Zur Integration der beruflichen Bildung in das Bildungssystem

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Nr. 5 /2006 von Theorie und Praxis der sozialen Arbeit (Fachzeitschrift der Arbeiterwohlfahrt Bundesverband)
Ilse R. Schur
Zur Integration der beruflichen Bildung in das Bildungssystem:
Berufsausbildung mit Abitur
Hinter dem alljährlich wiederkehrenden Drama auf dem dualen Ausbildungsmarkt
- großer Mangel an betrieblichen Ausbildungsplätzen auf der einen und auch
unbesetzte Stellen auf der anderen Seite – verbergen sich tief greifende
Veränderungen in den Kompetenzanforderungen des Beschäftigungssystems im global
orientierten Dienstleistungs- und Wissenszeitalter. Diese Veränderungen erfordern
andere und neue Kombinationen von theoretischem und praktischen Lernen als das in
dem betriebsgebundenen dualen Ausbildungssystem üblich und möglich ist. Das hat
jüngst auch der neue Bildungsbericht (Bildung in Deutschland 2006) – ein
indikatorengestütztes Auftragswerk der Kultusministerkonferenz (KMK) und des
Bundesbildungsministeriums (BMBF) – bestätigt.
Gefordert sind Veränderungen im deutschen Schulsystem, die schulisch-theoretisches
Lernen mit praktischem (produktiven) Lernen verbinden und systematisch aufeinander
beziehen. Für die eher berufspraktisch orientierten Jugendlichen sollten solche
Bildungsgänge auch zur Hochschulreife führen: Berufsausbildung mit Abitur.
Vor dem Hintergrund spezifisch deutscher (Kultur-)Traditionen und vielfach
gescheiterter Versuche, das allgemein bildende Schulsystem in Deutschland
grundlegend zu reformieren, liegen Ansatzpunkte dafür weniger im allgemein bildenden
Schulsystem, sondern in den bislang noch relativ unterentwickelten berufsbildenden
Schulen, vor allem der Berufsfachschule. Insbesondere für Jugendliche aus
bildungsfernen Schichten könnte damit ein „zweiter (alternativer) Weg“ eröffnet werden,
der in zeitgleichen und integrierten Bildungsgängen eine abgeschlossene
Berufsausbildung mit der Erlangung der Hochschulreife verbindet und damit den heute
notwendigen Ausgangspunkt für „lebenslanges Lernen“ herstellt.
Die tradierte Trennung von allgemeiner und beruflicher Bildung
Das allgemein bildende Schulsystem und das berufsbildende System sind in
Deutschland strikt getrennt. Es gibt keine Verbindungen zwischen den beiden
Bereichen, insbesondere für die duale Ausbildung keine Durchlässigkeit zur
Studienberechtigung und damit zum Hochschulsystem. Wer ohne Abitur in eine duale
Berufsausbildung geht, endet deshalb im Prinzip immer noch in einer Sackgasse.
Das ist das Ergebnis von gescheiterten Versuchen in den 60er Jahren, dem
traditionellen Gymnasium ein alternatives Bildungsmodell an die Seite zu stellen. Die
(machtvollen) Verteidiger einer traditionell ausgerichteten Hochschulreife haben es
geschafft, solche Vorstellungen ziemlich schnell zu Fall zu bringen, so dass sich auch
die Curricula für den zweiten Bildungsweg und andere alternative Hochschulzugangsmöglichkeiten bis heute an den traditionell gymnasialen Bildungsmustern des
19. Jahrhunderts ausrichten. Diese Bildungsmuster sind den sog. bildungsfernen
Schichten relativ fremd: psychologisch und auch milieubedingt. Auch zweite
Bildungswege haben in Deutschland vor allem die Funktion „gymnasialer
Nachholwege“. Das sind entsagungsvolle Sonderwege im additiven Verfahren, die
auf relativ kleine Gruppen von sozialen Aufsteigern begrenzt bleiben.
Ebenso sind in den Zeiten der „großen Bildungsreform“ in (West-) Deutschland
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(1965 – 1975) mit dem Anspruch, „Bildung als Bürgerrecht“ (Ralf Dahrendorf) zu
realisieren, alle Ansätze zur Doppelqualifizierung, d.h. der Erwerb von Hochschulreife
und Berufsqualifikationen in zeitgleichen und integrierten Bildungsgängen, gescheitert.
