20-Text-Kleve - Supervision

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Alice-Salomon-Fachhochschule Berlin
- University of Applied Sciences -
Dr. phil. Heiko Kleve
Diplom-Sozialarbeiter/Sozialpädagoge
Sozialwissenschaftler & Konflikt-Mediator
Grundstudium
Methoden Sozialer Arbeit
Einführungstexte und Übersichten
(c) Dr. Heiko Kleve, Berlin im Sommer 2001
Raum/App: 402
E-Mail: [email protected]
http://www.asfh-berlin.de/hsl/kleve
1
Inhaltsverzeichnis:
Curriculum für das Fach Methoden Sozialer Arbeit .............................................. 3
Wichtige Grundlagenliteratur ................................................................................. 5
1. Einführung .......................................................................................................... 6
1.1 Theorie, Praxis und Methoden Sozialer Arbeit............................................. 6
1.2 Geschichtliche Entstehung der sozialarbeiterischen Methodik von der
Moderne zur Postmoderne ................................................................................ 10
2. Klassische Methoden/Arbeitsformen Sozialer Arbeit ...................................... 13
2.1 Entwicklung der klassischen Methoden Sozialer Arbeit ............................ 13
2.2 Therapeutische Grundlagen der Sozialen Einzelfallhilfe............................ 16
2.2.1 Psychoanalyse/Tiefenpsychologie ........................................................ 16
2.2.2 Humanistische Psychotherapien ........................................................... 19
2.2.3 Systemische Familien-/Kommunikationstherapie ................................ 22
2.3 Soziale Gruppenarbeit ................................................................................. 26
2.4 Gemeinwesenarbeit ..................................................................................... 30
3. Aktuelle Methodendiskussion .......................................................................... 33
3.1 Systemische Konzepte in der Sozialen Arbeit – Eine (erste)
Zusammenfassung............................................................................................. 33
3.2 Lebensweltorientierung in der Sozialen Arbeit und Postmodernisierung der
Gesellschaft ....................................................................................................... 35
3.3 Case Management ....................................................................................... 40
4. Schritte helfender Kommunikation .................................................................. 48
4.1 Ressourcen .................................................................................................. 50
4.2 Hypothesenbildung ..................................................................................... 51
5. Hilfsmittel bei der Fallbearbeitung .................................................................. 54
5.1 Familiärer Lebenszyklus ............................................................................. 54
5.2 Hierarchie der menschlichen Bedürfnisse nach Abraham Maslow ............ 55
5.3 Biologische, biopsychische und biopsychosoziale menschliche Bedürfnisse
nach Werner Obrecht ........................................................................................ 56
6. Dimensionen der Sozialarbeiterischen Beratung ............................................. 57
2
Curriculum für das Fach Methoden Sozialer Arbeit
von Prof. Britta Haye, Rose-Marie Freyer und Werner Glanzer
1. Curriculare Ziele
Den Studierenden soll die Legitimation und die Kompetenz professionellen und methodischen
Handelns vermittelt werden.
Für das Verständnis des Handlungsrahmens und die zu leistende Beratung und Unterstützung
ist eine integrierende Sicht nötig, die zu einer multiperspektivischen Bewertung kommen
sollte. Die praktisch zu leistende Beratung und Unterstützung von Menschen aller Alterstufen
in sozialen Konfliktlagen bedarf methodischer, reflexiver Kompetenzen zur Erziehung,
Begleitung, Bertaung oder Therapie. Spezielle Handlungsstrategien sind erforderlich zur
Förderung der unterschiedlichen Klientengruppen mit ihren jeweiligen eigenen Problemlagen.
Die Studierenden sollen die Bezogenheit der Sozialarbeit auf die jeweilige Lebenswelt und
Lebenslage der Klienten sowie auf die gegebenen und veränderbaren ökonomischen,
politischen und kulturellen Bedingungen erkennen.
So gilt es zu erfassen, dass sozialberufliches Handeln zur persönlichen Alltags- und
Problembewältigung des einzelnen und zur Selbsthilfe beizutragen hat; und dort, wo eigene
Fähigkeiten des Bürgers nicht von ihm erkannt sind bzw. ausreichen, ihn zu unterstützen,
vorhandene eigene Ressourcen, auch die seines sozialen Umfeldes zu entdecken sowie die
freier und öffentlicher Einrichtungen in Anspruch zu nehmen.
Die sozial ökologische angelegte Ausbildung im Fach Methoden Sozialer Arbeit umfasst eine
Einführung in das Verständnis methodischen Handelns, deren jeweilige theoretische
Begründung sowie eine multufaktorielle Sicht individueller, institutioneller und
gesellschaftlicher Zusammenhänge (Mikro-, Meso- und Makroebenen). Methodisches
Handlungswissen und Können soll in diesem Fach vermittelt werden, besonders in den
Bereichen Arbeit mit einzelnen, Arbeit mit Familien, Arbeit mit Gruppen,
Gemeinwesenarbeit, Supervision und Sozialmanagement.
2. Thematische Schwerpunkte
Grundstudium (zweites und drittes Semester)
Die Veranstaltung soll die Studierenden in methodisches Arbeiten in der Sozialarbeit und den
dazugehörigen Kontext (Klienten- und Helfersystem sowie Bedingungen, in denen die Hilfe
statt findet) einführen und einen Überlick vermitteln:
 Geschichtliche Entwicklung der Methoden Sozialer Arbeit
 Kompetenz beruflichen Handelns (instrumentelle, reflexive und soziale Kompetenz)
3

Bedeutung
sozio-ökonomischer
und
psycho-soialer
Beratung
als
spezifischer
sozialarbeiterischer Zugang

Darstellung verschiedener Psychotherapiekonzepte, aus denen sich die methodische
Sozialarbeit überwiegend speist
Methodische Handlungsformen in der beruflichen Sozialarbeit:

Arbeit mit einzelnen und Familien: Begleitung, Beratung, Unterstützungsmanagement
(Kooperation, Ressourcen- und Netzwerkorientierung)
 Arbeit mit Gruppen: theoretische Aspekte, Gruppe als soziales System, Modelle der
Gruppenarbeit, Gruppenprozess
 Gemeinwesenarbeit: Entstehung, ideologische Ansätze, Ziele, Entwicklungen in der
Postmoderne


