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Die Pluralität der Religionen in Lessings Ringparabel und die Unterscheidung zwischen
Rechtfertigung und Wahrheit
Der Beitrag, den ich gebeten worden bin zu verfassen, soll sich mit dem Thema „christlicher
Wahrheitsanspruch und Pluralität der Religionen“ beschäftigen. Ich fasse dieses Thema so
auf, daß dabei die Frage im Mittelpunkt steht, inwiefern das Festhalten an bestimmten
religiösen Wahrheitsansprüchen kompatibel ist mit einer Tolerierung1 verschiedener
Religionen. Ich werde diese Frage so angehen, daß ich in Abschnitt I das Problem der
Pluralität von Religionen aus heutiger europäischer Sicht einführend skizziere. Das Ziel dieser
Skizze ist nicht nur, die Relevanz dieser Problematik im heutigen europäischen Kontext
deutlich zu machen, sondern auch, daß die Akzeptanz einer Pluralität von Religionen zwar
heutzutage unvermeidlich, gleichzeitig aber eine mühsame Aufgabe ist. In Abschnitt II
bespreche ich einen Ansatz, in dem dieses Problem in hervorragender Weise behandelt wird,
nämlich Gotthold Ephraim Lessings Ringparabel. In Abschnitt III werde ich eine Implikation
der Lessingschen Lösung eingehender untersuchen, die Unterscheidung zwischen
Rechtfertigung und Wahrheit (religiöser Überzeugungen). Ich werde diese Unterscheidung in
philosophischer Hinsicht eingehender untersuchen, d.h. in der Verwendungsweise, wie sie im
Neo-Pragmatismus, bei Richard Rorty und Jeffrey Stout, auftritt. Ich schließe mit einer
allgemeinen Reflektion über die Leistungskraft dieser Unterscheidung in Hinsicht auf das
Problem der Pluralität von Religionen (Kapitel 8).
I. Das Problem der Pluralität von Religionen aus heutiger europäischer Sicht
1) Der Dornröschenschlaf der Europäer in Religionsfragen
Das Problem der Pluralität von Religionen ergibt sich zunächst einmal grundsätzlich dadurch,
daß es um differierende Wahrheitsansprüche o.ä. geht: Zwei oder mehr religiöse
Wahrheitsansprüche differieren voneinander, christliche Wahrheitsansprüche von jüdischen,
oder, für die meisten heutigen europäischen Gesellschaften aktueller, von islamischen. Das
Problem verschärft sich noch dadurch, daß beide Wahrheitsansprüche in demselben
geographischen Raum vertreten werden: Zur Zeit des Westfälischen Friedens mag die
Kompromißformel, differierende Konfessionen geographisch zu trennen, noch sinnvoll
gewesen sein (s. dazu u., Kapitel 3), heute ist eine derartige Problemlösung aber nicht mehr
möglich. Abgesehen davon, daß eine derartige Lösung im Zuge der fortschreitenden
ökonomischen Globalisierung, der zugenommenen Internationalisierung von Konflikten und
Konfliktherden (was sich etwa im Irak abspielt, kann Europa oder die USA nicht unberührt
lassen) sowieso problematisch sein dürfte, hat sich die faktische Situation inzwischen
grundlegend verändert: In vielen europäischen Staaten leben Christen und Moslems
nebeneinander und die islamischen Bevölkerungsgruppen sind inzwischen so groß, daß sie
schon allein deshalb nicht mehr ignoriert werden können. Das Problem ist also sozusagen
„vor die Haustür“ der Europäer gewandert. Es wird natürlich noch dadurch verschärft, daß
1
Ich werde im folgenden- außer, wenn ich auf die Lessing-Diskussion eingehe- nicht die gängigen Begriffe
„Pluralismus“ und „Toleranz“ verwenden, da beide durch die inzwischen geführte Diskussion zur Sache
außerordentlich beladen und entsprechend unscharf geworden sind (vgl. dazu etwa den Artikel „Pluralismus“ in
RGG4, Band 6, 2003, Sp. 1400 ff (Peter Haigis und Friedrich Schweitzer) sowie die Diskussion um das
Toleranzproblem in Bijdragen, International Journal in Philosophy and Theology 63 (2002), speziell S. 387-416,
The ups and Downs of Tolerance. An Introductory Essay on the Genalogy of (Religious) Tolerance (Theo de
Wit) und S. 446-472, Het eigene en het Vreemde. Twee Vormen van Tolerantie (Peter Jonkers). Stattdessen
verwende ich die etwas weniger eingängigen, aber dabei doch weniger historisch beladenen Begriffe „Pluralität“
und „Tolerierung“.
etwa der Islam auch radikale Strömungen beherbergt, die so stark anti-westlich
beziehungsweise anti-christlich geprägt sind, daß eine Koexistenz von westlich-christlichen
Wahrheitsansprüchen und radikal-islamischen schwierig zu verwirklichen ist.
Dieses Problem wird als solches in zunehmendem Maße in der breiteren europäischen
Öffentlichkeit erkannt und diskutiert, vor allem im Rahmen der Diskussionen über die
Ausländerpolitik. Um ein konkretes Beispiel anzuführen: In den niederländischen Medien
wird momentan der Frage nach der Integration von (vor allem marokkanischen, aber auch
türkischen) Moslems breiten Raum eingräumt. Die Verschärfung des Problembewußtseins
zeigt sich des weiteren auch dadurch, daß traditionelle Tabus gebrochen werden und das
Scheitern dieser Integrationspolitik inzwischen offen diskutiert werden kann, wobei auch laut
über „politisch unkorrekte“ Maßnahmen nachgedacht werden kann, wie etwa die Integration
„erzwingen“ zu wollen (etwa dadurch, daß Ausländer, die in den Niederlanden leben wollen,
einen niederländischen Mindestwortschatz nachweisen müssen)- für eine Kultur, deren
Identität mit der Idee der Liberalität untrennbar verbunden ist, ein schmerzliches
Eingeständnis. Dieses Eingeständnis ist dadurch unumgänglich geworden, daß die Probleme,
die mit dem Aufeinandertreffen religiöser und damit kulturell-ethnischer Differenzen in den
Niederlanden entstanden sind, inzwischen ein solches Maß erreicht haben, daß sie selbst für
den liberalsten Ideologen unübersehbar geworden sind.
In der breiteren europäischen Öffentlichkeit werden die Probleme, die mit dem
Aufeinandertreffen religiöser und damit kulturell-ethnischer Differenzen verbunden sind, erst
seit kurzer Zeit derart intensiv diskutiert. Der terminus a quo ist dabei der 11. September
2001, die durch muslimische Extremisten ausgeführten Anschläge auf das „World Trade
Center“. Des weiteren sind in diesem Zusammenhang die Konflikte in Afghanistan und im
Irak (der zweite Irak-Konflikt ab 2003) und, nun auch auf den europäischen Raum
übergreifend, die Anschläge auf spanische Züge im Frühjahr 2004 zu nennen, insofern sie auf
das Konto islamischer Extremisten gehen. Diese Ereignisse haben das europäische
Bewußtsein dafür geschärft, daß eine vernünftige Ausländerpolitik nicht ohne eine
Berücksichtigung religiöser Differenzen realisierbar ist und dafür, daß bestimmte religiöse
Wahrheitsansprüche möglicherweise miteinander inkompatibel sind, so daß, im Fall des
Zusammenlebens in demselben geographischen Gebiet, die Konflikte sozusagen
„vorprogrammiert“ sind.