Herausragende Beispiele sind der groß angelegte Kollegschulversuch in NRW und
der Versuch der Einrichtung von integrierten Oberstufenzentren in Berlin in den 70er
Jahren. Heute erinnert sich kaum noch jemand an die ursprünglichen Ziele dieser
Reformversuche. Zentral ging es nämlich um die Öffnung (!) der gymnasialen
Oberstufe für berufsbezogene Fachrichtungen und damit um die Integration von
allgemeiner und beruflicher Bildung (Vgl. W.-D. Greinert 2003).
Geblieben ist in beiden Fällen - und auch anderwärts - nicht mehr als eine
Neuordnung des beruflichen Schulwesens – neben den Gymnasien verschiedener
Typen und den gymnasialen Oberstufen an Gesamtschulen - , das auch nur für sog.
„Schulberufe“ oder auch Assistentenberufe unter strikter Ausklammerung des großen
Bereichs der anerkannten Ausbildungsberufe im Dualen System. Letztere verblieben
in der Verwaltung und im Prüfungsmonopol durch die Kammern, also bis auf die sog.
Teilzeitberufsschule aus dem öffentlichen Bildungssystem ausgegliedert.
Eingegliedert in das berufliche Schulwesen wurden dann in der Folgezeit (ab etwa
1970 mit steigender Tendenz) noch verschiedene Bildungsgänge zum Nachholen von
Schulabschlüssen und auch zur Erlangung der Hochschulreife - die Fachoberschulen
und auch die Berufsoberschulen (nach bayerischem Muster), die durchweg die
mittlere Reife und eine abgeschlossene Berufsausbildung voraussetzen und dann im
additiven Verfahren in ein bis zwei Jahren zur Hochschulzugangsberechtigung
führen, bislang allerdings überwiegend nur zur Fachhochschulreife.
Die Trennung beider Systeme hatte in der Vergangenheit bis in die Gegenwart hinein
eine wechselseitig stabilisierende Wirkung für beide Systeme. Die frühe
Ausgliederung der breiten Massen aus dem öffentlichen Bildungssystem – im Alter
von 15 / 16 Jahren (bis in die 60er Jahre hinein noch 14 Jahre!) sicherte den
bürgerlichen Schichten (und dem diesen Schichten zugeordneten Lehrpersonal) die
Exklusivität ihrer „höheren Bildung“ und damit auch die besseren Positionen in
unserer Gesellschaft. Auf der anderen Seite hatten die Industrie und vor allem das
Handwerk – als der eigentliche Ursprung des Dualen Systems in Deutschland – ein
hohes Interesse daran, sich ihren Nachwuchs möglichst frühzeitig nach eigenen
Vorstellungen und Mustern zu modellieren. Honoriert werden die Jugendlichen dafür
mit relativ hohen Ausbildungsvergütungen und frühzeitig erworbenen Ansprüchen im
sozialen Sicherungssystem, Ansprüche, die Hochschulstudenten während ihres
Studiums nicht erwerben. Diese Praxis ist auch ein Beleg für die Tatsache, dass
Sozialpolitik für die breiten Massen in Deutschland seit Bismarck primär als materielle
Absicherung der sog. Lebensrisiken (Alter, Krankheit, Arbeitslosigkeit etc.) verstanden
wurde und noch wird. Der bestmögliche Zugang zu Bildung wird bislang nicht als
Sozialpolitik verstanden, ist aber heute die wichtigste Voraussetzung für soziale
Teilhabe im weitesten Sinne, nicht nur in der Arbeitswelt (vgl. M. Opielka 2004).
Hintergrund ist ein Bildungsverständnis, das Wilhelm von Humboldt für Deutschland
nachhaltig folgendermaßen bestimmte: „Alle Schulen aber, deren sich nicht ein
einzelner Stand, sondern die ganze Nation oder der Staat für diese annimmt, müssen
nur allgemeine Menschenbildung bezwecken. Was Bedürfnisse des Lebens oder
eines einzelnen seiner Gewerbe erheischt, muss abgesondert, und nach vollendetem
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allgemeinen Unterricht erworben werden. Wird beides vermischt, so wird Bildung
unrein, und man erhält weder vollständige Menschen, noch vollständige Bürger
einzelner Klassen.“ (zit. nach Rothe 2004, S. 83).
