Pressezentrum Dokument: 1/018 CO Sperrfrist: Freitag, 15. Juni 2001; 15:00 Uhr Programmbereich: Themenbereich 1: In Vielfalt glauben Veranstaltung: Arbeitsgruppe Christentum und Wahrheit Referent/in: Prof. Dr. Gianni Vattimo, MdEP, Philosoph, Turin / Italien Ort: Messe, Halle 6.1, Ludwig-Erhard-Anlage 1 (Innenstadt) Die christliche Botschaft und die Auflösung der Metaphysik Jesu Antwort und Pilatus Frage: „Was ist die Wahrheit?“ wartet immer noch darauf, in ihrer ganzen Tragweite verstanden zu werden. Eine Tragweite, die sicherlich nicht ein für allemal erschöpft werden wird, die aber heute – unter den Umständen der spät- bzw. postmodernden Christenheit – eine neue, wenn auch nicht endgültige, Bedeutung erlangt. „Ich bin die Wahrheit“, sagt Jesus; schwierig sich vorzustellen, dass er damit meint: ich bin die Übereinstimmung von Ding und Verstand, oder die Summe aller gegenwärtigen Enzyklopädien, aller möglichen oder realen Geometrie-, Physik-, Chemie-, Biologie-, Theologie-, Astronomie-Lehrbücher. Dennoch hat die Christenheit viele Jahrhunderte lang, sei es auch nur implizit, gedacht, dass der Sinn von Christus Antwort an Pilatus gerichtet hierin lag. Und auch ein Satz wie: „Die Wahrheit wird euch befreien“ wurde weitgehend so gedeutet, dass die Freiheit in dem Wissen darum bestände, wie die Dinge wirklich liegen und in der Bewunderung Gottes im ewigen Leben als höchste und endgültige Herrschaft aller Lehrsätze und Erkenntnisse, eingeschlossen die Erkenntnis vom Wesen und der Natur Gottes. Gegen diese Deutung von Jesu Antwort auf Pilatus Frage, steht eine andere, minoritäre und „skandalöse“ Tradition, die zum Beispiel in dem Satz zum Ausdruck kommt, den Dostoevskij in seinem Werk „Die Dämonen“ (2. Teil, Kapitel I, 7) Stavrogin äußern lässt: wenn man zwischen Christus und der Wahrheit entscheiden müsste, würde ich bei Christus bleiben. Also nicht mehr: „amicus Plato sed magis amica veritas“, sondern das Gegenteil: „amica veritas, sed magis amicus Plato“ (bzw. Christus). Die Sache ist die, dass das Prinzip der Auflösung der Idee der Wahrheit als Objektivität schon in der christlichen Botschaft beinhaltet war; dieselbe Auflösung, die sich in der modernen Philosophie durch denjenigen Prozess vervollständigt hat, den Nietzsche Nihilismus und Heidegger Ende der Metaphysik genannt haben (wobei unter Metaphysik dasjenige Denken gemeint ist, das das Sein mit dem objektiv vor dem geistigen Auge gegebenen Seienden identifiziert). Ein gewichtiger Teil der heutigen Philosophie konzipiert die Wahrheit als Interpretation; d. h. als eine von der Präliminaren Öffnung eines Kriterienhorizontes, eines Paradigmas, eines Vorverständnisses ermöglichte Verifikation und Falsifizierung von Aussagen. Man könnte auch ohne zu übertreiben sagen: Wahrheit ergibt sich nur auf der Basis einer „Freundschaft“, der Zugehörigkeit zu einer Gemeinschaft (z. B. der Gemeinschaft der Spezialisten auf einem bestimmten Gebiet oder der Gemeinschaft der konkreten Lebenswelt, in die wir geworfen sind). Oder auch, in der Sprache des Evangeliums: die Wahrheit als Objektivität birgt in sich eine Berufung, caritas zu werden. Ich werde versuchen, zu zeigen, dass die heutige Philosophie diesen letzten Schritt nur dadurch machen kann, indem sie sich daran macht, den Implikationen des von Nietzsche Es gilt das gesprochene Wort. Veröffentlichung nur mit Genehmigung der Verfasserin/des Verfassers. 