Die Tatsache, daß Konflikte in diesem Fall „vorprogrammiert“ sind, ist eigentlich eine
Trivialität, die kaum der Erwähnung wert ist. Daß ich hier dennoch darauf eingehe, hängt
damit zusammen, daß die (meisten) Europäer diese Tatsache bis vor kurzem systematisch
geleugnet haben, so daß es eines derart schockierenden Erlebnisses wie des 11. September
bedurfte, um sie aus ihrem „Dornröschenschlaf in Religionsfragen“ zu wecken. Hier schlägt
das verheerende Erbe der modernistischen, quasi-materialistischen Religionskritik durch, die
den meisten Europäern in Fleisch und Blut übergegangen ist: Sie hatten sich ganz
selbstverständlich angewöhnt, das Religiöse nicht mehr als konstitutiv für das Menschliche
anzusehen. Diese durch die aufklärerische Religionskritik vorbereitete Trivialisierung von
Religion erhielt ihre Begründung durch materialistische oder quasi-materialistische
Erklärungstheorien. Letztere hatten einen derart umfassenden und vor allem
unhinterfragbaren Charakter erhalten, der ganz selbstverständlich auf Kosten aller anderen,
vor allem des religiösen Aspekts des Menschseins, geltend gemacht werden konnte. So wurde
der Mensch ganz selbstverständlich als „homo oeconomicus“ gedacht, für den religiöse
Aspekte nicht konstitutiv sind. Diese Ideologie war nicht nur im Marxismus
selbstverständlich, sondern reichte weit in das bürgerliche Lager hinein und war in den
meisten europäischen Ländern mehrheits- wenn nicht gar konsensfähig. So war es bis vor
kurzem noch ganz selbstverständlich, daß etwa Unruhen in Algerien, verursacht durch
islamische Fundamentalisten, quasi-materialistisch interpretiert wurden. In vielen
europäischen Medien galt es als ausgemachte, nicht eigens zu begründende Tatsache, daß für
dies Unruhen ökonomische Gründe anzugeben sind. Fundamentalistische
Eigenbeschreibungen, daß ihre Motivation genuin (fundamentalistisch-islamisch) religiös ist
und ihre anti-westliche Haltung dadurch bedingt ist, konnten in Europa ganz
selbstverständlich durch quasi-materialistische Erklärungen überlagert werden: „Eigentlich
dreht sich der Konflikt um ökonomische Fragen. Hier äußert sich der Protest der
ökonomischen Verlierer (der Globalisierung, westlicher Dominanz o.ä.)“. Die Implikation
war dabei, daß, wenn die ökonomischen Umstände nur verbessert werden könnten, damit
gleichzeitig auch die Probleme gelöst werden würden. Kurzum, das Religiöse wurde nicht
mehr als solches Ernst genommen, sondern materialistisch „weginterpretiert“.
Dieser quasi-Materialismus hat sich als verheerende Fehleinschätzung der Europäer2
erwiesen. Dieses dürfte nach dem 11. September und den nachfolgenden Ereignissen auch
vom eingefleischtesten quasi-Materialisten nicht mehr zu übersehen sein. Inzwischen scheint
es so, daß die Europäer dabei sind, aus ihrem religiösen Dornröschenschlaf aufzuwachen: Das
Religiöse wird nicht mehr einfach negiert oder „weginterpretiert“, sondern beginnt, als
solches wieder Ernst genommen zu werden. Davon zeugt die Vielzahl an Artikeln über
Religion in den Medien, in denen das Religiöse als solches, also nicht nur materialistisch
uminterpretiert, behandelt wird. Dazu gehört auch die steigende Nachfrage nach fachkundigen
Informationen über den Islam, die sich etwa in einer wachsenden Anzahl
islamwissenschaftlicher Stellenausschreibungen äußert.
Daß die Europäer dabei sind, aus ihrem Dornröschenschlaf aufzuwachen und das Religiöse
wieder als solches Ernst zu nehmen, ist natürlich zu begrüßen. Zu bedauern ist dabei nur, daß
es nicht der Kuß des Prinzen war, der sie geweckt hat, sondern daß die Selbstverständlichkeit
der Notwendigkeit, das Religiöse als solches Ernst zu nehmen, erst durch ein derart
schockierendes Ereignis wie das des 11. September 2001 wieder ins Bewußtsein gedrungen
ist.
2) Die Pluralität der Religionen als Konkurrenzverhältnis
Die andere Auffassung, die in Europa zwar nicht so allgemeinverbindlich war wie eine quasimaterialistische Uminterpretation des Religiösen, dennoch aber weitverbreitet war, ist, daß,
wenn sich alle Beteiligten nur redlich Mühe geben würden, die Probleme, die sich aus einer
Pluralität von Religionen ergeben, schon gelöst werden könnten. Ich denke, daß auch hier
allmählich das Bewußtsein dafür wächst, daß jedenfalls Religionen von der Art der drei
abrahamitischen immer in einem Kokurrenzverhältnis oder jedenfalls potentiellen
Konkurrenzverhältnis zueinander stehen und daß der „gute Wille“ aller Beteiligten nicht
hinreicht, um die daraus resultierenden Probleme zu lösen.
2
Daß ich mich hier auf Europa beschränke, hat damit zu tun, daß die Sachlage in den USA anders ist. Zwar hat
man auch dort die Relevanz des Religiösen unterschätzt. So haben etwa die U.S.-amerikanischen
Sicherheitsdienste die politische Relevanz und Durchschlagskraft der Exilregierung Chomeinis am Ende des
Schah-Regimes im früheren Persien falsch eingeschätzt. Dennoch sind in der allgemeinen Geisteslage in den
USA besagte quasi-materialistische Uminterpretationen des Religiösen weit weniger en vogue gewesen als
seinerzeit in Europa. Das hat zum einen damit zu tun, daß im anglo-amerikanischen Geistesleben derartige
Uminterpretationen sowieso verpönter sind als im kontinentalen Bereich- wenn dort jemand äußert, daß seine
Beweggründe religiös sind, kann diese Äußerung nicht so leicht in dem Sinn uminterpretiert werden, daß er
„eigentlich“ nur etwas über seine ökonomischen Umstände sagt. Zum anderen hat es auch damit zu tun, daß in
den USA eine viel schärfere Trennung zwischen privat und öffentlich vorherrscht, die es ermöglicht, Utopien
jeder Art, also auch religiösen, breiten Raum einzuräumen- solange sie sich auf den im weitesten Sinn privaten
Raum beschränken. Die Lektion von 11. September u.ä. Ereignissen ist natürlich, daß dieses im Fall bestimmter
religiöser Utopien gerade nicht möglich ist (s. auch u., Kapitel 2). Diese Fehleinschätzung ist aber andrer Art als
die der Europäer und bedarf einer gesonderten Diskussion, die ich hier nicht führen kann, so daß ich die
Gültigkeit der folgenden Skizze auf Europa beschränke.
Auch bei dieser Auffassung hat eine Unterschätzung des Religiösen eine zwar nicht so
gravierende, dennoch aber wichtige Rolle gespielt: Religiöse Wahrheitsansprüche sind oft
nach dem Muster anderer, leichter zu vereinbarenderer Ansprüche interpretiert worden, wobei
übersehen worden ist, daß religiöse Wahrheitsansprüche einen anderen Charakter besitzen.
Selbstverständlich existieren Arten von Ansprüchen, bei denen Differenzen nicht notwendig
als Konkurrenz oder potentielle Konkurrenz aufgefaßt werden müssen. So können
Differenzen über die Vorzüge von Erdbeer- oder Himbeereis oder über die künstlerische
Qualität von van Goghs „Die Brücke von Arles“ bestehen bleiben, ohne daß damit schon
notwendigerweise ein Konkurrenzanspruch gegeben ist. Geschmacks- und ästhetische
Ansprüche lassen wir für gewöhnlich nebeneinander gelten, auch wenn sie inkompatibel sind.