Bildung im Dienstleistungs- und Wissenszeitalter
Wie in allen „Sonntagsreden“ immer wieder betont wird, geht es in dem
heraufziehenden Wissenszeitalter um die bestmögliche Bildung für alle, unabhängig
von sozialer und ethnischer Herkunft. Auch vor dem Hintergrund der demografischen
Entwicklung in Deutschland gewinnt dieses Ziel eine große Bedeutung: „In Zukunft
muss Deutschland mit weniger Köpfen mehr Leistung erzielen. Unzureichend
ausgebildete junge Menschen gefährden somit Wohlstand und Wachstum.“ (Kröhnert
et al. 2006, S. 27).
In Verbindung mit Zeiten des konjunkturellen Aufschwungs (50er /60er Jahre)
funktionierte die Trennung zwischen allgemeiner und beruflicher Bildung im
auslaufenden Industriezeitalter noch relativ gut, zumal der industrielle „Facharbeiter“
als neue Sozialfigur neben dem Handwerker einen relativ angesehenen sozialen
Status und auch ein zufrieden stellendes Einkommen genoss. Im Übergang von der
Industriegesellschaft in die Dienstleistungs- und Wissensgesellschaft im Zeitalter der
Globalisierung funktioniert das alles nicht mehr.
Stichworte sind:
 Radikale Veränderungen in den Produktionsweisen der Industrie: elektronische
Steuerung.
 Outsourcing ganzer Abteilungen und Verpflanzung ganzer Produktionsstätten
über die Landesgrenzen hinweg.
 Umstrukturierungen insbes. der Großbetriebe im globalen Wettbewerb.
 Flexibilisierung mit der Konsequenz lebenslangen Lernens (vgl. Richard
Sennett1998).
Das sind die strukturellen Bedingungen, warum sich die Großbetriebe zunehmend von
eigener Ausbildung verabschieden, eine Lücke, die durch Klein- und Mittelbetriebe
nicht kompensiert werden kann, weil die Ausbildungsbedingungen dort – Ausbildungspersonal und die meist hohe Spezialisierung - kaum die notwendigen Qualitätsbedingungen erfüllen können.
Zwar gilt Deutschland bis heute als das Industrieland par excellence unter den hoch
entwickelten Gesellschaften des Westens. Gleichwohl hat in den letzten Jahrzehnten
– wenn auch verspätet gegenüber anderen Staaten – die Verschiebung von der
Industrie- zur Dienstleistungsökonomie stattgefunden. Inzwischen ist der
Dienstleistungssektor (tertiärer Sektor), bezogen sowohl auf die Bruttowertschöpfung
als auch auf die Erwerbsstruktur, der weitaus größte Sektor der Volkswirtschaft. Von
1970 bis 2004 wuchs der Anteil der im Dienstleistungssektor Erwerbstätigen um 28 %
auf insgesamt 71 % (Bildung in Deutschland 2006, S. 14).
Hinter dem Wandel in der Erwerbsstruktur verbergen sich weitreichende
Veränderungen sowohl von Tätigkeits- und Kompetenzprofilen in der Erwerbsarbeit
als auch in den gesellschaftlichen Kommunikationsformen:
„Dominiert bei handwerklichen und industriellen Tätigkeiten der Umgang mit
Werkzeugen, Maschinen und Materialien, so steht bei Dienstleistungsarbeit die
Kommunikation mit Personen und der Umgang mit Symbolen und Wissen im
Vordergrund – Tätigkeitsinhalte, die heute freilich auch in vielen Bereichen der
industriellen Produktion eine Rolle spielen.“ (Bildung in Deutschland 2006, S. 15)
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Gefordert ist heute immer weniger der Facharbeiter traditioneller Prägung, sondern
das, was Robert Reich den Symbolanalytiker genannt hat mit vier grundlegenden
Fähigkeiten: Abstraktion, Systemdenken, Experimentieren und Zusammenarbeit (R.
Reich 1993). Bedingt durch die internationale Öffnung der Arbeitsmärkte kommen
dazu noch die unerlässlichen Komplementärqualifikationen wie Weltoffenheit,
Sprachkenntnisse, Verständnis fremder Kulturen und Mobilitätsfähigkeit, die sowohl
für grenzüberschreitende als auch für die innerbetriebliche Kooperation in gemischten
Belegschaften erforderlich sind.