Supervision: Definition und Entwicklung, Formen und Konzepte, Funktion
Sozialmanagement: Lösungs- und problemorientierte Ansätze, Planung, Koordinierung,
Leitung
4
Wichtige Grundlagenliteratur
Galuske, M. (1998): Methoden der Sozialen Arbeit. Eine Einführung. Weinheim/München: Juventa
Geiser, K. (2000): Problem- und Ressourcenanalyse in der Sozialen Arbeit. Eine Einführung in die Systemische
Denkfigur und ihre Anwendung. Freiburg/Br.: Lambertus
Geißler, K. A.; Hege, M. (1988): Konzepte sozialpädagogischen Handelns. Ein Leitfaden für die Praxis.
Weinheim/Basel: Beltz (1992)
Heiner, M.; Meinhold, M.; Spiegel, H.; Staub-Bernasconi, S. (1994) Methodisches Handeln in der Sozialen
Arbeit. Freiburg/Br.: Lambertus
Kersting, H. J. (1991): Intervention: Die Störung unbrauchbarer Wirklichkeiten. in: ders., Bardmann Th. M. u.a.:
Irritation als Plan: Konstruktivistische Einredungen. Aachen: Kersting-IBS: S. 108-133
Kleve, H. (1996): Konstruktivismus und Soziale Arbeit: Die konstruktivistische Wirklichkeitsauffassung und
ihre Bedeutung für die Sozialarbeit/ Sozialpädagogik und Supervision. Aachen: Kersting-IBS
Kleve, H. (1999a): Postmoderne Sozialarbeit. Ein systemtheoretisch-konstruktivistischer Beitrag zur
Sozialarbeitswissenschaft. Aachen: Kersting-IBS
Kleve, H. (1999b): Soziale Arbeit und Ambivalenz. Fragmente einer Theorie postmoderner Professionalität, in:
neue praxis, 4/1999: S. 368-382
Kleve, H. (2000): Die Sozialarbeit ohne Eigenschaften. Fragmente einer postmodernen Professions- und
Wissenschaftstheorie Sozialer Arbeit. Freiburg/Br.: Lambertus
Kriz, J. (1994): Grundkonzepte der Psychotherapie. Eine Einführung. Weinheim: Psychologie Verlags Union
Lüssi, P. (1992): Systemische Sozialarbeit. Praktisches Lehrbuch der Sozialberatung. Bern: Haupt
Merten, R. (1997): Autonomie der Sozialen Arbeit. Zur Funktionsbestimmung als Disziplin und Profession.
Weinheim/München: Juventa
Müller, B. (1993): Sozialpädagogisches Können. Ein Lehrbuch zur multiperspektivischen Fallarbeit.
Freiburg/Br.: Lambertus
Müller, C. W. (1988): Wie Helfen zum Beruf wurde. Band 1: Eine Methodengeschichte der Sozialarbeit 18831945. Weinheim/Basel: Beltz (2. Auflg.)
Müller, C. W. (1997): Wie Helfen zum Beruf wurde. Band 2: Eine Methodengeschichte der Sozialarbeit 19451995. Weinheim Basel: Beltz (3. Auflg.)
Nebel, G.; Woltmann-Zingsheim, B. (Hrsg.) (1997): Werkbuch für das Arbeiten mit Gruppen. Aachen: KerstingIBS
Pfeifer-Schaupp, H.-U. (1995): Jenseits der Familientherapie. Systemische Konzepte in der Sozialen Arbeit.
Freiburg/Br.: Lambertus
Schilling, Johannes (1997): Entwicklungslinien der Sozialpädagogik/Sozialarbeit. Neuwied/Kriftel/Berlin:
Luchterhand
Schlippe, A. v.; Schweitzer, J. (1996): Lehrbuch der systemischen Therapie und Beratung. Göttingen:
Vandenhoeck & Ruprecht (1998)
Schmidbauer, W. (1992): Hilflose Helfer. Über die seelische Problematik der helfenden Berufe. Reinbeck:
Rowohlt
Stark, W. (1996): Empowerment. Neue Handlungskompetenzen in der psychosozialen Praxis. Freiburg/Br.:
Lambertus
Stimmer, F. (2000): Grundlagen des Methodischen Handelns in der Sozialen Arbeit. Stuttgart/Berlin/Köln:
Kohlhammer
Thiersch, H. (1993): Strukturierte Offenheit. Zur Methodenfrage einer lebensweltorientierten Sozialen Arbeit, in:
Rauschenbach, T.; Ortmann, F.; Karsten, M.-E. (Hrsg.): Der sozialpädagogische Blick. Lebensweltorientierte
Methoden in der Sozialen Arbeit. Weinheim/München: Juventa: S. 11-28
Wendt, W. R. (1997): Case Management im Sozial- und Gesundheitswesen. Eine Einführung. Freiburg/Br.:
Lambertus
5
1. Einführung
1.1 Theorie, Praxis und Methoden Sozialer Arbeit
Sozialarbeit und Sozialpädagogik sind die beiden zentralen Wissens- und Handlungsbereiche
der Sozialen Arbeit. Ursprünglich wurde davon ausgegangen, dass Sozialarbeit
(„Armenfürsorge“) Ersatz für schwindende familiäre Sicherungsleistungen bietet, während
Sozialpädagogik („Jugendfürsorge“) die schwindenden familiären Erziehungsleistungen
kompensiert (vgl. Mühlum 1996). Inzwischen können wir allerdings von einer Identität von
Sozialarbeit und Sozialpädagogik sprechen (vgl. Merten 1998), d.h. eine Unterscheidung
zwischen diesen beiden Bereichen ist kaum noch möglich, so dass das Berufsfeld immer
häufiger als Soziale Arbeit bezeichnet wird.
Soziale Arbeit lässt sich in Praxis (Profession Soziale Arbeit) und Wissenschaft (Disziplin
Soziale Arbeit, Sozialarbeitswissenschaft) unterscheiden. Die Methoden der Sozialen Arbeit
können als ein Bindeglied zwischen Praxis und Wissenschaft verstanden werden.
Sozialarbeit – Sozialpädagogik – Soziale Arbeit
Sozialarbeitspraxis
Sozialarbeitswissenschaft
Profession Soziale Arbeit
Disziplin Soziale Arbeit
Sozialarbeiterische Organisationen, freiberufliche
Sozialarbeit
(Fach-)Hochschulen bzw. Fachbereiche für Soziale
Arbeit
Wirksamkeit und Angemessenheit des Handelns
Wahrheit und Brauchbarkeit des Wissens
Methoden Sozialer Arbeit
... als Bindeglied von theoretischem, disziplinärem (Erklärungs-)Wissen und praktischem, professionellem
Handlungswissen (Wertewissen, Verfahrenswissen, Evaluationswissen)
Übersicht 1
Praxis: Die Praxis der Sozialen Arbeit wird auch Profession genannt, sie ist das berufliche
Handlungsfeld, in dem die SozialarbeiterInnen tätig sind. Das sozialarbeiterische
Handlungsfeld lässt sich weiter in Interaktion (Mikroebene), Organisation (Mesoebene) und
Gesellschaft (Makroebene) unterscheiden. Mit anderen Worten, SozialarbeiterInnen arbeiten
etwa in der Beratung mit KlientInnen auf einer kommunikativen Interaktionsebene, weiterhin
sind sie in sozialarbeiterische Organisationen (z.B. Sozial-, Jugend-, Gesundheitsamt oder
freie Träger) als Angestellte eingebunden oder erhalten als freiberuflich Tätige ihre Aufträge
von diesen Organisationen. Schließlich stellt die Soziale Arbeit ein gesellschaftliches
Funktionssystem dar, das neben anderen Systemen der Gesellschaft (Wirtschaft, Politik,
6
Erziehung,
Religion,
Recht,
Kunst,
Wissenschaft
etc.)
potentiell
für
alle
Gesellschaftsmitglieder („Bürger“) Leistungen („soziale Hilfe“) erbringt. Inzwischen kann
gesagt werden, dass Sozialarbeit gewissermaßen von der Geburt bis zum Tode in allen
Lebensabschnitten und -bereichen (präventiv, interventiv und postventiv) tätig ist. Dabei
bezieht sie sich auf biologische, psychische und soziale Prozesse von Menschen (siehe
Übersicht 1 zur Multifunktionalität der Sozialen Arbeit).
Multifunktionalität der Sozialen Arbeit (als Profession)
Soziale Arbeit als gesellschaftliches Berufsund Funktionssystem
Soziale Arbeit als organisatorisches und
interaktionelles Handlungssystem
Universeller Generalismus: Heterogenität des
sozialarbeiterischen Handlungsfeldes
Spezialisierter Generalismus: Heterogenität des
sozialarbeiterischen Fallbezugs
(Zeitdimension)
(Sozialdimension)
Prävention
Einzelfallarbeit
(case-work, case-management)
Intervention
Gruppenarbeit
Postvention
Gemeinwesenarbeit
(Sozial- und Sachdimension)
(Sachdimension)
Sozialhilfe
Biologisches
Kinder- und Jugendhilfe
Familienhilfe
Körperfunktionen und -entwicklungen,
Gefühle, Ökologisches etc.
Behindertenhilfe
Psychisches
Obdachlosenhilfe
Suchthilfe
Wahrnehmungen, Gedanken, Gefühle,
Einstellungen, kognitive Entwicklungen etc.
Krankenhilfe
Soziales
Schuldnerhilfe
Familiäres, Erzieherisches, Bildendes,
Ökonomisches, Politisches, Rechtliches,
Religiöses (Spirituelles), Künstlerisches,
Wissenschaftliches etc.
Rechtshilfe
Altenhilfe etc.
Übersicht 2
Wissenschaft: Die Wissenschaft der Sozialen Arbeit (Sozialarbeitswissenschaft) wird auch
Disziplin genannt, sie ist das Handlungs- bzw. Forschungsfeld, in dem die (Sozialarbeits-)
WissenschaftlerInnen tätig sind, d.h. StudentInnen ausbilden (lehren) und forschen. Die
7
Wissenschaft hat insbesondere die Aufgabe, Wissen bereitzustellen, mit dem die Praxis
beobachtet, beschrieben, erklärt und bewertet, kurz: reflektiert werden kann.
Methoden: Die Methoden Sozialer Arbeit stellen, wie gesagt, ein Bindeglied zwischen Praxis
und Wissenschaft dar, sie sind bestenfalls wissenschaftlich begründet und praktisch wirksam.
Sie sollen in einem bestimmten Arbeitsfeld, innerhalb von Hilfeprozessen (z.B. innerhalb der
Beratung) Menschen gezielt dabei helfen, ihre sozialen Probleme zu lösen. Methoden sind in
dieser Hinsicht sozusagen ein „Kern“ professioneller Sozialarbeit/Sozialpädagogik.
„Methode heißt, strategisch einen Weg zu beschreiten, der nach Zweck und Ziel und nach
Lage der Dinge angemessen erscheint“ (Wolf-Rainer Wendt; z. n. Galuske 1998, S. 29).
„Methoden der Sozialen Arbeit thematisieren jene Aspekte im Rahmen
sozialpädagogischer/sozialarbeiterischer Konzepte, die auf eine planvolle, nachvollziehbare
und damit kontrollierbare Gestaltung von Hilfeprozessen abzielen und die dahingehend zu
reflektieren und zu überprüfen sind, inwieweit sie dem Gegenstand, den gesellschaftlichen
Rahmenbedingungen, den Interventionszielen, den Erfordernissen des Arbeitsfeldes, der
Institution sowie der beteiligten Personen gerecht werden“ (Galuske 1998, S. 25).
Daraus ergeben sich sechs Perspektiven, die bei der Reflexion von Methoden Sozialer Arbeit
grundsätzlich zu beachten sind (vgl. ebd., S. 25f.):
1. Sachorientierung: Welche Probleme sollen mit der Methode bearbeitet werden? Wird
die Methode der Problemlage gerecht?
2. Zielorientierung: Welche Ziele sollen mit der Methode erreicht werden? Lassen sich
die Ziele mittels der Methode einlösen?
3. Personen- und Interaktionsorientierung: Wird die Methode den betreffenden Personen
(KlientInnen/SozialarbeiterInnen) und ihrer Interaktion gerecht?
4. Arbeitsfeld- und Institutionsorientierung: Ist die Methode sinnvoll innerhalb der
institutionellen/organisatorischen Rahmenbedingungen anwendbar?
5. Planungsorientierung: Erlaubt die Methode die gezielte Planbarkeit von
Hilfeprozessen?
6. Überprüfbarkeit (Evaluation; Controlling): Lassen sich am Ende darüber Aussagen
treffen, ob und wie die Methode gewirkt hat?
8
Literatur:
Mühlum, Albert (1996): Sozialarbeit und Sozialpädagogik. Ein Vergleich. Frankfurt/M.:
Deutscher Verein für öffentliche und private Fürsorge
Merten, Roland (1998): Sozialarbeit – Sozialpädagogik – Soziale
Begriffsbestimmungen in einem unübersichtlichen Feld. Freiburg/Br.: Lambertus
Galuske, Michael (1998):
Weinheim/München: Juventa
Methoden
der
Sozialen
Arbeit.
Eine
Arbeit.
Einführung.
9
1.2 Geschichtliche Entstehung der sozialarbeiterischen Methodik von der
Moderne zur Postmoderne
Die berufliche, professionelle Soziale Arbeit, so wie wir sie heute kennen, ist ein Ergebnis der
gesellschaftlichen Evolution; sie ist beispielsweise hervorgegangen aus der bürgerlichen
Frauenbewegung, der (sozialistischen) Arbeiterwohlfahrtsbewegung, der sozialreformerischen
Bemühungen
staatlicher
Institutionen
oder
der
sogenannten
Armenpolicey.
Gesellschaftshistorisch lässt sich die Soziale Arbeit neben vormodernen Hilfeformen als die
moderne Form des sozialen Helfens bewerten (vgl. Luhmann 1973).
Herausbildung verschiedener Hilfeformen im Wandel gesellschaftlicher Bedingungen
Vormoderne
Moderne
(siehe dazu ausführlicher die
Übersicht auf der folgenden Seite)
Archaische Gesellschaft
(„Urgesellschaft“)
Hochkultivierte Gesellschaft
(„Feudalistische Gesellschaft“)
Moderne Gesellschaft
(„Kapitalistische Gesellschaft“,
„Industriegesellschaft“ etc.)
primär differenziert in soziale
Segmente (z.B. in Familien,
Stämme etc.)
primär differenziert in soziale
Schichten und Klassen (Bauern,
Handwerker, Adel etc.)
primär differenziert in
Funktionssysteme (z.B.
Wirtschaft, Politik, Recht,
Wissenschaft, Erziehung, Soziale
Arbeit etc.)
reziproke (wechselseitige)
persönliche Hilfen auf der
Grundlage von Hilfs- und
Dankeserwartungen
moralisch bzw. religiös
inspirierte Hilfen zwischen
verschiedenen Schichten/
Klassen
gesetzlich definierte/ abgesicherte
und organisatorisch durchgeführte
(rationalisierte, bürokratisierte
und ökonomisierte) Hilfen
(Sozialstaatsprinzip/moderne,
professionelle Sozialarbeit)
Übersicht 3
Soziales Helfen kann verstanden werden als Beitrag zur Befriedigung der Bedürfnisse von
anderen Menschen, die diese nicht mehr selbst befriedigen können.
Sozialarbeiterische Hilfen beziehen sich auf materielle und symbolische (sozio-kulturelle)
Bedürfnisse, die für die physische und psychische Reproduktion von Menschen erforderlich
sind bzw. gesellschaftlich so bewertet werden. Somit wird soziales Helfen auch verstanden als
ein Bedarfsausgleich im Hinblick auf ungleich verteilte und verfügbare soziale Ressourcen
und Kapazitäten – z.B. Unterkunft, Nahrung, Gebrauchsgegenstände, Geld, Arbeit, Freizeit,
Erziehung, Bildung, Betreuung, persönliche Beziehungen, soziale Netzwerke etc.
10
Hilfeformen in der der modernen Gesellschaft
situationsgebunden
personengebunden
personenübergreifend
situationsübergreifend
A: personengebunden- und
situationsgebunden
C: personengebunden und
situationsübergreifend
Hilfe in Familien, unter Freunden,
in Nachbarschaften, in
Selbsthilfegruppen
professionelle soziale Hilfe (in
Interaktionsprozessen)
B: personenübergreifend und
situationsgebunden
D: personenübegreifend und
situationsübergreifend
spontane Hilfe unter Fremden
Hilfen durch den Sozialstaat
(Sozialhilfe, Arbeitslosenhilfe etc.),
Versicherungsleistungen
Übersicht 4
Die Professionalisierung (Verberuflichung) der sozialen Hilfe zur Sozialen Arbeit geht
einher mit der Etablierung der modernen Gesellschaft. So ist die Soziale Arbeit Teil eines
Projektes, das als ein permanentes Ringen um Ordnung, Eindeutigkeit, Rationalisierung,
Kontrolle, Klassifizierung, Bestimmung und Identifizierung beschrieben werden kann:
nämlich des Moderne-Projektes (vgl. Bauman 1991). Die Durchsetzung der Moderne, der
modernen Gesellschaft, die ihren Ursprung hat in der aufkommenden Aufklärung des 17.
Jahrhunderts, kann um die Zeit des Eintritts in das 20. Jahrhundert datiert werden. Der
Wechsel vom 19. zum 20. Jahrhundert war ebenfalls der Zeitpunkt, an dem sich die soziale
Hilfe von einer primär moralisch bzw. religiös inspirierten ‚Mildtätigkeit‘ (vgl. Luhmann
1973) deutlich zu wandeln begann in die professionelle – zunächst ausschließlich
frauenberufliche – Sozialarbeit. Nun wurde auch versucht, soziale Hilfe, Armen- und
Jugendfürsorge, mithin das, was wir heute Sozialarbeit, Sozialpädagogik bzw. Soziale Arbeit
nennen, den Kriterien der gesellschaftlichen Modernisierung, sprich: der Rationalisierung,
Verrechtlichung und Bürokratisierung, kurz: der formalen Organisation unterzuordnen.
In diesem Zusammenhang der Modernisierung steht auch die Entwicklung der Methoden und
Arbeitsformen Sozialer Arbeit (Soziale Arbeit mit Einzelnen und Familien, Soziale
Gruppenarbeit, Gemeinwesenarbeit); sie sind der Ausdruck dafür, dass das geplant,
rationalisiert, bürokratisiert und ökonomisiert im öffentlichen Bereich der Gesellschaft
anzubieten und durchzuführen ist, was in der Vormoderne wenig rationalisiert eher im
privaten Bereich oder ausgehend von privaten Motivationen und Interessen geleistet wurde:
eben soziale Hilfe.
11
Inzwischen ist Soziale Arbeit zu einem normalen Teil der modernen (Dienstleistungs-)
Gesellschaft geworden. Das 20. Jahrhundert, in dem sich Soziale Arbeit entwickelt und auf
alle Gesellschaftsbereiche ausgedehnt und etabliert hat, kann daher auch als das
„sozialpädagogische Jahrhundert“ (vgl. Thiersch 1992 oder auch Rauschenbach 1999)
bezeichnet werden.
Wie sich die Soziale Arbeit in der Postmoderne weiter entwickeln wird, ob es etwa zu einer
Re-Familialisierung der sozialen Hilfe kommen wird, bleibt abzuwarten.
Literatur:
Bauman, Zygmund (1991): Moderne und Ambivalenz. Das Ende der Eindeutigkeit.
Frankfurt/M: Suhrkamp
Luhmann, Niklas (1973): Formen des Helfens im Wandel gesellschaftlicher Bedingungen, in:
ders.: Soziologische Aufklärung 2. Aufsätze zur Theorie der Gesellschaft. Opladen:
Westdeutscher Verlag (1975): S. 134-149
Rauschenbach, Thomas (1999): Das sozialpädagogische Jahrhundert. Analysen zur
Entwicklung Sozialer Arbeit in der Moderne. Weinheim/München: Juventa
Thiersch, Hans (1992): Das sozialpädagogische Jahrhundert, in: Rauschenbach, Thomas;
Gängler, Hans (Hrsg.): Soziale Arbeit und Erziehung in der Risikogesellschaft.
Neuwied/Kriftel/Berlin: Luchterhand: S. 9-23
12
2. Klassische Methoden/Arbeitsformen Sozialer Arbeit
2.1 Entwicklung der klassischen Methoden Sozialer Arbeit
Die klassischen Methoden Sozialer Arbeit sind genaugenommen keine spezifischen
Methoden, sondern Arbeitsformen. Innerhalb dieser Arbeitsformen wird dann methodisch
etwa mit einzelnen KlientInnen/Familien (Soziale Einzelfallhilfe), mit Gruppen (Soziale
Gruppenarbeit) oder Gemeinwesen (Gemeinwesenarbeit) sozialarbeiterisch gehandelt
(kommuniziert). Die Entwicklung der sozialarbeiterischen Arbeitsformen/Methoden kann in
vier Phasen unterteilt werden (vgl. Schilling 1997, S. 272ff.; Galuske 1998, S. 63ff.):
