, daß sie auf Treu und Glauben von einem Beijinger Olympiade Händler gestammt hatten – eher als sie sie selbst wirklich süß fanden. Die Maskottchen reichen in einer Größe vom Schlüsselring bis Wolf im Rottkäppchenmärchen. Was ich richtig niedlich finde, ist schon die Tatsache, daß in jeder (und ich meine jeder) Ausstellung, die etwas mit den Olympiaden zu tun hat, besteht da eine bebilderte Anzeige der verbliebenden Zeit bis zu den Olympiadentagen. Diese Olympiaden sind eine Quelle des Stolzes für das chinesische Volk, ob sie aus Beijing oder einem Dörfchen in den Bergen stammen. Dies ist das Putzend der Pfauen. Im Internet findet Ihr auch Websiten, die völler Stadionentwürfe sind. Ich ziehe vor die Entwürfe, die mich an ein antikes Griechenland erinnert. Aber dieses (unten) ist der Spitzenreiter habe ich gehört. Jedes Mal, wenn ich das heutige Stadium vorbeigehe, frage ich mich, warum soviel Geld für so eine Struktur ausgegeben werden sollte, wenn dieses Geld soviel für die Menschen in Guyuan tun könnte. Aber die Welt ist nicht Guyuan, trotz des Umstandes, daß ich es mir so wünsche, und ich überquere die Straße, um eine Nebengasse entlang zu gehen, die ich nie vorher gelaufen bin. Auf beiden Seiten sind Weidenbäume und runierte Baugeländer. Ich laufe ein Paar Kilometer weiter, die schnellen Autos und die Verschmützung einatmen, und meinen Mißmut ausatmen. Dieser Ort könnte überall auf der Welt sein: ich meine doch überall, wo es industrialisiert ist. Ich mag Beijing nicht, aber es ist nicht so einfach. Es scheint mir, daß diese Eigenschaften – die Industrialisierung, die vielen Menschen, die alle so schnell hin und her laufen, um diesen kapitalistischen Monster zu befriedigen – sie scheinen mir alle als die für diese postmoderne Gesellschaft typische Attributen zu sein. Ich mag nicht das hektische Beschäftigsein, das Bremsengekreisch, die homogen Wolkenkratzer ohne einen Menschenmaßstab zu besitzen, der nötig ist, um sie befriedigend machen zu können. Ich mag nicht das mehrdimensionale Menschenleben sich als linienförmig und einfarbig zu maskieren. Ich fühle mich unbehaglich, weil wie alle andere Hauptstädte, die ich gesehen habe (möglich bis auf Paris und Edinburgh) – scheint diese Hauptstadt mir eher funktionsfähig als bewohnbar, eher nützlich als bequem. 21 Also, ich mag gewisse Eigenschaften von Beijing – meistens die Standorte, die mich nicht an Beijing erinnert! Das Dorf Bohnendorf Nord, zum Beispiel, oder die Parkanlagen, wo alte Männer die Drachen steigen lassen können, und in sich gehen können; oder die Gassen, die abseits ausgetretener Pfade sind, die die Zeit ruhen lassen; Sackgassen, worin das Brauchtum eingeschlossen wird – diese Erinnerungen im Bernstein sozusagen. Ich bin dennoch davon beeindrückt, daß alt und neu nebeneinander bestehen können, und daß die alten Sitten nicht völlig beiseitigt werden müssen. Ich mag zum Beiepiel einige Gebäude, die den Stolz chinesisch zu sein zusammen mit vielen postmodernischen Tricks erfasst haben. Ich gehe jetzt an einem Gebäude vorbei. Diese Gebäude ist aus Spiegeln konstruiert, und auf der Oberfläche seht Ihr die Wolken, das Wetter, und die Laune der Haupstadt. Ich suche nach dem Namen des Gebäudes , aber finde ihn nicht. Dieses herrliche Gebäude muß einen Namen haben, aber scheinbar nicht. Ich gehe ums Gebäude, denke an Kosinus, Tangens, Sinus und Hypotenuse, und fühle mich dankbar, daß ich nie wieder darandenken muß, aber einen Namen finde ich sowieso nicht. Dies erinnert mich an einen Dokumentarfilm, den ich einmal über Richard Feynman, der geniale amerikanische Astrophysiker, der die Regierung bei der „Challenger“ Katastrophe (Weltraumraketeunfall) beraten hat. Ich habe mit Vergnügung seine Autobiografie gelesen, in dem er eine Geschichte von seinem Vater erzählt hat. Sein Vater fragte den fünfjährigen Buben, was er tat. Der Junge hat ihn darauf beantwortet, daß er die außerhalb dem Fenster fliegenden Vögel beobachte. Sein Vater sagte, daß auf Englisch diese Tiere „bird“ heißen, auf Deutsch, „Vogel“, auf Französisch, „oiseau“, und auf Chinesisch, ‘鸟’ (niao). „Also jetzt weißt du alles über Vögel, ja?“ „Ja!“ erwiderte das Kind. „Nein!“ rief der Vater aus. „Jetzt weißt du nur wie sie heißen, nicht was sie sind.“ Kein Wunder, daß der Bube aufgewachsen, und Nobelpreisträger geworden ist, nicht? Damit höre ich auf zu versuchen, den Namen zu finden, und geniesse einfach das Gebäude. Das reicht. Manchmal ist diese Lust zum Benennen eine Art Beizmittel. Wir verlieren daran das einfache Sein. Einfach angucken, und uns nicht immer in alles einmischen. 22 Ich gehe weiter und sehe eine Plakatwand, worauf ich etwas von einer in Tian’anmen-platz stattfindenen Veranstaltung lese. Eine Art Historienspiel. Es gibt immer Prunk in Tian’anmen, Ausstellungen des Nationalstolzes, aber dennoch rührend. Dieser Poster berichtet uns „dem Jahr des italienischen Volkes“. Es gibt überall Poster, die Michaelangelos David mit Sprechblasen darstellen, worauf „你好“ (Guten Tag) steht, und ein Terracottakrieger ihm gegenüber mit „Ciao“ darauf steht. Kitschig, wenn Ihr versteht was ich meine! Dieses Reklamslogo bietet Euch einen Hintergrund, worauf Auskunft gegeben wird, über die Karten fürs Konzert, wieviel sie kosten und dergleichen. Vor zwei Jahren war es „Das Jahr des Franzosers“ in Beijing gewesen, mit Konzerten, Märschen, und schauspielerischen Aufführungen, und die Karten dafür waren auch in den Provinzen auch erhältlich. Die Karten für die „Große Volkshalle“ in Beijing, waren bestimmt außer Reichweite des Volkes, soweit ich weiß, und dieses Spektakel würde gleichartig soviel kosten. Ich glaube ich werde mich auch dieses Jahr darauf verzichten! Ich gehe nach links. „Volksstadion West“ bietet mir die Möglichkeit in einer Sackgasse, mit in alten chinesischen Baukunst gerahmten Straßen zu wandern. Fast am Ende, als ich einem schmützigen Reparaturwerkstatt und verstreuten Buden vorbeigehe, stoße ich auf einen bedeckten Markt. Die in China bedeckten Märkte sind immer faszinierend, weil sie völler Krimskrams sind – völler lebendigem Essen, reiner Seidenwaren aller Farbschattierung und Qualitäten; und mit Gerüchen, die von Ingwer, wildem Knoblauch, bis Innereien und Schweiß alles durchdringen – ist es die Sache wert stundenlang darum zu bummeln. Ich gehe durch den vergleichsweisen kleinen Eingang, und trete in den großen Innenbereich, der einem Flugzeughangar ähnelt, und von Unordnung und Dreck überfließend ist. Krabben kriechen aus Eimern heraus, die neben Seidenstähnen stehen. Kleine Jungen fahren Dreiräder hin und her, auf und ab. Einer läßt einen Rübeneinkaufswagen umkippen, und lacht bloß, indem der Verkäufer ihn eifert. Männer rufen ihre Schnäppchenpreise heraus, ihre Preise und Waren wie eine widerhallende Beschwörung, so schnell und dringend, daß die Silben in den Trubel ineinander übergehen, und scheinen keine abgesonderte Bedeutung zu haben. Mütter schieben Sprößlinge in leichtgewichtigen Kinderwagen. Väter feilschen und rauchen Zigaretten. Großeltern schlendern zwischen ihnen wie Anker, langsam und behäbig mit ihren Wanderstäben und Rucksäcken. Eine ganze Ecke des Hangars wird mit Büchern ausgestattet, aber in keiner Reihenfolge: Kinderbücher neben Kräuterwörterbüchern. Tai-Chi neben Wildtieren. Ein Verkäufer deutet mich auf einige Kinderbücher hin, die 23 für eine etwa Elfjährige sind. Ich frage ihn, ob sie für mich ein bißchen jung seien. Er kann aber meinen Spaß nicht verstehen, und deutet mich anstatt dessen auf einige Bücher über die chinesische Symbolik hin. Mm. Danke sehr! Ich lächele ihm zu, und sage Tschüß, aber er bittet mich mit einem leeren Ausdrück meine Worte zu wiederholen. Zeit zum Gehen, denke ich. Der Boden unter meinen Füßen ist übelriechend und stinkt nach Fisch und Dreck. Das schreckt mich nicht davon ab, weil es immer so in China ist. Was mich wirklich überrascht, ist die Ähnlichkeit zwischen den Gesundheitspflegen im ländlichen und städtischen Orten. Hygienstandarten in China entsprechen dem Standard gar nicht. Ich war in England und Deutschland gewohnt, die Hygiennormen als Vernünftssache zu verstehen, aber in China haben die Menschen weder Ahnung von ihren eignen Körpern, noch wie die Umwelt funktioniert. Sie verstehen überhaupt nicht die Verbindung zwischen der Umwelt und ihnen selbst, was mir sagt, daß dies genau wie China selbst tausende von Jahren von der Außenwelt ganz und gar abgeschnitten worden ist. Sie wachsen anscheinend auf, ohne zu verstehen was sich in ihrem Körper befindet. Sie verstehen nicht wie Bakterien den Körper heimsucht; deswegen ist es hier keine Vernunftssache. Es ist eine Ausbildungssache. Der Staat aber herrscht soviele Aspekte des Eigenlebens, daß die Menschen hier (meiner Meinung nach) nicht in der Lage sind, die Verantwortung für ihr eignes Leben zu übernehmen. Also, es stinkt hier, aber ich gehe sowieso weiter. Ich liebe es, die Obstbuden anzugucken, weil sie viele neuen haben (ich meine, Früchte, die ich eher nicht gesehen habe). Das muß eine Sternfrucht sein. Der Verkäufer, älterlich und klein trägt mir eine an, aber ich finde sie ziemlich fade, und er lacht vor meiner Fratze. Sein Gelächter ist wie ein Hauch frischer Luft in diesem finsteren Ort. Die Frucht ist aber schön in ihrer Symmetrie, seine gelbe Farbe munter und irgendwie verheißungsvoll. Die Sternfrüchte sind pyramidenförmig dargestellt. Es ist eine tolle Ausstellung, und ich sage „Bravo“. Der Verkäufer sagt, „Nali, nali!“,15 die übliche höfliche Erwiderung, wenn jemand Euch ein Kompliment machen würde. Dann hält eine Frau an mich an. Sie trägt ein für Sichuan typisches Kleid, schmützig und locker, mit einem Turbenverband auf dem Kopf, der in grau und gelb genäht ist. Sie hat dunkelfunkelende Augen, und starrt mich offen und freunclich an. „Wo gehen Sie hin?“16 fragt sie. Nali bedeutet (wörtlich genommen) „dort drüben“, mit anderen Worten, das Kompliment gehört anderswo zu. 16 Diese Frage ist die übliche Begegnungsfrage in China. In England besprechen wir das Wetter; in China fragen sie wo du gehst, und auf dem Lande, ob du schon gegessen hast (weil es eher eine wichtige Frage war!). Diese Frage – wo gehst du? - ist eine höfliche Frage, auch mit Menschen, die du 15 24 „Tian’anmen,“ sage ich. „Von hier aus?