Doch nur der, der religiöse Ansprüche unterschätzt, wird sie in diese Kategorie rubrizieren
wollen. Derjenige dagegen, der diesen Fehler vermeidet, wird sie in eine Kategorie einordnen,
bei der Differenzen tatsächlich ein potentielles Konkurrenzverhältnis implizieren. Und, um
gleich noch mit einem in diesem Zusammenhang auch verbreiteten Fehlurteil aufzuräumen,
das hat nichts mit kontingenten Faktoren zu tun, etwa damit, daß ihre Vertreter nun leider
einmal derart missionarische Neigungen besitzen. Sondern daß Differenzen im religiösen
Bereich automatisch die Tendenz besitzen, eine Konkurrenzsituation herbeizuführen, liegt an
den ontologischen Charakteristika, die Religionen wie den besagten inhärent sind3. Ich führe
hier zwei davon auf:
1) Diese Wahrheitsansprüche implizieren ontologische Annahmen, die umfassende
Implikationen beinhalten, z.B. über die Entstehung der Welt (etwa als Gottes Schöpfung),
über die Verfaßtheit des Menschen (etwa als Sünder), zumeist auch über die Zukunft des
Individuums oder gar der Welt als ganzer (der eschatologische Ausblick). Hiermit ist eine
mehr oder minder umfassende Weltsicht impliziert, die eben aufgrund ihres
Umfassungscharakters zumindest eine Tendenz zu Hegemonialansprüchen besitzt. Damit ist
nicht gesagt, daß religiöse Wahrheitsansprüche mit allen anderen großflächigen Theorien
notwendigerweise konkurrieren müssen. So mag es etwa möglich sein, um ein viel
diskutiertes Beispiel aufzunehmen, christlich-religiöse Wahrheitsansprüche mit einer
großflächigen Theorie wie der Evolutionstheorie zusammen zu denken (ob das tatsächlich
möglich ist, hängt davon ab, inwieweit diese christlichen Wahrheitsansprüche die Welt nicht
nur als Schöpfung Gottes ansehen, sondern diesen Schöpfungakst auch inhaltlich weiter
präzisieren, etwa als Schöpfung in sieben Tagen o.ä.). Aber damit ist ausgesagt, daß religiöse
Wahrheitsansprüche wie die christlichen aufgrund ihres Umfassungscharakters mit religiösen
Wahrheitsansprüchen, die einen vergleichbaren Umfassungscharakter haben, potentiell in
einem Konkurrenzverhältnis stehen.
2) Die Ontologie steht bei den besagten Religionen zumeist im Zeichen der Ethik. Die oben
genannten Annahmen über die Entstehung der Welt, ihr eschatologisches telos etc., enthalten
zumeist auch Handlungsimpulse. Pointierter gesagt, die Beschreibung von Wirklichkeit ist bei
besagten Religionen nicht allein in deskriptiver Hinsicht relevant, sondern großenteils auch in
präskriptiver. Beschreibung geht Hand in Hand mit Bewertung von Wirklichkeit undinsofern Bewertung Anleitung zum Handeln gibt-, impliziert damit potentiell auch Handeln.
Insofern nun diese Handlungsanleitungen differieren, verschiedene Religionen verschiedene
Praktiken implizieren, ist von vornherein deutlich, daß sie nicht schiedlich-friedlich
nebeneinander existieren können, sondern in einem zumindest potentiellen
Konkurrenzverhältnis stehen4. Kurzum, es ist also deutlich, daß Religionen wie die besagten
Vgl. dazu auch meinen Artikel „Geltung“, RGG4, Band 3, 2000, Sp. 604.
In der Zeit der Aufklärung konnte dieses verständlicherweise noch nicht so deutlich sein. So kann Lessing in
der Ringparabel davon ausgehen, daß alle Religionen im Prinzip ethisch doch dasselbe wollen, etwa „Sanftmut“,
„herzlichste Verträglichkeit“ und „Wohltun“ (Lessing, Nathan der Weise, Stuttgart 1990 (Reclam 3), S. 75, vv.
2045f. Derartige Formulierungen müssen heutzutage nicht nur aufgrund einer „Hermeneutik des Verdachts“ als
suspekt beurteilt werden- also als heimlich von bestimmten, etwa christlichen Ideen geprägt-, sondern sprechen
auch den faktisch ausgeübten Praktiken vieler Religionen Hohn.
3
4
in einem zumindest potentiellen Konkurrenzverhältnis stehen. Dieses läßt sich nicht so
einfach durch den „guten Willen“ aller Beteiligten lösen, sondern liegt im Fall von Religionen
sozusagen „in der Natur der Sache“.
Nun ist die Feststellung, daß es in der Natur der Sache liegt, daß Religionen in einem
Konkurrenzverhältnis stehen, nicht als Kassandraruf gedacht. Doch sie ist als Warnung davor
gedacht, die Probleme, die mit einer Pluralität von Religionen gegeben sind, zu leicht zu
nehmen. Nur wenn wir die damit implizierten Probleme ernster nehmen als es die Europäer
bis vor kurzem getan haben, können wir zu politisch akzpetablen Lösungen kommen. Und
diese sind in Europa umso drängender, als der Proporz zwischen christlichen und islamischen
Bevölkerungsgruppen in vielen europäischen Ländern im Begriff ist, sich zu verändern. Man
denke hier etwa, einerseits, an die hohen Geburtenraten unter islamischen
Glaubensangehörigen in fast allen europäischen Ländern und, andererseits, die relativ
schwachen Geburtenraten bei christlichen Glaubensangehörigen in vielen europäischen
Ländern (etwa Deutschland) sowie die steigende Animosität gegenüber dem Christentum, die
sich etwa in einer großen Zahl von Kirchenautritten manifestiert- ganz zu schweigen vom
möglichen Zutritt der Türkei zur EU und der damit implizierten Verschiebung der
Kräfteverhältnisse zwischen Islam und Christentum in Europa.
Insofern verschiedene religiöse Ansprüche potentiell immer in einem Konkurrenzverhältnis
zueinander stehen, muß, wenn wir eine irgendwie pluralistische Lösung anstreben5, diese
Konkurrenz „gemanagt“ werden, in sozialverträgliche Bahnen gelenkt werden. Das
„Managen“ der Religionspluralität sollte dabei aber die Voraussetzungen der religiösen
Binnenperspektive ernster nehmen, als es die Europäer bisher getan haben- die religiöse
Binnenperspektive sollte nicht mehr so leichtfertig durch außenperspektivische
Rekonstruktionen wie besagte materialistische Uminterpretation ersetzt werden. Der folgende
Beitrag soll als Versuch der Legitimation und Ausarbeitung besagten „Managens“ bei
gleichzeitigem Ernstnehmen der religiös-binnenperspektivischen Ansprüche verstanden
werden. Es soll also darum gehen, einen theoretischen Hintergrund zu skizzieren, mit dessen
Hilfe ein Religionspluralismus legitimiert werden kann, der gleichzeitig aber den religiösbinnenperspektivischen Ansprüchen gerecht wird, so weit dieses philosophisch möglich und
ethisch vertretbar ist.
II. Lessings Lösung des Problems der Religionspluralität in der Ringparabel
3) Das Problem der Religionspluralität in der deutschen Aufklärung
Die Probleme, die sich aus einer Pluralität konkurrierender religiöser Wahrheitsansprüche
ergeben, sind nun keineswegs neu. Das Zeitalter, in dem diese Probleme in aller Schärfe
hervortreten, ist das der Aufklärung. Ich möchte im folgenden an dem wohl interessantesten
Vertreter der deutschen Aufklärung, Lessing, zeigen, inwiefern seine Lösung auch für die
heutige Diskussion weiterführend sein kann.