1. Phase: Anfänge (Anfang des 20. Jahrhunderts)
In Deutschland hat vor allem Alice Salomon die Anfänge der professionellen
sozialarbeiterischen Methoden maßgeblich beeinflusst. Mit der Veröffentlichung ihres Buches
Soziale Diagnose in den 1920er Jahren versuchte sie die aus den USA kommende (von Mary
Richmond entwickelte) Methode des „casework“ auch in Deutschland bekannt zu machen.
Der Begriff „Diagnose“ deutet es schon an, dass die Sozialarbeit in ihrer ersten Phase bestrebt
war, sich konzeptionell/methodisch an (eher naturwissenschaftliche) Professionen wie
Medizin oder Psychologie anzulehnen. Das Ziel der sozialen Diagnose von FürsorgerInnen ist
es, „Material zu sammeln (eigene Beobachtungen und Aussagen anderer), das beschaffene
Material zu prüfen und zu vergleichen, es zu bewerten, Schlüsse daraus zu ziehen –
schließlich ein Gesamtbild herzustellen, das erlaubt, einen Plan für die Abhilfe (Behandlung)
zu fassen [...] Zum Material der Ermittlung gehören [...] alle Tatsachen aus dem Leben des
Bedürftigen und seiner Familie, die dazu helfen können, die besondere soziale Not und das
soziale Bedürfnis des Betroffenen zu erklären und die Mittel zur Lösung der Schwierigkeit
aufzuzeigen“ (Alice Salomon, z. n. Müller 1988, S. 145).
2. Phase: Übernahme amerikanischer Methoden (Arbeitsformen) (1950er Jahre)
In dieser Zeit nach dem 2. Weltkrieg wurden in der Bundesrepublik Deutschland die in den
USA entwickelten o.g. klassischen Methoden/Arbeitsformen der Sozialen Arbeit in die Praxis
und Lehre eingeführt.
Soziale Einzelfallhilfe: Sie bezieht sich auf einzelne Individuen und Familien, betrachtet deren
Bedürfnisse und Probleme – auch in Wechselwirkung mit der relevanten Umwelt und
versucht, die KlientInnen und Familien zur Problemlösung anzuregen. Dabei wird von
folgenden Prinzipien ausgegangen: Annehmen und Akzeptieren; Individualisieren;
individuelle Selbstbestimmung; dort anfangen, wo die KlientInnen stehen; mit den Stärken
des Individuums arbeiten. Methodisch wird in drei Schritten vorgegangen („Methodischer
Dreischritt“): 1. Fallstudie/Anamnese; 2. Soziale Diagnose; 3. Behandlung. Im Mittelpunkt
13
dieser Arbeitsform stehen die helfende Beziehung und das Gespräch. Einen wesentlichen
Einfluss auf die Einzelfallhilfe übte die Psychoanalyse aus.
Soziale Gruppenarbeit: Sie bezieht sich auf (sozial)pädagogische Gruppen (von Kindern und
Jugendlichen) oder auf themenbezogene Gruppen in allen Bereichen Sozialer Arbeit. In der
Gruppenarbeit werden einzelne Gruppenphasen (Anfangs-, Machtkampfs-, Harmonie-,
Differenzierungs- und Lösungsphase) unterschieden. Die Grundprinzipien der Gruppenarbeit
sind: anfangen, wo die Gruppe steht und sich mit ihr in Bewegung setzen; mit den Stärken des
einzelnen arbeiten; Zusammenarbeit ist besser als Einzelwettbewerb; Raum für
Entscheidungen geben; erzieherisch notwendige Grenzen setzen; sich als Gruppenleiter
überflüssig machen. Die Gruppenarbeit hat drei Ziele: 1. durch die Gruppenerfahrung den
einzelnen Mitgliedern Sicherheit, Anerkennung, Unterstützung und Hilfe zu geben; 2. Werte
und Normen zu vermitteln; 3. (neue) Möglichkeiten der Konfliktlösung zu bieten.
Soziale Gemeinwesenarbeit: Sie bezieht sich auf eine größere Anzahl von Menschen, die etwa
durch räumliche Nähe miteinander verbunden sind; die durch gemeinsame Problemlagen
aufgrund äußerer Bedingungen benachteiligt sind; die durch gemeinsames Planen und
Handeln
ihre
Benachteiligungen
aufzuheben
versuchen;
oder
die
in
Kommunikationsprozessen ihre Fähigkeiten zur Verbesserung ihrer Situation einsetzen
wollen. Während der Gemeinwesenarbeit versuchen professionelle HelferInnen die
Selbsthilfepotentiale der Menschen anzuregen, damit diese nicht nur sich selbst, sondern vor
allem die sozialen Strukturen, in denen sie leben, verändern, umgestalten können.
Gemeinwesenarbeit bezieht sich also nicht unmittelbar auf einzelne KlientInnen; sie ist
vielmehr die Arbeitsform/Methode der Sozialen Arbeit die sich auf spezifische (mehr oder
weniger begrenzte) gesellschaftliche (strukturelle) Veränderungen bezieht. Diesbezüglich
wirken SozialarbeiterInnen als BeraterInnen oder VermittlerInnen z.B. innerhalb von
BürgerInnenbewegungen oder Stadtteilinitiativen.
3. Phase: Methodenkritik (etwa 1968 – 1975)
In Zusammenhang mit der 68er Studentenbewegung beginnt auch in der Sozialen Arbeit eine
allgemeine Kritik unhinterfragter Methoden und Arbeitsformen. Kritisiert wird beispielsweise
der unkritische Optimismus der 1950er Jahre bei der Übernahme der klassischen
Arbeitsformen/Methoden aus den USA. Außerdem wird die Wissenschaftlichkeit der
klassischen Methoden angezweifelt und dafür plädiert, angesichts des sog. „methodischen
Dreigestirns“ der Sozialen Arbeit eher von Arbeitsformen zu sprechen. Zunehmend werden
auch moderne psychotherapeutische Methoden (z.B. Gesprächspsychotherapie;
Familientherapie) für das methodische Handeln in der Sozialen Arbeit aufbereitet.
4. Phase Ausdifferenzierung (1980er und 1990er Jahre)
Angesichts der professionellen Etablierung Sozialer Arbeit differenzieren sich vielfältige neue
Methoden aus, die vor allem die methodischen Diskurse der heutigen Sozialarbeit prägen:
14
z.B.
lebensweltorientierte
Sozialarbeit,
systemische
Beratung,
Case
Management,
Empowerment, Mediation, Sozialmanagement, Selbstevaluation, Supervision.
Literatur
Galuske, Michael (1998): Methoden
Weinheim/München: Juventa
der
Sozialen
Arbeit.
Eine
Einführung.
Müller, C. W. (1988): Wie Helfen zum Beruf wurde. Band 1: Eine Methodengeschichte der
Sozialarbeit 1883-1945. Weinheim/Basel: Beltz (2. Auflg.)
Müller, C. W. (1997): Wie Helfen zum Beruf wurde. Band 2: Eine Methodengeschichte der
Sozialarbeit 1945-1995. Weinheim Basel: Beltz (3. Auflg.)
Schilling, Johannes (1997): Soziale Arbeit. Entwicklungslinien
Sozialpädagogik. Neuwied/Kriftel/Berlin: Luchterhand
der
Sozialarbeit/
15
2.2 Therapeutische Grundlagen der Sozialen Einzelfallhilfe
2.2.1 Psychoanalyse/Tiefenpsychologie
Psychoanalyse [ist] die Bezeichnung für ein von Sigmund Freud entwickeltes
psychologisches Konzept, das auf drei Ebenen wirksam wird: 1. als Untersuchungsmethode
von seelischen Vorgängen, 2. als Behandlungsmethode neurotischer Störungen (Neurosen)
und 3. als Gesamtheit psychologischer und psychopathologischer Theoriebildung (vgl. Barth
1993).
Die psychoanalytische Behandlung zielt darauf ab, unbewusste (Interaktions-)Erfahrungen
bewusst zu machen. Denn es wird davon ausgegangen, dass seelische Konflikte und Probleme
(Neurosen) auf der Verdrängung von traumatischen Interaktionserfahrungen (aus der
Kindheit) beruhen. Durch das Liegen auf der Couch und die freie Assoziation während einer
(klassischen) psychoanalytischen Psychotherapie soll das Erinnern und das Verbalisieren
(Aussprechen) dieser Erfahrungen erleichtert werden. Im Verlaufe einer Psychoanalyse
werden aktuelle Konflikte mit Bezugspersonen und mit dem Psychoanalytiker auf die
Grundkonflikte, auf die traumatischen Interaktionserfahrungen der Kindheit zurückgeführt. Es
wird angestrebt, diese Erfahrungen und die damit einhergehenden Gedanken und Gefühle
nicht nur zu erinnern, sondern auch in der professionellen Übertragungsbeziehung zum
Therapeuten emotional zu wiederholen und schließlich mit Hilfe des Therapeuten
durchzuarbeiten. Übertragung bedeutet, dass die Interaktionserfahrungen der Kindheit (z.B.
bezüglich der Eltern) auf die aktuellen Beziehungen (z.B. auf die Beziehung zum
Therapeuten) übertragen werden. Diese Übertragung ist Voraussetzung für eine erfolgreiche
Psychoanalyse, in der kindliche Ängste, enttäuschte Erwartungen an die Eltern, Traurigkeit,
Wut, Verzweifelung etc. zunächst erinnert, dann noch einmal emotional wiederholt, noch
einmal erlebt und schließlich in Richtung einer neu zu konstruierenden („gesunden“)
erwachsenen Perspektive auf die Realität therapeutisch durchgearbeitet werden können.
Das psychoanalytische Persönlichkeitsmodell differenziert die menschliche Psyche in drei
Bereiche: in „Es“, „Ich“ und „Über-Ich“. Das unbewusste „Es“ beinhaltet vor allem den
Sexual- und den Aggressionstrieb und nimmt die aus dem „Ich“ verdrängten Wünsche,
Affekte und Erinnerungen auf. Das „ICH“ versucht, die Triebimpulse des „Es“ sowie
internalisierte soziale Anforderungen/Erwartungen aus dem „Über-Ich“ mit der sozialen
Realität abzustimmen, zu koordinieren bzw. zu vermitteln. Das „Über-Ich“ bildet sich ab
dem 3. Lebensjahr durch die Verinnerlichung (Internalisierung) elterlicher Vebote, Gebote,
Normen und Erwartungen.
16
Die Soziale Einzelfallhilfe ist seit den 1920er Jahren stark geprägt von der Psychoanalyse
(vgl. zu den folgenden Ausführungen auch Kleve 1999a, S. 120ff). Schon zu Beginn der
professionellen Sozialarbeit erhofften sich SozialarbeiterInnen von der Rezeption der
Psychoanalyse, „den Weg aus der alten, mit repressiven Mitteln arbeitenden Fürsorge zu
finden, hin zu einer Menschenführung ohne Gewalt oder materielle Erpressung, die mit
wissenschaftlichen Mitteln das eigene Interesse und die Mitarbeit der Klienten zu wecken
vermöchte, ohne die materielle Hilfe wirkungslos bliebe“ (Müller, B. 1995, S. 35). Die
Psychoanalyse lenkt den Blick der SozialarbeiterInnen auf die Gestaltung und Reflexion der
helfenden Beziehung, auf die Möglichkeiten der kognitiven und emotionalen Ver- und
Aufarbeitung, Gestaltung und Überwindung von subjektiv erfahrenen psycho-sozialen
Problemlagen. Das Verdienst der Psychoanalyse für die Sozialarbeit liegt darin, die
Perspektive der sozialen Hilfepraxis zu öffnen für die individuell-subjektiven und
psychologischen Dimensionen des Helfens, die sowohl die KlientInnen als auch die
HelferInnen gleichermaßen tangieren. Das professionelle Reflektieren der gegenseitigen
Verstrickungen, der Übertragungen, Gegenübertragungen und Widerständen in
Hilfeprozessen, das die Psychoanalyse ausgesprochen differenziert erlaubt, kann entscheidend
dazu beitragen, helfende Beziehungen in ihrer konstruktiven oder destruktiven Dynamik
einschätzen zu lernen und kontextuell angemessen zu handeln. Die Psychoanalyse kann
SozialarbeiterInnen dafür sensibilisieren, dass die Kenntnis ihrer eigenen kognitiven und
emotionalen Welten ein grundlegendes Arbeitsintrument bei der Gestaltung helfender
Beziehungen ist. Die Persönlichkeit des Helfers ist mithin zentraler Bestandteil des
Hilfeprozesses, der in seiner emotionalen bzw. affektiven Dynamik letztlich nur durch die
Wahrnehmung seelischer Vorgänge des Helfers beobachtet werden bzw. beschrieben, erklärt
und bewertet werden kann (vgl. Stierlin 1971).
Kritik: Trotz der offensichtlichen Verbindungen, der „natürlichen Brücke“ (Hollis) zwischen
Psychoanalyse und Sozialarbeit ist nicht zu verkennen, dass die – verkürzte und unreflektierte
– Anwendung psychoanalytischer Erkenntnisse und Methoden in sozialarbeiterischen
Handlungsfeldern Probleme bereitet. Beispielsweise medizinalisiert oder therapeutisiert die
psychoanalytische Betrachtung nicht selten psycho-soziale Probleme. Vor allem die
Medizinalisierung psycho-sozialen Leidens ist mit dem frühen psychoanalytischen und dem
frühen sozialarbeiterischen Denken des Social Casework eng verhaftet. Genauso wie Freud,
der die Psychoanalyse an dem zu seiner Zeit paradigmatisch auch die Human- und
Sozialwissenschaften prägenden naturwissenschaftlichen Verständnis ausrichtete (vgl. Capra
1982, S. 194), orientierte sich beispielsweise auch Mary Richmond bezüglich der Konzeption
einer personenbezogenen Sozialarbeit am medizinischen Modell. Die Begriffe ‘Diagnose’ und
‘Behandlung’ wurden somit zu wesentlichen Elementen der Casework-Literatur.
17
Literatur:
Barth, Hannelore (1993): Psychoanalyse, in: Fachlexikon der sozialen Arbeit. Hrsg. vom
Deutschen Verein für öffentliche und private Fürsorge. Frankfurt/M.: Eigenverlag: S. 746
Capra, Fritjof (1982): Wendezeit. Bausteine für ein neues Weltbild. München: dtv (1992)
Kleve, Heiko (1999): Postmoderne Sozialarbeit. Ein systemtheoretisch-konstruktivistischer
Beitrag zur Sozialarbeitswissenschaft. Aachen: Kersting
Müller, Burkhard (1995): Außensicht – Innensicht. Beiträge zu einer analytisch orientierten
Sozialpädagogik. Freiburg/Br.: Lambertus
Stierlin, Helm (1971): Das Tun des Einen ist das Tun des Anderen. Eine Dynamik
menschlicher Beziehungen. Frankfurt/M.: Suhrkamp
18
2.2.2 Humanistische Psychotherapien
Die humanistische Psychologie wurde 1962 in den USA als kritische psychologische und
psychotherapeutische
Kraft
zwischen
Psychoanalyse
und
der
akademischen
Verhaltenspsychologie begründet (vgl. Fraßa 1993). Als ihr geistiger Vater gilt der
Motivationspsychologe Abraham Maslow (1908-1970). Die humanistische Psychologie hebt
das Bedürfnis des Menschen nach Wachstum und Selbstverwirklichung hervor und betont
deshalb vor allem die durch die Therapie zu aktivierenden „positiven Kräfte“ selbst
verantwortlicher Individuen. „Nicht die Erforschung unbewußter seelischer Vorgänge wie bei
der Psychoanalyse, sondern die Schärfung des Bewußtseins für innere Erfahrungen steht im
Vordergrund. Psychotherapie wird als Lernerfahrung betrachtet, die nicht von außen gesteuert
ist, sondern die dem Individuum innewohnenden, auf Selbstheilung zielenden Kräfte
unterstützt“ (Fraßa 1993, S. 480). Im einzelnen werden insbesondere die
Gesprächspsychotherapie nach Carl R. Rogers, die Gestalttherapie nach Fritz Perls oder die
Logotherapie nach Viktor E. Frankl der humanistischen Psychologie bzw. Psychotherapie
zugeordnet.
Die Soziale Einzelfallhilfe wurde insbesondere von der nicht-direktiven,
klientenzentrierten Gesprächspsychotherapie bzw. Beratungsmethode eines Carl Rogers
maßgeblich beeinflusst.
Die wesentlichen Annahmen der Gesprächspsychotherapie sind (vgl. Schneider/Esser 1993):
1. Klienten-/Personenzentriertheit: Im Mittelpunkt des beraterischen Interaktionsgeschehens
während der Sozialen Einzelfallhilfe steht die hilfesuchende Person mit ihren jeweiligen
Gefühlen, Wünschen, Zielen und Wertvorstellungen, kurz: mit ihrer subjektiven Sicht auf die
Innen- und die Außenwelt. Die HelferInnen geben weder Ratschläge noch Empfehlungen,
weder bewerten sie die Sicht- und Verhaltensweisen der KlientInnen noch intervenieren sie
diesbezüglich direktiv durch konkrete Vorschläge. Das Ziel während der Beratung besteht
darin, eine vertrauensvolle Atmosphäre zu schaffen, die die Angst der KlientInnen mindert
und sie schließlich in die Lage versetzt, selbst aktiv an der kreativen Lösung der eigenen
Probleme zu arbeiten. Somit steht auch hier „Hilfe zur Selbsthilfe“ im Mittelpunkt.
2. Beeinflussung und Veränderung des Gesprächsverhaltens, der Selbstexploration
(Selbstbefragung, -einschätzung, -offenbarung) und des problematisierten Verhaltens und
Erlebens der KlientInnen durch das verbale und soziale Verhalten der SozialarbeiterInnen:
Als für den Hilfeprozess maßgebliche Verhaltensweisen bzw. zentrale Basisvariablen der
HelferInnen gelten:
a) „Echtheit“ (Kongruenz; Authentizität) der HelferInnen;
19
b) die volle Akzeptanz bzw. Wertschätzung und bedingungslose, positive Bemühung um die
KlientInnen;
c) das tiefe, sensitive und einfühlende Verständnis der Gefühle der KlientInnen und deren
Bedeutung (Empathie).
Die Verfahren der nicht-direktiven Beratung sind insbesondere:
1. Ermöglichung der Selbstexploration: Hierbei geht es darum, die KlientInnen zu befähigen,
über sich selbst zu sprechen, darüber, was sie bedrückt, was sie denken und was sie fühlen.
Der Berater „bestimmt seine Rolle mit der Mitteilung, daß er selbst keine Lösung für die
Schwierigkeiten des Klienten bereitstellen kann, daß er aber bereit ist, ihm bei der Lösung
seiner Schwierigkeiten beizustehen. Da der Klient in kein Gespräch über Sachverhalte
eintreten kann, wird er auf seine eigenen Erfahrungen zurückverwiesen“ (Geißler/Hege 1988,
S. 80).
2. Die Verbalisierung der emotionalen Erlebnisinhalte der KlientInnen: Mit diesem Verfahren
sind die BeraterInnen aufgefordert, den KlientInnen aktiv zuzuhören, sie vor allem emotional
zu verstehen, d.h. die HelferInnen teilen den KlientInnen mit, was sie an Emotionen
wahrgenommen haben. Es wird davon ausgegangen, je mehr es den BeraterInnen gelingt,
adäquat die Erlebnisweise der KlientInnen verbal zu erfassen, um so stärker sind die
KlientInnen in der Lage, sich zu öffnen und über ihre Probleme zu sprechen.
Beispiel einer Interaktion, in der die Beraterin die emotionalen Erlebnisinhalte des Klienten
verbalisiert:
„Klient: Ich weiß manchmal gar nicht, wie ich mich verhalten soll.
Beraterin: Sie fühlen sich richtig verunsichert.
Klient: Meine Mutter läßt mich nie in Ruhe.
Beraterin: Sie fühlen sich fast kontrolliert.
Klient: Ich langweile mich sehr.
Beraterin: Es spricht Sie überhaupt nichts an.“ (Vgl. ebd., S. 85f.).