“ ruft sie aus, und viele Menschen versammeln sich um uns, um zu sehen, was diese komischbehaarte Frau zunächst macht. Ich lache. Es ist oft die beste Antwort in China! „Warum benützen Sie diese Route?“ „Ich habe ein Paar Tage frei,“ sage ich. „Ich will einen großen Umweg machen.“ Die kleine Gruppe Leute um mich nicken mit dem Kopf. Meine Antwort berühigt sie. „Tian’anmen ist wunderbar. Sie müssen es unbedingt sehen,“ sagt ein Zuschauer, der uns zwei in eine Gemeinde verwandeln will. Ich liebe dieses China! Menschen wollen immer in Gruppen sein, in Gemeinden sein. Es ist für sie vollkommen normal alles zur Gemeindesache zu verwandeln. Es ist keine Beeinträchtigung, als ich es vor einigen Jahren betrachtet habe, es ist wunderschön. Zur zweit geht, aber zur Gruppe geht noch besser. Es hat bei mir gedauert, mich an sowas angewöhnen zu können. „Das tue ich,“ sage ich, und mit einem Handschlag bekräftige es. „Morgen ist der letzte Tag.“ „Ich hoffe, Sie wissen es zu schätzen,“ sagt ein weiterer mit scharfer Zunge bestücktem Zuschauer, und geht weiter. So eine Reaktion ist ungewöhnlich, und ich frage mich, ob er schlechte Erlebnisse bei Ausländern gehabt hat. Warum sollte ich es nicht wissen, Tian’anmen-platz zu schätzen? Weiterhin steht eine Bude, die Lampenshirme und Lampen verkauft. Es ist eine Aladinswunderlampe des Kacks. Lampenschirme mit angeleimtem Brokatstoff, wackelige Lampengestelle, die nicht lange stehen werden, und Neonröhre in phosphoreszierendem Plastik. „Nichts wie ran,“ sagt der junge Mann, seinem Geschäft nachgehen. „Kaum!“ sage ich skeptisch, und wir lachen beide. Ich habe oft solche Momente in China erlebt. Wenn ihr einem Menschem auf halben Weg entgegenkommt, sind sie immer geneigt sein, Euch in die Mitte zu treffen. Lächeln werden zu Grinsen; einen Drachen steigen lassen wird zum Konfuzianismus – das Beibringen und das Lernen, die Erfahrung und die Modelle, Chinamäßig. In der zweiten Ecke meiner Wanderungen, ist ein Kavalkade von Krabben, Garnelen und Schrimps. Alle sich mit Beinen krümmen. Erinnert mich an einige Zeilen aus meinem allerliebsten Gedicht von Coleridge: Der Alte Schiffer17: nie schon begegnet hast. In meinen früheren Jahren in China, habe ich diese Frage als eine Frechheit genomment! 17 Dieses Gedicht hält von einem Mann, der unwillkürlich einen Sturmvogel (ein Zeichen des lieben Gottes) umbringt. Das hat zur Folge, daß alle Mitschiffer zum Tode verurteilt werden, aber er bliebt am 25 Doch, da krochen schleimige Tieren mit Beinen, Auf dem schleimigen Meer. Tja! Das ist der chinesische Markt. Der Ruch ist ein bißchen metallisch, und ich rümpfe meine Nase darüber. Mein Leitsatz ist in China, es zu versuchen, nie etwas zu essen, was mich anguckt, oder was versucht, mir zu entfallen. Ich denke an die elegante Luo Lailai (Kollegin im Büro), die an einem Abend zimperlich ihr Essen versucht hat, in den Mund zu tun, indem es kämpfte. Ich wollte mich fast übergeben. Dumm von mir so überempfindlich zu sein, wenn ich Allesfresserin bin, aber ich finde es doch schwierig, die Tiere hin- und herrütschend zu sehen, die bald sterben werden. In Wannen zucken daneben große Fische wie Karpfen, die zu groß für den benützbaren Raum sind, und offensichtlich nach Luft schnappen. Einige haben den Kampf aufgegeben, und liegen auf ihren Seiten auf der Oberfläche. Dieser Fisch ist frisch, aber ich würde es immernoch nicht essen wollen. Alles in dieser Umgebung ist so dreckig, und stinkt nach dem Tod. Ich gehe schnell zum Kleiderbereich hinüber. Nur Männer arbeiten in diesem Bereich , was mich überrascht, und fast alle Kunden sind Frauen (was mich gar nicht überrascht!). Das Tauschgeschäft passiert überall. Argumente erfolgen, meistens gutgelaunt, soweit ich es verstehen kann, hier ein Yuan18, da ein Mao. Hier mit jedem eine Vereinbarung treffen, und dort alles gemessen. Ich bezeuge eine solche Geschlicklichkeit in den Männernfingern, als sie bördeln und zwicken und strecken, messen und straffen, und schneiden, klare Linien ohne Zögern. Es ist mir eine Freude alles anzugucken. Das mache ich eine längere Zeit bis ich ein Teil des Durchflusses werde, und kein Felsbrocken in dem Wasser, das um mich wirbelt. Eine Frau, die wahrscheinlich Mitte ihrer zwanziger Jahre ist, und deren helle Kleidung typisch für ländliche Landfrauen sind, schiebt an mich vorbei, ein Baby in der einen Armbeuge gekrümmt, den Korb über der anderen. Sie ruft nach einem Schneider laut etwas. Er legt mit gerunzelter Stirn seine Schere auf dem Tisch hin, ohne Wut, aber mit Verwirrung. Er schüttelt ihr den Kopf. Sie legt ihren zerlumpten Korb auf die sauberen Stoffballen hin, und droht ihm mit der Faust. Er lacht, nicht mit Verhöhnung sondern mit Liebe, und mit Vernügung, und irgendwie auch nicht chauvinistisch. Es ist etwas im Gange, was ich gern verstehen würde. Sie hebt Leben. Er muß den Schiff allein nach Hause bringen. Am Ende des Gedichts muß er eine Ewigkeit seine Geschichte erzählen, um sich für sein Vergehen zu büßen. Coleridge wohnte zur selben Zeit wie Wordsworth, die ich vorher erwähnt habe. In meiner Doktorarbeit habe ich dieses Gedicht als Symbol der nötigen Selbstentwicklung, die wir alle als Lebenspflicht erben. 18 Ungefähr acht Yuan gleicht einem Euro. 100 Mao gleicht einem Yuan. In Guyuan ist es möglich am Restaurant eine Schüssel Nudeln und Schweinefleisch mit Gemüsen für 4 Yuan zu kriegen. Das gibt Euch eine Ahnung von den Preisen. 26 den Korb hoch, und schleudert ihn als Betonung nieder. Diese Tat erweckt das Baby, das anfängt zu heulen. Das Baby sieht aus wie ein Bube, aber sowas kann man kaum in dem Alter differenzieren. „Jetzt kann ich nichts tun!“ sagt er (glaube ich). Er wischt die Stirn, und versucht zu lächeln. Das klappt aber nicht. „Du Arschloch!“ ruft sie aus. Die Menschen halten an, und schauen zu. Hier haben wir Spaß. Weshalb weiß ich, daß der Mann und die Frau es auch als Spaß interpretieren? Vielleicht, weil ich kein Risiko verspüre. „Du sagst, Du paßt auf Deinen Sohn auf!“ fügt sie hinzu, (also, es ist doch ein Junge!) indem sie ihn anstarrt. Er blickt auf den Boden, immernoch dieses kleine Lächeln seine Lippen umspielen. Ich bin fasziniert. Wie kann diese Situation sich aufklären? „Also, Du nimmst ihn!“ verkündet sie ihm, indem sie das Baby in ihren zwei Hände aufhebt, unter großem Protest (das Baby meine ich!) reicht sie ihn über den Schalter hinüber. Der Ehemann schüttelt wieder den Kopf, und streckt die Hände aus, um seinen Preis zu empfangen, sein Lächeln über das ganze Gesicht strahlen, und seine Augen auf seinen Sohn fixiert. „Guckt ihn an!“ ruft er den Zuschauern aus, indem er das Baby hoch in seine Arme nimmt, und ihn uns allen zeigt. „Er ist fabelhaft, nicht?“ sagt er stolz. Seine Frau lächelt, und schüttelt den Kopf. Er beugt den Kopf zum Baby hin, und küßt zärtlich die Backe und dann legt er das kleine Geschöpf auf ein Tuch hin, und findet unter dem Schalter ein Babykörbchen wiederauf, damit er vorsichtig – als ob sein Sohn aus Seide zum Tausend Yuan pro Meter wert sei – legt er ihn ins Körbchen hin, und steichelt ihm das Haar. „Ich komme gleich zurück!“ sagt die Frau ominös. Ich glaube ich habe ein Liebesduett bezeugt. Der Tauschensgeplänkel fährt fort, und ich gehe weiter. Jetzt kommen wir an die Spezerei vorbei. Immer eine Lieblingsanziehung. Ich erkenne einige schon: den Ingwer, den Knoblauch, das Kumin und die Petersilie. Sonst sind sie alle (und es gibt eine große Menge) ein pflanziges Rätsel. Ach Gott, dort drüben befindet sich etwas, was ich erkenne! Eine Flasche mit „黄色蛇油 “ (gelbes Schlangenöl) etikettiert. Mit einer echten Schlange drunten. Sie sieht wie eine Natter aus, ziemlich lang, vielleicht 45 Zentimeter. Die Streifenbildungen sind genau wie ich von einer Natter erwarten würde, aber sie sieht irgendie unwirklich aus. Der Beizvorgang hat ihr von irgendwelchem Zeichen der lebendigen Form augebeizt. Sie sieht wie Plastik aus, aber das kann sie nicht sein. Schlangen in Flaschen kommen ziemlich üblich in China vor. Sie sind teuer, und sind für den Gelenkenschmerz hochgeschätzt. In Guyuan habe ich sie in Häusern gesehen, 27 damit die Besitzer mit ihrem Reichtum prahlen können, und wo ein halber Liter Schlangenöl Euch ein Monatsgehalt kosten würde. Ein halber Liter Schlangenöl mit der Schlange ansässig darin, würde Euch zwei Monatsgehalt kosten. „Wieviel kostet das?“ frage ich den Verkäufer. „Ein Tausend Yuan,“ sagt er, schroff. „Quatsch! Ehrlich, wieviel?“ „Für Sie, hüsche Dame, sagen wir 950 Yuan!“ Ich lache in Pseudorage. In Wirklichkeit ist es unfair von mir, denn ich habe keine Absicht mir dieses schreckliche Ding zu kaufen, aber es bringt mir Spaß, und der Verkäufer scheint es auch zu geniessen. „Sie veräppeln mich,“ sage ich. „Das würde ich nie machen, schöne Dame,“ sagt er, Hand aufs Herz tun. „O.K.,“ gebe ich zu, „ich will es nicht kaufen, aber wenn ich es kaufen würde, wieviel würde es mir kosten?“ „Was? Sie kaufen es nicht, aber Sie wollen wissen, wieviel es kosten würden, wenn Sie es kaufen wollten. Ausländer!