Das setzt andere Kombinationen von theoretischem und praktischen Lernen voraus,
als das in Deutschland mit der Prädominanz betrieblicher Ausbildung im Dualen
System üblich ist, und ein insgesamt höheres Qualifikationsniveau. Entsprechend
bevorzugen die Betriebe - wenn sie denn noch ausbilden – für ihre Ausbildungsverträge heute AbiturientenInnen und RealschülerInnen mit guten Abschlüssen. Damit
wird eine der großen Stärken des Dualen Systems in Frage gestellt, gerade Kinder
aus bildungsschwächeren Schichten durch eine betriebsgebundene Ausbildung in den
Arbeitsmarkt integrieren zu können.
Folgen auf dem dualen Ausbildungsmarkt
Folge dieser veränderten Verhältnisse ist die Lage auf dem Ausbildungsmarkt, in der
immer mehr Jugendliche komplett aus beiden Systemen herausfallen, aus dem
allgemein bildenden und dem berufsbildenden System. Nach Erfüllung der minimalen
Schlupflicht von 9 Jahren – mit welchem Ergebnis auch immer – ist die Schule nicht
mehr zuständig und die Wirtschaft nimmt sie nicht auf. Also landen sie meist bei der
Bundesagentur für Arbeit, in den Job Centern, zunehmend auch in berufsbildenden
Schulen, die aber mit ihren Abschlüssen nicht anerkannt sind, solange die
betriebsgebundene Ausbildung im Dualen System in Deutschland als das einzig
gültige Regelsystem für die Berufsausbildung unterhalb der Hochschulebene
angesehen wird.
Nach relativ undurchschaubaren und verstreuten Statistiken befinden sich aktuell etwa
1,5 Mio. junge Menschen unter 25 Jahren (rd. 20 % und mehr der einzelnen
Jahrgänge) in diversen Warteschleifen der berufsbildenden Schulen und der
Bundesagentur für Arbeit (die Dunkelziffer auf dem Schwarzmarkt nicht mit
gerechnet), die ihnen keine anerkannten Abschlüsse bringen und deshalb eher
demotivierend wirken (vgl. Schur 2006). Der neue Bildungsbericht (Bildung in
Deutschland 2006) bezeichnet diesen Sektor als das „berufliche Übergangssystem“,
d.h. (Aus-) Bildungsangebote, die unterhalb einer qualifizierten Berufsausbildung
liegen. Betroffen davon sind nicht nur HauptschülerInnen mit und ohne Abschluss,
sondern zunehmend auch RealschülerInnen. 2004 startete jeder vierte Neuzugang
mit Mittlerem Abschluss seine Berufsausbildung im Übergangssystem (Bildung in
Deutschland 2006, S. 82).
Das ist der eigentliche Skandal: Die Vergeudung von Lernmotivation, Potenzialen und
auch von materiellen Ressourcen in großem Umfang mit dem Ergebnis der
Ausgrenzung als Langzeitarbeitslose.
Das durchschnittliches Eintrittsalter für eine anerkannte Ausbildung im Dualen System
ist mittlerweile 19,3 (1970: noch 16, 6). Deshalb sind auch alle internationalen
Vergleiche zur Jugendarbeitslosigkeit, wonach Deutschland immer noch relativ
günstig dasteht (was dann dem Dualen System positiv gutgeschrieben wird),
irreführend, weil sich die jungen Menschen unter 25 Jahren in Deutschland meist
entweder in Warteschleifen oder noch in Ausbildung befinden und deshalb nicht als
arbeitslos gelten.
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Auf der anderen Seite produziert unser Bildungssystem zu wenig Studienberechtigte,
also Absolventen mit Abitur oder Fachhochschulreife, wie die internationalen
Vergleiche der OECD immer wieder ausweisen. Die Studienanfängerquote beträgt in
Deutschland aktuell 36 % der Jahrgänge, das OECD-Mittel ist 53 % und in vielen
anderen Ländern (Neuseeland, Schweden, Finnland etc.) 70 % und mehr.
Rund zwei Drittel aller AbiturientenInnen erwerben ihren Abschluss an allgemein
bildenden Schulen (zumeist Gymnasien) und ein Drittel an berufsbildenden Schulen.
Das bedeutet, dass der sog. „Königsweg“ zur Hochschulreife, die gymnasiale Bildung,
eine Abiturientenquote von nur rd. 25 % der Jahrgänge erreicht.
Neue Ansätze zur Integration der beruflichen Bildung in das Bildungssystem
Nach den Erfahrungen der 60er und 70er Jahre zur Öffnung der gymnasialen
Oberstufe für berufsbezogene Fachrichtungen und auch den gescheiterten
Versuchen, die Gesamtschule flächendeckend einzuführen, muss realistischerweise
davon ausgegangen werden, dass die komplette Abschaffung des (hochselektiven)
dreigliedrigen Schulsystems und damit auch der tradierten „gymnasialen Bildung“ im
(deutschen) „Land der Dichter und Denker“ bis auf weiteres keine gesellschaftliche
Akzeptanz finden wird.