2 theorisierten Nihilismus und des von Heidegger gedachten Ende der Metaphysik auf den Grund zu gehen. Und dieser Nihilismus, ich sage dies ohne jeglichen Willen zum Paradoxon, bleibt bis heute die reifste Folge der Neuigkeit, die durch die Ankunft des Christentums in die Welt eingetreten ist. Das ist es, was Nietzsche – vielleicht auch aus psychologischindividuellen Gründen – nicht in der Lage war, zu verstehen; und auch Heidegger, dessen Verhältnis mit dem Christentum viel enger und in vielerlei Hinsicht konstitutiv für seine Philosophie war, erkannte nicht die Untrennbarkeit seiner Revolte gegen die Metaphysik von dem christlichen Wahrheitsbild. Dennoch, das, was Nietzsche als den Tod Gottes ankündigt, ist in Wirklichkeit auch – und in erster Linie – der Tod Christus am Kreuz, der die neue Welt der christlichen Modernität einleitet. Der Autor, der uns am hilfreichsten ist, um zu verstehen, in welchem Sinne die moderne Berufung der Wahrheit, Freundschaft zu werden, als die letzte Entwicklung des Ereignisses des Christentums (d. h. der Geburt und des Todes Gottes) betrachtet werden kann, ist Wilhelm Dilthey. Sicherlich hat Dilthey hauptsächlich das hegelsche Erbe aufgenommen, es jedoch mit Neuerungen versehen, die die hegelsche Geschichtsphilosophie weniger starr und weniger systematisch machten. Im zweiten Teil seines großen unvollendeten Werkes, das sich mit der Einleitung in die Geisteswissenschaften beschäftigt, zeichnet Dilthey die Geschichte der europäischen Metaphysik nach, die sich im zufolge in zwei Stadien gliedert: in das metaphysische Stadium der Antike und in das metaphysische Stadium der Moderne, welches mit der Auflösung der Metaphysik endet, die sich in der Kantischen Kritik und in ihren Ausläufern bis hin zum Historismus Diltheys selbst vollzieht. Nun unterscheidet sich die Metaphysik der Antike von derjenigen der Moderne vor allem durch die Wende, die das Heraufkommen des Christentums darstellt, da dieses Ereignis das philosophische Interesse von der natürlichen Welt weg hin zur Innerlichkeit des Menschen lenkte. Beispielhaft für die antike Metaphysik ist für Dilthey der Platonismus. Auch wenn es sich beim Platonismus nicht um einen Naturalismus im strengen Sinne des Wortes handelt, besteht sein beispielhafter Charakter doch darin, dass in ihm das Sein als sichtbare Gestalt konzipiert wird – als idea, eidos und daher als ein äußerlich „Gegebenes“, d. h. wie eine vor das geistige Auge gestellte objektive Form. Das Christentum lenkt die Aufmerksamkeit des Denkens auf die Innerlichkeit und stellt damit, unter anderem, mehr den Willen in den Vordergrund als die Vernunft. Auf der ersten Seite des zweiten Teiles der Einleitung heißt es: „Wissen war für den griechischen Geist Abbilden eines Objektiven in der Intelligenz. Nunmehr [d. h. im Christentum] wird das Erlebnis zum Mittelpunkt aller Interessen und der neuen [christlichen] Gemeinden; dieses ist aber ein einfaches Innewerden dessen, was in der Person, im Selbstbewusstsein gegeben ist; dieses Innewerden ist von einer Sicherheit erfüllt, welche jeden Zweifel ausschließt; die Erfahrungen des Willens und des Herzens verschlingen mit ihrem ungeheuren Interesse jeden anderen Gegenstand des Wissens .... Hätte gleich damals dieser Glaube der Gemeinden eine ihm ganz entsprechende Wissenschaft entwickelt: so hätte diese in einer auf die innere Erfahrung zurückgehende Grundlegung bestehen müssen.“ (Wilhelm Dilthey: Einleitung in die Geisteswissenschaften, ders.: Gesammelte Schriften Bd. 1, hrsg. Von Bernhard Groethuysen u. a., Leipzig u. a. 1914ff., S. 251f.) Um das Gehörte kurz zusammenzufassen, kann man sagen, dass das Christentum die Bedingung darstellt, die die Auflösung der Metaphysik und ihre Ersetzung durch die Erkenntnistheorie vorbereitet – d. h., in den Begriffen Diltheys, den Kantianisum. Die Betonung des Subjekts, die Gründung des Subjekts auf die sich selbst gewisse Innerlichkeit, sind die Prinzipien, die auch Descartes und Kant zugrunde liegen und die moderne Philosophie beherrschen, die damit für lange Zeit eine Metaphysik blieb, die von einem objektivistischen Verständnis selbst noch der Innerlichkeit beherrscht wurde, und zwar deshalb, weil es dem vom Christentum eingeführten Prinzip der Subjektivität nicht gleich gelangt, sich Geltung zu verschaffen: Es gilt das gesprochene Wort. Veröffentlichung nur mit Genehmigung der Verfasserin/des Verfassers. 