Kritik: „In allen Gesprächen oder Gesprächsabschnitten, in welchen es darum geht, die
emotionale Lage des Klienten ihm selbst und dem Sozialpädagogen zu verdeutlichen, ist die
Anwendung dieses Verfahrens eine adäquate Intervention. Konflikte [...], die im Berufsfeld
des Sozialpädagogen auftreten, sind jedoch mit Selbstexploration des Klienten allein nicht zu
lösen. [...] Schon Rogers hat deutlich gemacht, daß Klienten, deren Schwierigkeiten im
Umfeld liegen, nicht geeignet sind für klientenzentrierte Gesprächsführung. Dies bedeutet für
20
den Sozialpädagogen, daß er zunächst den Einfluß des Umfeldes sehen muß, dann erst
entscheiden kann, ob er mit seinen Interventionen sich dem Umfeld, dem Problem und seinem
Sachverhalt oder zunächst den psychischen Anteilen des Problems zuwenden muß“
(Geißler/Hege 1988, S. 86ff.).
Literatur:
Fraßa, Heinz-Jörg (1993): Humanistische Psychologie, in: Fachlexikon für soziale Arbeit.
Hrsg. Deutscher Verein für öffentliche und private Fürsorge. Frankfurt/M.: Eigenverlag: S.
480
Geißler, Karlheinz A.; Hege, Marianne (1988): Konzepte sozialpädagogischen Handelns. Ein
Leitfaden für die Praxis. Weinheim/Basel: Beltz (1992)
Schneider, Manfred; Esser, Ulrich (1993): Gesprächspsychotherapie, in: Fachlexikon für
soziale Arbeit. Hrsg. Deutscher Verein für öffentliche und private Fürsorge. Frankfurt/M.:
Eigenverlag: S. 413
21
2.2.3 Systemische Familien-/Kommunikationstherapie
Die Familientherapie, die in den 1950er Jahren vor allem in den USA entstanden ist, hat
insbesondere zwei Wurzeln: zum einen die Sozialarbeit und zum anderen die
Schizophrenieforschung; „beides sind Bereiche, die die Erfahrung vermitteln, daß das
menschliche Individuum nicht ‚kleinste therapiefähige Einheit’ ist“ (Simon 1983, S. 349f.).
Genau dies ist auch der Grundgedanke der Familientherapie: menschliches Verhalten ist
abhängig vom System (Familie, Gemeinschaft, Gesellschaft etc.), in dem es gezeigt wird, so
dass man menschliches Verhalten nur verstehen und Menschen nur zur Veränderung anregen
kann, wenn man das jeweils verhaltensrelevante System betrachtet bzw. behandelt (z.B. die
gesamte Familie).
Die verschiedenen Schulen der Familientherapie (die von der Psychoanalyse kommende
Familientherapie [z.B. H. Stierlin]; die strukturelle Familientherapie [z.B. S. Minuchin]; die
Kurztherapie bzw. systemische Familientherapie [z.B. Mailänder Schule: M. SelviniPalazzoli; Mental Research Institute Palo Alto: Paul Watzlawick] sowie die entwicklungsbzw. erlebnisorientierte Familientherapie [z.B. V. Satir]) entstanden aus der Erfahrung, dass
psychologische Therapien mit einzelnen Personen häufig erfolglos blieben – besonders bei
schwerwiegenden psychiatrischen Symptomen und Multiproblem’fällen‘. Es zeigte sich, dass
es nicht ausreicht, sich therapeutisch oder beraterisch auf die Psyche der jeweils zu
therapierenden Personen zu beziehen, weil ihr (symptomatisches) Verhalten abhängiger
erschien von den familiären Beziehungen, in denen die Personen lebten, als man gemeinhin
(etwa im psychoanalytischen Denken) annahm.
Die systemische Familientherapie begreift daher Verhalten von Menschen als eine
Funktion bzw. als eine abhängige Variable von (zwischenmenschlichen) Systemen.
Individuelles Verhalten ist nur sinnvoll verstehbar, wenn es in seinem jeweils relevanten
systemischen Kontext betrachtet wird. Jedes soziale Verhalten von Menschen ist ein auf
andere Menschen bezogenes Verhalten. Somit ist es wichtig, die Bedeutung und die
Kommunikationsregeln der relevanten zwischenmenschlichen Beziehungen (der Systeme) zu
kennen, wenn man Verhalten verstehen bzw. verändern will. Insbesondere die Möglichkeiten
und Grenzen der Veränderung von Verhalten erscheinen in diesem Zusammenhang abhängig
von den Möglichkeiten und Grenzen der Veränderung der Kommunikationsregeln von
Beziehungen.
Schon die ersten von dem Anthropologen Gregory Bateson (s. 1981) durchgeführten
kommunikationstheoretischen Studien in den 1950er Jahren offenbarten, dass der Sinn
menschlichen Verhaltens, der im interaktiven Kontext immer kommunizierend wirkt („Man
kann nicht nicht kommunizieren“; s.u.), nur verstanden werden kann, wenn Verhalten in
22
seinem (kommunikativen) sozialen Kontext gesehen wird. Am Beispiel des Verhaltens von
als schizophren diagnostizierten Familienmitgliedern wurde deutlich, dass Schizophrenie
nicht nur das Symptom eines Patienten ist. Vielmehr entdeckten Bateson und seine
MitarbeiterInnen, dass schizophrenes Verhalten Resultat einer (paradoxen) Kommunikation in
einem bestimmten sozialen Kontext ist (s. dazu auch Watzlawick u.a. 1969, S. 171 ff.).
Schizophrene Verhaltensmuster erscheinen demnach als die einzig mögliche Reaktion auf
einen absurden zwischenmenschlichen Kontext.
Der Ausgangspunkt der familientherapie-orientierten Konzepte der Sozialen Arbeit ist das
Verständnis der menschlichen Interaktion als ein System (vgl. Watzlawick u.a. 1969, S. 115
ff.), das sich von einer Umwelt abgrenzt und aus „Mit-anderen-Personenkommunizierende[n]-Personen“ (ebd., S. 116). besteht. Neuere familientherapeutische bzw.
systemisch Konzepte betonen allerdings, dass ausschließlich Kommunikationen bzw.
Verhaltsweisen (vgl. Simon 1993, S. 104) als Elemente in die Bildung eines sozialen Systems
(z.B. einer Familie) eingehen.
Um in der Sozialen Arbeit die helfende Beziehung angemessen zu gestalten, erfordert die
SozialarbeiterIn-KlientIn-Interaktion system- und kommunikationstheoretische Kenntnisse
der SozialarbeiterInnen, denn „das Wesen jeder Beziehung ist trotz seiner Unmittelbarkeit
und Alltäglichkeit schwer erfaßbar“, so Paul Watzlawick.
Diesbezüglich lassen
sich nach Paul
Watzlawick u.a. (1969) folgende
kommunikationstheoretische Axiome nennen: 1. Man kann nicht nicht kommunizieren; 2.
Jede Mitteilung hat einen Beziehungs- und Inhaltsaspekt; 3. Die Natur einer Beziehung ist
durch die Interpunktion der Ereignisfolgen bestimmt; 4. Jede Kommunikation bedient sich
digitaler und analoger Modalitäten; 5. Zwischenmenschliche Kommunikationsabläufe sind
entweder symmetrisch oder komplementär, je nachdem ob die Beziehung zwischen den
Partnern auf Gleichheit oder Unterschiedlichkeit beruht.
Auch für die ein soziales System konstituierenden Kommunikationsprozesse gilt wie für alle
Beziehungen innerhalb einer jeden systemischen Ganzheit, dass sie „immer schon mehr und
andersgeartet [...sind...], als die bloße Summe der Elemente, die [etwa...] Kommunikanten in
[eine...]
Beziehung
hereinbringen“
(ebd.).
Watzlawick
beschreibt
die
Kommunikationsprozesse entsprechend der Systemtheorie, wenn er formuliert, dass „nicht
nur [...] eine Ursache eine Wirkung [erzeugt], sondern jede Wirkung wirkt ihrerseits
ursächlich auf ihre eigene Ursache zurück. Daraus entstehen Komplexitäten, die sich jeder
Reduktion auf ihre Einzelbestandteile entziehen“ (ebd).
23
Da Verhalten, wie das Systemdenken lehrt, nicht verstehbar scheint, wenn der soziale
Kontext, in dem es auftritt, vernachlässigt wird, ist der Erfolg sozialarbeiterischer
Interventionen davon abhängig, inwieweit die SozialarbeiterInnen in der Lage sind, die
konkreten psychischen, gesellschaftlichen und familiären Bedingungen ihrer KlientInnen in
ihren wechselseitigen Abhängigkeiten einzuschätzen.
Hierfür bietet die Familientherapie vielfältige Problembeschreibungsmöglichkeiten: z.B. das
Genogramm (siehe Arbeitsblatt: Das Genogramm als Methode der systemischen (Familien-)
Beratung.
Literatur:
Bateson, Gregory (1981): Ökologie des Geistes. Anthropologische, psychologische,
biologische und epistemologische Perspektiven. Frankfurt/M.: Suhrkamp
Schlippe, A. v. (1987): Familientherapie im Überblick. Basiskonzepte, Formen,
Anwendungsmöglichkeiten. Paderborn: Junfermann
Simon, Fritz B. (1983): Die Epistemologie des Nullsummen- und Nichtnullsummenspiels, in:
Familiendynamik, 4/1983: S. 341-363
Simon, Fritz B. (1993): Unterschiede, die Unterschiede machen. Klinische Epistemologie.
Grundlagen einer systemischen Psychiatrie und Psychosomatik. Frankfurt/M.: Suhrkamp
Watzlawick, P. u.a. (1969): Menschliche Kommunikation. Formen, Störungen, Paradoxien.
Bern: Huber
Exkurs: Das Genogramm als Methode der systemischen (Familien-) Beratung
Genogramme dienen der übersichtlichen Darstellung von komplexen Informationen über
Familiensysteme. Ein Genogramm kann bis zu drei Generationen umfassen und wird in der
Regel gemeinsam – diskursiv, dialogisch – mit den Familienmitgliedern oder den einzelnen
KlientInnen/KundInnen erarbeitet. Ein Genogramm ist eine (Re-)Konstruktion der familiären
Vergangenheit aus der jeweiligen sozialen, sachlichen und zeitlichen Perspektive; insofern
offenbart ein Genogramm nicht, wie die familiäre Geschichte wirklich war, sondern wie sie
‚hier und jetzt‘ (Zeitdimension) aus der Perspektive der entsprechenden Person(en)
(Sozialdimension) bezüglich einer bestimmten in der Beratung zu bearbeitenden
Problemstellung bzw. bezüglich eines bestimmten Themas (Sachdimension) beschrieben
wird/werden kann.
Das Genogramm wird in der Regel ausgehend von einem jeweils infrage stehenden Klienten
erarbeitet. In einem Haushalt gemeinsam lebende Personen können umkreist werden.
24
In das Bild lassen sich dann wichtige Fakten einschreiben:
* Name, Alter, Geburts- und eventuell Todesdaten;
* Datum der Heirat, eventuell auch des Kennenlernes, Daten der Trennung und Scheidung;
* Wohnorte, Herkunftsorte der Familie, Ortswechsel;
* Krankheiten, schwere Symptome, Todesursachen;
* Berufe.
Interessant sind weitere Informationen:
* Eigenschaften, die Personen zugeschrieben werden – auch besondere Fähigkeiten,
Auffälligkeiten und Stärken;
* Begriffe zur Kennzeichnung der jeweiligen Familienatmosphäre;
* Hinweise auf bestimmte immer wiederkehrende Themen in der Familie;
* Tabus und ‚weiße Stellen‘ im Genogramm: Z.B. von wem ist nichts bekannt?
* Ressourcen, besondere Leistungen der Familie.
„Das Wichtigste bleiben jedoch die Geschichten, die zu den Genogrammdaten erzählt werden.
Sie bilden den Hintergrund für ein neues Verständnis der Gegenwart“ (A. v. Schlippe/J.
Schweitzer, Lehrbuch der systemischen Therapie und Beratung, Göttingen 1996, S. 131).
Die Erarbeitung eines Genogramms dient dem Ziel, die aktuelle (Familien-)Situation bzw.
aktuelle Themen neu, d.h. anders als bisher zu beschreiben – bestenfalls so, dass Ressourcen
‚entdeckt‘ werden können, die bei der Lösung aktueller Schwierigkeiten/Probleme hilfreich
sind. Im Genogramm sind also nicht lediglich problematisch bewertete Aspekte,
Eigenschaften von Personen, Familienthemen etc. aufzuführen, sondern insbesondere auch
Stärken, Ressourcen von Personen und vor allem die (verschütteten, bisher ausgeblendeten)
‚Schätze‘ der Familie, die es gilt, schätzen zu lernen.
25
2.3 Soziale Gruppenarbeit
Geschichte: Die soziale Gruppenarbeit ist insbesondere aus vier verschiedenen Richtungen
hervor gegangen: aus der Jugendbewegung (a), der Reformpädagogik (b), der
Gruppendynamik (c) und der Bewegung der Nachbarschaftsheime/Settlements (d).
(a) Die Jugendbewegung ist zu Beginn des 20. Jahrhunderts als eine eigenständige Form
sozialen Engagements entstanden. Sie zeichnete sich vor allem durch die gemeinsame
Aktivität gleichaltriger Jungen aus, die von wenige Jahre älteren Gruppenführen angeleitet
wurden und Wanderfahrten etc. unternahmen.
(b) Die Reformpädagogik gilt als jene Bewegung, die die Gruppe als Medium sozialer
Erziehung (wieder) entdeckt hat. Ihr liegt die Idee zugrund, dass der Gruppe eine zentrale
Bedeutung bei der Erziehung und Sozialisation junger Menschen zur Selbstverantwortung
und sozialer Orientierung zukommt.
(c) Die Gruppendynamik ist eng mit dem Namen Kurt Lewin verbunden und entstand in den
1930er Jahren als eine Forschungsrichtung der Sozialpsychologie, die sich wissenschaftlich
mit der Struktur, der Genese, der Entwicklung und nicht zuletzt mit Besonderheiten von
Kleingruppen beschäftigte. Die Forschungsergebnisse dieser Richtung führten schließlich zur
professionellen Nutzung der Gruppe für die Erziehung und die Therapie, z.B. in Form der
Therapiegruppen, Trainingsgruppen, Encounter Gruppen oder der Themenzentrierten
Interaktion.
Exkurs: Gruppenregeln nach Ruth Cohn – Themenzentrierte Interaktion (TZI)
1.
2.
3.
4.
5.
6.
Vertritt dich selbst in deinen Aussagen; sprich per ‚Ich’ und nicht per ‚Wir’ oder per
‚Man’.
Wenn du eine Frage stellst, sage, warum du fragst und was deine Frage für dich bedeutet.
Sage dich selbst aus und vermeide das Interview.
Sei authentisch und selektiv in deinen Kommunikationen. Mache dir bewusst, was du
denkst und fühlst, und wähle, was du sagst und tust.
Halte dich mit Interpretationen von anderen so lange wie möglich zurück. Sprich statt
dessen deine persönlichen Reaktionen aus.
Sei zurückhaltend mit Verallgemeinerungen.
Wenn du etwas über das Benehmen oder die Charakteristik eines anderen Teilnehmers
aussagst, sage auch, was es dir bedeutet, dass er so ist, wie er ist (d.h. wie du ihn siehst.
26
7.
8.
9.
Seitengespräche haben Vorrang. Sie stören und sind meist wichtig. Sie würden nicht
geschehen, wenn sie nicht wichtig wären. („Vielleicht wollt ihr erzählen, was ihr
miteinander sprecht?“)
Nur einer redet zur gleichen Zeit.
Wenn mehr als einer gleichzeitig sprechen will, verständigt euch mit Stichworten, über
was ihr zu sprechen beabsichtigt.
(d) Die Nachbarschaftsheime bzw. Settlements können als Vorformen der sozialen
Gruppenarbeit angesehen werden und sind z.B. als englische Settlements entstanden, in denen
Studenten gemeinsam mit „Nachbarn“ neue Formen sozialer Unterstützung erprobten oder
konstituierten sich als amerikanische Nachbarschaftshäuser, die initiiert wurden von der
Pionierin der Sozialarbeit Jane Addams.
In Deutschland etablierte sich die soziale Gruppenarbeit insbesondere mit der Übernahme des
sozialarbeiterischen Methoden-Dreigestirns – soziale Einzel(fall)hilfe, soziale Gruppenarbeit,
Gemeinwesenarbeit – aus den USA nach 1945 und wird heute allen Bereichen der Sozialen
Arbeit angewandt, z.B. in der Kinder- und Jugendhilfe, siehe dazu § 29 KJHG (Soziale
Gruppenarbeit), wo es heißt:
„Die Teilnahme an einer sozialen Gruppearbeit soll älteren Kindern und Jugendlichen bei der
Überwindung von Entwicklungsschwierigkeiten und Verhaltensproblemen helfen. Soziale
Gruppenarbeit soll auf der Grundlage eines gruppenpädagogischen Konzepts die Entwicklung
älterer Kinder und Jugendlicher durch soziales Lernen in der Gruppe fördern.“
Zwei Definitionen sozialer Gruppenarbeit: „Gruppenarbeit wird hier gesehen und beschrieben
als einer der drei Methoden der Sozialarbeit. Durch sie will ein dafür besonders ausgebildete
Gruppenleiter die Menschen in der Gruppe dazu bereit und fähig werden lassen, als ganze
Menschen sich zu entwickeln, zu wachsen und reifen. Dabei spielen die Beziehungen eine
ausschlaggebende Rolle, die die Mitglieder zueinander, zum Leiter und zu anderen Gruppen
haben. Von wesentlicher Bedeutung ist jedoch außerdem die Begegnung und
Auseinandersetzung mit einem sachlichen Programm“ (Lattke 1962). „Soziale Gruppenarbeit
ist eine Methode der Sozialarbeit, die den Einzelnen durch sinnvolle Gruppenerlebnisse hilft,
ihre soziale Funktionsfähigkeit zu steigern und ihren persönlichen Problemen, ihren
Gruppenproblemen oder den Problemen des öffentlichen Lebens besser gewachsen zu sein“
(Konopka 1971).
27
Drei Bestimmungsmerkmale der sozialen Gruppenarbeit als Methode der Sozialarbeit:
1.
2.
3.
Die Gruppe ist nicht Selbstzweck, sondern dient als Medium psycho-sozialer
Veränderung. Daher stehen im Mittelpunkt Ziele wie Wachstum, Reifung, Bildung,
Heilung und/oder Integration des Einzelnen.
Von sozialer Gruppenarbeit wird erst dann gesprochen, wenn ein sozialpädagogisch
geschulter Experte die Gruppe anleitet.
Die Zielsetzung bezieht sich auf gesellschaftseingliedernde (integrierende und
inkludierende) Bestrebungen. Durch die Gruppen soll der Einzelne seine sozialen
Anpassungsmöglichleiten bzw. seine soziale Funktionsfähigkeit erhöhen.
Der Gruppenleiter muss insbesondere das Phasenmodell (nach Garland 1975) der
Gruppenarbeit kennen, will er eine Gruppe kompetent anleiten und gestalten. Demnach
gliedert sich die Entwicklung einer sozialen Gruppe folgendermaßen:
Phasen
Bezeichnung der Phasen
Aufgaben in den Phase
1.
Orientierungsphase, Voran- Es muss das Problem der Gruppenzusammensetzung gelöst, und es sollten erste Ziele
schluss
für die Gruppe formuliert werden.
2.
Machtkampf, Übergangsphase
Kontraktklärung (in Lerngruppen: Lernzielabsprache). Drei Hauptprobleme sind zu lösen: 1.
Rebellion und Autonomie; 2. die normative
Krise (der Wahrscheinlichkeit des Austritts aus
der Gruppe ist in dieser Phase am höchsten); 3.
Schutz und Stützung.
3.
Vertrautheitsphase,
Beziehungsphase
Wichtig sind Fragen der emotionalen Beziehungsabklärung, des Treffens von Entscheidungen und Bewältigung von Konflikten.