Ebenso muss offenbar angenommen werden, dass Forderungen nach der Abschaffung des dualen Ausbildungssystems im Bereich der Sekundarstufe II keine
Akzeptanz und damit auch keine Durchsetzbarkeit erlangen werden.
Die korporatistische Organisationsform des deutschen dualen Ausbildungssystems
mit dem Schwerpunkt auf betriebsgebundenem Lernen ist bekanntlich – weltweit – ein
Unikat. In der deutschen Bevölkerung hat das System eine ähnlich tief verwurzelte
Tradition wie das Gymnasium. Eltern aus nicht bürgerlichen, sog. bildungsfernen
Schichten sagen deshalb noch heute: Mein Sohn oder meine Tochter soll etwas
Praktisches, „Handfestes“ und Vernünftiges lernen. Deshalb gebe ich ihn / sie in eine
Lehre. Eine berufspraktisch orientierte Ausbildung nach der Pflichtschulzeit hat
demnach für die Mehrheit der Jugendlichen nach wie vor eine hohe Attraktivität. Das
bestehende Ausbildungssystem kann aber den Ausbildungsbedarf schon seit
Jahrzehnten, verschärft seit Beginn der 90er Jahre, weder quantitativ noch qualitativ
erfüllen.
Vor diesem Hintergrund haben unsere deutschsprachigen Nachbarländer mit ähnlich
langen Traditionen in der betrieblichen Berufsausbildung wie auch in der gymnasialen
Bildung Ergänzungen des dualen Ausbildungssystems im Schulsystem geschaffen.
Seit etwa 1970 fand in Österreich eine stürmische Aufwärtsentwicklung der
berufsbildenden Vollzeitschulen statt. Mit der Einführung der Bundesverfassung
(1920) waren die Staatsgewerbeschulen aus dem 19. Jahrhundert in Bundesgewerbeschulen umbenannt worden. Nachfolgeschulen sind die heutigen höheren
berufsbildenden Schulen (BHS), die in insgesamt fünf Jahren – nach acht Jahren
Pflichtschule – eine Doppelqualifikation vermitteln: Berufsausbildung mit Abitur.
Bekanntlich hat es das auch in der DDR gegeben, wurde aber mit der „Wende“ in
Deutschland abgeschafft. Daneben gibt es die Kurzvariante von drei bis vier Jahren
an der mittleren berufsbildenden Vollzeitschule (BMS) mit einem Berufsabschluss, der
dem Abschluss einer betrieblichen Lehre tarifvertraglich gleichgestellt und
anschlussfähig für die BHS ist. Faktisch ist die betriebliche Lehre meist enger
(spezialisierter), während die in berufsbildenden Schulen erworbenen Qualifikationen
im Allgemeinen auf Berufsgruppen ausgerichtet sind.
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Ergebnis dieser Entwicklungen in Österreich ist, dass es faktisch keine Abiturienten in
der dualen Ausbildung gibt und damit auch keinen Verdrängungswettbewerb für die
Absolventen der Pflichtschulen auf dem Lehrstellenmarkt. Das durchschnittliche
Eintrittsalter in eine Berufsaubildung ist 16 Jahre. Das bedeutet, dass es
nennenswerte Warteschleifen für die Jugendlichen nicht gibt (Schneider 2001). Aktuell
durchlaufen 80 % eines Jahrganges eine berufliche Erstausbildung, davon 42 % im
Dualen System, 25 % an einer berufsbildenden mittleren Schule (BMS) sowie 33 % an
einer berufsbildenden höheren Schule (BHS) (unveröffentlichtes Papier aus dem
„Innovationskreis Berufsbildung“ beim BMBF).
Nach dem neuen Berufsbildungsgesetz, das in der Schweiz am 1.1.2004 in Kraft
getreten ist, kann auch in der Schweiz grundsätzlich jeder Beruf sowohl im
betriebsgebundenen dualen System als auch in einer Vollzeitschule erlernt werden.
Das neue Gesetz umfasst alle Berufe unterhalb der Hochschulebene, also auch die
Sozial- und Gesundheitsberufe. Faktisch konzentrieren sich die vollzeitschulischen
Angebote bislang auf eine begrenzte Zahl von Berufen: primär kaufmännische Berufe
an den Handelsmittelschulen, neuerdings auch den IT- und Medienbereich.