3 „... dieser innere Zusammenhang, welcher in bezug auf die Begründung der Wissenschaft zwischen dem Christentum und einer von der inneren Erfahrung ausgehenden Erkenntnis besteht, hat im Mittelalter eine entsprechende Grundlegung der Wissenschaft nicht hervorgebracht. Dies war in, der Übermacht der antiken Kultur begründet, innerhalb deren das Christentum nun langsam sich geltend zu machen begann.“ (Ebd., S. 251) Der Kampf zwischen dem „neuen Wein“ der christlichen Innerlichkeit und der „Überlegenheit“ des „visuellen“ oder ästhetischen Objektivismus der Griechen spiegelt sich auch im Denken des Heiligen Augustinus wieder. In ihm vermischt sich die innere Gewissheit des Bezuges der Seele zu Gott mit der Theorie der veritates aeternae, die vom Platonismus und Neuplantonismus herkommt. „Die Seele erschaut durch sich, nicht vermittels des Körpers und seiner Sinnesorgane, das Wahre. Es besteht eine ‚Verbindung des erschauenden Geistes und des Wahren, welches er erschaut.’ Wir sind wieder mitten in der Metaphysik Platos, die wir hinter uns gelassen glaubten.“ (Ebd., S. 262) „In der inneren Erfahrung des Augustinus sind ... Elemente gegenwärtig, welche über diesen platonisierenden Zusammenhang zwischen dem Intellekt des Menschen, der Welt und Gott in den veritates aeternae hinausreichen. Daher bilden sie ... einen ... Bestandteil ..., welcher über das Denken des Altertums hinausreicht.“ (Ebd., S. 263) Was sich im Denken Augustins ereignet, lässt sich in unterschiedlicher Ausprägung und unterschiedlicher Deutlichkeit in der ganzen Geschichte der christlichen Philosophie des Mittelalters und der Moderne aufweisen. Bis zu Kant, der als erster die antimetaphysischen Konsequenzen aus der von der christlichen Botschaft eröffneten Bewegung zog, ging der Kampf zwischen der dem Denken durch das Christentum eröffneten neuen Möglichkeit und dem Widerstand der Metaphysik weiter. Die Gründe für diesen Widerstand der Metaphysik sind zahlreich und überaus komplex. Dilthey ortete sie zuweilen, in Bezug auf Augustinus, in dessen persönlicher Lebensgeschichte, die maßgeblich durch den Einfluss des Neuplantonismus geprägt war. Was Augustinus – wie auch die anderen Kirchenväter und mittelalterlichen Denker – anbelangt, so kann der Widerstand der klassischen Kultur allerdings viel allgemeiner und durch die soziale und politische Verantwortung erklärt werden, die der Kirche nach dem Zerfall des Römischen Reiches zuviel, insofern nun auf ihren Schultern nicht nur die Reste der gesellschaftlichen Institutionen, sondern auch die Kultur, deren Ausdruck diese Institutionen waren, lastete. Diese Auffassung der Geschichte des europäischen Denkens als einer Geschichte des Kampfes zwischen dem Prinzip der Auflösung der Metaphysik, das das Christentum in die Welt brachte – Innerlichkeit, Wille, Gewissheit des cogito –, und dem visuell-naturalistischen (bzw. ästhetischen) Objektivismus der griechischen Kultur, ist auch in Heideggers Sicht des Überlebens und der Auflösung der Metaphysik am Werk. Dilthey aufzugreifen scheit mir unerlässlich, will man begreifen, in welchem Sinne das Christentum als Ausgangspunkt der modernen Auflösung der Metaphysik betrachtet werden kann. Dazu genügt es anzuerkennen – und hierin besteht der Existentialismus Heideggers in Sein und Ziel –, dass der Kantianismus immer noch eine Form von Augustinismus darstellt, d. h. die Anmaßung die innere Gewissheit auf