Vor dem Hintergrund unserer Ausgangsfragestellung, inwiefern das Festhalten an bestimmten
religiösen Wahrheitsansprüchen kompatibel ist mit einer Tolerierung verschiedener
Religionen, ist die deutsche Aufklärung sicherlich der interessanteste Gesprächspartner, da
hier die Radikalismen sowohl der französischen wie auch der englischen Aufkärung
weitgehend vermieden werden. Die deutsche Aufklärung vermeidet (weitgehend) den radikal
5
Ich setze dabei voraus, daß es unter den Denkbedingungen, die im heutigen Europa vorherrschen, keine
Alternative zu einer pluralistische Lösung gibt, da alle anderen, etwa exklusivistischen Lösungen, nicht nur
schwerwiegende Legitimationsprobleme aufwerfen würden, sondern auch schlichtweg politisch undurchführbar
wären, da sie zu viel zu großen Verwerfungen innerhalb der europäischen Gesellschaften führen würden.
religionskritischen Ansatz der französischen wie auch den reduktionistisch(-deistischen)
Ansatz der englischen6 Aufklärung. Hier wird weder die Möglichkeit, an den eigenen
religiösen Überzeugungen festhalten zu können, apriori bestritten, noch wird hier auf breiter
Front die Meinung vertreten, daß (redliche) Religiösität nur in einem Deismus bestehen
könne. Wie sich zeigen wird, geht es Lessing gerade um die Möglichkeit, an der je eigenen
religiösen Überzeugung festhalten zu können und dabei doch die Pluralität von Religionen
tolerieren zu können.
Was die deutsche Aufklärung betrifft, werden die Probleme, die sich aus einer Pluralität
konkurrierender Religionen ergeben, vor allem im 18. Jahrhundert relevant. In dieser Zeit
werden diese Probleme in aller Dringlichkeit erfahren und vor allem wesentlich gründlicher
als früher theoretisch reflektiert. Die Gründe dafür sind zum einen natürlich in der
Vorgeschichte zu suchen: Die Konfessionskriege des 17. Jahrhunderts haben den im
nördlichen Kontinentaleuropa, insbesondere im deutschen Sprachraum Lebenden, die
verheerenden Auswirkungen religiöser Differenzen deutlich zu Bewußtsein gebracht. Die seit
dem Augsburger Religionsfrieden von 1555 geltende und später in das „ius reformandi“ des
Westfälischen Friedens (1648) eingegangene Kompromißformel „cuius regio, eius religio“7,
hat zwar die unmittelbaren Kampfhandlungen beendet, aber ein doch nur fragiles
Gleichgewicht herzustellen vermocht. Abgesehen davon, daß sich diese Formel im Zuge der
mit dem Aufblühen kapitalistischer Wirtschaftsformen implizierten größeren Mobilität
schwerlich auf Dauer durchhalten ließ, ist damit das Problem religiöser Minderheiten,
christlicher Außenseitergruppen wie etwa der Spiritualisten, oder der jüdischen Minderheiten,
gar nicht oder zumindest doch nicht zureichend geregelt8.
Zum anderen hat die Tatsache, daß das Problem konkurrierender religiöser
Wahrheitsansprüche und der Toleranzbegriff im deutschen Sprachraum in dieser Zeit so
zentral werden auch damit zu tun, daß nunmehr die Existenz von „Kulturvölkern“ mit
vollkommen andersgearteten Religionen mit den Reiseberichten aus China und Indien ins
europäische Bewußtsein dringt9. War es vorher, etwa im späten Mitelalter, noch möglich
gewesen, die Existenz andersgearteter Religionen zwar zur Kenntnis zu nehmen, das damit
aufgegebene Problem konkurrierender Wahrheitsansprüche aber dadurch zu entschärfen, daß
man diese in eine deutliche Wertskala einordnete, in der das Christentum an der Spitze stand,
ist das gegenüber diesen „Kulturvölkern“ mit ihren Religonen nicht mehr möglich. Das
Problem konkurrierender religiöser Wahrheitsansprüche, das nicht durch entsprechende
Wertungen aufgelöst werden kann, stellt sich nunmehr in voller Schärfe.
In dieser Situation gewinnt nun der Begriff der Toleranz zentrale Bedeutung. Selbst ein
wegen seines Spotts über Religionsfragen im deutschen Sprachraum keineswes unumstrittener
6
Selbstverständlich gibt es auch in der deutschen Aufklärung Vertreter des Deismus oder der Neologie, etwa
Reimarus oder Semler (s. zu diesen z.B. Helmut Thielicke, Glauben und Denken in der Neuzeit, Tübingen, 1983,
S. 87ff und 156ff, Gerhard Freund, Theologie im Widerspruch. Die Lessing-Goeze-Kontroverse, Stuttgart,
Berlin, Köln, S. 165ff). Das Interessante an der deutschen Aufklärung ist aber, daß derartige Positionen nicht
kennzeichnend für diese geworden sind und durch ihre führenden geistigen Köpfe auch nicht vertreten worden
sind. Obwohl ich nicht explizit auf diese Frage eingehen werde, wird aus dem Folgenden aber doch implizit
hervorgehen, daß das Urteil, Lessing sei ein „Hauptvertreter des dt. D(eismus)“ (Peter Byrne, „Deismus“, RGG 4,
Band 2, 1999, Sp. 616) gewesen, falsch ist. Zu den Unterschieden zwischen der französischen, englischen und
deutschen Aufklärung, vgl. etwa Hans J. Störig, Geschiedenis van de filosofie, Utrecht 2000 (Übersetzung von
Kleine Weltgeschichte der Philosophie, Stuttgart, 25 2000) S. 373ff, 392ff und 416ff sowie die RGG-Artikel
„Aufklärung“, Band 1, 1998, Sp. 930ff und 941ff (beide von Albrecht Beutel) und „Deismus“, Band 2, 1999, Sp.
614ff (Byrne u.a.).
7
Die als solche allerdings nicht fixiert worden ist; s. „Cuius regio, eius religio“, in: RGG 4, Bd. 2, Sp. 503, sowie
„Augsburger Religionsfriede“, in: RGG4, Bd. 1, Sp. 957f.
8
S. Harald Schultze, Lessings Toleranzbegriff. Eine theologische Studie, Göttingen 1969, S. 12ff sowie Albrecht
Beutel, „Aufklärung I. Geistesgeschichtlich“, in: RGG4, Sp. 929ff sowie ders., „Aufklärung II. Theologischkirchlich“, Sp. 941ff. Vgl. dazu auch die o.g. RGG-Artikel sowie etwa Johannes von Lüpke, Wege der Weisheit:
Studien zu Lessings Theologiekritik, Göttingen 1989, S. 17ff und Freund, a.a.O., S. 18ff.
9
Vgl. dazu die interessante Anmerkung von Schultze, a.a.O., S. 17ff.
Geist wie der Voltaires wird wegen seines uneingeschränkten Engagements für Toleranz doch
allgemein bewundert10. Dabei ist unter den führenden Aufklärern nicht so sehr die
Wünschbarkeit von Toleranz umstritten, sondern mehr die Frage ihrer theoretischen
Realisierbarkeit beziehungsweise Begründbarkeit. Im Folgenden wird denn auch deutlich
werden, daß die Spitze von Lessings Argumentation nicht im Erweis der Wünschbarkeit von
Toleranz besteht, sondern in dem ihrer theoretischen Realisierbarkeit.
Daß Toleranz dabei ganz selbstverständlich als wünschbar beziehungweise positiver Wert
angesehen wird, hat mit den ganz spezifischen Voraussetzungen des aufklärerischen Denkens
zu tun. Zu diesen Voraussetzungen gehört die Annahme, daß die praktischen Konsequenzen
religiöser Wahrheitsansprüche weitgehend neutralisiert und damit entschärft werden können.