Vollzeitschulische Angebote mit der Möglichkeit der Doppelqualifikation (Berufsmatura
im Sinne von Fachhochschulreife) gab es schon vor Inkrafttreten des neuen
Gesetzes, für die allgemeine Hochschulreife sind solche Angebote noch in der
Entwicklung befindlich, wobei man sich hiervon – ähnlich wie in Österreich – auch
verspricht, die im internationalen Vergleich relativ niedrige Abiturientenquote zu
steigern.
Die neueren Berufsbildungssysteme beider Länder zeichnen sich dadurch aus, dass
sie insbesondere den Jugendlichen aus bildungsfernen Schichten, für die der Besuch
eines Gymnasiums häufig nicht machbar oder nicht erstrebenswert erscheint, nach
dem Abschluss der Sekundarstufe I einen zweiten Weg eröffnen, der notwendige
Allgemeinbildung und berufliche Qualifizierung miteinander verbindet. Dieser zweite
Weg ermöglicht ihnen somit nicht nur den angestrebten praxisbezogenen
Berufsabschluss, sondern berechtigt auch zu weiterführenden Bildungsgängen im
tertiären Bereich.
Berufsfachschulen ausbauen und weiterentwickeln
Für Entwicklungen in der skizzierten Richtung bieten sich in Deutschland die
Berufsfachschulen (BFS) an, die in den einzelnen Bundesländern (NRW:
Berufskollegs) in unterschiedlichem Maße ausgebaut sind, am differenziertesten in
Baden/Württemberg und in den Ost-Ländern (vgl. dazu die jährlichen
Berufsbildungsberichte).
Eine Bewegung in dieser Richtung würde an die Vorstellungen der Reformer der
60er Jahre (Kerschensteiner / Abel) anknüpfen, Arbeit und Bildung in einen
didaktischen Zusammenhang zu bringen und alternative Bildungsgänge in der Form
berufsbezogener Bildungsgänge im deutschen Schulsystem einzurichten (vgl.
Greinert 2003).
Grundsätzlich sind schulisch organisierte und damit „aus einer Hand“ gesteuerte
berufliche Bildungsgänge besser geeignet, den gewachsenen Anforderungen an
allgemeinen Grundlagenkenntnissen und fachpraktischer Kompetenz im
Beschäftigungssystem zu entsprechen, als das duale Ausbildungssystem mit seinen
geteilten Zuständigkeiten: für die Teilzeitberufsschule die Länder und für die
betriebliche Ausbildung der Bund in Verbindung mit den Sozialpartnern und
Kammern. Schulisch organisierte Bildungsgänge können auch besser als das Duale
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System in zeitgleichen und integrierten Bildungsgängen, d.h. einer fortlaufenden
Integration von allgemeiner und beruflicher Bildung, den Erwerb von Schul- und
Berufsabschlüssen bis zur Hochschulreife ermöglichen. In modularisierter Form kann
das auch gestuft erfolgen, mit voller Durchlässigkeit zwischen den einzelnen Stufen.
Damit ist eine schulisch organisierte Berufsausbildung besser als das Duale System
geeignet, sich auch auf die neuen Anforderungen im europäischen Rahmen, den
europäischen Qualifikationsrahmen (EQF) einzustellen.
Durch die formelle Festlegung der Eingangsvoraussetzungen auf das Hauptschulniveau (die Realität sieht anders aus), starre und monolithische
Ausbildungsgänge und das formell einheitliche Niveau der Berufsabschlüsse
bleibt die deutsche duale Ausbildung der Zertifizierung einzelner Module
verschlossen. Deshalb werden duale Ausbildungsgänge bei europäischen
Entsprechungsverfahren wahrscheinlich im unteren Bereich eingestuft werden
(Severing 2005).
Trotz anders lautender Behauptungen ist eine systematische Verbindung und auch
didaktische Verzahnung von Theorie und Praxis im dualen Ausbildungssystem mit
seiner korporatistischen Verfassung nicht gegeben. Die dauerhaften
Auseinandersetzungen mit den Sozialpartnern über einen zweiten Berufsschultag
sind dafür ein Beleg. Auch die neuerdings stärker geforderte sog.