eine ungeschichtliche, natürliche und in diesem Sinne objektive Struktur zurückzuführen [d. h. auf das kantische Transzendentale, das bereits Dilthey aus den selben Gründen kritisierte]. Die Beschäftigung mit Dilthey führt somit zur Erkenntnis, dass die radikalsten Erben des von Christus in die Welt eingeführten antimetaphysischen Prinzips Nietzsche und Heidegger sind, jener durch die Verkündigung des Todes Gottes, dieser durch seine Lehre vom Ereignis. [Besonders möchte ich auch darauf hinweisen, dass auch Diltheys Ausführungen zur Geschichte und zur Auflösung der Metaphysik etwas tief Christliches eingeschrieben ist, und zwar dort, wo er schreibt, dass, obwohl die Metaphysik unmöglich geworden ist, „... das Meta-Physische unseres Lebens als persönliche Erfahrung, d. h. als moralisch-religiöse Wahrheit, [übrig] bleibt .... Nun entziehen Es gilt das gesprochene Wort. Veröffentlichung nur mit Genehmigung der Verfasserin/des Verfassers. 4 sich aber die Erfahrungen des Willens in der Person einer allgemeingültigen Darstellung, welche für jeden anderen Intellekt zwingend und auch verbindlich wäre.“ (Ebd., S. 384 f.) „Jedoch, wie dem sei, wo ein Mensch in seinem Willen den Zusammenhang von Wahrnehmung, Lust, Antrieb und Genuss durchbricht, wo er nicht sich mehr will: da ist das Meta-Physische, welches sich in der dargelegten Geschichte der Metaphysik nur in unzähligen Bildern spiegelte. Denn die metaphysische Wissenschaft ist ein historisch begrenztes Phänomen, das meta-physische Bewusstsein der Person ist ewig.“ (Ebd., S. 385 f.) Aber warum nun „amicus Plato“, warum Freundschaft statt Wahrheit? Hierin begegnet uns vielleicht eine letzte Manifestation des Kampfes zwischen dem Widerstand des „objektiven Restes“ der griechischen Metaphysik und der Kraft der christliche Neuheit. Sehr verkürzt kann man sagen, dass auch der nietzscheanische Nihilismus und der Ontologismus Heideggers (im Sinne der Kritik Lévinas’) und vor allem die ................................................. zu einem guten Teil immer noch eine Mischung aus Christentum und platonischgriechischem Objektivismus darstellen, wie sie Dilthey bereits bei Augustinus ausmachte. (Man könnte sogar fragen, ob hier in Bezug auf die beiden Denker Nietzsche und Heidegger nicht eine Analogie persönlich-psychologischer Elemente herrsche – dort Nietzsche, der Pastorsohn, der sich gegen die Autorität des Vaters, der Schwester usw. auflehnt; hier Heidegger, der sich von der Katholischen Kirche just dann entfernt, als er im akademischen Betreib Erfolg zu haben beginnt –, die sich mit, im weitesten Sinne (macht)politischen Interessen vermengen: ich denke dabei an die Schriften des späten Nietzsche, an seine Briefe an Könige und Staatsmänner, und an Heideggers nationalsozialistisches Abenteuer°...). In unterschiedlicher Ausprägung bleiben auch hier Theorien noch Gefangene des griechischen Objektivismus und weitern sich folglich, die Implikationen der christlichen antimetaphysischen Revolution konsequent zu entwickeln. Diese Implikationen können jedoch nicht ohne den Rückgriff auf den Begriff der caritas entwickelt werden. Nochmals ganz schematisch: Lediglich die explizit als ein entscheidender Faktor der Wahrheit anerkannte Freundschaft ist es, die verhindert, dass das Denken des Endes der Metaphysik in das abstürzt, was war, einen Begriff Nietzsches aufnehmend, den reaktiven, und oft sogar reaktionären, Nihilismus nennen könnten. Im Folgenden beschränke ich mich auf eine kurze Skizze, von der ich hoffe, dass sie zumindest anregend ist, auch wenn sicherlich noch viele Präzisierungen erforderlich wären. Ich kann nicht anders als in der Rolle, die der Andere in so unterschiedlichen Theorien, wie in derjenigen von Lévinas, in der