“ ruft er aus, und schüttelt den Kopf. Ich lache laut auf. Also, diese Kultur ist ehrlich so ganz anders von der englischen. Sowas würden wir nie wagen. Denken vielleicht, aber nicht sagen! Vielleicht sind sie bloß keine Heuchler. Er runzelt die Stirn. „Ein Tausend Yuan,“ sagt er mit gewußtem Humor. Ich lächele ihm zu, und gehe weiter. Der Ruch des lebenden und toten Inventars geht mich auf die Nerven, so entschließe ich mich, in den wässrigen Sonnenschein hinaus zu gehen. Außerhalb des Markts gehe ich nach links, wieder von meinem Anfangspunkt abzuweichern. Ich bin nicht sicher, wo diese Straße anfürht, aber ich will die Landkarte nicht herausholen. Da befindet sich am Ende der Straße einen Park. Da stehen Leute Tai Chi machen, Hünde ausführen, Rollschuhlaufen. Ich möchte mich sowieso entspannen, und ich habe heute viel Zeit. Es ist erst spät am Vormittag. Ich möchte mir die Zeit geben, es alles einsickern lassen, und nicht auf ein ungeordnetes Eindrücksmosaik sitzenbleiben. Ich setze mich vorschtig auf eine (nicht sehr saubere) Bank hin, und merke, daß die Sonne hoch im Himmel steht. Ich trinke etwas Wasser und sehe mich um. Mütter mit Söhnen, Großväter mit Enkelsöhnen. Wo spielen die Töchter? Dort drüben sitzt eine Mutter mit ihrem Sohn, etwa zehn Jahre alt, frech, der einen hellgelben Anorak mit einer beigen Hose vollgestopft mit Taschen trägt. Er posiert für seine Mutter, die ihn knippsen will. Fotoscheu ist er gerade nicht! Er tut es aber mit Geringschätzung. Ach so, ein kleiner Kaiser! Es gibt sehr viele kleine Kaiser in China: wegen der Ein-Kind-Politik wird ein Sohn besonders von der 28 ganzen Großfamilie verwöhnt, jede heimtückischer Wutanfall auf Beinen auf. Laune verpflegt, wächst als Diese Mutter versucht die Fokussierung einzustellen, und er gebraucht die Zeit, um in lächerlich ausgefallenen Gesten, seine Ärme und Beine zu bewegen; und wenn sie aufschaut, sieht es aus, als ob nichts passiert sei. Er sieht jetzt wie ein Engel aus, sein Ausdrück ein Arglosigkeitsbild. Sie lächelt ihm zu, und er lächelt ihr zu. Das kleine Ungeheuer! Sie kungelt mit der Kamera, und er flippt aus. Dieses Mal muß ich lachen! Es ist sehr lustig. Ich falle ihm auf. Er grinst zurück. Vielleicht immerhin kein kleiner Kaiser. Seine Mutter hört mein Gelächter. Was denn sonst?! Ich bin nicht für mein leises Gelächter bekannt. Hastig versuche ich etwas in meinen Rucksack zu finden. Wenn ich wieder aufschaue, sehe ich ihn mir zulächeln, und es fällt mir ein, daß wir zu Verschwörern geworden sind. Also, ich sollte mich nicht so benehmen, denn es ist für ihn kein gutes Vorbild! Auf einmal sehe ich die Mutter auf mich zukommen. Ach nein. Wie sage ich auf Chinesisch, ich hätte es nicht tun sollen, ihn darin zu ermutigen. Stattdessen schaffe ich: „Er, Ihr Sohn ist sehr nett!“ was nicht gerade blendend ist. „Können Sie bitte ein Bild von uns aufnehmen?“ sagt sie auf Englisch. Und kein betontes Englisch, sondern ein perfektes Englisch. Voller Erleichterung, daß sie mich nicht umbringen will, nehme ich die Kamera, und warte bis die beiden zusammen stehen. Sie hat langes, schwarzes, glänzendes Haar, das in einem sehr jungen Stil geflechtet wird. Sie sieht erst 18 Jahre alt, aber mit einem zehnjährigen Sohn ist das kaum wahrscheinlich! Sie lächelt mir zu, glänzende Zähnen als Beweis eines guten Zahnartzes. Sie stammt offensichtlich aus einer reichen Familie. Ihre Kleidung sind aus Seide und feiner Wolle, subtil an Farben, und mit klaren Linien schimmern. Ihr Pullover ist wahrscheinlich aus Kaschmir, und ihre Hose sind wahrscheinlich aus Leinen mit Seide zusammen. „Vor der Statue dort drüben ist es veilleicht besser,“ sagt der Bube, in dem Ton eines perfekten Engels. „Mutti, was denkst du?“ Er sieht sie von unten herauf mit seinen runden, großen Augen, und wir laufen dahin. Dieser Kerl ist umwerfend. Er hat eine Qualität, die ich nur in Männern und Jüngen gefunden habe: wie sie mit Humor ein Publikum bezauben können (Mädchen und Frauen tun es mit ihrem Aussehen und Taten). Auf dem Wellenkamm seiner Niedlichkeit und Lebensfreude, unterhält er uns, weil er weiß, daß er das kann. „Wie heißt du, du kleines Äffchen?“ frage ich ihn. „Mutti, hast du das gehört? Diese Dame hat mich ein kleines Äffchen genannt!“ 29 „Mehr wie ein Orang-Utan,“ murmelt sie finster. „Li Guofang,“ sagt er. „Und ich muß Sie im Namen meiner Mutter um Verzeihung bitten. Solche Namen wie Orang-Utan ist bei uns strengstens verboten, aber sie tut es noch.“ Die Mutter lächelt, versucht nicht in Gelächter auszubrechen. Ich glaube, dieser Bube braucht keine Aufmunterung. Ich bin gerade im Begriff zu knipsen, und er macht eine Fratze. „Guofang!“ ruft seine Mutter aus. „Sei brav!“ (Woher weiß sie, daß er das macht? Mütter müssen doch einen sechsten Sinn haben.) „Mutti,“ sagt er mit übertriebenem Hohn. „Ich bin immer brav! Wie kannst du sowas behaupten?“ Sie seufzt. „Er kann nichts dagegen,“ sage ich ihr. „Er mag die Reaktionen, die er kriegt.“ „Woher wissen Sie das?“ fragt er mich entzückt. „Mutti, kann ich mit dieser sehr klugen Dame nach Hause gehen?“ „Gerne,“ sagt sie eben. Ich muß dann lachen, und kann eine Weile die Kamera nicht stationär halten. „Also bleib stehen, du kleines Ungeheuer!“ sage ich entschlossen. Jetzt lacht die Mutter. „Mutti!“ fängt er wieder „empört“ an! „Hast du das gehört? Also, jetzt kannst du mich ins Kindesheim schicken, denn ich will jetzt gar nicht mehr mit ihr nach Hause gehen.“ „Schade!“ sagt sie, und fängt an zu lachen. Jetzt steht er, als ob er beim Heer dient. „Sie haben mir ges...“ „Guofang!“ Der Ton ist unmißverständlich. Er tut was sie sagt, und grinst mich an. Er tritt gegen sie zurück, und sie legt die Hände auf seine Schulter hin. Ich knipse das Foto and zeige es ihnen.„Ich muß jetzt los,“ sage ich. „Sie kann mit uns kommen, nicht, Mutti?“ fragt der neue Bekehrter. „Ich habe zu tun, Guofang,“ sage ich. „Aber darf ich dir ‚was sagen?“ „Mir? Ja schon!“ erwidert er mich. „Du bist ein Elixir,“ sage ich grinsend. „Ich habe mich so erfreut, dich heute morgen begegnet zu haben!“ (Ich habe ihn fast förmlich angesprochen, weil ich eigentlich mit der Mutter sprach.) „Was ist ein Elixir?“ fragt er mich, und dreht sich um, um seiner Mutter auch die Frage zu stellen. Sie weist aber auf mich hin, und ich mache eine solche Wärme und Vernügung in ihren Augen aus. „Ein Elixir, Guofang, ist ein Getränk, was einem Gut tut. Läßt dich erholen, sozusagen.“ 30 „Ich danke Ihnen, wunderschöne Dame!“ sagt er, auf Englisch, und ich lache vor Freude. Ich kann mir gerade vorstellen, wie er alle Frauen, wenn er Mitte seiner zwanziger Jahre ist, entzücken wird. Kleine Kröte! Dieses Mal gehe ich nach rechts, eine doppelte Fahrbahn entlang, die, glücklicherweise eine Chausee auf der einen Seite hat, woneben ich in größerer Bequemlichkeit und Stille wandern kann. Die Bäume sind Weiden, und bald stoße ich auf eine Nebenstraße, die wegen der Bäume mit Sonnenschein flackert. Da steht zwischen der Nebenstraße und einem Park ein kunstvolles Gitter. Jeder herniedere Stab wird aus zwei ausgeprägten Teilen, wie ein chinesisches Finger-Puzzle, das in der Mitte gelockert wird, um die verschiedenen Adern – die drunten und droben wegen der Straffheit des Metals – zu zeigen (seht das Bild unten). Es ist ein verwickelter, ungewöhnlicher Zaun, und ich halte an, um ihn zu bewundern, meine Hand der konvexen Gestalt der Stäbe nachziehen, indem ich in der Richtung eines Parks hingehe. Das Gebrüll des Verkehrs ist verwirrend, und macht es mir schwer, mich zu entspannen. Ein Park mag ein guter Ort, mir eine kleine Mittagsruhe zu verschaffen. Die Blumen in der neben mir geformten Fläche sind hell und lebendig – gelbe Chrysanthemen und Sonnenblumen, rote und weiße Rosen, weiße Lilien, orange, rote und weiße Gerbera. Ich sehe die verschiedenen Blätterfärbung, und erinnere mich an den amerikanischen Brief, der diesen Spaziergang gekennzeichnet hat. Hier sind auch Pfingstrosen, Tausende von Pfingstrosen. Sie sind das chinesische Hoheitszeichen, und befindet sich auf Postern, Hintergründen, in klassischen Gemälden, und als Bebilderungen auf Dichtungen, von jungen Männern, die sich eine Sehnsucht auf das Mutterland fühlen, wenn sie im Ausland sind. Ich versuche mich an ein Gedicht der Tang-Dynastie zu erinnern – was genau diese Gefühle darstellt – indem ich um die Ecke wandere, und plötzlich... 31 ...fast mit einer Sphinx zusammenstoße. Eine Sphinx? Hier in China? Haben sie auch Das Jahr des Äegytens gefeiert? Und hier befindet sich eine Art Sphinxenfriedhofs vielleicht? In Blau und Gold und Schwarz sitzt die Sphinx auf einem Podium, und überschaut alles. Die Farben ihrer Augen – dieser Gold, dieses Blau und dieses Schwarz – sind die durchbohrendsten Eigenschaften, und ich muß sie anstarren. Hier sind wir in einem chinesischen Park, wahrscheinlich neben Ritan Park19 (seht unten), und ich begegne eine Sphinx. Wahnsinnig! und ihre Hundgötter in glänzendem Ebenholz mit goldgespitzten Ohren. Ich zähle sechs davon. Da scheint keine Menschen hier zu sein, so frage ich mich, weshalb diese Statue überhaupt sich hier befindet. Menschen leben in diesem Land auf der Straße, sie verhungern in diesem Land, und vor mir steht eine Statue, die dem Staat Milliarden hat kosten müssen. Dies ist ihr Land, nicht meins. Ich will weinen, weil es so verdammt unfair ist, aber ich habe das schon gewußt, und trotzdem mich sowieso für dieses Land eingesetzt. Und ich beraue es nicht, weil die Politiker nicht die Menschen sind, die ich liebe. Es gibt hier keine Poster, keine Details, die ich verstehen kann, die mich etwas von dieser Ausstellung erzählen könnten. Warum in einem solchen chinesischen Park, mit chinesischer Baukunst, mit chinesischen Blumen, steht verdammt nochmal eine sehr ägyptische Sphinx mit ihren hündischen Dienern um sich? Es ist blödsinnig. Ich bin aber seltsamerweise mit diesem Geheimnis zufrieden. Es ist abolut typisch für China, dieses Paradox. Sowohl grausam als auch voller Begeisterung. Sowohl reich als auch arm. Sowohl arglos als auch korrupt. Ich kann es nicht erklären, aber die meiste Zeit liebe ich dieses Land. Vielleicht, weil es das menschliche Befinden darstellt. Aber sichtbar, übertrieben. Hinter der Enklave, wo die Sphinx in ihrer Brillianz sitzt, ist ein Eingang zum Kindervernügungspark. Durch den Eingang hindurch befindet sich ein Jarhmarktplatz mit fliegenden Bauten, blecherner Musik. Familien versammeln sich in Interessensgruppen. 19 Ritan Park ist köstlich, und lag in der Nähe meines Büros. Ich habe ihn oft in der Mittagspause mit Kolleginnen besucht. 