4.
Entwicklungsphase,
Differenzierung
Wichtig sind Fragen des Lösens von Gruppenaufgaben und des Miteinanderarbeitens.
5.
Trennung, Ablösung
Wichtig sind: 1. Klärung, ob die Trennung
gruppenentwicklungsbedingt oder durch die
Umstände erzwungen ist; 2. Frage nach der
Zukunft.
28
Literatur:
Galuske, M. (1998): Methoden Sozialer Arbeit. Eine Einführung. Weinheim/München:
Juventa: S. 77ff.
Nebel, G.; Woltmann-Zingsheim, B. (Hrsg.) (1997): Werkbuch für das Arbeiten mit Gruppen.
Insb. S. 31ff.: Krapohl, L.: Klassische Modelle Sozialer Gruppenarbeit und S. 362ff.: Das
„Devolpmental Model“ der Sozialen Gruppenarbeit. Aachen: Kersting
29
2.4 Gemeinwesenarbeit
Geschichte: Die Gemeinwesenarbeit stammt wie die anderen klassischen
Methoden/Arbeitsformen der Sozialen Arbeit (Soziale Einzelfallhilfe, Soziale Gruppenarbeit)
aus dem amerikanischen social work. Sie ist dort zum einen als community organization und
zum anderen als community development in der ersten Hälfte des 20. Jahrhundert entwickelt
worden. Community organization, als die auch in Deutschland der 1950er Jahre
aufgenommene Form der Gemeinwesenarbeit, zielte auf die Verbesserung der Infrastruktur in
urbanen Großstadtzentren ab: „Ihr Anliegen war es, in den durch Einwanderer
unterschiedlichster Herkunft geprägten großstädtischen Elendsvierteln, durch gezielte
Intervention und Unterstützung Entwicklungen in Gang zu setzen, die die Eingliederung
dieser Bevölkerungsgruppen in die amerikanische Gesellschaft beförderten und die
‚Rekonstruktion heruntergewirtschafteter Massenwohnviertel’ (C.W. Müller 1992, S. 105)
vorantrieben“ (Galuske 1998, S. 88). Definitionen (nach Galuske 1998, S. 90f.):
„Community organization for social welfare gilt als eine der ‚grundlegenden Methoden’ der
Sozialen Arbeit. In der einfachsten Form wird sie praktiziert, wenn eine Gruppe von Bürgern
einer Stadt sich zusammentut, um in planmäßiger Weise ein gemeinsames Bedürfnis zu
befriedigen. Als berufsmäßig ausgeübte Tätigkeit mit erprobten Methoden und anerkannten,
lehrbaren Fertigkeiten aber ist community organization der Prozeß, durch den Hilfsquellen
und Bedürfnisse der sozialen Wohlfahrt innerhalb eines geographisch oder inhaltlich
begrenzten Arbeitsfeldes immer wirksamer aufeinander abgestimmt werden“ (Lattke 1955).
„Der Begriff Gemeinwesenarbeit [...] bezeichnet einen Prozeß, in dessen Verlauf ein
Gemeinwesen seine Bedürfnisse und Ziele feststellt, sie ordnet oder in eine Rangfolge bringt,
Vertrauen und den Willen entwickelt, etwas dafür zu tun, innere und äußere Quellen
mobilisiert, um die Bedürfnisse zu befriedigen, daß es also in dieser Richtung aktiv wird und
dadurch die Haltung von Kooperation und Zusammenarbeit und ihr tätiges Praktizieren
fördert“ (Ross 1968).
„Gemeinwesenarbeit ist eine Methode, die einen Komplex von Initiativen auslöst, durch die
die Bevölkerung einer räumlichen Einheit gemeinsame Probleme erkennt, alte
Ohnmachtserfahrungen überwindet und eigene Kräfte entwickelt, um sich zu solidarisieren
und Betroffenheit konstruktiv anzugehen. Menschen lernen dabei, persönliche Defizite
aufzuarbeiten und individuelle Stabilität zu entwickeln und arbeiten gleichzeitig an der
Beseitigung akuter Notstände (kurzfristig) und an der Beseitigung von Ursachen von
Benachteiligung und Unterdrückung“ (Karas/Hinte 1978).
Gemeinwesenarbeit ist „die zusammenfassende Bezeichnung verschiedener, vor allem
nationaler und im Laufe der Entwicklung der letzten Jahrzehnte unterschiedlicher
30
Arbeitsformen, die auf die Verbesserung der sozio-kulturellen Umgebung als problematisch
definierter, territorial oder funktional abgegrenzter Bevölkerungsgruppen (Gemeinwesen)
gerichtet ist. Diese Verbesserung soll in methodischer Weise unter fachkundiger Begleitung
durch theoretisch und praktisch ausgebildete Sozialarbeiter und unter aktiver Teilnahme der
(entsprechenden) Bevölkerung(sgruppe) durchgeführt werden. Es geht hierbei um eine
Anpassung der Problemgruppe an die Umgebung, um eine Veränderung der (Einstellungen,
Verhaltensweisen der) Umgebung und um die gemeinsame Erarbeitung von, gemäß den
entsprechenden kulturellen Normen, notwendigen Fertigkeiten oder Institutionen“ (Ludes
1977).
Zielstellungen: Soziale Arbeit bezieht sich entweder auf Verhaltensänderung oder auf
Verhältnisänderung bzw. hat beide Bereiche gleichzeitig im Blick. Während die Soziale
Einzelfallhilfe und die Soziale Gruppenarbeit tendenziell eher Verhaltensänderungen von
Individuen anstreben, intendiert Gemeinwesenarbeit eher eine Verhältnisänderung, eine
Beeinflussung der sozialen Milieus, der Umwelt bzw. des Umfeldes von Individuen. In der
Gemeinwesenarbeit werden also sozial-strukturelle Veränderungen angestrebt, um die
Lebensbedingungen von Menschen zu verbessern. Dazu ist keine asymmetrische
SozialarbeiterIn-KlientIn-Beziehung, mithin keine individuelle Falldefinition notwendig.
Gemeinwesenarbeit ist vor allem durch folgende Aspekte gekennzeichnet:
 sie bezieht sich auf soziale Netzwerke, und zwar – territorial – auf einen Stadtteil, eine
Nachbarschaft, eine Gemeinde, einen Wohnblock, einen Straßenzug etc., – kategorial –
auf
bestimmte
ethnisch,
geschlechtsspezifisch,
altersbedingt
abgrenzbare
Bevölkerungsgruppen und/oder – funktional – auf inhaltlich bestimmbare Problemlagen,
z.B. Wohnen, Bildung etc.;
 sie geht zumeist von sozialen Konflikten oder gemeinsam geteilten Problemen aus;
 sie richtet sich gegen die – normalerweise in der Sozialen Arbeit typische –
Individualisierung sozialer Probleme, sie hat vielmehr eine sozial-strukturelle, sozialsystemische Perspektive;
 sie ist trägerübergreifend und intendiert Kooperationszusammenhänge zwischen
verschiedenen sozialen Dienstleistern innerhalb eines Gemeinwesens;
 sie ist zum Teil methodenintegrativ, d.h. sie kann auch Einzelfallhilfe und Gruppenarbeit
umfassen;
 sie wird durch die gezielte Anregung, Unterstützung, Beratung, Koordination usw. von
Menschen durch SozialarbeiterInnen geleistet.
Formen der Gemeinwesenarbeit: Wohlfahrtsstaatliche Gemeinwesenarbeit; Integrative
Gemeinwesenarbeit;
Aggressive
Gemeinwesenarbeit;
Katalytisch/aktivierende
Gemeinwesenarbeit.
31
Zur Methode der Gemeinwesenarbeit:
Phasen (nach Ross): 1. Feststellen und Bewusstmachen von Bedürfnissen und Zielen; 2.
Ordnen und Prioritätensetzen bei den Bedürfnissen und Zielen; 3. Entwickeln der
Bereitschaft, ans Werk zu gehen; 4. Ausfindigmachen von (internen und externen)
Hilfsquellen; 5. Übergang zur Aktion.
Rollen der Gemeinwesenarbeiter (nach Ross): LeiterIn; BefähigerIn; Sachverständige/r;
SozialtherapeutIn.
Techniken und Verfahren: Verfahren der Kontaktaufnahme und Kontaktpflege; Verfahren der
Feldforschung; Verfahren der Meinungsbildung innerhalb von Gruppen; Verfahren politischer
Einflussnahme.
Resümee: Die zentrale Idee der Gemeinwesenarbeit, soziale Probleme nicht zu
individualisieren, sondern sie in ihren gesellschaftlichen Kontexten zu verstehen, zu
beeinflussen und – angeleitet von SozialarbeiterInnen – gemeinsam mit den Betroffenen an
den sozial-strukturellen Bedingungen dieser Probleme zu arbeiten, ist vor allem durch die
kritische Studentenbewegung der 1960er Jahre in die gesamte deutsche sozialarbeiterische
Methodendiskussion aufgenommen worden. Inzwischen finden wir in vielen
sozialarbeiterischen Methoden (z.B. in der systemischen Beratung, im Case Management, im
Empowerment etc.) derartige Denkweisen und Ansätze wieder.
Literatur:
Galuske, M. (1998): Methoden Sozialer Arbeit. Eine Einführung. Weinheim/München:
Juventa: S.89ff.
32
3. Aktuelle Methodendiskussion
3.1 Systemische Konzepte
Zusammenfassung
in
der
Sozialen
Arbeit
–
Eine
(erste)
"Der Sozialarbeiter kann optimale
Sozialarbeit nur leisten, wenn
er systemisch denkt und handelt".
Peter Lüssi
(Systemische Sozialarbeit,
Bern 1992, S. 75)
Systemische Konzepte (Theorieansätze, Methoden, Verfahren, Techniken etc.) in der Sozialen
Arbeit gehen zum einen zurück auf sozialwissenschaftliche Systemtheorien und zum anderen
auf die verschiedenen Schulen der systemischen (Familien-)Therapie.
Die sozialwissenschaftlichen Systemtheorien beschäftigen sich mit sozialen Systemen und
deren Wechselwirkung mit psychischen und biologischen Systemen. Ein System wird als eine
miteinander in Wechselwirkung, in Interaktion stehende Menge von Elementen (z.B.
kommunikative Verhaltensweisen/Handlungen in sozialen Systemen) verstanden, die sich von
einer (nicht zum System gehörenden) Umwelt abgrenzen (lassen). Systemdenken ist also
System/Umwelt-Denken; es interessiert sich für die Entstehung (Ausdifferenzierung) und
Entwicklung von Systemen, die mit ihrer Umwelt bzw. mit anderen Systemen aus ihrer
Umwelt in Interaktion stehen. Zum Beispiel lässt sich die Familie als ein soziales System
verstehen, das sich durch die klar definierten Mitglieder bzw. Rollen (Vater, Mutter, Kinder)
von einer Umwelt abgrenzen lässt, in der sich vielfältige andere Systeme beobachten lassen
(z.B. Hilfesysteme der Sozialen Arbeit, ökonomische Systeme, erzieherische Systeme,
politische Systeme etc.), mit denen die Familie in vielfältiger Weise in Beziehung steht.
Die neuere sozialwissenschaftliche Systemtheorie, für die vor allem der Name des Bielefelder
Soziologen Niklas Luhmann (1929-1998) steht, interessiert sich vor allem für die
Unvorhersehbarkeit, Unsicherheit (Kontingenz) und für die nur begrenzten
Beeinflussungsmöglichkeiten von sozialen Systementwicklungen.
Die verschiedenen Schulen der systemischen (Familien-)Therapien entstanden (seit Ende
der 1950er Jahre) aus der Erfahrung, dass psychologische Therapien mit einzelnen Personen
häufig erfolglos blieben – besonders bei schwerwiegenden psychiatrischen Symptomen und
Multiproblem’fällen‘. Es zeigte sich, dass es nicht ausreicht, sich therapeutisch auf die Psyche
der jeweils zu therapierenden Personen zu beziehen, weil ihr (symptomatisches) Verhalten
abhängiger erschien von den familiären Beziehungen, in denen die Personen lebten, als man
33
gemeinhin (etwa im psychoanalytischen Denken) annahm. Die systemische Therapie begreift
daher Verhalten von Menschen als eine Funktion bzw. als eine abhängige Variable von
(zwischenmenschlichen) Systemen. Individuelles Verhalten ist daher nur sinnvoll verstehbar,
wenn es in seinem jeweils relevanten systemischen Kontext betrachtet wird. Jedes soziale
Verhalten von Menschen ist ein auf andere Menschen bezogenes Verhalten. Somit ist es
wichtig, die Bedeutung und die Kommunikationsregeln der relevanten zwischenmenschlichen
Beziehungen (der Systeme) zu kennen, wenn man Verhalten verstehen bzw. verändern will.
Insbesondere die Möglichkeiten und Grenzen der Veränderung von Verhalten erscheinen in
diesem Zusammenhang abhängig von den Möglichkeiten und Grenzen der Veränderung der
Kommunikationsregeln von Beziehungen. Aber diese Veränderungen können von außen, von
der Therapie oder der Sozialarbeit, nur sehr eingeschränkt bewirkt werden. Systeme können
sich nur nach ihren eigenen (strukturellen) Möglichkeiten verändern. Die Veränderungen sind
also letztlich immer selbstbestimmt. Therapie und Sozialarbeit können diesbezüglich lediglich
zur Selbstveränderung (Selbshilfe) anregen (helfen).
Systemische Konzepte in der Sozialen Arbeit nehmen die dargestellten systemtheoretischen
und systemtherapeutischen Vorstellungen auf und beziehen sie auf ihre Praxis. Dabei ist aber
zu beachten, dass das systemische Denken für die Sozialarbeit nicht neu ist. Die Soziale
Arbeit zeichnet sich nämlich seit jeher – im Gegensatz zur Psychotherapie – dadurch aus, dass
sie nicht lediglich die einzelnen problembelasteten Menschen, die KlientInnen bzw.
KundInnen bei ihren Hilfsangeboten beachtet, sondern immer auch deren soziale (familiäre,
ökonomische, kulturelle etc.) Umwelt. Sozialarbeit versteht soziale Probleme als Probleme
zwischen Menschen und innerhalb von sozialen Systemen. Menschen und deren soziale
Probleme werden immer bezogen auf ihre jeweilige Umwelt sozialarbeiterisch beobachtet. So
hat Sozialarbeit seit jeher versucht, nicht nur den einzelnen problembelasteten Menschen, den
KlientInnen/KundInnen Hilfe anzubieten, sondern sie hat bestenfalls immer auch auch deren
Familien, deren Lebenswelten, deren Gemeinwesen mit einbezogen in ihre Hilfeplanungen.
Die Systemtheorie und die systemische Therapie können die Brauchbarkeit und
Angemessenheit des systemischen sozialarbeiterischen Handelns (auch wissenschaftlich)
bestätigen und der Sozialarbeit Denkweisen und Methoden zur Verfügung stellen, um
reflektiert systemisch zu handeln. Solche Denkweisen und Methoden sind etwa das gezielte
Kontextualisieren, zirkuläres Fragen, Reframing etc. Des weiteren trägt die systemische
Denkweise dazu bei, eine sozialarbeiterische Haltung einzunehmen, die KlientInnen als
ExpertInnen für deren Problemlösungen sieht, die klientäre Ressourcen zur Selbsthilfe zu
aktivieren hilft und die auf gemeinsame Aushandlungsprozesse, auf professionelle
Kooperation und nicht auf professionelles Besserwissen im helfenden Prozess setzt.
34
3.2 Lebensweltorientierung in der Sozialen Arbeit und Postmodernisierung der
Gesellschaft
Ausgangsthese:
Aktuelle Theorie- und Methodenansätze Sozialer Arbeit, die mit dem Sammelbegriff
‚lebensweltorientiert‘ bezeichnet werden können, sind Ausdruck für gesellschaftliche
Wandlungsprozesse der Postmodernisierung.
Diese These soll in zwei Schritten belegt werden: Im ersten Schritt sollen vier zentrale
sozialpädagogische Theoriepositionen, die von einer Lebensweltorientierung ausgehen,
benannt und knapp umschrieben werden. Im zweiten Schritt werden fünf gesellschaftliche
Postmodernisierungs-Prozesse benannt und beschrieben sowie gezeigt, wie diese mit den
zuvor dargestellten sozialpädagogischen Theoriepositionen verflochten sind.
I. Lebensweltorientierung
Mit ‚Lebensweltorientierung‘ ist ein allgemeines Strukturmerkmal sozialpädagogischer
Theorien und nicht lediglich die sozialpädagogische Theorie von Hans Thiersch gemeint, die
gemeinhin mit dem Titel ‚lebensweltorientiert‘ versehen wird. Allerdings hat Thiersch mit
seinem Konzept der Lebensweltorientierung bereits Ende der siebziger Jahre einen Trend in
der sozialpädagogischen Theoriebildung vorweggenommen, der besonders in den 1990er
Jahren in Theorien Sozialer Arbeit strukturbildend wurde.
Lebensweltorientierung bedeutet demnach in der Sozialpädagogik: das Einlassen auf die
eigensinnigen Erfahrungen der AdressatInnen Sozialer Arbeit; Lebensweltorientierung wirkt
damit normalisierenden, disziplinierenden, stigmatisierenden und pathologisierenden
Tendenzen der gesellschaftlichen Funktion Sozialer Arbeit entgegen.1
Der Trend zur Lebensweltorientierung geht mit einer Enttraditionalisierung der
theoretischen Grundprämissen Sozialer Arbeit einher. Zentral dabei ist, dass man sich von
der traditionellen Leitunterscheidung Sozialer Arbeit, nämlich von der Unterscheidung Norm
und Abweichung, verabschiedet und sich allmählich einer neuen Leitunterscheidung
zuwendet: nämlich der Unterscheidung von Hilfe und Nicht-Hilfe.2 Mit anderen Worten, das
doppelte Mandat der Sozialarbeit, das durch die Doppelorientierung von Hilfe und Kontrolle
zum Ausdruck kommt, verlagert sich zusehends in Richtung Hilfe; die Hilfeorientierung
gewinnt gegenüber der Kontrollorientierung an Gewicht. Auch in den rechtlichen Grundlagen
der Sozialen Arbeit wird dies bereits sichtbar. So ist das achte Buch der Sozialgesetzgebung,
das Kinder- und Jugendhilfegesetz (KJHG), weniger kontroll- denn hilfeorientiert. Es versteht
sich klar als ein lebensweltbezogenes Dienstleistungsangebot für Kinder, Jugendliche und
deren Eltern. Und auch die im folgenden noch näher zu bestimmenden Aspekte der
1Vgl.
Hans Thiersch, Strukturierte Offenheit. Zur Methodenfrage einer lebensweltorientierten Sozialen Arbeit, in. T.
Rauschenbach, H. Gängler (Hrsg.): Der sozialpädagogische Blick. Lebenweltorientierte Methoden in der Sozialen Arbeit.
Weinheim/München. Juventa, 1993, S. 13.
2Dirk Baecker, Soziale Hilfe als Funktionssystem der Gesellschaft, in: Zeitschrift für Soziologie, 2/1994, S. 93-110.
35
lebensweltorientierten Sozialpädagogik haben Eingang gefunden in das 1991 in Kraft
getretene KJHG.
In dem Maße, wie sich die Soziale Arbeit angesichts einer Lebensweltorientierung allmählich
von ihrer normenkontrollierenden Funktion verabschiedet, werden in theoretischen
Abhandlungen neue Themen zentral: nämlich u.a. die Themen: Kommunikation,
Anerkennung von Differenz und Dissens, Grenzen des sozialpädagogischen Handelns
und Reflexion.
Kommunikation: Dass Kommunikation im Sinne von Diskurs, Aushandlung, Vermittlung,
Dialog eine zentrale Kategorie sozialpädagogischer Theoriebildung geworden ist, wird
exemplarisch sichtbar am Beispiel der Theorie des stellvertretenden Deutens. So begründen