Dieses zeigt sich zum einen darin, daß Religion mehr als zuvor privatisiert wird, ihre
möglichen Konsequenzen in praktischer Hinsicht somit entschärft werden11. Zum zweiten
zeigt es sich aber vor allem in dem Optimismus, die Ethik in zunehmenden Maße von der
Religion emanzipieren und rein „vernunftmäßig“ betreiben zu können. Sowohl die
Begründung wie auch die konkrete inhaltliche Füllung der Ethik werden nun als auf rein
säkularer Basis möglich angesehen. Zumindest die grundlegenden ethischen Prinzipien
werden als evident und damit dem Anspruch nach als universell gültig angesehen. Insofern
die Ethik nun also sowohl in Hinsicht auf ihre Begründung wie auch ihre Inhalte als
sozusagen „religionstranszendierend“ angesehen wird, wird gleichzeitig die Bedeutung des
Religiösen für den ethischen und damit gesellschaftspolitischen Bereich im
Aufklärungsdenken minimiert: Differenzen im Religiösen werden nicht mehr als unmittelbar
auf den Bereich des Ethischen und Gesellschaftspolitischen durchschlagend angesehen. Durch
diese Unabhängigkeit des Ethischen und Gesellschaftspolitischen vom Religiösen wird
gleichzeitig der Spielraum gewonnen, um dem Religiösen toleranter als zuvor
gegenüberstehen zu können. Der aufklärerische Staat kann sich ein gewisses Maß an
Religionstoleranz leisten, da seine grundlegenden Ordnungsprinzipien durch Differenzen im
religiösen Bereich nicht berührt werden- diese Prinzipien werden unabhängig von aller
Religion legitimiert und ausgearbeitet.
4) Schultzes Rekonstruktion von Lessings Toleranzbegriff
Das hier interessierende Thema der Religionspluralität wird in der Studie von Schultze zu
Lessings Toleranzbegiff eingehend bearbeitet, so daß sich diese als Ausgangspunkt für die
folgende Untersuchung anbietet. In diesem Kapitel werde ich vor allem Schultzes Ergebnisse
widergeben, im folgenden kritisch darauf eingehen.
Schultze diagnostiziert vier Motive für Lessings Favorisierung von Toleranz:
1) Als negatives Toleranzmotiv sieht er die Differenz zwischen positiver Religion und den
Wahrheitskriterien, die aus dem aufklärerischen Vernunftbegriff erwachsen. In
Übereinstimmung mit den meisten Aufklärungsschriftstellern ist sich Lessing der Differenz
zwischen den Wahrheitsansprüchen positiver Religionen und den mit Hilfe der Vernunft
10
Friedrich II. kann in der Gedenkrede, die er auf Voltaire verlesen läßt, dessen Einsatz für Toleranz als dessen
höchstes Verdienst anerkennen, s. dazu Schultze, a.a.O., S. 5f.
11
S. Schultze, a.a.O., S. 18f (s. auch S. 17 für das Folgende). Die Vorstellung, daß sich die ethischen
Konsequenzen von Religion in dieser Weise neutralisieren lassen, ist heutzutage natürlich nicht mehr plausibel.
Dieses ist zum einen die Lektion, die aus dem Aufleben fundamentalistisch-islamischer Strömungen mit ihren
deutlichen Konsequenzen in praktischer Hinsicht gelernt werden kann, wie auch schon früheren Entwicklungen
in westlich-christlichen Ländern, etwa der Betonung der politischen Implikationen des Glaubens bei großen
Teilen der christlichen Theologie seit den siebziger Jahren des abgelaufenen Jahrhunderts (etwa der
Befreiungstheologie). Hier wie dort zeigt sich, daß, wenn Religion praktiziert wird, sich ihre praktischen
Konsequenzen nicht auf das Private beschränken lassen, sondern eine wie auch immer geartete öffentliche oder
politische Dimension implizieren.
legitimierten Absolutheits- und damit Universalitätsansprüchen bewußt. Letzteren gegenüber
sind die positiv religiösen Wahrheitsansprüche defizitär. Insofern sie defizitär sind, können sie
keine universellen Ansprüche legitimieren12.
In diesem Zusammenhang führt Schultze Lessings Rekurs auf die Geschichte in der
Ringparabel an: Auf die Frage des Sultans nach der einzig wahren Religion antwortet Nathan
mit einem Verweis auf die geschichtliche Begründungsgestalt der drei abrahamitischen
Religionen: Alle drei gründen auf Geschichte und diese muß auf Treu und Glauben
angenommen werden13. Schultze interpretiert diesen Zusammenhang so, daß das geschichtlich
Einmalige aufgrund seines kontingenten, nicht wiederholbaren Charakters nicht zum
„Geschichtsbeweis“ im strengen Wortsinn taugt: „Alles Geschichtliche kann kausal erklärt
werden, aber nie als notwendig demonstriert werden; ihm fehlt die metaphysische Evidenz,
die allein den reinen Vernunftwahrheiten zukommt“14.
2) Als zweites Motiv nennt Schultze ein positives Toleranzmotiv: Alle Religionen stimmen in
den „einfachen Vernunftwahrheiten, in der natürlichen Religion“15, überein. In der
„Mannigfaltigkeit der Offenbarungsformen“ besteht eine „Strukturgleichheit von Gehalt und
Absicht, die dem glaubenden Menschen zur Aneignung und Erfüllung aufgetragen sind“16.
Insofern die positiven Religionen auf einer bestimmten Ebene doch ähnlich sind, besagte
Strukturgleichheit besteht, entsteht erst gar keine eigentliche Konkurrenzsituation.
Wie immer man zur These besagter Strukturgleichheit aus heutiger Sicht auch stehen mag,
bleibt jedenfalls festzuhalten, daß Schultze hier den Fehler vieler Lessing-Interpreten
vermeidet, Lessing eine Reduktion positiver Religion im aufklärerischen Sinn unterstellen zu
wollen. Lessing hat einem Deismus oder ähnlichen aufklärerischen Reduktionen nie das Wort
geredet (s. dazu auch o., Anm. 3). Stattdessen sieht er die verschiedenen positiven Religionen
mit ihren Differenzen und ihren individuellen Eigenheiten nicht als prinzipiell defizitäre
Verwirklichungsformen der Vernunft- oder natürlichen Religion an, sondern als „das
Vernünftige selbst in der „Existenzform der Wirklichkeit“17. Anders als im aufklärerischen
Geist seiner Zeit en vogue fordert Lessing nicht zuerst eine Reduktion der positiven
Religionen auf eine „Vernunft“- oder „natürliche Religion“, um dann die nicht sehr
überraschende Feststellung zu treffen, daß die solchermaßen domestizierten Religionen
tatsächlich alle gleich sind. Sondern besagte Gleichheitsthese ist bei Lessing mehr eine Art
deskriptive Feststellung: Nicht die reduktionistisch rekonstruierten Religionen besitzen
besagte Strukturgleichheit, sondern die faktisch bestehenden Religionen, insofern sie adäquat
interpretiert werden.
3) Damit hängt auch das dritte Motiv zusammen, das in der Transzendenz von Lessings
Wahrheitsbegriff begründet ist: Insofern die Wahrheit religiöser Überzeugungen prinzipiell
transzendent, also empirisch nicht realisierbar ist, bleiben ihre positiven
Verwirklichungsversuche in Gestalt der einzelnen Religionen notwendig defizitär und damit
perspektivisch. Positive Verwirklichungsversuche transzendenter religiöser Wahrheit können
diese niemals exhaustieren, sondern bestenfalls nur perspektivisch beschränkt widergeben18.
12
Vgl. Schultze, a.a.O., S. 71ff..