„Lernortkooperation“ zwischen Schule und Betrieb ist mit den geteilten
Zuständigkeiten faktisch kaum realisierbar. Aus ihrer Sicht haben Betriebe in der
vertraglich betriebsgebundenen Ausbildung vor allem ein hohes Interesse an
maximalen Anwesenheiten der Auszubildenden im Betrieb und beurlauben die
Jugendlichen deshalb nur ungern für Sonder- und Zusatzkurse, sei es auch nur für
die heute allseitig geforderten Fremdsprachenkenntnisse.
In ihrem derzeitigen Entwicklungsstand weisen auch die Berufsfachschulen noch
eine Reihe von Schwachstellen auf, die Doose in zehn Punkten zusammengefasst
hat. Hauptdefizit ist die mangelnde oder unzureichende Einbeziehung von
Betriebspraxis (Doose 2005).
Für die notwendige Betriebspraxis könnten gezielt die (zahlreichen) Betriebe
angesprochen werden, die nicht an der dualen Ausbildung beteiligt sind. Die
Betriebspraktika wären von den Schulen qualifiziert zu begleiten und zu betreuen.
Nach dem Grundsatz der Alternanz (vgl. Rothe 2004) könnten sie damit – anders als
in der dualen Ausbildung – in einen systematischen Bezug zu den schulischen
Lernphasen gebracht werden.
Übergreifende strukturelle Lösungen für die übrigen Schwachstellen der Berufsfachschulen (z.B. noch zu schaffende bundesweit geltende Rahmenlehrpläne und
standardisierte Abschlüsse) müssten von den zuständigen Landesministerien im
Zusammenwirken mit den jeweiligen Landesinstituten und Hochschulen pragmatisch
und kurzfristig angegangen und auf der Ebene der Kultusministerkonferenz (KMK)
untereinander abgestimmt werden. Um die Akzeptanz einer neuen Berufsfachschulkonzeption im Beschäftigungssystem umfassender und schneller zu erreichen,
schlägt Doose vor, dass auf der Grundlage eines von der KMK zu erstellenden
Eckwertekonzeptes mit dem Bund unter Wahrung der verfassungsrechtlichen
Verantwortung eine „Länder-Bund-Kooperationsvereinbarung BFS“ zur Abstimmung
von Strukturen und Inhalten der neuen BFS abgeschlossen wird. Dabei geht Doose
davon aus, dass dieses alles im Rahmen der gegebenen verfassungsrechtlichen
Ordnung möglich und machbar ist. Man muss es nur wollen.
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Blockaden und Barrieren
Damit ist der entscheidende Widerstand benannt. Denn ein (konzertierter) politischer
Wille in diese Richtung zeichnet sich bislang in Deutschland nicht ab. Wie das
jüngste Gesetzgebungsverfahren zur Novellierung des Berufsbildungsgesetzes
(BBiG) wieder gezeigt hat, beharren die verantwortlichen politischen Akteure, allen
voran die Sozialpartner, nach wie vor auf der monopolartigen Beherrschung des
Ausbildungsmarktes durch das betriebsgebundene „Duale System“.
Die Schlussfassung des Gesetzes, das am 1.4.2005 in Kraft getreten ist, wird
bestimmt vom Änderungsantrag der Fraktionen SPD, CDU/CSU und Bündnis 90/Die
Grünen, der von einem gemeinsamen Entschließungsantrag zum Gesetzentwurf der
Bundesregierung begleitet ist. Entgegen den im Gesetzgebungsverfahren vielfach
vorgetragenen kritischen Vorbehalten findet sich in diesem Dokument ein
rückhaltloses Bekenntnis des Gesetzgebers zum Dualen System. Nochmals werden
die drei bewährten Grundprinzipien – Verbindung von Lernen im Arbeitsprozess und
in der Schule, die Beruflichkeit der Ausbildung und das Konsensprinzip zwischen
Sozialpartnern und Bundesregierung – beschworen. Das aktuell zu beschließende
Gesetz, so wird formuliert, solle dazu beitragen, „den Trend zur Verstaatlichung der
Berufsausbildung zu stoppen“ (A- Drucksache 15 (17) 277). Entsprechend restriktiv
und zeitlich befristet (!) sind die neuen Bestimmungen zur Anrechnung von schulisch
erworbenen Teilqualifikationen und zur Zulassung von vollzeitschulischen
Ausbildungen zur Kammerprüfung (§§ 7 und 43 Abs.2 BBiG) gefasst.