etwa Vertreter dieser Theorie, beispielsweise Bernd Dewe, eine ‚diskursive‘ Professionalität
Sozialer Arbeit, in der es darum geht, gemeinsam und partnerschaftlich mit den
AdressatInnen, Deutungen für deren problematische Lebenssituationen zu entwickeln.3
Diesbezüglich kommt es in der sozialpädagogischen Profession darauf an, jenseits von
kontrollierenden Zwangsinterventionen die Autonomie der AdressatInnen nicht durch
Bevormundung zu verletzen4. Vielmehr wird sozialarbeiterische Hilfe als Dialog, als
Aushandlungsprozess verstanden.
Anerkennung von Differenz und Dissens: Die Anerkennung von Differenz und Dissens ist
insbesondere eine Leitidee in systemischen Konzepten. Hier wird von der Konstrukthaftigkeit
subjektiver und sozialer Wirklichkeiten ausgegangen und deren jeweilige
Verschiedenartigkeit herausgestellt. Dabei wird die Lebensweltorientierung deutlich durch die
Anerkennung der Vielfältigkeit, der Pluralität der Wirklichkeitskonstruktionen, der
Einstellungen und Werte der AdressatInnen Sozialer Arbeit. So muss im Hilfeprozess
zuallerst kommunikativ ausgehandelt werden, worin überhaupt das Problem besteht bzw. wer
was als Problem wie und wann sieht.
Grenzen des sozialpädagogischen Handelns: Während etwa Bernd Dewe oder auch Roland
Merten5 die Unterschiedlichkeit von Theorie und Praxis betonen und damit die Grenzen des
theorieorientierten Handelns hervorheben, betont die systemische Position die von außen
nicht direkt beeinflussbare Struktur von biologischen, psychischen und sozialen Systemen.
Diesbezüglich erscheint Soziale Arbeit als ein soziales Handeln, das niemals direkt und
unmittelbar Menschen oder soziale Systeme verändern kann. Soziale Arbeit kann allerdings
Bedingungen, Möglichkeiten und Kontexte schaffen, um sich selbstorganisierende
Problemlösungsprozesse, wenn man so will: ‚Selbstheilungskräfte’ auf Seiten ihrer
AdressatInnen anzuregen.
Reflexion: Reflexion avanciert in der gesamten erziehungs- und sozialwissenschaftlichen
Theoriedebatte der letzten Jahre zu einem zentralen Aspekt - und dies in zweierlei Hinsicht:
3Vgl.
Bernd Dewe u.a., Professionelles soziales Handeln. Soziale Arbeit im Spannungsfeld zwischen Theorie und Praxis.
Weinheheim/München: Juventa, 1995, S. 50.
4Vgl. Ebd., S. 55.
5Siehe Bernd Dewe, a.a.O.; Roland Merten, Autonomie der Sozialen Arbeit. Zur Funktionsbestimmung als Disziplin und
Profession. Weinheim/München: Juventa.
36
Einerseits wird die Sozialpädagogik, ja die gesamte Erziehungswissenschaft im zunehmenden
Maße selbst reflexiv; sie fängt an, sich verstärkt mit sich selbst zu beschäftigen, theoretische
Entwicklungen zu reflektieren und zu systematisieren. In diesem Zusammenhang spricht der
Erziehungswissenschaftler Dieter Lenzen bereits von ‚reflexiver Erziehungswissenschaft‘.6
Andererseits betonen aktuelle sozialpädagogische Theorien besonders eindringlich die
Notwendigkeit
professioneller
Selbstreflexionsmethoden
wie
Supervision
und
Selbstevaluation. Insbesondere durch das Einlassen auf die Ganzheitlichkeit der Lebenswelten
sind Sozialarbeiterinnen und Sozialpädagogen zu permanenten Selbstreflexionen angehalten.
Somit ist Sozialarbeit sogar, wie Fritz Schütze formuliert, „eines der ‚Saatbeete‘ für das
Wachsen der neuen Selbstreflexionsinstitution[en]“ geworden.7
II. Lebensweltorientierung als Folge gesellschaftlicher Postmodernisierung
Unter Postmodernisierung kann – in Anlehnung an den Soziologen Hans-Günter Vester – die
„Entfaltung, Entwicklung und Durchsetzung der Merkmale verstanden werden, die man als
postmodern ansieht“,8 die mithin über die Moderne hinausführen, diese erschüttern, auflösen,
infrage stellen, unterhöhlen etc. Im Folgenden werden diesbezüglich fünf Merkmale
aufgeführt, die auf die theoretischen und methodischen Positionen einer
lebensweltorientierten Sozialpädagogik bezogen werden können:
1. Die Postmodernisierung der Gesellschaft wird deutlich durch die soziale Auflösung der
Unterscheidung von Norm und Abweichung. Daher muss sich auch die Sozialpädagogik
von ihrer klassischen Leitdifferenz, Norm und Abweichung, verabschieden. Denn in der
heutigen Gesellschaft vervielfältigt sich Normalität, und zwar so lange, bis sie sich als
Orientierungsmaßstab von selbst auflöst.9 Dieses Auflösen von Normalitätsstandards lässt
sich auf zwei soziale Prozesse zurückführen: zum einen auf die funktionale Differenzierung
der Gesellschaft, die vor allem von Niklas Luhmann umfangreich analysiert wurde, und zum
anderen auf die Individualisierung, was wohl bisher am intensivsten von Ulrich Beck
beschrieben wurde. Durch diese Prozesse, also durch Differenzierung und Individualisierung,
kommt es zu einer Vervielfältigung von Weltsichten, die nicht mehr unter den Hut einer
einheitlichen Norm gebracht werden können. Interessant ist, dass sowohl funktionale
Differenzierung als auch Individualisierung zutiefst moderne Erscheinungen sind. Die
Moderne ist ja das Zeitalter, in dem Arbeitsteilung, also funktionale Differenzierung und
Individualisierung ihre Blüte erreichen. Mittlerweile scheinen aber gerade diese Merkmale der
modernen Gesellschaft eine Stufe erreicht zu haben, die die Moderne erschüttern, die
ungeplante und schleichende Nebenfolgen produzieren. Dies führt schließlich dazu, dass eine
andere gesellschaftliche Gestalt in Reichweite erscheint: die Postmoderne oder wie Beck sagt,
die Risikogesellschaft bzw. ‚reflexive‘ oder ‚zweite‘ Moderne.
6Dieter
Lenzen, Reflexive Erziehungswissenschaft am Ausgang des postmodernen Jahrzehnts, o.O., o.J.
S. 166.
8Hans-Günter Vester, Soziologie der Postmoderne. München: Quintessenz, 1993, S. 24.
9Thomas Rauschenbach, Inszenierte Solidarität. Soziale Arbeit in der Risikogesellschaft, in: U. Beck; E. Beck-Gernsheim
(Hrsg.): Riskante Freiheiten. Individualisierung in modernen Gesellschaften. Frankfurt/M.: Suhrkamp, 1994, S. 91.
7Ebd.,
37
2. In der Postmoderne werden fast alle sozialen Prozesse ihrer Selbstverständlichkeit beraubt,
fast nichts versteht sich mehr von selbst, fast alles wird kommunikativ hinterfragbar, muss
begründet und ausgehandelt werden. Damit ist das zweite Merkmal angesprochen, das
verdeutlicht, warum Kommunikation zu einem Leitmotiv der sozialpädagogischen
Theoriediskurse wird. Mit der Steigerung der funktionalen Differenzierung der Gesellschaft
„verliert die Gesellschaft ihr Gesicht“, wie der Soziologe Bernhard Giesen formuliert; sie hat
demnach „nichts Unverrückbares und Unbestreitbares mehr“10; sie wird polyzentrisch,
fragmentarisch.11 Weder die Politik noch die Wirtschaft, weder die Religion noch die
Pädagogik, weder die Wissenschaft noch die Familie und auch nicht das Rechtssystem
können als Zentrum der heutigen Gesellschaft ausgemacht werden, von dem aus verbindliche
Normen begründet und gesellschaftlich implementiert werden können. Vielmehr muss situativ
und jeweils speziell verhandelt, ausgehandelt, vermittelt, diskutiert, debattiert, dialogisiert,
kurz: kommuniziert werden, was hier und jetzt an Normen und Verbindlichkeiten gelten soll.
3. Dieses Kommunizieren setzt, wenn es keine Bevormundung sein will, die Akzeptanz von
Differenz und Dissens voraus. Die Notwendigkeit dieser Akzeptanz verweist auf die
‚radikale Pluralität‘ in der postmodernen Gesellschaft. Spätestens in der Postmoderne wird
Pluralität, also soziale Vielheit, Unübersichtlichkeit in welcher Hinsicht auch immer als
Grundverfassung der Gesellschaft real. Daher wird die Suche nach pluralen Denk- und
Handlungsmustern vordringlich, nach Denk- und Handlungsmustern eben, die von Pluralität
ausgehen und diese anerkennen.12 Die Entwicklung dieser Pluralität lässt sich soziologisch
beziehen auf die bereits angesprochenen Prozesse der funktionalen Differenzierung und
Individualisierung. Die Anerkennung von Differenz und Dissens, von radikaler Pluralität ist
schließlich, wie der Philosoph Wolfgang Welsch betont, untrennbar von wirklicher
Demokratie,13 von Demokratie also, in der das kommunikative Aushandeln, das Diskursive
zentrales gesellschaftliches Medium wird.
4. Dass Kommunikation jedoch nicht technologisch steuerbar ist und Menschen und soziale
Systeme nicht direkt beeinflussen kann, verweist auf das Gewahrwerden der Grenzen des
menschlichen Handelns in der Postmoderne. Die Moderne war und ist noch von dem
Glauben, von dem Mythos getragen, dass der Mensch die Welt nach seinen Wünschen und
Vorstellungen planvoll und zielgerichtet verändern und umgestalten kann. Die Postmoderne
offenbart nun angesichts der Erfahrungen des Scheiterns vieler dieser Veränderungs- und
Umgestaltungsversuche die Grenzen des menschlichen Denkens und Handelns. Die
postmoderne Welt erscheint als ganzheitlicher Zusammenhang, der der menschlichen
Veränderungsgewalt mit schleichenden und ungeplanten Nebenfolgen trotzt. Erst wenn man
erkennt, was man machen kann und was nicht, welches ‚Schlechte‘ man sich einhandeln
10Bernhard
Giesen, Die Entdinglichung des Sozialen. Eine evolutionstheoretische Perspektive auf die Postmoderne.
Frankfurt/M.: Suhrkamp, 1991, S. 243.
11Vgl. Helmut Willke, Ironie des Staates. Grundlinien einer Staatstheorie polyzentrischer Gesellschaft. Frankfurt/M.:
Suhrkamp, 1992.
12Wolfgang Welsch, Unsere postmoderne Moderne. Berlin: Akademie, 1993, S. 5.
13Vgl. ebd.
38
kann, auch wenn man das ‚Gute‘ will, kann man einigermaßen realistisch die Möglichkeiten
des Machbaren und dessen vielfältige Grenzen abschätzen.
5. Und dieses Abschätzen der Möglichkeiten des Machbaren verweist schließlich auf die
Reflexion. In der Soziologie wurde erst kürzlich von Rodrigo Jokisch diagnostiziert, dass die
funktionale Differenzierung der Gesellschaft sich zunehmend in eine reflexive
Differenzierung wandelt.14 Unbestritten erscheinen inzwischen Effektivität und Effizienz der
funktionalen Differenzierung, aber zum Problem wird immer mehr die Blindheit funktionaler
Systeme gegenüber den Folgen, die sie in ihrer sozialen, biologischen und psychischen
Umwelt auslösen. Damit wird Reflexion zum zentralen Kriterium der Differenzierung, ja zum
ökologischen Überlebenskriterium von Systemen überhaupt. Das Reflektieren, das
Beobachten des eigenen Beobachtens und Handelns wird in allen gesellschaftlichen
Bereichen zentral. Politisch, rechtlich oder durch die Massemedien werden alle
gesellschaftlichen Akteure angehalten, Risiken und Gefahren ihres Tuns für Mensch und
Umwelt vorzubeugen und abzuschätzen. Und hier ist die Soziale Arbeit natürlich auch keine
Ausnahme, sondern vielmehr eine Vorreiterin. Wie bereits erwähnt, Soziale Arbeit kann sich
zu eigen halten, dass sie eine der ersten gesellschaftlichen Praxen ist, in der regelmäßig
reflektiert und selbstbeobachtet wurde.
14Rodrigo
Jokisch, Logik der Distinktion. Zur Protologik einer Theorie der Gesellschaft. Opladen: Westdeutscher Verlag.
39
3.3 Case Management
Was ist Case Management?
Case Management ist eine an der klassischen sozialarbeiterischen Methode der
Gemeinwesenarbeit orientierte Weiterentwicklung der traditionellen Sozialen Einzel(fall)hilfe
(„social casework“) und wurde in den letzten fünfundzwanzig Jahren insbesondere in der
angloamerikanischen ambulanten/aufsuchenden Sozialarbeit entwickelt. So wurden etwa in
den USA in den 1970er Jahren stärker als in Westeuropa stationäre Einrichtungen im Bereich
der Psychiatrie, der Jugend- und Altenhilfe reformiert bzw. ganz geschlossen. Dadurch waren
mehr hilfebedürftige – zum Teil langjährig hospitalisierte – Menschen als zuvor auf
ambulante, gemeinwesennahe Hilfeangebote angewiesen. Diese Menschen waren aber nur
sehr begrenzt in der Lage, das sehr differenzierte und spezialisierte Angebot an
professionellen Hilfen und die eignen lebensweltlichen (privaten, familiären etc.) Ressourcen
und Netzwerke (vgl. Bullinger/Nowak 1998) für eine biologisch, psychisch und sozial
„gesunde“ bzw. selbstbestimmte Gestaltung ihres Lebens zu nutzen.
In diesem historischen Kontext entwickelte sich das Case Management als eine Methode der
Sozialarbeit, die Menschen, welche (wieder) in einem eigenen Haushalt leben, dabei hilft,
formelle (professionelle) und informelle (privat-lebensweltliche) Hilfen zu initiieren und zu
koordinieren. Im Case Management geht es darum, die Menschen dabei zu unterstützen, die
eigenen Ressourcen und lebensweltlichen Netzwerke so gut wie möglich zu nutzen und
Defizite, die nicht selbstständig oder durch andere privat-lebensweltliche Möglichkeiten
kompensiert werden können, durch differenziert und planvoll eingesetzte professionelle
Hilfen zu kompensieren. Die eingesetzten Mittel (u.a. Personal, Geld, Zeit) sollen so effektiv
und effizient wie möglich genutzt werden. „Ziel von Case Management ist es, Fähigkeiten des
Klienten zur Wahrnehmung sozialer Dienstleistungen zu fördern, professionelle, soziale und
persönliche Ressourcen zu verknüpfen und höchstmögliche Effizienz im Hilfeprozess zu
erreichen“ (Neuffer 1993, S. 200).
Zur Realisierung eines solchen Ziels betreut ein Case Manager in generalistischer, d.h. in
typisch sozialarbeiterischer Orientierung mehrere Fälle, für deren Koordinierung er
federführend zuständig ist. Ein Case Manager führt „seine“ Klienten (Kinder, Jugendliche,
Erwachsene, Familien), mit denen er im professionell-partnerschaftlichen Sinne kooperiert,
durch den gesamten Hilfeprozess und erschließt die dafür notwendigen lebensweltlichen und
professionellen Ressourcen und Netzwerke. Wie dies im Einzelnen geschieht, soll im
Folgenden skizzenhaft gezeigt werden.
Wie ‚funktioniert’ Case Management?
Case Management versucht informelle (nicht-professionelle, lebensweltliche) und formelle
(professionelle) Hilfen so effektiv und effizient wie möglich zu verkoppeln. Es setzt, wie man
speziell in Deutschland sagen könnte, beim Subsidiaritätsprinzip an. Denn differenzierte
40
professionelle Hilfen sollen nur dort eingesetzt werden, wo privat-lebensweltliche
Unterstützungen nicht (mehr) möglich sind. Nur dort, wo die KlientInnen sich nicht mehr
bzw. noch nicht selbst oder durch Unterstützung ihrer privaten lebensweltlichen Netzwerke
bzw. anderer Laien helfen können, sollen professionelle Hilfen dieses Hilfedefizit
(vorübergehend) kompensieren. Damit ist das Case Management radikal ressourcenorientiert.
Denn eine fortlaufende und zentrale Aufgabe eines Case Managers während der Fallarbeit ist
es, permanent so gründlich wie möglich in professionell partnerschaftlicher Kooperation mit
den KlientInnen und gegebenenfalls mit anderen professionellen Fachkräften
(SozialarbeiterInnen, PädagogInnen, PsychologInnen, ÄrztInnen etc.) die jeweiligen
klientären Ressourcen und die lebensweltlichen Netzwerke zu erschließen, zu aktivieren
sowie langfristig und stabil nutzbar zu machen.
Die professionellen Hilfen, die zur Kompensation nicht vorhandener Ressourcen bzw. zur
Behebung von Defiziten eingesetzt werden, sind vom Case Manager in Fallgesprächen mit
den auszuführenden Trägern bzw. Fachkräften an die persönliche Situation der jeweiligen
KlientInnen auszurichten. Es sind die Hilfen einzusetzen, die nötig sind und nicht jene,
welche möglich wären.
Mit dieser sehr an Selbsthilfe und Subsidiarität orientierten Arbeit minimiert Case
Management ein ethisches Dilemma, dass nämlich Sozialarbeit entgegen ihrer Intentionen –
gerade bei einer zeitlich sehr intensiven ‚Beziehungsarbeit’ – nicht (nur) Unabhängigkeit und
Selbstständigkeit fördert, sondern potentiell und strukturell (auch) Abhängigkeit von
Professionellen und Unselbstständigkeit erzeugt (vgl. Kleve 1999, S. 199ff./270ff.).
Im Einzelnen gliedert sich Case Management in folgende zirkulär aufeinander verweisende
Phasen (vgl. detailliert dazu Raiff/Shore 1993; Wendt 1997; Löcherbach 1998):
a) Einschätzung/Kontextualisierung („assessment“)
In der ersten Phase werden die jeweiligen Fälle z.B. von Trägern der öffentlichen Jugendhilfe
an die freien Träger (des Case Managements) verwiesen und eingeschätzt. Dabei gilt es
abzuklären, ob es sich bei den jeweiligen Fällen um Fälle für das Case Management handelt
oder nicht („screening“). Der Fall wird dann kontextualisiert, und zwar einerseits hinsichtlich
der professionellen und andererseits hinsichtlich der lebensweltlichen Seite.
Professionelle Seite: Es wird überprüft, wer strukturell (welches Amt, Jugendamt [ASD] oder
möglicherweise auch Gesundheitsamt [KJPD oder SPD]?) und persönlich (welche/r
Sozialarbeiter/in) von den öffentlichen Trägern für die Betreuung und die Finanzierung
zuständig ist. Außerdem geht es darum zu prüfen, welche Professionellen
(SozialarbeiterInnen, PsychologInnen, ÄrztInnen etc.) bereits mit den KlientInnen arbeiten.
Es ist mit den zuständigen Ämtern bzw. anderen Professionellen über die Problemsichten,
Problemerklärungen und bereits versuchten Lösungen, über den aktuellen Hilfebedarf und