32 Ich finde ein Wäldchen, die nicht in der Nähe von Eingängen und Ausgängen, Gruppen und Lärm ist, und da setze ich mich auf eine Bank hin, um ein von seiner Tochter auf Englisch geschriebenem Buch über Deng Xiao Ping zu lesen. Es hält besonders von den Kulturrevolutionstagen. Ich blätte bis aufs alphabetische Verzeichnis um, um den Tian’anmen-platz zu finden. Siebenundsiebzig Einträge! Ich blätte ums Jahr 1949, die Gründung der Volksrepublik. Deng Rongs Sprachstil ist voller Optimismus und stolzgeschwellt. Sie schreibt über die Hoffnung und das Umrechnung der Werte, und Chinas Potential zu einer Weltmacht zu werden, ein souveränes Land (eine interessante Benützung des Sprachschatzes, denke ich, weil Mao immer gesagt hat, er wolle zu keinem Kaiser werden, aber das hat er doch gemacht: er war aber der Letzte Kaiser!) Sie erwähnt 华表 (Freiheitsrede – seht das Bild unten), eine aus Holz kreuzförmige Struktur, die am Eingang des Tian’anmens Wache steht, und symbolisiert das Recht des Volks unbehindert zu sprechen. Ich erinnere mich aber an die „Lassen hundert Blumen blühen“ Bewegung, die Mao eingewiehen hat, damit die Menschen ihre Kritik frei und offen sprechen durften. Diese naiven Menschen hat er später umbringen lassen. Schon wieder sehen wir die Paradoxen des Tian’anemens. Für die meisten Leute verkörpert dieser Ort noch die Freiheit, aber wenn Ihr eine Geschichte über die Ereignisse findet, die wegen Tian’anmens passiert ist, findet Ihr auch Verrat und Terror. Auf der einen Seite seht Ihr einen Mut, der Euch aufmuntern kann. Aber auf den anderen Seite seht Ihr nur die Bestechlichkeit und ein moralisches Schwarze Loch. Ich sehe meine Umgebung an. Hier ist aber Deng Xiao Ping Land, nicht Maos. Damit meine ich, daß Dengs „Politik der offenen Tür“ sich bewurzelt hat. Er schien für die Vielfalt und Erneuerung zu stehen (zur selben Zeit auch traditionelle Werte über die Familie zu halten), aber Mao verunglimpfte alles Schöpferisches und Individuelles. Ich will jedoch nicht in eine Falle geraten – Deng gleicht „Gut“, und Mao gleicht „Übel“. Laßt mich ganz offen sein! Ich glaube wirklich, daß Mao die Inkarnation des Übels war, aber ich bin nicht davon überzeugt, daß Deng sich als Heiliger hinstellen könnte! Ich habe zwei Verteidigungen für diese Meinung. Die erste ist natürlich was er im Jahre 1989 mit den Studenten überwacht hat. Die zweite liegt an meine Überzeugung, daß niemand, der in einer solchen Situation mit Mao so viele Macht anhäufte, wirklich ein guter 33 Mensch gewesen sein kann. Aber er hat meiner Meinung nach auch China geholfen, und es aus dem Mittelalter geschleppt. Aber im Endeffekt könnte nur ein höchster Pragmatiker sowas überleben, und so viele Macht noch besitzen. Fast alle anderen Kollegen Maos wurden umgebracht (sozusagen „gereinigt“), abgeschickt, zum Schweigen gebracht, tyrannisiert, oder völlig verrufen. Ich sehe hier aber Beweis eines neuen Chinas, weltbürgerlich, und Verschiedenheiten werten, beeinflußbar, und wirtschaftlich blühend. Maos China schätzte das Außensaussehen der Schöpferung, das Außensaussehen der Wirtschaft. Er wollte keinen sozialen Zusammenhalt. Er wollte einfach Macht. Er gebrauchte den Terror und die Anarchie, um die Volksmassen zu unterwerfen. Dengs Handlungen waren subtiler, tiefgreifender, und vielleicht noch gefährlicher, weil seine Strategien China auf seine gegenwärtige Handlungsablauf gesetzt hat, so schnell, so rasch, so mächtig, daß niemand weiß, ob es sich schön finden wird. Die Aufforderung, wie ich sie verstehe – indem ich hier in der Sonne an diesem Herbsttag sitze – besteht daraus, daß man diese ökonomischen, gesellschaftskundlichen, und kulturellen Entwicklungen übernehmen muß, und sie menschenfreundlich benützen. Wenn die Macht als Weg zur Macht und nicht um die menschliche Verfassung zu verbessern – gebraucht wird, dann mache ich mir Sorgen. Ich fürchte, es wird aber meistens als Weg zur Macht verwendet – in der Ausbildung, der Politik, dem Handelsverkehr, und den Geisteswissenschaften. Ich fürchte, daß die Korruption des westlichen Materialismus und Kapitalismus in die chinesische Psyche einsickern wird, und dieses alte Volk und seine Kultur, die Jahrtausende alt sind, völlig verschwinden werden. Diese Verwandlung ist die größte, die die Welt je gesehen hat, und ich frage mich, ob China es überhaupt verkraften kann. Maos Erbschaft war eine skrupellose Mediokrität. Der Mann verstand die Außenpolitik gar nicht. Der Beweis davon, besteht daraus, daß manche Staatschefs ihn oft als unwissend gehalten hat, und mit seinen Ideen überhaupt nichts anfangen konnten. Einmal (was nicht gut bekannt ist) hat er Millionenleben geopfert, um Getreide nach Rußland schicken zu können. Es war ihm egal, wer seinetwegen leiden mußte. Das Getreide hätte seinen eignen Menschen etwas zum Essen gegeben. Er wollte aber Stalins Gunst haben. Was bedeutet einen Menschen? Sie sind manchmal vielleicht nützliche Gegenstände. Was bedeutete irgendjemand außer ihm? Er Er war kein Weltpolitiker, wie viele Menschen sogar heute behaupten. war ein Verbrecher mit einem einzelnen Lebenszweck: die 34 Machtvollkommenheit. Er war ein Terrorist, mit einer Einsicht in den Charakterschwächen, und glotzende Augen nach Selbstverherrlichung. Ich glaube, er war Psychopath, der gar nicht in Kalkül ziehen konnte, die Gefühle und Bedürfnisse der anderen. Wenn die Gefühle und Bedürfnisse gar nicht ins Spiel kommen, ganz und gar bedeutungslos sind, und man auch andere Menschen leicht manipulieren kann, dann kann man alles tun, was man will. Für ihn waren sie nicht Menschen, sie waren Schachfiguren. Ich glaube, er verließ sich auf die Käuflichkeit der Leute, ihre Eigeninteresse, der Wille zur Macht zum Beispiel. Früh in der Kulturrevolution hat er die Macht der Roten Garde gegeben (in 1966 an einer Massenkundgebung in Tian’anmen-platz, die von einer Unzahl Schüler und Schülerinnen besucht wurde), und er hat dadurch eine Schreckensherrschaft übers ganze Land entfesselt. Damit hat er eine absolute Kontrolle über die Geiste und Seelen des jungen Volkes, die ihm diese Machtvollkommenheit gab. Die Infrastruktur des Landes wurde dadurch abgeschwächt, und die Leute waren psychologisch schlecht ausgestattet, ihm widerstehen zu können. Am Leben zu bleiben wurde die Hauptsache. Wie sie das geschafft haben, bleibt immernoch ein Geheimnis. Sie sprechen nicht darüber, sagen vielleicht, „Also das tat jeder...Wir hatten keine Wahl...Es macht jetzt nichts mehr...“ Eigentlich scheint es mir, die Geschichten die sie der Welt erzählen, sind auch die Geschichten, mit denen sie sich selbst berühigen lassen. Ich habe kaum eine Geschichte gehört, das sich zu einer offensichtlichen Wahrheit äußert. Ich beurteile nicht. Ich frage mich oft, was ich hätte tun mögen. Es ist eine unbeantwortbare Frage. Ich schaue mich um. Die Maojahre scheinen von mir weit weg zu sein. Die Dengjahre sind aber überall sichtbar. Ich sehe Dengs Philosophie der Zweckdienlichkeit, Marktwirtschaft, Ungleichartigkeit und Erweiterung. Er wollte auch die großen Vier zurückbringen: alte Gebräuche, alte Ideen, alte Gewohnheiten und alte Kultur. Diese hat Mao versucht, allesamt zu zerstören. Wenn er die Familie in den Griff bekommen könnte, dann besässe er den ganzen Staat. Dies war aber glücklicherweise eine Fehleinschätzung: er hatte keine Loyalität zu seiner eignen Eltern, Brüdern und Schwestern, oder später zu seinen Weiben und Kindern. Vielleicht hat er deswegen gedacht, er könne die Familie als Fundament des chinesischen Gesellschaft loswerden, um stattdessen sich selbst da zu ersetzen. Daß er seine Familie völlig außer Acht ließ, ist von seinen Biografen und Bekannten gutbekannt. Mao hat manchmal seine Kinder jahrelang nicht gesehen. In ähnlicher Weise schien er keine Interesse an ihrer Ausbildung, oder an ihrer Fähigkeiten zu haben, oder überhaupt ob sie erfüllte Leben führen. Ich glaube, er kümmere sich keinen Deut um sie, weil sie nicht er waren. Ganz einfach! Er hat die moralische Perspektive eines Babys. 35 Chinas Vertieftsein in der Familie reicht in die entferntste Vergangenheit zurück, und Maos Versuche die Familie abzuschaffen, war nicht genug, diese Beziehung zu entwirren. Überall sehe ich seinen Mißerfolg. Die Familie wirkt als Magnetstein für die Gesellschaft, und symbolisiert die Harmonie, die als Hauptwert fürs chinesische System dient. Dieses System ist aber immernoch sehr patriarchisch: alles läuft vom Großvater bis Vater, vom Vater bis Sohn, und alles zusammen verschafft einen sehr starken Gesellschaftsklebstoff. Vielleicht gerate ich in die Nähe dieses chinesischen Paradoxes: auf der einen Seite haben wir diese starke Familie, und auf der anderen eine Fähigkeit das Individuum völlig zu ignorieren. Die Kulturrevolution hat viel damit zu tun. China kann diesen neulichen Zeitraum nicht vergessen. Sie haben alles für die Familie getan, aber sie haben auch deswegen viele dunkle Machenschaften unternommen. Und alles, was dieses Paradox verkörpert, könnt Ihr in Tian’anmen-platz bezeugen. Es wird etwas kühl, und ich bin heute satt, denn ich bin müde, und ich will nach Hause, um etwas Heißes zu essen. Bis morgen! Den 22tn Oktober, 2006. Also, heute gehe ich zu Füß nach Tian’anmen, und es ist auch der letzte Tag dieser Pilgerreise, und davon bin ich sehr bewußt. Nach einem erfrischenden Schlaf bin ich ganz erpicht darauf sein, die Strecke nach Tian’anmen in all ihrer paradoxischen Pracht zu erleben. Wahrscheinlich ist die beste Route über 东大桥路 (Große Brücke Weg Sud) entlang bis 建国门外 大街 (Ausländerstraße) und nach links und immer geradeaus, über 王府井 (Königliche Quelle) – der reichste Einkaufsmarkt in Beijing, Heimat für enorme Buchläden, McDonalds, KYC, Elizabeth Arden, italienische Schuläden und eine gothische Kirche. Es ist heute sonnig, und ich schaue die Sonne an. Die Farbe des Himmels, die Sichtbarkeit entfernter Wolkenkratzer, die Aussehen der Bäume in den Alleen können alle Anzeiger der Verschmützung sein. Die Bäume sind heute aber alle klar skizziert, der Himmel ist hell blau und die glasklaren Gebäude stehen im erhabenen Relief gegen eine städtische Landschaft. Meinen Rucksack über die Schulter hinwerfen, setze ich mich auf den Weg. Ich gehe die uniformierten Wächter schweigend vorbei: sie scheinen fast beim Schlafen auf den Füßen zu sein. Sie lächeln mir normalerweise zu, aber heute nicht, weil sie die Augen zuhaben. Ich freue mich auf unseren täglichen Lächelnsaustausch, und bin deshalb ein bißchen davon enttäuscht. 