Vgl. Lessing, Nathan, S. 73, vv. 1975ff.
14
Schultze, a.a.O., S. 74, unter Verweis auf Lessings berühmtes Wort vom “grastigen breiten Graben” zwischen
zufälligen Geschichtswahrheiten und notwendigen Vernunftwahrheiten.
15
Schultze, a.a.O., S. 75f.
16
Schultze, a.a.O., S. 76, s. auch S. 94.
17
Schultze, a.a.O., S. 76. Gegenüber dem naheliegenden Einwand, daß Lessings Herausgabe des Reimarus
Nachlasses doch dafür spricht, daß er dessen Deismus teilt, sei hier noch kurz entgegnet, daß diese Herausgabe
weniger durch eine Übereinstimmung mit dessen Inhalten motiviert ist, sondern durch ein radikal
durchgehaltenes aufklärerisches Wahrheitsethos, demzufolge alle Positionen ein Recht darauf haben, gehört zu
werden (so wie natürlich auch durch Lessings persönliche Antipathie gegenüber allen selbstzufriedenen
Absolutheitsansprüchen der kirchlichen Orthodoxie).
18
Hier bestehen offensichtliche Ählichkeiten zu dem, was ich andernorts die „Inexhaustivität des Unbedingten“
bei Paul Tillich genannt habe, worunter vor allem sein „Protestantisches Prinzip“ fällt, wie auch zu Hicks
13
Insofern keine einzige religöse Perspektive einen Monopolanspruch auf (das Exhaustieren
von) Wahrheit erheben kann, entfallen alle Begründungen, intolerant zu sein19.
4) Damit ist eng ein viertes Motiv verwandt, nämlich, daß jeder „Mensch[...]auf seinem
eigenen, ihm entsprechenden Wege zu Gott gelangen“ darf- „die Unterschiedlichkeit der
Wege ist Ausdruck des Reichtums der Wahrheit“20. Die Verschiedenheit religiöser
Perspektiven und Herangehensweisen wird hier also mit der Fülle religiöser Wahrheit und
damit deren Inexhausitivität legitimiert.
Schultze unterscheidet das vierte Motiv nicht explizit vom dritten. Meines Erachtens sollten
beide allerdings deutlich voneinander abgegrenzt werden, da ihre Begründungen variieren: Ist
die Argumentation mit der Transzendenz von Wahrheit epistemologischer Art- das
„Absolute“ (um es mit Tillich zu sagen), ist endlichen Erkenntissubjekten prinzipiell
unzugänglich-, ist das vierte Motiv, ausgehend „vom Reichtum der Wahrheit“, eher
theologisch-ontologisch. Hier wird ein sehr viel stärkeres (Vor)wissen von der Wahrheit
(Gottes) vorausgesetzt als im dritten.
Im übrigen weist das vierte Motiv mit dem Ansatz einer positiven Würdigung von
Individualität über rein aufklärerisches Denken mit seiner Betonung von Uniformität hinaus
in Richtung auf die deutsche Romantik mit ihrer Betonung des Wertes (der Ausbildung) von
individueller Verschiedenheit. Insofern Lessing an dieser Stelle hier in bestimmter Weise über
rein aufklärerisches Denken hinausgeht, er sozusagen nur noch an der Grenze der Aufklärung
zu lokalisieren ist, bietet es sich an, dieses Motiv vom unter 3) genannten Motiv zu
unterscheiden.
5) Die konstruktive Bedeutung des Geschichtlichen21 in der Ringparabel
So zutreffend Schultzes Rekonstruktion im allgemeinen auch sein mag, so ist doch Kritik an
der Bedeutungszuweisung zu üben, die er dem Geschichtlichen im „Nathan“ unterstellt. Er
verfällt in den Fehler vieler Lessing-Interpreten, die Funktion des Geschichtlichen hier zu
unterschätzen. Dieses ist o., Kapitel 4, bei seiner Rekonstruktion des ersten Motivs deutlich
geworden und wird auch daran deutlich, daß er von einer „Disqualifizierung des
Geschichtlichen“22 bei Lessing sprechen kann sowie von einer „Unabhängigkeit des Glaubens
von aller historischen Begründung[...]“23. Hier wird der Fehler gemacht, den Rekurs auf das
Geschichtliche bei Lessing als allein negativ motiviert zu beurteilen und dabei die
konstitutiven Funktionen zu übersehen, die dieser im „Nathan“ zur Bearbeitung des Problems
der Religionspluralität besitzt.
Dieses Urteil gilt meines Erachtens für die Lessing-Forschung im allgemeinen, bei der ein
Defizit darin besteht, Lessings Stellung zum Geschichtlichen im „Nathan“ aus seinen anderen
Äußerungen zur Sache, etwa aus dem „Fragmenten-Streit“24, ableiten zu wollen. Bei
derartigen Versuchen wird übersehen, daß Lessing ebensowenig ein „systematischer“
Schriftsteller ist wie etwa Kierkegaard. Ihm geht es nicht so sehr darum, ein konsistentes
Postulat eines „real an sich“ (s. dazu den Vergleich zwischen beiden in Grube, Unbegründbarkeit Gottes?
Tillichs und Barths Erkenntnistheorien im Horizont der gegenwärtigen Philosophie, Marburg 1998, S. 41-6; s.
dazu auch Christian Danz Beitrag in diesem Band, S. ...
19
Vgl. Schultze, a.a.O., S. 81f.
20
Schultze, a.a.O., S. 98, ähnlich S. 105.
21
Ich übernehme Begriffe wie „Geschichtliches“ aus der einschlägigen Lessing-Forschung und verwende sie im
folgenden analog zum Englischen „historicism“ oder „historicizing“, also als philosophische Kategorien, die
eine Historisierung, Relativierung, Kontextualisierung etc. angeblich un-geschichtlich, absoluter, universaler o.ä.
Ansprüche implizieren.
22
Schultze, a.a.O., S. 90.
23
Schultze, a.a.O., S. 91 (s. aber S. 94).
24
S. zu diesem etwa Peter von Düffel, Erläuterungen und Dokumente. G.E. Lessing. Nathan der Weise, Stuttgart
1998 (Reclam 8118), S. 87ff.
Gesamtsystem aufzustellen, sondern darum, eine für die jeweilige Situation adäquate Antwort
zu finden. Und die Situation hat sich zwischen der Abfassung des „Fragmenten-Streites“ und
dem „Nathan“ grundlegend verändert: Im „Fragmenten-Streit“ war der Gegner die kirchliche
Orthodoxie, die Glaubensansprüche durch historische Rekurse absichern will,
Offenbarungsansprüche durch Geschichtsbeweise, etwa einen Rekurs auf die biblischen
Wunderberichte, legitimieren will. Diesem Gegner gegenüber betont Lessing die prinzipielle
Defizienz von Geschichtsbeweisen und hier hat der Satz vom „garstigen Graben“ 25 seinen
systematischen Ort.
So scharf Lessing im „Nathan“ auch die krichliche Orthodoxie in der Person des Patriarchen
angreift, so marginal ist dieses Thema doch insgesamt hier. Das Zentralthema ist das der
Religionspluralität, das nicht nur in der Ringparabel als solcher, sondern auch im
Gesamtdrama wichtig ist, wie etwa in der stufenweisen Aufklärung von sowohl dem Templer
als auch Rechas deutlich wird. Und hier, im Zusammenhang dieser Problematik, gewinnt das
Geschichtliche konstitutive Funktionen. Es ist nicht nur eine „Verlegenheitslösung“ nach dem
Motto: „Leider können wir bei den drei abrahamitischen Religionen nicht mehr als nur
geschichtliche, d.h. kontingente Beweise anführen!“. Sondern es ist der Angelpunkt, an dem
die Möglichkeit einer konstruktiven Lösung des Problems der Religionspluralität hängt. Das
werde ich im folgenden aufzeigen.