Philosophie der Kommunikation eines Habermas oder im Gebrauch des Begriffes charitiy bei Davidson spielen, eine Bestätigung meiner Hypothese zu sehen, dass der caritas heute eine zentrale Rolle zukommt. Aber warum dann nicht gleich Lévinas, Habermas und Davidson der verdächtigen Autorität von Denkern wie Nietzsche und Heidegger vorziehen? Auch darauf kann man, erneut stark vereinfachend, antworten, dass allein Nietzsche und Heidegger mit ihrer Rekonstruktion der Geschichte und der Auflösung der Metaphysik (denn eine solche Rekonstruktion findet sich auch bei Nietzsche: Ich denke hierbei an das Kapitel „Wie die wahre Welt zu Fabel wurde“ aus der Götzendämmerung) eine streng philosophische Grundlage für die der caritas offeneren Theorien von Habermas, Lévinas usw. liefern können. Deutlicher gesagt: Die Freundschaft kann erst dann zum Prinzip der Wahrheit werden, wenn das Denken alle Anmaßung fahren lässt, eine objektive, universelle und apidiktische Begründung geben zu können. Ohne eine authentische Öffnung dem Sein als Ereignis gegenüber, riskiert der Andere, von dem Lévinas spricht, immer von dem großgeschriebenen Anderen entmachtet zu werden – auch dies eine Wahrheit, die die Freundschaft zu Platon nur „rechtfertigen“ kann, indem sie ihn als geschichtliches Individuum unterdrückt. Analoges gilt für Habermas, für den die ungetrübte Kommunikation, die bei ihm als normativer Horizont fungiert, nicht auf den Respekt dem Anderen als solchem gegenüber gegründet ist, sondern allein auf der Es gilt das gesprochene Wort. Veröffentlichung nur mit Genehmigung der Verfasserin/des Verfassers. 5 Absicht, den Anderen auf mich selbst zu reduzieren, d. h. auf die Idee einer „transparenten“ Rationalität, die wenn sie sich nicht auf eine rationalistische Metaphysik Kantischen Typs beruft, oder gerade weil sie eine solche einfordert, letztendlich nichts anderes darstellt, als eine Kolonisierung der Lebenswelt durch die strategische Rationalität, die die Wissenschaften und die Technik beherrscht. Bei der christlichen Verkündigung der caritas handelt es sich nicht nur, oder genauer gesagt, überhaupt nicht, um eine ethische bzw. erbauliche Konsequenz aus der Offenbarung der „objektiven“ Wahrheit über unser Wesen Kinder Gottes zu sein. Vielmehr handelt es sich um einen Appell, der von der geschichtlichen Tatsache der Menschwerdung Gottes ausgeht. Geschichtlich ist dieses Ereignis nicht so sehr deshalb, weil es sich dort um eine „reale“ Tatsache handelte, als vielmehr deshalb, weil es in seiner geschichtlichen Wirkmächtigkeit, in seiner Wirkungsgeschichte, für unsere Existenz konstitutiv ist. Dieses geschichtliche Ereignis zeugt von der nihilistischen Berufung des Seins, von einer Teleologie der Schwächung jeglicher „ontischer“ Starrheit zugunsten des Verbums, zugunsten des Logos, des im lebendigen „Gespräch“ getauschten Wortes, insofern wir geschichtlich existieren, d. h. sind. Die Wahrheit als caritas und das Sein als Ereignis sind zwei Aspekte, die sich gegenseitig hervorrufen. Die zentrale Rolle, die das Andere in vielen zeitgenössischen philosophischen Theorien spielt, gewinnt seine volle Bedeutung erst, wenn wir es mit der Auflösung der Metaphysik in Beziehung setzen, und nur unter dieser Bedingung entgeht es der Gefahr des rein erbaulichen oder lediglich „pragmatischen“ Moralismus. Trotz aller Fragen, die ein solcher, wenn auch nur provisorischer, Schluss offen lässt, scheint mir doch, dass man gerade an diesem Punkt mit einer Reflexion darüber beginnen sollte, was Wahrheit im Geist des Christentums eigentlich meint. (Quest’ultima frase non mi piace, ma come sostituirla? Si accettano proposte). Es gilt das gesprochene Wort. Veröffentlichung nur mit Genehmigung der Verfasserin/des Verfassers.