36 Also, nach Tian’anmen. Ich habe gestern abend vieles im Deng Rongs Buch gelesen, und mußte ab und zu mal weinen: all diese Hoffnungen auf die Gründung der Volksrepublik; all diese Eroberungen gegen die Tyrannen. Ich zweifle nicht daran, daß es Zwangherrschaften gegen die Kommunisten gaben; ich zweifele nicht daran, daß es zu Beginn einen Heldenmut bestand, der viele jünge Männer abertausende Kilometer auf dem Langen Marsch übers Land nahm, um die Zitadells der Freiheit und der Gesellschschaftsaufbesserung zu erreichen. Ich zweifle auch nicht daran, daß es zu der Zeit eine Wertenumorientierung gegen die Nonkonformisten bestand: die Mächtigen legten fest, was richtig oder falsch war. In einer solchen Welt des politischen Erdrutsches und der betäubenden Verzweiflung bezweifle ich auch nicht die Zerschlagung der Familiengenerationen. Ich bezweifle auch nicht, daß millionenmenschen geschlachtet wurde, ohne rechtzeitig zu wissen, was sie getan hatten. Dieses Gedanke verfolgt mich. Für einen guten Zweck zu sterben – für die Familie, für die Werte, die unser Leben verbessert, für die Verletzlichen – das ist jedenfalls etwas. Aber zu sterben, ohne zu wissen warum, oder für einen üblen Zweck – das ist eine Tragödie. Am besten ist es, für einen guten Zweck zu leben. Aber die meisten Leute hatten in der Maozeit diese Wahl echt nicht. Das fällt mir schwer zu erwägen. Die Nützlosigkeit des Menschenlebens, was Mao anging! Aber und abermals fällt es mir auf, daß in den Kulturrevolution die Leute wirklich nicht verstanden hat, was passiert ist. Es hat keine beständige Logik enthalten. Schließlich sind sie ziemlich resigniert darauf geworden: alles, was sie gemacht haben, könnte falsch sein. Nur die mächterigen Menschen könnten etwas bestätigen. In der Kulturellerrevolution mußte man täglich wählen, ob man den Nachbaren verraten sollte, um sich selbst oder der Familienmitglieder zu retten. Und dann in der nächsten Generation, wenn sie alle Entscheidungen machen mußten, und es nicht eher üben könnten, diese Wahl, ist es kein Wunder, daß es zu der Zeit den vielen jüngeren Menschen schwerfällt, überhaupt eine Entscheidung zu machen, oder die Verantwortung selbst zu übernehmen. Das ist eine der beschädigsten Erbschaften des Kommunismus, meiner Ansicht nach. Aber ich habe nie unter einem solchen System gelebt. Nur die Leute, die den Kommunismus selbst erlebt haben, haben das Recht das zu beglaubigen. Und ja, Anke und Matthias, ich denk an Euch! Um mich von diesen finsteren Gedanken zu befreien, wandere ich eine Seitenstraße entlang, und sehe Radfahrer, die enorme Einkaufswagen strampeln, und Taxis, die versuchen, den Weg freizumachen, damit sie parken können. Ich halte an, fasziniert von den unerwarteten Hochhäusern. Dieses Bild muß ich im Internet finden. 37 Der Blick auf diese Straße Und da ist es! Die goldene Farbe auf dem Turm erinnert mich an die Moscheen, die ich in Guyuan und Haiyuan 20 gesehen habe. Ich mag diese Nebeneinanderstellung des Alten und Neuen, des Herkömmlichen und Modernen, des Sachlichen und Schmückenden. Dieses Gebäude ist; meiner Ansicht nach; das Beste an der Postmoderne. Aber nicht wie diese: die genau wie einen Haufen Kinderbaukästen, die ich als Fünfjähriger hatte. Dieser Ausblick sehe ich, als ich um die Ecke in 大 桥 南 路 (Große Straßenbrücke Sud) komme. Es ist nicht nur, daß sie häßlich sind, sondern auch, daß sie für Menschen nicht gesund sind. Wenn wir uns ein Haus bebauen, soll es wahrnehmbare Fenster haben, soll es zu einem Menschenumfang gerechnet werden. Diese sehen aber steif, hart, gefühlskalt und bloß fachlich aus. Sie überzeugen mich nicht. 20 Haiyuan ist eine Stadt, die 140 Kilometer von Guyuan entfernt ist. Dean Tian, mein Chef, wurde da geboren. Seine Eltern wohnen noch da, und sein Vater ist Imam. Sie sind orthodox, aber gar nicht fanatisch: Sse sind herrliche Menschen. In Haiyuan ist eine muslimische Gesamtschule, wo ich eine Forschungsprogram mit zehn Lehrern und Lehrerinnen hatte. Wir sind einmal im Monat dorthingefahren. 38 Um die nächste Ecke ist es auch nicht zufriedenstellend. Eine alte, gebrechliche Frau liegt am Boden neben einer Mülltonne. Jede Hauptstadt hat ihre wegwerfbare Leute. London zum Beispiel. Eine Reise, nachdem die Lampen ausgeschalten sind, nach dem Damm21 gibt Euch viele Gelegenheiten, solche Menschen zu sehen. Die Baufälligen, die Verfallenen, die Eneigneten, die Verlassenen. Ihre Lumpen sind so dreckig und verfilzt, daß ich zu Beginn keinen Unterschied zwischen ihren Füßen und ihrem Kopf machen kann. Sie hat sich um die Mülltonne gewunden, als ob sie ihr einen Ankergrund gebe. Es ist wahrscheinlich für sie einen Nahrungsquelle. Ich gehe auf sie zu, bin aber nicht sicher, was ich für sie tun kann. Aber ein menschliches Wesen in einer solchen Lage zu sehen, ist vollkommen unanständig. Und in dieser Kultur, die die Betagtheit verehren soll, ist es irgenwie noch schlimmer. Als ich ihr annähere, sehe ich wie ihre Beine aus dem Lumpenhaufen herausstehen. Ihre Schuhe sind ganz löcherig. Ihr Gesicht ist tief gerunzelt, aber sie könnte jünger sein, als ich eher geschätzt habe. Sie ist vielleicht in den spätmittleren Jahren. Ihre Augen sind zu, aber sie versammelt die Decken dichter an sich. Ich will etwas tun. Ihr ein Getränk kaufen vielleicht. Etwas Heißes zum Essen. Ein Geschäftsmann (so sieht er aus mit seinem Anzug und schnellem Tritt) geht an ihr vorbei, als ob sie gar nicht existiere. Sie ist ein Mensch verdammt nochmal! Sie windet sich dichter um ihre Mülltonne herum. Ich kann es nicht mehr vertragen. An der Straße entlang ist eine Imbißstube: ich kann ihr dort etwas verschaffen. Ich kaufe Milch mit einem Trinkhalm, und einige Litschi und kehre wieder an die formlose Gestalt zurück. Ich gehe in die Hocker. Sie öffnet die Augen, und grabscht meine Spende aus der Hand heraus, und wenn es ihr einfällt, daß es Nahrungsmittel ist, verbirgt sie es unter die Decke herunter. Ihre Reaktionen sind blitzschnell. Wahrscheinlich müssen sie so sein. In ihren Augen habe ich keinen Lebensschimmer gesehen. Es ist mir, als ob die ganze Gesellschaft sie als „Menschlicher Ausschuß“ abgestempelt hat. Ich frage mich, was die Familie von ihr hält. Hat sie überhaupt eine Familie? Weshalb ist sie so verlassen? Ich habe viele Bücher in meinem Leben gelesen, die sich mit der Tapferkeit der Menschen während einer Schickung befassen, Menschen, die zum Beispiel in ein anbrennendes Haus hineingehen, um einem Kind das Leben zu retten. Kann es sein, daß der Wohlstand uns unsere Menschlichkeit abnimmt? In Guyuan gibt es viele Gelegenheiten zu betteln. Weshalb gibt es relativ mehrere Bettler in den Großstädten? Das ist ein Problem unseres Zeitalters, glaube ich. 21 „Embankment“ heißt es auf Englisch. Dort ist auch eine U-Bahnhof. 39 Die Sonne erscheint jetzt stark. Obgleich die Zeiten sich verändern, ist Beijing immernoch die Hauptstadt des Fahrrads, wie ich sofort erlebe, als ich versuche, die Straße zu überqueren. Ein Fahrräder stoßt mit mir zusammen. Er singt etwas mit höchster Stimme. Beijingoper wahrscheinlich, was immer einem einen leeren Hirn macht. „老外“! (Ausländer) ruft er aus. „Idiot!“ rufe ich zurück. Wir grinsen einander an. Ein Augenblick der perfekten Übereinstimmung. Ich schlängele mich durch die Fahrrädermenge, und erreiche eventuell die andere Seite der Straße. „我爱我这儿“ Ich Liebe Mein Zuhause“ (Immobilienhändler) steht in enormen roten Buchstäben auf einer Plakatwand neben einer Ladenfront. Ich schaue nach. Alle Grundstücke sind Wohnungen, die einen Haufen Geld kosten. Sie sehen aus wie Heime in einem Trümmergrundstück aus. Keine Übertreibung. „Ich liebe mein Zuhause“ hat überall in Beijing Teilgebiete, so müssen sie gute Geschäfte machen. Ich befinde mich hinter einem Mann, der mit sich spricht. Dieser grauhaarige Gentleman (offensichtlich kein Chineser) zieht Aufmerksamkeit auf sich. Die Beijinger halten ihm Abstand. Indem ich einen jüngen Mann vorbeigehe, falle ich ihm auf. Er ist gerade dem Grauhaarigen ausgewichen. „老外“ (Ausländer) flüstere ich ihm zu, die Stirn runzeln. Der lacht schallend. Nicht politisch korrekt, aber lustig! Ich nähere jetzt einer Straßenkreuzung, eine der größten in Beijing, wo sieben Straßen zusammenlaufen. Es ist eine Gedränge des Lärms. Hier sind die menschliche Verwirrung und die mechanische Ordnung. Die Verkehrsampel sind ein Fußballplatz einander entfernt. Ihr habt nie Zeit die Straße rechtzeitig zu überqueren. Eine Tattergreisin würde hier leicht umgebracht, und ohne Zeit zu bedauern, nicht auf der anderen Seite der Straße geboren zu sein. In Beijing werden alle Menschen trainiert werden, wie man die Straße überqueren soll. Kein Witz. Es ist wegen der Olympiaden. Es gibt Unterrichtungsstunden, wie man Schlange stehen soll, wie man mit der UBahn fahren soll usw. Ihr glaubt, ich spinne. Nein! Die Klassen laufen aber anscheinend in den Vororten nicht gut. Die Leute achten nicht auf die Ampel auf. Inginieure haben ihr Bestes getan, um die Überquerungszeit abzugleichen. Sie sind es nicht Schuld, wenn die Einwohner nicht schnell genug laufen können! 40 Die Wächter stehen da, um die Leute daran zu erinnern, daß Rot heißt Stop! In der Kulturrevolution hat ein kluger Kerl vorgeschlagen, daß Rot an der Kreuzung „Los!“ bedeuten solle, denn war nicht „Der Osten Ist Rot!“22 ein Zeichen der Entwicklung? Dieser Vorschlag verursachte ein Chaos auf den Straßen, weil nicht alle Leute diese neue Regel kannte, und viele Menschen sind deswegen ums Leben gekommen, bis Mao der Sache ein Ende machte. Aber das hat er mit der Ruhe getan!! Hier an dieser Kreuzung fiebert das Publikum vor Ungeduld. Das ist kein Wunder, wenn Ihr wisst, daß es in diesem Ort normalerweise zehn Minuten braucht, bis die Ampeln wechseln, aber zu dieser Zeit erst fünf. Aber heute morgen ist es fast acht Minuten, und es ist mir, als ob ich Zeit hätte, um Tolstoys „Den Krieg und Das Frieden“ zu lesen. Die Wächter passen nicht auf, so beginnen die Menschen sich Zentimeter für Zentimeter bis auf die nächste Stufe zu bewegen, bis sie den neuen Platz erreichen können. Aber dann kommen die Wächter wieder zu sich, und treten die Hölle los. Sie gebrauchen ihre Stäbe auf die Köpfe der Leute. Ich bin im Wege, und ein Wächter kommt auf unsere kleine Gruppe zu, und beginnt sich hin und her mit dem Stab zu werfen. Ich bin so wütend – ich denke gar nicht daran – bloß gehe ich auf ihn zu, und brülle wie verrückt in seinem Ohr. Ich weiß nicht, was gesagt worden ist – ich war außer mir vor Wut. Er läßt den Stab auf einmal zum Boden fallen, und sieht so erstaunt aus, es scheint er habe keine Zeit, wütend zu werden. Die anderen Menschen aber haben jetzt auch Angst vor mir, und sie ziehen sich alle zurück zum Bürgerstieg. Mein Herz klopft schmerzhaft in meiner Brust, und ich fühle mich sowohl aufgerregt als auch traurig. Ihr Kurzschlußreaktion auf mich – die Reaktion des Wächters und der anderen Menschen – sagt mir sehr viel über das moderne China. Ihre Fähigkeit der lautesten Stime zu gehorchen bleibt intakt. Ich habe aber ein großes Glück, durch ein nicht-kommunistisches Land großgezogen worden zu sein. Ich weiß es zu schätzen. Endlich aber wechseln die Ampeln, und wir setzen uns auf dem Wege nach der Freiheit! Aber da steht eine Gruppe Kinder, die Blindekuh spielt. Im Ernst! Da stehen sie in der Mitte der Straße, die Arme ausgebreitet, die Augen zugekneift, sich rings um sich wirbeln, bis sie ein anderes Kind fangen, nehme ich an. Was weiß ich? Es ist wirklich bizarr. Aber dann haut ein Elternpaar einem Kinde den Kopf rundheraus. Das macht es ihm klar! Der Bube klagt sich laut darüber, aber die Eltern ziehen ihn böse zur anderen Seite der Straße! Sowas zu tun scheint mir so verrückt zu sein, daß der Begriff „Commonsense“ bedeutungslos wird, wie ich oft in China gefunden habe. Ich 22 Der Osten Ist Rot (东方红) war in den sechziger Jahren die Hymne der Revolution in China. Das Gesang wurde morgens in jedem Werkstatt und Campus über Lautsprecher gespielt. 