Dazu rekonstruiere ich zunächst kurz den einschlägigen Zusammenhang: Der Ringparabel
geht im „Nathan“ die Frage Saladins voraus, welche der drei Religionen, Judentum, Islam
oder Christentum, die eine wahre ist.
„Von diesen drei Religionen kann doch eine nur die wahre sein26“.
Saladin schmeichelt daraufhin dem für seine Weisheit bekannten Nathan, indem er weiter
fragt:
„Ein Mann, wie Du, bleibt da
Nicht stehen, wo der Zufall der Geburt
Ihn hingeworfen: oder, wenn er bleibt,
Bleibt er aus Einsicht, Gründen, Wahl des Besseren.
Wohlan! so teile Deine Einsicht mir,
Dann mit. Laß mich die Gründe hören, denen
Ich selber nachzugrübeln, nicht die Zeit
Gehabt. Laß mich die Wahl, die diese Gründe
Bestimmt- versteht sich, im Vertrauen- wissen,
Damit ich sie zu meiner mache[...]“27
Saladin fragt hier also nach einer nicht-kontingenten Begründung von Religion
beziehungsweise einer nicht-kontingenten Begründung der Wahl von Religion („[...]bleibt da
nicht stehen, wo der Zufall der Geburt
Ihn hingeworfen: oder, wenn er bleibt, bleibt er aus Einsicht[...]“).
Dieses philosophische Begründungsersuchen geht bei Saladin Hand in Hand mit einem sehr
lebenspraktischen Interesse: Chronisch in Finanznot, will er vom reichen Kaufmann Nathan
Geld erhalten und versucht daher, diesen in eine Zwangslage zu bringen. Diese besteht in dem
Dilemma, daß der Jude Nathan am Hofe des muslimischen Sultans nicht einfach sagen kann,
daß das Judentum die einzige wahre Religion ist, andererseits dessen Gültigkeit aber auch
nicht einfach zugunsten des Islam (oder gar des Christentums) verleugnen kann, da er dann
sofort mit der Frage konfrontiert würde, warum er in diesem Fall nicht konvertiert.
Nathan befreit sich aus diesem Dilemma mit der bekannten Ringparabel. Saladin ist von der
eigentlichen Parabel von den drei Ringen selbst, also ohne den zusätzlichen Richterspruch
sowie den Rekurs über Geschichtlichkeit, nicht wirklich überzeugt. Er moniert, daß die
25
Vgl. von Düffel, a.a.O., S. 94 u.ö.
Lessing, Nathan, S. 69, vv. 1845-1847.
27
Lessing, Nathan, S. 69, vv. 1847-1854.
26
Religionen, anders als die drei Ringe, sehr wohl zu unterscheiden wären. Daraufhin antwortet
Nathan mit dem hier interessierenden Rekurs auf Geschichtlichkeit:
„Und nur von Seiten ihrer Gründe nicht.Denn gründen alle sich nicht auf Geschichte?
Geschrieben oder überliefert! – Und
Geschichte muß doch wohl auf Treu
Und Glauben angenommen werden? – Nicht?Nur wessen Treu und Glauben zieht man denn
Am wenigsten in Zweifel? Doch der Seinen?
Doch deren Blut wir sind? Doch deren, die
Von Kindheit an uns Proben ihrer Liebe
Gegeben? Die uns nie getäuscht, als wo
Getäuscht zu werden uns heilsamer war?Wie kann ich meinen Vätern weniger
Als Du den Deinen glauben? Oder umgekehrt.Kann ich von Dir verlangen, daß du deine
Vorfahren Lügen strafst, um meinen nicht
Zu widersprechen? Oder umgekehrt.
Das nämliche gilt von den Christen. Nicht?“28
Die für das Problem der Religionspluralität konstitutive Funktion dieser Reflexion auf die
Geschichtlichkeit der Begründung von Religion wird meines Erachtens in der einschlägigen
Forschung nicht genügend gewürdigt. Daß diese Reflexion wichtig ist, zeigt sich schon
innerhalb des Erzählzusammenhangs: Sie markiert den entscheidenden Wendepunkt innerhalb
der Erzählung: Von jetzt ab ist Saladin wirklich überzeugt. Er gibt alle Versuche auf, Nathan
in eine Dilemmasituation zu bringen und bietet ihm am Ende echte Freundschaft an statt zu
versuchen, Geld von ihm zu erhalten (das Nathan ihm später freiwillig gibt).
Die Wichtigkeit dieser Reflexion wird aber nicht nur durch ihre Stellung innerhalb des
Erzählzusammenhangs deutlich, sondern auch dadurch, daß hier Lessings eigene Lösung des
Problems der Pluralität von Religionen beziehungsweise des der Tolerierung anderer
Religionen zu suchen ist. Das zeigt sich schon daran, daß diese Reflexion Lessings ganz
eigener Zusatz ist, der in dem Quelltext, der der Ringprarabel zugrunde liegt, Boccacios
„Decamerone“29, nicht existiert. In dieser Reflexion ist also ein Schlüssel zur Rekonstruktion
von Lessings eigener Sicht des Problems der Pluralität der Religionen zu suchen.
Inhaltlich besteht diese Sicht darin, daß Lessing hier den Ausgangspunkt zurückweist, der mit
der suggestiven Frage Saladins gegeben war (s.o.): Die Gründe für die Wahl einer Religion
sind andere, als die, die Saladin hören will. Nathan gibt hier nicht etwa „Vernunftgründe“ o.ä.
an, warum die eine Religion besser wäre als die andere. Stattdessen votiert er für eine
wohlbegründete Akzeptanz von Geschichtlichkeit und damit Kontigenz. Die Kontingenz, die
Saladin abfällig als „Zufall der Geburt“ (s.o.) bezeichnet, erfährt bei Nathan eine ganz andere
Wertung: Es geht nicht darum, das Kontigente zu überwinden, den „Zufall der Geburt“ durch
nicht-kontingente Gründe zu überhöhen, oder, wie faktisch zumeist der Fall, durch derartige
Gründe post factum zu rechtfertigen (was sowieso leicht durchschaubar ist, da die
„Vernunftgründe“ zumeist offensichtlich so konstruiert sind, das sie im Nachhinein dasjenige
legitimieren, was sowieso schon immer geglaubt wurde30). Bei Lessing geht es hier nicht
darum, geschichtliche Kontingenz durch angeblich rationale Gründe zu überwinden, sondern
darum, diese positiv zu rezipieren, konstruktiv mit ihr umzugehen. In dieser Umwertung von
geschichtlicher Kontingenz, dessen Logik sich Saladin nicht entziehen kann, liegt auch der
eigentliche Grund für den Umschlag von dessen Verhalten.
28
Lessing, Nathan, S. 73f, vv. 1974-1990.
Auszugsweise in von Düffel abgedruckt, a.a.O., S. 75-77.
30
Vgl. dazu meine Kritik an Tillichs Äußerungen zur Sache, in Unbegründbarkeit Gottes? S. 77-79.
29
Schematisiert wiedergegeben besteht Lessings Antwort auf die Frage, welche der drei
Religionen die wahre ist, in folgender Antwort:
- Alle drei Religionen basieren auf Geschichtlichkeit (insofern sie auf historischen
Ansprüchen beruhen)
- Geschichtlichkeit kann nur auf der Basis von Vertrauen akzeptiert werden (“auf Treu und
Glauben angenommen“, s.o.)