über die bereits sichtbaren bzw. vermuteten lebensweltlichen Ressourcen (eigene
Fähigkeiten/Potentiale) und Netzwerke (Verwandte, Freunde, Bekannte, die Unterstützungen
41
bieten könnten etc.) zu kommunizieren. So ist gegebenenfalls bereits zu prüfen und zu
vereinbaren, bei welchen Problemaspekten Professionelle und bei welchen auch Laien (z.B.
auch Zivildienstleistende und Studierende psycho-sozialer Disziplinen bzw. Professionen etc.)
eingesetzt werden könnten.
Lebensweltliche Seite: Es wird mit den KlientInnen Kontakt aufgenommen, bzw. ein erstes
Kontakt- und Kennenlerngespräch wird von den zuständigen Professionellen der öffentlichen
Träger (Ämter) vermittelt und unter Beteiligung des möglichen Case Managers durchgeführt.
Es ist abzuklären, wie die KlientInnen die Probleme und die Hilfebedarfe selbst sehen, welche
Erklärungen diesbezüglich herangezogen werden und welche Lösungsversuche bereits
unternommen wurden. Weiterhin sind die Erwartungen der KlientInnen an den Case Manager
bzw. hinsichtlich der Ambulanten Hilfe abzufragen. Schließlich ist eine erste gründliche
Ressourcen- und Netzwerkanalyse im Hinblick auf der geschilderten Probleme und deren
Lösung durchzuführen. Welche Fähigkeiten haben die KlientInnen? Was klappt auch
hinsichtlich der Probleme (noch bzw. schon) gut? Welche BezugspartnerInnen haben die
KlientInnen? Wie könnten diese Menschen in die Unterstützung eingebunden werden? etc.
Möglicherweise sollten für das Assessment spezielle Leitfadenfragebögen entwickelt werden,
die auf die Aufgaben und Zielstellungen der Ambulanten Hilfen zugeschnitten sind und dabei
helfen, die ersten Interviews der Fachkräfte mit den KlientInnen (etwa bezüglich der
Problemsichten, der Ressourcen- und Netzwerkanalyse sowie der Hilfebedarfsklärung) zu
strukturieren. Wichtige Fragen könnten diesbezüglich sein (vgl. Galuske 1998, S. 186):
Welche der Probleme oder Belastungssituationen bereiten den KlientInnen am meisten
Schwierigkeiten? In welchen Bereichen zeigen die KlientInnen eigene Stärken und
Fähigkeiten, wo können sie also aufgrund eigener Ressourcen die Belastungen bewältigen
(„coping“)? Welche Lösungsmöglichkeiten bzw. Hilfen sind unter den gegebenen Umständen
am besten geeignet und entsprechen darüber hinaus den Wertvorstellungen, der Gefühls- und
Lebenswelt der KlientInnen? Welche lebensweltlichen Netzwerke haben die KlientInnen zur
Verfügung? Können aus diesem Netzwerk Personen unterstützen? Was könnten diese
Personen bezüglich der Probleme und Bedarfe wann wie und mit wem tun?
b) Hilfeplanung (“service planning”)
In dieser Phase geht es um die Erarbeitung von Zielen, von erreichbaren Nah- und Fernzielen
bzw. – kooperativ mit den KlientInnen – um die Erarbeitung eines Selbsthilfeplans. Dabei
liegt der Fokus wiederum auf die lebensweltlichen Ressourcen und Netzwerke der
KlientInnen. Welche Ziele können sie selbst, z.B. unter Hinzuziehung von
Freunden/Verwandten oder anderer Laien erreichen? Welche Ziele können nur durch
professionelle Unterstützung(en) erreicht werden? Wie können die klientären Ressourcen
(Fähigkeiten, Stärken) sowie lebensweltlichen und professionellen Netzwerke, mithin die
informellen und die formellen Hilfeangebote miteinander verknüpft werden?
42
Wichtig ist, dass Ziele positiv formuliert werden, d.h. es sollte beispielsweise nicht dabei
stehen geblieben werden, etwas nicht mehr (tun) zu wollen, etwas zu unterlassen (z.B. nicht
mehr zu trinken, nicht mehr so viel Geld auszugeben, keine Schulden mehr zu machen etc.),
sondern erarbeitet werden, was anstatt dessen, anstatt der problematischen Verhaltensweisen
denn – positiv – erreicht werden soll. Die Ziele sollten sich weiterhin in konkret beobachtbare
Verhaltensweisen „übersetzen“ lassen.
Es ist zu überprüfen, wer was wann wie von wem im Prozess der Hilfe will/erwartet. Welche
Ziele hat der Auftraggeber (die öffentliche Jugendhilfe), der die Hilfe finanziert, und welche
Ziele haben die KlientInnen? Wenn diesbezüglich große Differenzen sichtbar werden, ist eine
Abstimmung und Klärung, z.B. durch Hilfekonferenzen vorzunehmen. Des weiteren ist zu
erarbeiten, wer was wann wie womit mit wem tun muss, um die Ziele zu erreichen. Schließlich
sind die Erfolgskriterien zu vereinbaren. Wer kann wann wie bei wem sehen, dass die
vereinbarten Ziele erreicht wurden? In welchen Zeiten sollen diese Ziele (Nah- und Fernziele)
erreicht bzw. soll die Erreichung kontrolliert werden? Schließlich ist es nötig, dass alle Ziele
von den Ressourcen der KlientInnen ausgehen und diese weiter stärken.
Der erarbeitete Selbsthilfeplan dient in der Evaluationsphase zur Auswertung und
Erfolgsbewertung des Case Managements bzw. der geleisteten informellen und formellen
Hilfen .
c) Intervention – Durchführung der Hilfe
Hier geht es darum, den Selbsthilfeplan umzusetzen. Dabei ist wiederum die Selbstständigkeit
der KlientInnen anzuerkennen und zu stärken, es sind die klientären bzw. lebensweltlichen
Möglichkeiten und Potentiale zu mobilisieren und zu unterstützen. Wenn möglich, sind
Verwandte/Freunde bzw. Laien für eine Hilfeleistung, die von diesen ausgeführt werden
kann, zu gewinnen, zusammen mit den KlientInnen einzusetzen und zu beraten. Wenn alle
diese lebensweltlichen und auf die klientären Ressourcen ausgerichteten Möglichkeiten
ausgeschöpft sind, müssen den KlientInnen, Träger bzw. Fachkräfte (TherapeutInnen,
Erziehungs-, Familien-, Schuldner- oder andere Kontakt- und Beratungsstellen etc.) vermittelt
werden, die für die Bewältigung bestimmter Probleme bzw. Problemaspekte notwendig sind.
Diese Vermittlung übernimmt der Case Manager.
Der Einsatz der vermittelten Träger oder Fachkräfte ist fallspezifisch zuzuschneiden, mit den
KlientInnen vorzubereiten und vom Case Manager zu begleiten. Diese Begleitung umfasst die
Beratung und Unterstützung der KlientInnen, um diese zur Inanspruchnahme der jeweiligen
Träger und Fachkräfte zu befähigen. Der Case Manager hält den notwendigen Kontakt mit
den KlientInnen, berät und unterstützt sie, und zwar – einerseits – hinsichtlich der
Inanspruchnahme professioneller (formeller) Hilfen und – andererseits – hinsichtlich der
Nutzung eigener und fremder lebensweltlicher (informeller) Ressourcen und Netzwerke. Der
Case Manager hat dabei Beratungs- und Unterstützungsaufgaben, aber führt selbst keine
pädagogischen (etwa auf die Kinder und Jugendlichen bezogenen) oder gar therapeutischen
43
Aufgaben aus; er übernimmt im Wesentlichen drei Aufgabenbereiche (vgl. Galuske 1998, S.
186): In bezug auf die KlientInnen geht es – erstens – um Information z.B. über die
Zugänglichkeit bestimmter Angebote (Träger oder Fachkräfte), – zweitens – um Senkung von
Zugangsschranken bezüglich bestimmter sozialer Dienstleistungen (z.B. durch gezielte
Übungen) und – drittens – um Kontrolle des Klientenverhaltens im Sinne der Einhaltung des
Selbsthilfeplans. In bezug auf die professionellen Hilfen geht es um die Überwachung der
erbrachten Leistungen und um deren Koordination.
d) Überwachung/Kontrolle der Hilfen („monitoring“)
Hier besteht die zentrale Aufgabe des Case Managers darin, zusammen mit den KlientInnen
ein Evaluationskonzept auszuarbeiten, um die Erfolge und Zielerreichungen bzw.
„Korrekturen“, „Nachbesserungen“ der professionellen und lebensweltlichen (informellen)
Hilfen feststellen zu können. Welche Erfolge lassen sich bereits beobachten? Wo sind neue
Probleme aufgetaucht? Die von den KlientInnen in Anspruch genommenen professionellen
Dienstleistungen sind hinsichtlich der Aspekte „Angemessenheit“, „Intensität“, Umfang“,
„Qualität“ und „Wirksamkeit“ permanent zu überprüfen (vgl. Raiff/Shore 1993, S. 47). Dies
geschieht durch regelmäßige Kontakte mit den KlientInnen sowie den eingesetzten
professionellen und informellen HelferInnen, um „Feinabstimmungen“ zu ermöglichen,
Absprachen, Vereinbarungen etc. zu treffen. Weiterhin sind Verfahren zu entwickeln, um
unberücksichtigte Bedarfe und Lücken im Versorgungs- und Unterstützungssystem der
KlientInnen „aufzuspüren“ und um die Erreichung der Ziele bzw. der Problemlösungen des
Selbsthilfeplans zu überprüfen (z.B. anhand der Kriterien: Steigerung der Lebensqualität,
Selbst- und Fremdbild etwa bezüglich der Kindererziehung, Umgang mit dem Einkommen
etc.).
e) Klientenfürsprache – Anwaltschaftliche Vertretung
Grundsätzlich sind die KlientInnen durch das Case Management zu befähigen, selbstständig
Hilfen und professionelle Dienste zu suchen und in Anspruch zu nehmen. Diesbezüglich kann
es allerdings notwendig sein, für die KlientInnen mit bestimmten Stellen Kontakt
aufzunehmen oder die KlientInnen durch Beratungen zu befähigen, die jeweiligen Angebote
anzunehmen und eigene diesbezügliche Bedürfnisse artikulieren zu lernen. Gerade vor
Beendigung des Case Managements ist die Phase besonders herauszustellen, damit zukünftig
ein informelles und formelles Netzwerk für die KlientInnen bereitsteht, das bei
Unterstützungsnotwendigkeiten ohne großen Aufwand in Anspruch genommen werden kann.
f) Beendigung und Evaluation/Auswertung der Ergebnisse/Dokumentation
Schließlich steht am Ende eines Case Management-Prozesses, dass mit den KlientInnen
erarbeitet wird, was angesichts des Selbsthilfeplans wie mit wem erreicht wurde, welche
(formellen und/oder informellen) Hilfen beendet, welche – auch nach Ende des Case
44
Managements – weitergeführt werden sollten/müssten. Die Erfolge, die die KlientInnen
erreicht haben, sind hervorzuheben, die klientäre Selbstständigkeit ist erneut
herauszuarbeiten. Der Selbsthilfeplan ist auszuwerten, Erfahrungen und Ergebnisse sind zu
dokumentieren, d.h. über das durchgeführte Case Management ist beiden Kunden – sowohl
den KlientInnen als auch den geldgebenden Auftraggebern – Rechenschaft abzulegen.
Schließlich ist die Möglichkeit eines emotionalen Abschieds der KlientInnen vom Case
Manager professionell zu organisieren.
Warum erlaubt Case Management ein effektives und effizientes Arbeiten?
Obwohl Soziale Arbeit ein äußerst komplexes, ambivalentes und nur sehr begrenzt planbares
bzw. rationalisierbares Geschehen im zwischenmenschlichen Bereich ist („Beziehungsarbeit“)
(vgl. Kleve 1999; Kleve 2000), erlaubt das Case Management ein rationalisiertes Vorgehen,
das die KlientInnen als ExpertInnen für ihre Probleme und deren Ressourcen sowie als Nutzer
lebensweltlicher Netzwerke zu stärken vermag („Empowerment“). Es kann weiterhin die sehr
effektiven kurzzeitorientierten Beobachtungs-, Beschreibungs-, Erklärungs- und
Interventionsverfahren der systemisch-konstruktivistischen Beratung (siehe etwa PfeiferSchaupp 1995; Schweitzer/Schumacher 1995; Kleve 1996; von Schlippe/Schweitzer 1998)
integrieren.
Entgegen der klassischen Sozialen Einzelhilfe („social casework“) steigen die
SozialarbeiterInnen als Case Manager nicht so sehr in eine professionell-intensive Beziehung
mit den KlientInnen ein, sie beschränken zeitlich ihre KlientInnenkontakte und koordinieren,
moderieren und managen vielmehr die formellen und informellen Netzwerke. „Das
Aufgabenspektrum des Helfers verlagert sich von der psycho-sozialen Beziehungsarbeit zur
organisierenden, planenden, koordinierenden und kontrollierenden Abstimmung von Angebot
und Nachfrage nach Unterstützung, wobei es primäres Ziel ist, ‚potentiell auf die konkreten
Problemlagen passende Hilfen ausfindig zu machen’ (Wendt [...])“ (Galuske 1998, S. 184).
Durch diese eher distanzierte Arbeit mit den KlientInnen verringert sich, wie bereits
ausgeführt, die Möglichkeit, dass die KlientInnen von den HelferInnen bzw. von der
professionellen Hilfe „abhängig“ werden.
Vor allem angesichts von sogenannten „Multi-Problem-KlientInnen“ bzw. „-familien“ (z.B.
in den Ambulanten Hilfen), die bereits zahlreiche, nicht selten widersprüchlich und sich
gegenseitig ‚aushebelnd’ arbeitende Hilfeeinrichtungen um sich ‚gescharrt’ haben, erscheint
ein Case Management zur Effektivierung, Koordination und Abstimmung der Hilfen als sehr
günstig. Gerade bezüglich solcher „Multi-Problem-Fälle“ kommt es nicht selten „zu
kontraproduktiven und die sozialen Dienstleistungen unnötig verteuernden Überschneidungen
verschiedenster Unterstützungsangebote“ (Galuske 1998, S. 183). Die Notwendigkeit von
Case Management ergibt sich u.a. aus der für Laien zum Teil sehr unübersichtlich wirkenden
Differenzierung und Spezialisierung sozialer Dienstleistungen. Diese Differenzierung und
45
Spezialisierung macht eine Kooperation und Koordination der Angebote für die jeweiligen
Fälle notwendig.
Im Case Management steht die Ressourcen- und Netzwerkanalyse im Mittelpunkt, so dass
permanent überlegt wird, wie die klientären Stärken und Fähigkeiten so effektiv wie möglich
für die Problemlösung eingesetzt und wie die lebensweltlichen Netzwerke der KlientInnen
nach Unterstützungsmöglichkeiten ‚abgesucht’ und von den/für die KlientInnen aktiviert
werden können. Die stärkere Aktivierung der klientären Ressourcen und der lebensweltlichen
Netzwerke kann langfristig (professionelle) Zeit und Kosten sparen.
An Case ManagerInnen werden hohe organisatorisch-professionelle Anforderungen gestellt.
Eine ihrer wichtigsten Aufgaben ist es, die sozialen Dienstleistungsangebote in ihrem
Gemeinwesen sehr gut kennenzulernen, Kontakte zu Professionellen und Laien herzustellen
und langfristig tragende Netzwerke zu initiieren und zu pflegen.
Literatur:
Bullinger, Hermann; Nowak, Jürgen (1998): Soziale Netzwerkarbeit. Eine Einführung.
Freiberg/Br.: Lambertus
Fritzsche, Brigitte u.a. (1994): Wenn der Berg nicht zum Propheten kommt ... . Beiträge zur
aufsuchenden psychosozialen Arbeit mit Einzelnen & Familien. Tübingen: dgvt-Verlag
Galuske, Michael (1998): Methoden
Weinheim/München: Juventa
der
Sozialen
Arbeit.
Eine
Einführung.
Kleve, Heiko (1996): Konstruktivismus und Soziale Arbeit: Die konstruktivistische
Wirklichkeitsauffassung und ihre Bedeutung für die Sozialarbeit/ Sozialpädagogik und
Supervision. Aachen: Kersting-IBS
Kleve, Heiko (1999): Postmoderne Sozialarbeit. Ein systemtheoretisch-konstruktivistischer
Beitrag zur Sozialarbeitswissenschaft. Aachen: Kersting
Kleve, Heiko (2000): Systemtheorie und Ökonomisierung Sozialer Arbeit. Zur Ambivalenz
eines sozialarbeiterischen Trends. Berlin, unv. Ms.
Löcherbach, Peter (1998): Altes und Neues zum Case-Management – Soziale Unterstützung
zwischen persönlicher Hilfe und Dienstleistungsservice, in: Mrochen, Siegfried u.a.
(Hrsg.): Standortbestimmung sozialpädagogischer und sozialarbeiterischer Methoden.
Weinheim: Deutscher Studienverlag: S. 104-122
Neuffer, Manfred (1993): Case Management, in: Fachlexikon der sozialen Arbeit.
Herausgegeben vom Deutschen Verein für öffentliche und private Fürsorge, Frankfurt/M.:
Eigenverlag: S. 200
Pfeifer-Schaupp, H.-U. (1995): Jenseits der Familientherapie. Systemische Konzepte in der
Sozialen Arbeit. Freiburg/Br.: Lambertus
Raiff, Norma R.; Shore, Barbara K. (1993): Fortschritte im Case Management. Freiburg/Br.:
Lambertus (1997)
46
Schlippe, Arist von; Schweitzer, Jochen (1998): Lehrbuch der systemischen Therapie und
Beratung. Göttingen: Vandenhoeck&Ruprecht (5. Auflg.)
Schweitzer, Jochen; Schumacher, Bernd (1995): Die unendliche und endliche Psychiatrie. Zur
(De- ) Konstruktion von Chronizität. Heidelberg: Carl-Auer-Systeme
Wendt, Wolf Rainer (1997): Case Management im Sozial- und Gesundheitswesen.
Freiburg/Br.: Lambertus
Case Management
„Hilfe zur Selbsthilfe“ durch verstärkte Aktivierung von informellen, privaten
Hilfemöglichkeiten in den Lebenswelten der KlientInnen (im Sinne von
Subsidiarität und Empowerment) – einerseits durch Aktivierung von
klienteneigenen Ressourcen, andererseits durch Aktivierung von lebensweltlichen,
informellen Netzwerken.
2. Kostensenkung durch 1.
strikte Rationalisierung und Planung von Hilfeprozessen nach einem Phasenmodell (1.
Assessment: Einschätzung und Bedarfsklärung; 2. Zielvereinbarung und Hilfeplanung; 3.
Kontrollierte Durchführung; 4. Evaluation; 5. Rechenschaftslegung)
1.
Ziele:
Verfahren/
Mittel:
ökonomische
Leitgrößen:
intendierte
Ergebnisse:
Effizienz
Effektivität
Ergiebigkeit, d.h. Verhältnis von Aufwand (Zeit
und Personal, kurz: Kosten) zum Ertrag
(Kostengünstigkeit)
 Verringerung des profes-sionellen Personals
durch Aktivierung klienteneigener, informeller
Ressourcen und lebensweltlicher Netzwerke
 Verringerung der profes-sionellen Hilfezeit
 Verringerung der Kosten
Zielwirksamkeit, d.h. Verhältnis von
Handlungen und intendierten
Erfolgen / Ergebnissen
Strikte Selbsthilfeorientierung und
damit Verringerung der aus der
Autopoiesis Sozialer Arbeit
resultierenden Effekte des zentralen
Hilfeparadoxons („fürsorgliche
Belagerung“; Abhängigkeit vom
Hilfe-system).
Übersicht 5
47
4. Schritte helfender Kommunikation
Schritte helfender Kommunikation
1. Schritt
Kontextualisierung