41 habe geglaubt, daß Babys im Commonsenseteich getaucht würden! Aber was hier vorkommt, ist ‚was Neues, ‚was noch Dümmeres. Vielleicht aber ist es genau dasselbe, was häufiger jetzt bei den jungen Leuten in Westeuropa passiert: sie haben so viel, sind so reich, haben keine Anforderungen zu besetehen, daß sie ihre eignen Aufgaben stellen müssen. Es kann sein. Wir haben uns das Leben zu leicht gemacht. Aber zur selben Zeit haben wir immernoch die Instinkte, uns die „Jäger und Sammler“ Rollen zu erfüllen. Diese Kinder verstehen das Gefahr einfach nicht. Blindekuh in der Mitte einer Haupstraße spielen ist einfach DUMM! Sie leiden unter keiner anarchischen voradoleszenten Protestensucht gegen die Erwachsenen. Es ist keine Art russischen Roulettes, besteht keinen postmodernischen Trübsinn. Es sind Kinder, die Blindekuh spielen wollen. Punkt! Ich starre sie an, und schüttele den Kopf, indem ein Fahrräder mich fast überfährt: die Ampeln haben nicht gewechselt, und ich habe das mir nicht bemerkt. Ups! Ich gehe die vielen Hutongs23 und Wolkenkratzer vorbei, arm und alt, reich und neu. Die Kontraste sind inzwischen fast normal geworden. Und dort drüben steht ein Junge, der mit seiner Körpersprache genauso aussieht wie einen Jungen, Jiang Xinwei, den ich in Guyuan unterrichtet habe, und als Enkelsohn hätte adoptieren können. Xinwei war so entzückend, so begeistert vom Leben, so arglos und gutaussehend. Ich liebte ihn. Ich liebe ihn noch. Er ist einmal im Guyuaner Restaurant auf mich zugekommen, hat sich vorgestellt, und mich gefragt, ob ich ihm Englisch beibringen würde. Ich habe gezögert, und wollte nein sagen, denn ich war so beschäftigt; und ich mochte diese Gewohnheit nicht, uns als interaktive Sprachsmaschine zu behandeln. Ich zögerte auch, weil er vor Angst gezittert hat, aber hat es jedenfalls gemacht. Das hat mich beeindrückt. Er war süß! „OK, aber nur am Samstag Abend von sechs bis sieben. Klar?“ „Ja, Madame,“ sagte er, so niedlich. „Ich bin SOOOOO dankbar.“ „Sei fleißig, damit ich es nicht bedauere.“ „Ich verspreche es Ihnen. Ich tue alles, was Sie sagen. Alles!“ Er sah aus, als wolle er meine Hand küssen, aber ich habe ihn verhindert, daß er das tat! Und jeden Samstag Abend ist er pünktlich um sechs Uhr angekommen, und wir haben uns allmählich aneinander gewöhnt. Und dann wurde es mehr. Eines Abends hat er mir gesagt, daß diese Zeit bei mir seine Lieblingszeit in der Woche geworden war, und daß er mich nicht verlieren wollte. Er war sehr arm, aber er hat sein ganzes Taschengeld ausgegeben – monatlang aufgesparrt, denn er kriegte wenige als eine Yuan pro Woche von seinen Eltern – um mir eine Tüte Süßigkeiten zu besorgen: ich hatte einmal, vor 23 Hutongs sind Sackgassen mit vielen Lebensräumen. Sie sind in Beijing sehr häufig. 42 Monaten gesagt, ich möchte Süßigkeiten. Er sagte, daß ich ihn so nett behandelt habe, aber ich habe ihn nur mit Respekt behandelt. Er war so fleißig, so lieb. Vor seiner Abreise nach Sichuan Universität hat er mir ein Bild gegeben, mit einem silbernen Rahmen, das sehr viel Geld hat kosten müssen. Es steht jetzt vor mir, indem ich dieses Tagebuch schreibe (und jetzt auch, Anke und Matthias!) und treibt mir Tränen in die Augen. Dieser Junge aber, in Beijing, der ist nicht dasselbe. Nur an einer Entfernung habe ich gedacht, er sei wie Jiang Xinwei. Er hat aber strahlende Augen, trägt Jeans und eine Jeansjacke, ist wahrscheinlich in seinen späten Fliegeljahren, und er sieht etwas schelmisch aus. „Ich heiße Zhang Huilin. Ich bin Beijinger. Wo kommen Sie her? Darf ich mit Ihnen sprechen? Wie alt sind Sie?“24 Ich bin auf dem Bürgerstieg angehalten. „Welche Frage sollte ich zuerst beantworten?“ frage ich ironisch. Er wird rot. Ich lächele innerlich. „Wie Sie es wollen,“ sagt er, nervös. „Ich bin ein Student auf der Beijinger Universität für Tourismus. Darf ich Sie sprechen?“ „Das tust du schon,“ sage ich. „Worüber?“ Er lächelt, aber sagt nichts. Er hat Angst. Ich habe dieses Gefühl so oft bei den jüngeren Leuten gesehen, ich will es nicht mehr bezeugen. „Sie schlagen ein Thema vor. Bitte.“ Dies erinnert mich an die früheren Zeiten von Dengs Politik der offenen Tür, als Studenten der Fremdsprachen zuerst Kontakt mit Ausländern aufgenommen haben. In 1979 hat Jung Chang 25 ihr berühmtes Buch veröffentlicht, und beschreibt das erste Mal, als sie versucht hat mit Ausländern zu sprechen, indem sie allen Regeln befolgte, die die Universität aufgestellt hat. Sie waren gewarnt, nie einem Fremden direkt in die Augen zu schauen, damit sie kein Mißverständnis verursachten; sie müßten aber sehr aufpassen auf die schwarzen Menschen, „denn sie haben nie gelernt, wie sie ihre unzivilisierteren Emotionen unter Kontrolle bringen sollen“. (Beijinger Universität Fachbuch für Englisch) Zhang Huilin bombadiert mich mit Fragen, und ich fühle mich als angegriffen werden. 24 Einem Unbekannten eine solche Frage zu stellen ist in China nicht frech. Sie verstehen unsere Probleme mit solchen Fragen überhaupt nicht. Für sie ist es keine bedeutsame Sache. 25 Jung Chang hat ein Buch über frei Generationen ihrer Familie geschrieben, Wilde Schwäne (2004) – die ich gerade von Amazon.de gekauft habe – das auch ein bißchen von der Kulturrevolution beschreibt, und ein weltweiter Bestseller ist. Ich habe eine Kopie von Jack auf Englisch als Geschenk gekriegt. An der zweite Umschlagseite hat er geschrieben, daß ich auch ein wilder Schwan sei! 43 „O.K., Zhang Huilin, zuerst muß ich sagen: immer nur mit einer Frage beginnen. Wir sind Menschen, weißt du, genau wie du es bist. Die erste Frage, die Du stellen solltest, sollte vielleicht: Haben Sie welche Zeit für mich, weil ich mit Ihnen gern sprechen würde? oder etwas Ähnliches sein. Siehst du? Außerdem sprechen nicht alle Ausländer in China Englisch. Es gibt hier auch viele Russen, Deutscher, Franzoser. Wir sind nicht alle aus England oder Amerika!“ Er hollt einen Notizblock aus der Tasche, und fängt an zu schreiben. Ich weiß, daß es dieses genau will und braucht, obgleich ich ein bißchen rechthaberisch wirke. Wahrscheinlich haben seine Tutoren ihn auf die Straße hierher geschickt, damit er echten ausländischen Touristen begegnen kann, und ein echtes Englisch sprechen. Arme Welpe! Er muß auch vermutlich ein Formular ausfüllen mit Einzelheiten über die Unterhaltungslänge, welche Worte gebraucht wurden, die er nicht kannte usw. Wie langweilig! Es ist keine Sicherheitsfrage, wie es bei Jung Chang war, aber es bezieht noch aus der Vorstellung, daß alles was gemessen werden kann, muß auch gemessen werden. „Können Sie mehr darüber sagen?“ fragt er, alles schlaksige Glieder und Begeisterung. Ich schaue mich um, um eine Bank zu finden. Ich sehe auf einer grüne Strecke eine alte Bank, schwarz und verrottet, aber der junge Mann zieht blitzschnell seine Jacke aus, und legt sie auf die Bank für mich hin. Typische Höflichkeit für ältere Leute in China. Er bewegt sich wie Tigger von den Puuh Geschichten. So voller Energie, verspüre ich in dem Augenblick Jiang Xinweis Gegenwart. Ich muß nicht an ihn denken, sonst kann ich diesem Jungen meine ganze Aufmerksamkeit nicht geben. Ich danke ihm. Wir setzen uns hin. „Was ist die nächst Frage?“ fragt er, seinen Kuli balanciert, aber mich direkt in die Augen schauen, als ob ich verschwände, wenn er mich nicht mit seinen Augen hälte. „Wenn die Person doch Englisch reden kann, dann mußt du sie fragen, ob sie etwas dagegen hätte, mit Ihnen zu reden.“ „Ja, das schon ich habe!“ sagt er enthusiastisch (aber grammatisch falsch). Dann ist die Sonne auf seinem Gesicht weg, und kommen schon die Wolken. „Aber was sage ich, wenn sie sagen nein?“ „Dann sagst du höflich, daß das O.K. ist, und du dankst ihnen für die Unterbrechung.“ „...für die Unterbrechung! Ja, habe es! Und dann?“ „Zhang Huilin, eine Sprache geht nicht nur um Fragen und Antworten. Sie geht um Verbindungen, um Beziehungen, um Gefühle und Ideen. Sie geht 44 um unsere Menschlichkeit an.“ Ich halte an. Sein Kuli ist über dem Papier unbewegend balanciert, und auf seinem Gesicht sehe ich eine vollkommene Verwirrung. Ich muß damit aufhören, immer als Lehrerin zu reden. Er versteht überhaupt nichts wovon ich rede, und das ist eine schwache Unterrichtungsmethode. „Ich muß mein Prüfungen bestehen,“ sagt er ganz zur Sache. „Tja, das stimmt. Und es heißt „meine“ Prüfung!“ Ich schüttele mit dem Kopf. Zhang Huilin seufzt tief. „Ich bin hoffnunglos.“ Er legt den Notizbuch auf den Schoß hin. „Ich kann nicht. Ich habe Tage hier gewesen. Niemand will mit reden. Sie sind beschäftigt. Sie haben kein Zeit.“ Sein Probleme sind doch groß, aber veilleicht hat er noch eine gute Chance, etwas davon zu bekommen. „Du bist nicht hoffnungslos,“ sage ich langsam, damit er alles versteht. „Aber du mußt den Menschen eine Chance geben, zu denken. Stelle ihnen nicht zur selben Zeit zu viele Fragen. Laß ihnen die Zeit haben. Also, ich glaube, du kannst deine Methoden verbessern.“ „Ja, ehrlich?“ fragt er, wieder munter. Ich habe ihm die Augen aufleuchten lassen. Er strahlt! In China ist es ungewöhnlich als Individuum soviele Aufmerksamkeit zu kriegen. In einer Beijinger Universität gehen sie alle ineinander über, und niemand kennt ihre Namen. „Also, Trick Eins! Ausländer sind auch Menschen.“ „Was meinen Sie?“ „Wenn du einen Menschen als Sprachmaschine behandelst, mögen wir das nicht. Es ist demütigend.“ „...demütigend, ja, klar!“ Eine Pause. „Was bedeutet de-müt-i-gend?“ „Es läßt uns klein fühlen. Wenn du mit einem Menschen reden willst, dann mußt du ihn als Menschen behandeln.