Vor diesem Hintergrund ist offenkundig noch viel Aufklärungsarbeit zu leisten, um die
politisch Verantwortlichen davon zu überzeugen, dass es sich bei den Problemen auf
dem Ausbildungsmarkt nicht um vorübergehende / konjunkturelle Probleme handelt,
sondern um massive strukturelle Probleme, d.h. Veränderungen im Beschäftigungssystem, die unser ganzes Bildungssystem betreffen und die Mehrheit unter den
jungen Menschen. Denn immer noch streben knapp zwei Drittel der Jahrgänge nach
der Sekundarstufe I eine eher berufspraktische Ausbildung an. In weitgehend
ideologisch und machtpolitisch geprägten Grabenkämpfen zwischen den politisch
Verantwortlichen und den Sozialpartnern wird diesen jungen Menschen die
Realisierung ihrer Bildungsansprüche und die Anerkennung schulisch erworbener
Qualifikationen in großem Maßstab verwehrt.
Wie aus Arbeitspapieren des von Bundesbildungsministerin Schavan jüngst
eingerichteten „Innovationskreises Berufsbildung“ bekannt wurde, soll nunmehr
erneut der Versuch unternommen werden, vollzeitschulische Ausbildungen an
berufsbildenden Schulen und das Duale System besser miteinander zu verknüpfen.
Von der Einrichtung doppelt qualifizierender Bildungsgänge – Berufsausbildung mit
Abitur – ist bislang nicht die Rede. Das aber wäre unter den veränderten
Bedingungen auf dem Arbeitsmarkt die entscheidende Voraussetzung für die
nachhaltige Positionierung eines qualifizierten Ausbildungssystems unterhalb der
Hochschulebene in Deutschland. Damit würden den jungen Menschen, die eine
berufspraktische Ausbildung anstreben, die einer Wissensgesellschaft
angemessenen Optionen eröffnet und zugleich – bei entsprechender Stufung der
Ausbildungen in modularisierter Form – auch qualifizierte Abschlüsse für die
Leistungsschwächeren unter den Jugendlichen.
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Nr. 5 /2006 von Theorie und Praxis der sozialen Arbeit (Fachzeitschrift der Arbeiterwohlfahrt Bundesverband)
Literatur
- Doose, Carl-Heinz, Berufsfachschulen weiterentwickeln!, in: BWP 5 / 2005
- Greinert, Wolf-Dietrich, Das „deutsche System“ der Berufsausbildung. Tradition,
Organisation, Funktion, 3. Auflage, Baden-Baden 1998
- Greinert, Wolf-Dietrich, Realistische Bildung in Deutschland, Hohengehren 2003
- Greinert, W.-D. / Schur, I.R. (Hrsg.), Zwischen Markt und Staat –
Berufsbildungsreform in Deutschland und in der Schweiz, Berlin 2004
- Konsortium Bildungsberichterstattung (Hrsg.), Bildung in Deutschland, Bielefeld
2006 (www.bildungsbericht.de)
- Kröhnert, Steffen et al., Die demografische Lage der Nation – Wie zukunftsfähig
sind Deutschlands Regionen, München 2006
- Opielka, Michael, Sozialpolitik – Grundlagen und vergleichende Perspektiven,
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- Reich, Robert, Die neue Weltwirtschaft – Das Ende der nationalen Ökonomie,
Berlin 1993
- Rothe, Georg, Die Systeme beruflicher Qualifizierung Deutschlands, Österreichs
und der Schweiz im Vergleich, Villingen-Schwenningen 2001
- Rothe, Georg, Alternanz – die EU-Konzeption für die Berufsausbildung, Karlsruhe
2004
- Schneider, Wilfried, Berufliche Erstausbildung zwischen Vollzeitschule und dualem
System – Eine Analyse aus österreichischer Sicht, in: Rothe 2001
- Schur, Ilse R., Die deutsche Berufsbildungskatastrophe – Wie Jugendlichen im
Ausbildungssystem die Realisierung ihres Bildungsanspruchs verwehrt wird, in:
Supplement 1 / 2006 der Zeitschrift Sozialismus
- Sennett, Richard, Der flexible Mensch – die Kultur des neuen Kapitalismus, Berlin
1998
- Severing, Eckart, Europäisierung der beruflichen Bildung, in: Perspektiven des
Berufskonzepts – Die Bedeutung des Berufs für Ausbildung und Arbeitsmarkt, IABBeiträge zur Arbeitsmarkt- und Berufsforschung, Nürnberg 2005
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