Wer berichtet über den „Fall“? Woher kommt der „Fall“?

Wer ‚gehört‘ zum „Fall“? (Genogramm der Klientfamilie; Übersicht der
beteiligten HelferInnen)

Von wem soll er bearbeitet werden? Wer ist zuständig?

Welche Interessen und Erwartungen gehen von wem/von welchen Personen
(KlientInnen, HelferInnen, Dritten)/von welchen Institutionen mit dem
„Fall“ einher?
2. Schritt
Problemanalyse und Ressourcenanalyse

Was ist das/sind die Problem/e? (genaue/konkrete Beschreibung der Probleme –
wenn möglich auch aus den Sichten der jeweiligen Problembeteiligten)

3. Schritt
Was sind die Ressourcen der KlientInnen?
Modelle/Erklärungen (Hypothesen) über die Problem’ursachen‘

Welche Ursachen könnte das Problem/könnten die Probleme haben?

Wie ist das Problem/sind die Probleme sozialarbeiterisch und mithilfe der
Bezugswissenschaften Sozialer Arbeit (also soziologisch, psychologisch,
ökonomisch, politisch, rechtlich, medizinisch, anthropologisch, ethisch etc.) –
hypothetisch – erklärbar?
4. Schritt
5. Schritt
Ziele für die Problemlösung

Woraufhin soll das Problem/sollen die Probleme gelöst werden?

Was sind die Ziele für die Problemlösung/en?

Wer hat welche Ziele?
Methodische Handlungsplanung zur Problemlösung

Wer muss was wann wie womit mit wem tun, um die Ziele/die
Problemlösung(en) zu realisieren?
6. Schritt
Evaluation und Erfolgskontrolle

Welche Ziele/Problemlösungen wurden realisiert und welche nicht?

Was könnten die Ursachen/Erklärungen für die Erfolge und Misserfolge sein?
Übersicht 6
48
Zirkulärer Ablauf der Schritte helfender Kommunikation
1. Schritt
(Falleinschätzung, Kontextualisierung)
2. Schritt
(Problem- und Ressourcenanalyse)
zirkulärer Zeitpfeil
6. Schritt
(Evaluation, Dokumentation,
Berichterstattung)
3. Schritt
(Hypothesenbildung
bezüglich der Problembedingungen)
5. Schritt
(Handlungsplanung- und realisierung
- Intervention)
4.Schritt
(Zieldefinition)
Übersicht 7
49
4.1 Ressourcen
„In der systemischen Therapie wird als Ressource jedes Potential verstanden, das die
Verhaltensoptionen eines Systems erhöht und damit seine Lebens- und Problemlösefähigkeit
verbessert. Eine Ressource kann materiell-wirtschaftlicher, sozialer, emotionaler oder
intellektueller Natur sein. Die Ressourcenorientierung spielt in bezug auf das Menschenbild
und die therapeutische Haltung eine zentrale Rolle. Im Gegensatz zu einer Defizitorientierung
betont die Ressourcenorientierung die Verhaltensmöglichkeiten, die einem Klientensystem
zur Verfügung stehen“ (Simon/Clement/Stierlin: Die Sprache der Familientherapie. Ein
Vokabular. Stuttgart 1999, S. 275).
Ressourcen sind alle Fähigkeiten, die durch innere Prozesse eines Einzelnen bzw. Systems
entwickelt wurden, um
a) Überleben zu sichern;
b) kreative Lösungen für Probleme zu finden.
Ressourcen sind alles, worauf sich ein Mensch psychisch und sozial oder ein soziales System
in seinen Kommunikationen stützen kann, um mit Anforderungen erfolgreich umzugehen.
Das sind:




Fähigkeiten, Stärken, Erfahrungen, die angeboren sind oder erworben wurden;
konkrete oder besondere Erlebnisse (z.B. Erfolge);
aktuell funktionierende Quellen von Befriedigung, die die subjektive Befindlichkeit
positiv beeinflussen (z.B. Kraft-, Lust- und Sicherheitsquellen);
psychische Verarbeitungstechniken wie das Hoffen, das Vergessen, das Erinnern, das

Kompensieren oder das Ausgleichen;
förderliche systemische Kommunikationsmuster (z.B. Bestätigungen etc.).
Ressourcen sind die Basis für Kontakte, Sicherheit, Wachstum und Weiterentwicklung.
(Vgl. dazu Arbeitsblatt Ressourcen von Prof. Britta Haye, ASFH Berlin).
50
4.2 Hypothesenbildung
Wissenschaftliche Definitionen
Hypothese, allgemein:
„Hypothese, empirisch gehaltvolle Aussage, die einer Klasse von Einheiten bestimmte
Eigenschaften zuschreibt oder gewisse Ereigniszusammenhänge oder -folgen behauptet, d. h.
das Vorliegen einer Regelmäßigkeit im untersuchten Bereich konstatiert. Sie gilt stets nur
vorläufig und muss so beschaffen sein, daß ihre Überprüfbarkeit durch Beobachtung und
Experiment gewährleistet ist. Hypothesen sind die wichtigsten Bestandteile wissenschaftlicher
Erklärungen“ (Werner Fuchs u.a., Lexikon zur Soziologie, Opladen 1988, S. 320f.)
Prüfung von Hypothesen:
„[...] Die Grenzen, innerhalb deren H. als ‘richtig’ unterstellt werden können, beruhen auf
Konventionen. Sie sind also wissenschaftliche Vereinbarungen. Die Prüfung der H. zielt [...]
nicht auf den Beweis, daß der angenommene Bedeutungszusammenhang richtig ist, sondern
darauf, daß er nicht widerlegt werden kann (Falsifikationsprinzip nach Popper). Eine H. hat
nur solange Gültigkeit, solange sie nicht widerlegt werden kann. [...]“ (Deutscher Verein für
öffentliche und private Fürsorge, Fachlexikon der sozialen Arbeit, Frankfurt/Main 1993, S.
481).
Heuristische Hypothese:
„Hypothese, heuristische, unüberprüfte Vermutung über bestimmte Zusammenhänge, die nur
die Funktion hat, zu weiteren Überlegungen anzuregen“ (Werner Fuchs u.a., Lexikon zur
Soziologie, Opladen 1988, S. 321).
Hypothesen in der Sozialen Arbeit:
„[...] Sozialarbeiter arbeiten sowohl in ihrer diagnostisch-begutachtenden als auch in der
beratenden und intervenierenden Arbeit ständig mit – meist alltagstheoretisch formulierten –
Hypothesen. Im diagnostisch-begutachtenden Bereich formulieren sie Erklärungshypothesen
– etwa über die Entstehungsbedingungen devianter Karrieren im JGH-Bereich. In der
intervenierenden und beratenden Arbeit formulieren sie explizit oder implizit H. über die
wahrscheinlichen Interventionseffekte [...]“ (Deutscher Verein für öffentliche und private
Fürsorge, Fachlexikon der sozialen Arbeit, Frankfurt/Main 1993, S. 481).
51
Systemisch-konstruktivistische Ausgangsannahmen
Wir können niemals die „wahren“ Gründe bzw. Ursachen für ein psycho-soziales Problem
ermitteln. Denn psychische und soziale Systeme „funktionieren“ nach komplexen und
eigenen, von außen nicht direkt beobachtbaren Regeln. Und jede/r Beobachter/in beobachtet
nach ganz spezifischen und eigenen Regeln und Mustern, m.a.W. jede/r Beobachter/in
beobachtet anders. Daher lassen sich aus unterschiedlichen sachlichen, sozialen und zeitlichen
Dimensionen möglicherweise unendlich viele Gründe bzw. Ursachen für Probleme aufführen.
(Anmerkung: Die genannten Dimensionen lassen sich mit folgenden Fragen eingrenzen –
Sachdimension: „Anhand welcher theoretischer Vorannahmen und auf der Grundlage welcher
Informationen erkläre ich das Problem?“, Sozialdimension: „Wer erklärt das Problem und aus
welcher Perspektive?“, Zeitdimension: „Wann erkläre ich das Problem?“.) Erklärungen (also
warum etwas so beobachtet werden kann, wie es beobachtet wird) sind kontingent, sie können
in Abhängigkeit der sachlichen, sozialen und zeitlichen Dimensionen „so, aber auch anders“
sein. Auch Beschreibungen („Was wird wie beobachtet?) und Bewertungen („Welche
Bedeutung hat das, was beobachtet wird?“) sind kontingent.
Hypothesenbildung
Hypothesen sind zunächst (noch) unüberprüfte Erklärungen über die möglichen Bedingungen,
Gründe bzw. Ursachen der jeweils relevanten Probleme. Sie dienen dazu, weitere
Überlegungen (vor allem bezüglich der Problemlösung/Handlungsplanung) anzuregen.
Hypothesen sollten plausibel und schlüssig sein, d.h. durch sie sollten die bekannten
Informationen in sinnvoller Weise zu Erklärungen verknüpft werden. Hypothesen sind im
Konjunktiv, d.h. in der Möglichkeitsform zu formulieren.
Die Hypothesenbildung arbeitet daher – wie in Anlehnung an den Schriftsteller Robert Musil
gesagt werden könnte – mit dem Möglichkeitssinn: „Wer ihn besitzt, sagt beispielsweise
nicht: Hier ist dies oder das geschehen, wird geschehen, muß geschehen; sondern erfindet:
Hier könnte, sollte oder müßte geschehen; und wenn man ihm von irgend etwas erklärt, daß
es so sei, wie es ist, dann denkt er: Nun, es könnte wahrscheinlich auch anders sein“ (Robert
Musil, Der Mann ohne Eigenschaften, Reinbeck bei Hamburg 1978, S. 16).
Weiterhin sollte beim Hypothesenbilden folgendes beachtet werden:
 Hypothesen sollten beziehungsdynamisch sein, d.h. Erklärungen für (als problematisch
bewertete) Verhaltensweisen sollten sich auf die Interaktionen beziehen, in deren Kontext
die (als problematisch bewerteten) Verhaltensweisen als (Re-)Aktionen bezüglich anderer
Verhaltensweisen angesehen werden können;
 Hypothesen sollten erklären, wie, d.h. aufgrund welcher Annahmen/Modelle, welcher
(inadäquater) Problemlösungsversuche, welcher Interaktionen, welcher (relevanter)
52
Ereignisse

und
welcher
sozio-ökonomischer
Faktoren
Probleme
bzw.
(als
problematisch bewertete) Verhaltensweisen entstehen und aufrecht erhalten werden;
Hypothesen sollten erklären, durch welche (internen oder externen) Ereignisse die
Veränderungen zustande kamen, die die Probleme bzw. die (als problematisch
bewerteten) Verhaltensweisen hervorriefen.
WICHTIG: „Es geht nicht darum, die eine ‚richtige’, sondern eine sinnvolle Hypothese zu
finden oder, vielleicht besser: zu erfinden. Diese Hypothese sollte dann jederzeit auf Grund
neuer Informationen verworfen, modifiziert oder durch eine zutreffendere ersetzt werden
können“ (Helm Stierlin, Individuation und Familie, Frankfurt/Main 1989, S. 151).
53
5. Hilfsmittel bei der Fallbearbeitung
5.1 Familiärer Lebenszyklus
(nach Prof. Britta Haye, ASFH Berlin)
Phase
Paarbildung
Geburt eines Kindes
Zu bewältigende Aufgaben








Aufeinander einstellen
Klären gegenseitiger Erwartungen
Einüben von Verhaltensmustern
Ausgleich von Wertvorstellungen
Differenzierung zu den Herkunfts-familien
(Regeln finden, welche Herkunftsfamilie setzt
sich durch?)
Erweiterung des 2-er Systems
Paarbeziehung muss neu geregelt werden
Mutter-Kind-Symbiose muss gelöst werden
Einsetzen gruppendynamischer Prozesse
Dreiecksbildung (kann stabilisierende und
konfliktmildernde Funktion für die Paarbeziehung haben)
Einsetzen sozialer Kontrolle durch öffentliche
Institutionen
Kind lernt andere Beziehungen und Wertvorstellungen kennen (Loyalitätskonflikte)
„Leistung“ wird thematisiert
Autonomiebestreben des Kindes verstärkt sich
und ruft u.U. Verlustängste bei den Eltern
hervor
Entwicklung geschlechtlicher Identität
Infragestellung elterlicher Autorität
Hinwendung zu peer-groups
Ablösung vom Elternhaus
Eltern müssen Kind mehr Autonomie und
Verantwortung zugestehen
Übergang zum 2-er System
Eltern müssen sich wieder als Paar definieren
Bewältigung des Verlustes des Kindes
Kind baut sich eine Paarbeziehung auf
(Symptome können auftreten, weil
Autonomiebestrebungen evtl. boykottiert
werden; Kind phantasiert: es würde etwas
Schlimmes passieren, wenn ich raus gehe)
Ende der Berufstätigkeit
Suche nach neuem Lebenssinn
Geburt von Enkeln

Abschied







Kind kommt in die Kita/Schule


Heranwachsen des Kindes
Auszug des Kindes
Altersphase
Tod









Übersicht 8
54
5.2 Hierarchie der menschlichen Bedürfnisse nach Abraham Maslow
7. Sinnvoller Beitrag für die Menschen (Transzendenz)
6. Persönliche Weiterentwicklung
(Selbstverwirklichung)
Geistige
Bedürfnisse
Realisieren des eigenen Potentials
Wachstum und Lernfortschritt
Zunahme der Verantwortung
5. Eigenwert
Autonomie
vorhandene Kapazitäten zur Geltung kommen lassen
Selbstachtung
Psychische
4. Prestige, Status
Anerkennung durch andere
Bedürfnisse
3. Geborgenheit
sozialer Kontakt
Dazugehörigkeit
Akzeptiertsein
Geborgenheit in der Gemeinschaft
2. Sicherheit
Schutz der Gesundheit
Altersvorsorge
Vorratshaltung
Physische
1. Physische Existenz
Nahrung
Kleidung
Unterkunft
Bedürfnisse
Übersicht 9
Beachte: Die Entwicklung schreitet nach diesem Modell nicht einfach von Stufe zur Stufe
fort, vielmehr schließt jede neue (höhere) Stufe die früheren (unteren) Stufen mit ein.
55
5.3 Biologische, biopsychische und biopsychosoziale menschliche Bedürfnisse
nach Werner Obrecht
(Vgl. dazu Obrecht: Sozialarbeitswissenschaft als integrative Handlungswissenschaft. Ein metawissenschaftlicher Bezugsrahmen für die
Wissenschaft Sozialer Arbeit, in: Merten u.a. (Hrsg.): Sozialarbeitswissenschaft – Kontroversen und Perspektiven. Neuwied/Kriftel/Berlin
1996: S. 144)
I. Biologische Bedürfnisse im engeren Sinne
1. nach physischer Integrität, d.h. nach Vermeidung von Verschmutzung, das Wohlbefinden
reduzierenden (schmerzhaften) physikalischen Beeinträchtigungen (Hitze, Kälte, Nässe), Verletzungen, sowie
der Exposition gegenüber (absichtsvoller) Gewalt;
2. nach den für die Autopoiesis des Lebens erforderlichen Austauschstoffen: a)
verdaubarer Biomasse (Stoffwechsel); b) Wasser (Flüssigkeitshaushalt); c) Sauerstoff (Gasaustausch);
3. nach sexueller Aktivität und nach Fortpflanzung;
4. nach Regenerierung;
II. Biopsychische Bedürfnisse
5. nach wahrnehmungsgerechter sensorischer Stimulation durch
a) Gravitation; b)
Schall; c) Licht; d) taktile Reize (sensorische Bedürfnisse);
6. nach schönen Formen in spezifischen Bereichen des Erlebens
(Landschaften,
Gesichter, unversehrte Körper; ästhetische Bedürfnisse nach ästhetischem Erleben);
7. nach Abwechslung/Stimulation (Bedürfnis nach Abwechslung);
8. nach assimilierbarer orientierungs- & handlungsrelevanter Information:
a) nach Information via sensorischer Stimulation (Bedürfnis nach Orientierung);
b) nach einem der gewünschten Information angemessenen Code (Bedürfnis nach [epistemischem] ‚Sinn’, d.h.
nach dem Verstehen dessen, was in einem und um einen herum vorgeht und mit einem geschieht, insofern man
davon Kenntnis hat.). Im Bereich des bewussten Denkens entspricht diesem Bedürfnis das Bedürfnis nach
subjektiver Sicherheit/Gewissheit bzw. nach ‚Überzeugung’ in den subjektiv relevanten Fragen;
9. nach subjektiv relevanten (affektiv besetzten) Zielen und Hoffnung auf
Erfüllung (Bedürfnis nach subjektivem ‚Sinn’);
10. nach effektiven Fertigkeiten (Skills), Regeln und (sozialen) Normen zur
Bewältigung von (wiederkehrenden) Situationen in Abhängigkeit der subjektiv
relevanten Ziele (Kontroll- oder Kompetenzbedürfnis);
III. Biopsychosoziale Bedürfnisse
11. nach emotionaler Zuwendung (Liebe, Freundschaft, aktiv & passiv) (Liebesbedürfnis);
12. nach spontaner Hilfe (Hilfsbedürfnis);
13. nach sozial(kulturell)er Zugehörigkeit durch Teilnahme im Sinne einer
Funktion (Rolle) innerhalb eines sozialen Systems (Inklusion; Integration)
(Mitgliedschaft in Familie, Gruppe, Gesellschaft) (Sippe, Stamm, ‚Ethnie’, Region, Nationalstaat) (Mitglied zu
sein heißt, Rechte zu haben, weil man Pflichten erfüllt) (Mitgliedschaftsbedürfnis);
14. nach Unverwechselbarkeit (Bedürfnis nach biopsychosozialer Identität);
15. nach Autonomie (Autonomiebedürfnis);
16. nach sozialer Anerkennung (Anerkennungsbedürfnis)
17. nach (Austausch-)Gerechtigkeit (Gerechtigkeitsbedürfnis)
Übersicht 10
56
6. Dimensionen der Sozialarbeiterischen Beratung
Dimensionen der Sozialarbeiterischen Beratung
Auftrag/Funktion der Sozialarbeiterin bzw. des Sozialarbeiters während der BeratungsInteraktion:
„Hilf uns, unsere Möglichkeiten/Optionen zu nutzen bzw. zu erweitern“
bzw.
„Handle stets so, dass du die Anzahl der Möglichkeiten erweiterst.“ (Heinz von Förster)
„Steigere die Alternativität.“ (Peter Fuchs)
sozio-ökonomische Dimension
psycho-soziale Dimension
sach- bzw. informationsorientiert
beziehungs- und/oder emotionsorientiert
Erweiterung des Wissens
Nutzung und/oder Erweiterung der sozialen,
emotionalen und kognitiven Kompetenzen
professionelle Kompetenzen/Grundlagen:
professionelle Kompetenzen/Grundlagen:
u.a.
u.a.
Rechtskompetenz
Gesprächsführungskompetenz
Verwaltungs-/Management-/ OrganisationsKompetenz
Adressatenkompetenz
Kontextkompetenz
sozialpolitische Kompetenz
Konfliktfähigkeit
Gemeinwesenkompetenz
Selbsterfahrung/Selbstreflexion
Übersicht 11
57
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