“ „Ja, und...?“ Der begreift es nicht. Ich fange wieder an. „Sie verrichten ihr eignes Beschäft,“ sage ich. „Sie sind nicht hierher gekommen, um mit dir eine Unterhaltung zu führen, oder?“ „Nein, aber wenn Sie sagen, was ich sage, mit sie. Mit ihnen.“ „Leg den Notizbuch hin,“ beordnete ich ihn. Er tut es. „Sind Sie eine Lehrerin?“ fragt er, mistrauisch. „Ja. Woher weißt du das?“ „Ganz leicht zu sehen,“ sagt er, und lacht. Es ist das erste Mal, das er etwas Spontanes gesagt hat, und ich klopfe ihm auf die Schulter. Er strahlt wieder. „Sie sind gute Lehrerin.“ „Eine Lehrerin ist nur so gut wie ihre Schüler. Also, mein Freund,“ sage ich. „Erzähl mir etwas über dich.“ 45 Offensichtlich hat er diese Frage nicht erwartet. Er sieht verwirrt aus, aber dann, langsam, fängt er an mir die Geschichte seines Lebens zu erzählen. „Ich bin Zhang Huilin. Ich studiere auf die Beijing Tourismus Universität. Ich bin kein gute Student.“ „Kein guter Student. Aber das ist nicht wahr. Du bist herrlich!“ „Mein Vater ist ein Lehrer wie Sie. Und meine Mutter. Ich bin sehr stolz über sie. Ich liebe meine Großeltern auch. Wir wohnen zusammen in einem Hutong. Meine Großmutter hat gelitten in den, um, wie soll ich sagen...?“ „Kulturrevolution“. „Ja, in der. Sie war sehr tapfer. Aber jetzt ist sie oft krank, und ich muß in dem abends arbeiten. Ich kriege Geld und gebe ich zu sie.“ Später hat er mir sehr viel erzählt, aber nach einer Weile ist er zuversichtlicher geworden, und seine Grammatik hat sich fast „repariert“. Ich bin erstaunt, als er mit perfekter Grammatik sagt: „Seitdem ich zwei Jahre alt bin, will ich ins Ausland fahren. Meine Großeltern haben das nie geschafft, aber das neue China ist viel lockerer. Eines Tages fahre ich ins Blaue, fahre ich zu den Hohne meiner Einbildung.“ Hat er das ehrlich gesagt? Aber ja. Indem ich wieder nach Hause gekommen bin, habe ich seine Worte wieder deutlich in den Ohren hören können. Ich habe immer geglaubt, wenn es keine Angst gibt, wenn man sich den Respekt von dem anderen verspürt, dann kann man alles schaffen. „Wie lange sind Sie schon hier in China?“ fragt er mich plötzlich. Eine gute Frage, persönlich aber nicht frech. „Fast sechs Jahre,“ antworte ich. Ich bin erst in 2001 im August gekommen,“ sage ich. „Ich war in Ningxia,“ erkläre ich. „Ach ja, sie können kein Chinesisch in Ningxia!“ 26 Wir lachen, aber dann fühle ich mich Ningxia gegenüber nicht loyal. „Sie sind eine Lehrerin da?“ „Waren Sie Lehrerin dort?“ „Ja, danke, Miß. Was haben Sie unterrichtet?“ „Fachdidaktik.“ „Das hört sich interessant an,“ sagt er. 26 In den Osten glauben sie oft, daß die ländlichen Menschen irgendwie dümmer sind als sie. Sie behaupten, ihr Hochchinesischmangel beweise es: ländliche Menschen sprechen einen unwüchsigen Dialekt (meinen sie) und es sei kein richtiges Chinesisch. In England haben welche Leute, normalerweise die Oberschicht, ein Snobismus gegen Dialketen. 46 Es ist Zeit zum Gehen. Ich glaube wir haben alles von dieser Begegnung gekriegt, was möglich ist. Er ist so niedlich, obgleich er schon zum jungen Mann geworden ist. Es ist immer mit einer gewissen Traurigkeit, die ich mich von jemandem abschieden muß, wenn ich weiß, daß ich ihn nie wieder sehen werde. In diesen wenigen Momenten haben wir uns ein bißchen kennengelernt, und das ist immer interessant, und ich weiß solche Begegnungen zu schätzen. Er sieht ein bißchen enttäuscht aus, aber wir verabschieden uns, und ich gehe weiter. Am Ende dieser Straße stoße ich auf eine Allee auf, die mich zur 王府 井 (Königliche Quelle) und einem geraden Weg nach Tian’anmen-platz führt. Ich schätze es als positiv ein, weil ich mich jetzt fertig fühle. Das Lernen von diesen drei Tagen verspüre ich als Verschmelzung meiner sechs Jahren in China. Hier ist 浆果门外大街 (Außenvolksstraße), wo ich 9-5 täglich im Büro arbeite. Immer geradeaus komme ich auf diese Spiegelwolkenkratzer, die die Wolken zu uns auf die Erde hinunterbringen. Eine Gruppe Touristen, Japanen mit ihren allgegenwärtigen Fotoapparaten, Deutscher, Italiener und Franzoser, die sich alle um die besten Plätze auf dem Bürgerstein rangeln. Studenten brüllen ihren Wünsch Fremdsprachen zu reden. Straßenverkäufer verkaufen Touristenwertlosigkeiten, Fahnen, Landkarten, und ihr Geschäft nachgehen, immer aggressiv. Manchmal wirkt es auf mich wirklich, als ob es ein Hindernisparcours sei – nicht, daß ich genau weiß, wie das sich fühlt, aber ihr wisst was ich meine. Wenn Ihr überhaupt auf etwas eingeht, seid Ihr völlig verloren! „Nein!“ versuche ich händeringend! „Bitte lassen Sie mich in Ruhe.“ „Aber Dame, gut Landkarte. Sie verkauf!“ „Ich habe schon 26!“ sage ich auf Chinesisch. „Dies besser als dein Kart.“ Sie versucht mir etwas in die Hände zu drücken. Ich habe davon gehört, wie diese Verkäufer versuchen werden, daß sie etwas in Eure Hand tun. Dann protestieren sie, daß Ihr das Zeug schon gekauft habt, und daß sie die Polizei darüber benachrichtigen werden, usw. Ich lächele ihr mit gefährlicher Drohung zu. „Bei mir heißt nein komischerweise NEIN!“ Das Brüllen macht ihr davon klar, daß ich es ernst meine. Sie richtet ihr Aufmerken auf das nächste Opfer. Eine Kreuzung taucht geradeaus auf. In der Mitte der Straße sehe ich eine Statue von einem Soldaten, der auf einem enormen Sockel steht, seine Waffe in die Luft in einer Geste des Triumphs aufgehoben; seine Haltung zeigt mir, daß er sich auf der Spitze drängt. Wir stoßen auf das 47 Tian’anmengebiet. Hier ist das China des Siegs und der Macht, die brachiale Gewalt des Kriegs, nicht die Ruhe des Friedens. Es ist hier immernoch eine vollkommen patriarchale Kultur, das muß ich Euch sagen. Die meisten Ikonen sind männlich, und loben stereotypische Werte wie die Überwindung, die Herrschaft, die Ausbreitung usw. Ich erinnere mich an Jack, als er zum ersten Mal mich hier in China besucht hat, und wir nach Beijing gekommen sind, um an einer Konferenz teilzunehmen. Er meinte, die Ti’ananmengebäude seien alle eine Machtsaussage. Mein Gott, es ist aber bildschön: die breiten, sauberen Straßen und der helle Sonnenschein machen mich am Herzen sehr glücklich. Ich warte an der Kreuzung und zu meiner Überraschung warten diese Beijingeinwohner alle brav aufs grüne Licht. Sie stehen hier sehr artig Schlange. Es muß sein, daß je näher wir an Tian’anmen-platz ankommen, desto folgsamer sind die Menschen, was es die Füßgängerfertigkeiten angeht. Die Schlange ist sehr lang und ziemlich tief. Bei einem vogegebenen Signal, das ein bißchen dem grünen Licht zuvorkommt, machen wir wie eine Stimme unseren Weg vorwärts. Aber dann setzen wir uns selbstständig auf unsere eignen Reiseziele fort. Ich gehe die U-Bahnen Ti’ananmen Ost und Tian’anmen West vorbei, und endlich auf meiner linken Seite ist Der Volkspalas. Der Volkspalas. Ich könnte jetzt hinübergehen, und den Abend am Ende September 2004 wiedererleben, als ich abends ein Bankett mit dem Ministerpräsident Wen Jia Bao „genossen“ habe (in dem es so wenig zu essen gab, daß ich und die anderen Gewinner zu MacDonalds hingegangen müssten), gerade nach dem Feier des Staastsfreundschaftpreises, was gerade nach einem Empfang im Sommerpalast stattfand. Ich war danach ziemlich erschöpft und mißmütig! Nein, vielleicht nicht daran denken, Moira! Ich will ruhig von einem bis zum anderen Ende des Platzes gehen. Ich halte an, um ein Plakat zu lesen. Es erzählt die Geschichte von Tian’anmen-platz – von dem fünzehnten bis zum zwanzigsten Jahrhundert. Es erwähnt 1989 gar nicht (was mich überhaupt nicht überrascht), aber das Versäumnis fasziniert mich. Daran liegt die Ursache meiner Reise. Dieses 48 Land, das ich so liebe, das ich adoptiert habe, hat schreckliche Ereignisse im Namen der gesellschaftlichen Unvermeidlichkeit verursacht. Am 4tn Juni, ein tolles Jahr für den menschlichen Fortschritt – als das Mauer zwischen Ostund Westdeutschland endlich zerstört war, und widerhallende Friedensrufe überall auf der Welt gehört worden sind – sind die Studenten massenhaft in den Platz hineingewogen, um gegen den Entwicklungsmangel der Demokratie an Dengs „Schöner Neuen Welt“ zu protestieren. Die Armee wartete auf sie. Wieviele Menschen an dieser und der nächsten Nacht ums Leben gekommen sind, bleibt ein Geheimnis, aber die Proteste wurden zum Schweigen gebracht. Es war fein abgestimmter Bürgerkrieg, wofür von den ehermaligen Machtkämpfen ausgebreiteter Schulung den Menschen schon in der Kulturrevolution geliefert hatten. Die Menschen haben jetzt den Preis ihrer maßvollen Ansprüchen sehen können, grafisch im Blut ausgestellt. Gerüchte wurden in Umlauf gesetzt, daß es Wochen gedauert hat, bis sie das Blut von den Flaggen abwischen konnten. Der Mut eines einzelnen Mannes Dieses Bild zeigt der Welt, was am 5tn Juni passiert ist. Niemand weiß, was mit dem Mann geschehen ist. Aber im China ist dieses Bild verboten. Und das sagt uns leider viel über diesen Staat. In dieser Ikone steht dieser Held mit asugebreiteten Armen vor dem Panzer gegen den Hintergrund des Tian’anmens stehen. Nun sehe ich ihn, diesen neunzehnjährigen Jüngling, ein Geist, der sich durch die Touristen und die Pilgergruppe – die von den westlichen Provinzen hierhergekommen sind – drängt. Er sieht nach links und nach rechts, identifiziert den Panzer, und mit hocherhobenem Kopf, marschiert auf ihn zu, streckt die Armen aus, und tritt in den Mythus hinein. Die Proteste sind nach dieser Nacht ausgestorben. Deng hat die Panzer bestellt. Deng hat die Notwendigkeit des kompromißlosen Widerstands verstehen. Er hat gewußt, daß solche Proteste der Welt Fantasie ansprechen würden, aber er wußte auch, daß dieser Impuls diese Machtbasis zerstören könnte, die er zu der Zeit in China konsolidieren wollte. Deng glaubte, daß es zu früh gekommen wäre, und daß eine solche Freiheit alles destabilisieren mochte. Er begünstigte einen individuellen Reichtum, damit einige Menschen 49 reich werden dürfte, bevor alle Menschen reich werden könnten. Er meinte, es wäre eine Stufe zu allgemeinem Wohstand. Ein gesteigerter Wohlstand unter jüngeren Menschen hat es ihnen leichter gemacht, nicht zu protestieren. Wofür würden sie protestieren, wenn sie schon viel mehr Geld hätten? Wenn man viel Geld in der Tasche hat, erkennt man die gesellschatflichen Ungerechtigkeiten nicht so scharf. Die Französiche Revolution ist geschehen, weil die Leute verhungerten, nicht weil sie die Freiheit oder die Egalität wollten. Eigentlich war es wegen des Verhungerns. Wenn die dumme Königin ihnen diesen verdammten Kuchen nur gegeben hat, hätten sie wahrscheinlich keine Revolution gehabt. Die Eltern und Großeltern dieser Generation wußten genau wie es war zu verhungern, nichts zu haben, was sie am Leben erhalten hat. Sie wußte wie es war, zu entbehren. Sie überlebten ohne eine Ausbildung, ohne Lebensmittel, ohne Menschenrechte. Die individuellen Menschenrechte bedeuten gar nichts in einem Land, das neulich soviel gelitten hat, oder das angeblich 101 Millionen Menschen in den Maozeiten verloren hat. Es mag denkbar sein, daß das übergeordnete Wohl heißt, wir dürfen individuelle Menschenrechte verdrängen. Aber ich bin aus Westeuropa und von Menschenfreundlichkeit durchflutet, und eine solche Lösung ist für mich komplett unakzeptabel. Ich fange aber damit an, zu verstehen wie ein Land wie China eine solche Logik hätte übernehmen können, damit es seine heutige Sichbarkeit angenommen hat. Mit dieser Logik kommt auch der Stolz chinesisch zu sein, und eine starke Mutterlandsliebe. Ich habe keinen Chinesen getroffen, der nicht stolz ist, chinesisch zu sein. Sie haben auch eine wunderbare Hingabe an die Ausbildung, als der beste Weg zur Kenntnis, zum Ansehen, zum Wirtschaftswachstum und zum Internationalismus. Das Sichern der 2008tn Olympischen Spiele ist symptomatisch für diese Hingabe. China kann jetzt sagen: Hier sind wir! Hier bleiben wir! Guckt Euch an unsere Leistungen an! Wir haben viel geleistet. Wir können mit Euch in Wettstreit sein, und wir können alles mit chinesischen Eigenschaften27 machen! Wir sind chinesisch, und wir sind stolz darauf. Warum bewegt das mich so tief? Warum, wenn ich über etwas schreibe, was das größte Unglück zu den Menschen die Leistungsfähigkeit hat – weil der Hurrapatrionismus eine sehr hinterhältige Kraft sein kann, die die Geringfügigkeit und den Eigennutz aufwühlen kann – mich fast vor einer Art traurigen Freude zum Weinen zu bringen? „Mit chinesischen Charaktereigneschaften“ ist ein Zeichen des chinesischen Geistes. Alles muß chinesisch gemacht werden. Wenn sie etwas assimilieren, bastele sie es herum, damit es sich als chinesischer anpaßt. Mein Forschungsprogram hieß: Aktionsforschung mit chinesischen Charaktereigenschaften. 27 50 Wie ich dieses Paradox verstehe, ist genau wie ich alle chinesische Paradoxien verstehe. Ich weiß ich bin Außenstehende. Hurrapatriotismus ist unangenehm, aber heldenhafter Patriotismus kann wunderschön sein. Ich beobachte die Wächter, die überall außerhalb der Gebäude stehen, um etwas, was größer ist als ein einzelnes Individuum, zu beschützen. Ich sehe die Kinder hinter den Masken, die Arglosigkeit, das Potenzial. Sie schützen das Mutterland. Ich brauche ihnen die Frage nicht zu stellen. Als ich in Guyuan war, habe ich die Studenten wieder und wieder gefragt, ob sie ihr Land liebten. Ja natürlich! Was denn sonst? Ich verstehe, daß diese Gefühle sehr oft von den Politikern zynisch ausgebeutet werden, aber meiner Meinung nach, herabwürdigt das überhaupt nicht die Gefühle selbst. Die Treuherzigkeit berührt mich. Ein Verfeinerungsmangel berührt mich. Wo auch immer ich schaue, sehe ich sowohl einen Verfeinerungsmangel, als auch die Bombastik und die Selbstverherrlichung. Zhang Huilins Unbehaglichkeit den Fremden gegenüber ist auf der einen Seite lästig, aber auf der anderen Seite erinnern sie mich an die Haltung eines Kindes. Der Alte Schiffer aus dem Gedicht mag es verstehen. Ich erinnere mich an einen von meiner klügsten Schülerinnnen geschriebenen Aufsätze, in dem diese Zeile im Gedächtnis bleibet: Der Schiffer muß von der ignoranten Erfahrenheit bis an die arglosige Weisheit ankommen. Ich habe diese Einsicht nie vergessen. Es ist das Potenzial in diesen jüngen Menschen, die in mir an diesem Land die Hoffnung bringt. Was ich mich eigentlich seit Jahren frage, ist wie ich ein solches Land lieben kann, das von oben bis unten von Widersprüchen zerfressen ist. Von oben bis unten, östlich bis westlich, reich bis arm, ländlich bis städtisch, alt bis neu. Ich glaube nicht, daß diese allgemeine Arglosigkeit in China sich in ein Paradies verwandeln kann. Nein. So naiv bin ich auch wieder nicht! Aber wenn diese Eigenschaft eine Rolle auf der Welt spielen könnte, dann ist es nicht so drohend, China als Supermacht zu betrachten. Statt der vielen Gräueltaten, die China begangen hat, finde ich hier in diesem komplizierten und unverständlichen Land, etwas Schönes und etwas Unbeschädigtes auch. Bei dieser Pilgerfahrt, nähere ich Chinas Herzen und auch meinen eignen Herzenwahrheiten an. 51 Das berühmste Gabäude Chinas befindet sich jetzt vor mir. Die chinesische Fahne nimmt stramme Haltung an. Leute laufen herum, einige in Touristengruppen; Leiter stehen mit Fahnen und Abzeichen, damit sie Aufmerksamkeit auf sich ziehen. Tian’anmen-platz Ich halte an. Es gibt hier keine Bänke, weil es hier achtungsvoll zur Bewunderung ist. Es fällt mir ein, ich will hier weder bleiben noch mit den anderen Touristen um das Gebäude herumwandern. Stattdessen will ich immer geradeaus gehen, und Qianmen 前门 (Das Erste Tor – seht die nächste Seite) besichtigen. Ich habe immer Qianmen wegen seiner Schlichtheit lieber gehabt. Es steht im Mittelpunkt der doppelten Fahrbahn. Wie fast alles andere! Es ist nicht leicht zu erreichen, denn sind ja viele Fenstergitte zwischen den Fußgängerwegen und dem Baudenkmal erbaut worden. Der einzige Weg zum Gebäude ist durch ein unterirdisches Labyrinth, mit Novitätseinkäufern bevölkert. Ich laufe mit amerikanischen, japanischen, europäischen Touristen nebeneinander, alle mit ihrer Kamera marschbereit. Chinesische Pilgen sind scharenweise hier. Und sie sind alle Pilger. Wir sind zusammen als Pilger hierhergekommen. Es ist keine Fantasie, keine romantische Schrulle. Ich habe keinen Chinesen auf Tian’anmen Erdboden gesehen, der keine Glut an sich hat. Augen strahlend. Alle Einzelheiten aufsaugend. Ich setze mich auf eine Mauer hin, weiß, daß ich weitergehen mag, aber ich will beobachten. Ich will all die historischen und geistigen Details der finsteren Vergangeheit berücksichtigen, weil ich hier nichts Negatives spüren kann. 52 Ist es nicht auch der Fall, daß zu einem gewissen Grad, wir unsere Lebensarte selbst wählen und bestimmen können (natürlich teilweise von den Umständen abhängig), und diese Fähigkeit, Tapferkeit vielleicht, entscheidet die Art Menschen, zu deren wir werden können? Eine Wahl liegt uns immer vor. Ich beobachte einen kleinen Jungen, der mit seinen Eltern zusammen einen Spaziergang macht. Er hält ihre Hände, und versucht sie vorwärts zu ziehen. Ich sehe sie mir voraus. Er will mehr sehen, und strapaziert sich immer vorwärts zu kommen, aber seine Eltern wollen nicht so schnell gehen. Sie wollen sich der Vergangenheit langsam und geruhsam angucken. Dann hält er plötzlich an. „Mutti! Vati! Guckt mal!“ Ich steige vom Mauer herunter, damit ich ihnen näher ankommen kann. Die Eltern schauen ihn liebevoll an. In einer Türöffnung steht eine Wache, deren Kleidung eher einer Polizei- als Ziviluniform ähnelt. Hier ist der Eingang der Tian’anmen-platzpolizei. Ein Mann von mittlerem Alter trägt einen roten Poster in der Hand, ein uraltes Zeichen des Protests in China. Ein roter Poster ist die üblige Methode, der Regierung eure Meinung zu erklären. Er sieht arm aus, und trotz seines Alters hat ein sehr gerunzeltes Gesicht. Seine Augen glühen aber mit einem Feuer, das mich sehr berührt. Dieser Glanz scheint mir als tapfer zu sein, in einer Gesellschaft, die einen solchen Mut nicht zu schätzen weiß. Er ist respektvoll aber nicht kriecherisch. Er bietet seinen Poster dem Wächter an, und der Mann nimmt ihn höflich an. „Bitte nehmen Sie das mit zu Ihrem Leiter,“ höre ich den Zivilist sagen. Ich erwarte Schwierigkeiten. Ich erwarte, daß der Polizist seinen Kollegen Kontakt aufnehme, um den Mann zu verhaften, oder so ähnlich. Stattdessen lächelt er dem Mann zu, wickelt den Poster auf. Der Beschwerdeführer protestiert noch. Sein Ton ist feindlich und durcheinander. Der Wächter hört fürsorglich zu. Ich frage mich, was hier vorgeht. Ist es inszeniert worden? Sind diese zwei Männer hier, um uns zu betrügen, damit wir die praktische Demokratie bezeugen dürfen? Wenn ich nach einigen Stunden wieder vorbei gänge, sähe ich die selbe Szene aufgeführt? Ich zweifele irgendwie daran. Der Mann sieht wirklich arm aus. Seine Zähne sind braun und krumm. Er scheint sehr nervös zu sein. Er spielt nichts. Es ist hier nichts Oberflächliches. Der Mann ist Bittsteller. 53 Der kleine Junge bemerkt das alles gar nicht. Er zieht seine Eltern zum nächsten Wunder mit. Ich finde eine Hoffnung in dieser Szene, denn vor zehn und bestimmt zwanzig Jahren wäre diese Freiheit zu wandern, angucken, reflektieren, Poster ausliefern, sogar dieses Tagebuch schreiben unmöglich. Die Zeiten verwandeln sich doch. Da liegt unsere Hoffnung auf die Zukunft. Es dauert, diese Entwicklung, aber sie kommt, sie nähert uns, und zusammen können wir eine bessere Welt erschaffen. Ich bin aufgeheitert, aber es fällt mir ein, wie müde ich bin. Ich laufe, bis ich Qianmen erreiche. Wir stehen alle herum und schauen die Leute und die Gebäude an, die Vergangenheit und die verlorenen Zeiten. Ein Kind schaut zum Qianmen auf, und mit einer Geste, die mich mehr an einen Großvater als ein Kind erinnert, lehnt er rückwärts, und äugt das Bauwerk, indem er seine Hände hinter dem Rücken stellt, um sich den Rücken zu unterstützen. Seine Versunkenheit ist für einen solchen Jüngling sehr ungewöhnlich, und ich beobachte ihn in ähnlicher Weise versunken. Letzendlich kehrt er zu Bewußtsein, und wendet sich, um seine Eltern zu finden. Sie stehen schon da. „Es ist so schön,“ sagt er, als ob er sich verliebt habe. Sie stimmen zu, und zusammen gehen sie auf den Weg. Mit einem Kloß im Hals kehre ich mich zur U-Bahn zurück. Der Wind nimmt zu. Die Blätter werden jetzt rot, gelb, braun und grün. Ich muß meiner amerkanischen Freundin Bescheid sagen, der Herbst kommt im Herbst doch bei uns auch in Beijing an! Wir hören mit unserer Forschungsreise nicht auf Aber das Ende unserer Forschung wird An den Anfangspunkt wieder anzukommen, Und ihn zum ersten Mal zu kennen. (T. S. Eliot, „Little Gidding“) 54