- Vertrauen wird naturgemäß zuerst „den Seinen“ geschenkt, denjenigen, die „von Kindheit
an uns Proben ihrer Liebe gegeben[...]uns nie getäuscht“ (s.o.). Was hier symbolisch als
„Familiengeschehen“ dargestellt wird, stellt auf der nicht-symbolischen Ebene die eigene
Tradition dar, insbesondere die religiöse Tradition.
Kurzum, Nathan argumentiert hier, daß es „naturgemäß“ ist, den Ansprüchen der eigenen
religiösen Tradition zuerst Glauben zu schenken.
Wenn wir an dieser Stelle den Umschlag von der Textebene auf die Interpretationsebene
vornehmen, ergibt sich folgendes Bild: Insofern Nathan an dieser Stelle Lessings eigene
Position widergibt, argumentiert letzterer hier, daß es „naturgemäß“ ist, den Ansprüchen der
eigenen religiösen Tradition zuerst Glauben zu schenken. Entscheidend dabei ist die Einsicht,
daß diese „Naturgemäßheit“ gleichzeitig eine Legitimation für Lessing darstellt. Es ist nicht
nur „naturgemäß“, der eigenen Tradition zuerst Glauben zu schenken, insofern es „leider,
leider“ keine andere Lösung des Problems gibt, sondern es ist „naturgemäß“ im Sinne von
„epistemisch gerechtfertigt“: Der Glaubende ist berechtigt, zuerst seiner eigenen Tradition
Glauben zu schenken.
Mit dieser Antwort geht Lessing deutlich über schlichtes Aufklärungsdenken hinaus. In fast
postmodernistisch, etwa Rortyansch anmutender Weise akzeptiert er hier geschichtliche
Kontingenz: Die Kontingenz, die aus besagten Gründen in der Wahl der je eigenen Religion
impliziert ist, muß nicht noch einmal durch angeblich rationale, „Vernunftgründe“, überhöht
werden. Sondern sie kann als solche, nicht weiter fundierbare, stehen gelassen werden und
ihre Konsequenzen können positiv rezipiert werden.
In dieser positiven Rezeption von Kontingenz liegt dann auch der eigentliche Schlüssel zum
Problem der Pluralität von Religionen im „Nathan“: Der Gläubige ist zumindest prima facie
epistemisch gerechtfertigt, seiner je eigenen Religion anzuhangen31 (wie u. gezeigt werden
wird, handelt es sich dabei um eine Teillösung, die der Ergänzung durch einen anderen
Lösungsaspekt bedarf, der sich in Lessings zweitem Zusatz zum „Decamerone“ zeigt, nämlich
dem Richterspruch).
Natürlich kann diese Antwort nicht die Wahrheitsfrage im eigentlichen Sinn beantworten:
Wahrheit ist nicht-kontingent und nicht geschichtlich vermittelt beziehungsweise begründet.
Außerdem ist sie, jedenfalls im Prinzip, eine. Und die Einheit von Wahrheit kann natürlich
durch eine derartige Argumentation, bei der jeder legitimerweise seiner je eigenen Religion
weiter anhangen kann, nicht gesichert werden. Diese Tatsache bereitet der Lessing-Forschung
denn auch viel Kopfzerbrechen (s.o., Schultzes Bearbeitung des Geschichtsmotivs aus der
Ringparabel unter der Überschrift „negatives Toleranzmotiv“).
Ich denke, daß sich manche Interpretationsprobleme vermeiden lassen, wenn diese Lösung
des Toleranzproblems nicht als Antwort auf die Wahrheitsfrage verstanden wird, sondern als
Antwort auf die Rechtfertigungsfrage. Es geht hier gar nicht so sehr um Wahrheit im strengen
Sinn des Wortes. Hier geht es stattdessen um das Rechtfertigungsproblem. Lessing
argumentiert nicht, daß alle drei Religionen im strengen Sinn des Wortes wahr sind, sondern
(um es in gegenwärtiger Parlance zu sagen), daß wir epistemisch gerechtfertigt sind, unserer
je eigenen Religion anzuhangen. Kurzum, die Funktion dieser Reflexion auf die
Geschichtlichkeit der Begründung von Religion ist also nicht die Lösung des
Wahrheitsproblems im eigentlichen Sinn, sondern die Lösung des Rechtfertigungsproblems.
31
Wie schon Karl Barth gesehen hat (Die protestantische Theologie im 19. Jahrhundert, Zollikon/Zürich, 1952,
S. 232).
Sie lautet: „Ja, wir sind gerechtfertigt unserer je eigenen Religion anzuhangen“- und das gilt
in gewissem Sinn unabhängig von der Frage nach der Wahrheit dieser Religion (s. dazu u.,
Kapitel 6).
Der Grund, warum diese eigentlich verblüffend einfache und geradlinige Lösung des
Problems der Pluralität von Religionen im „Nathan“ bisher nicht ausreichend gewürdigt
worden ist, hängt meines Erachtens damit zusammen, daß die meisten Interpreten zwei
miteinander zusammenhängende Fehler begehen: Sie übersehen die konstitutiven Funktionen
dieses Rekurses auf die Geschichtlichkeit (s.o.), weil sie ihn fälschlicherweise als Antwort auf
die Wahrheitsfrage auffassen. Als solcher leistet er in der Tat nicht besonders viel, Wahrheit
ist eben nicht geschichtlich. Die Folge davon ist dann, daß das Geschichtliche abgewertet
wird, etwa im Sinne von Lessings Äußerungen im „Fragmenten-Streit“.
Beide Fehler können aber vermieden werden, wenn die Unterscheidung zwischen Wahrheitsund Rechtfertigungszusammenhang konsequent durchgeführt wird. Dann kann Lessings
Rekurs auf Geschichtlichkeit und damit Kontingenz strikt als Antwort auf die
Rechtfertigungsfrage gesehen werden, wodurch die Probleme vermieden werden können, die
entstehen, wenn dieser Rekurs als Antwort auf die Wahrheitsfrage angesehen wird. Damit
wird dann der Weg frei, die konstruktiven Funktionen dieses Rekurses für die Lösung der
Toleranzproblematik positiv würdigen zu können: Insofern die Lösung der
Rechtfertigungsproblematik, anders als die der Wahrheitsproblematik, nicht notwendig
ungeschichtlich und nicht-kontingent sein muß, kann das geschichtlich Kontingente, hier die
geschichtliche Begründung von Religion, als solche akzeptiert werden. Die damit verbundene
Ermöglichung von Pluralität ermöglicht dann ihrerseits einen konstruktiven Umgang mit der
Religionspluralität, kurz gesagt, die Lösung des Problems der Tolerierung anderer Religionen.
6) Der Richterspruch in der Ringparabel
Wie o. angedeutet, fügt Lessing in seiner Ringparabel zwei Zusätze zum Quelltext, der der
Ringparabel zugrunde liegt, dem Decamerone, hinzu, den o. analysierten Exkurs über die
Geschichtlichkeit der Begründungen von Religion und den Richterspruch am Ende der
Ringparabel32. Die Lösung des Problems der Pluralität von Religionen wird zumeist in
letzterem Spruch gesehen. Nun ist das sicherlich nicht grundsätzlich verkehrt. Doch mein
Vorschlag ist, den Richterspruch nicht isoliert, sondern im Zusammenhang mit Lessings
anderem Zusatz, besagtem Exkurs, zu sehen und darin die eigentliche Lösung des Problems
der Pluralität von Religionen zu suchen. Dabei sollte der Exkurs konsequent als Antwort auf
die Rechtfertigungs- oder Begründungsfrage gelesen werden, der Richterspruch als Antwort
auf die Wahrheitsfrage im eigentlichen Sinn. Wenn beide Antworten im Zusammenhang
gelesen werden, ergibt sich eine interessante Interpretationsmöglichkeit, die ich im folgenden
näher skizzieren werde.
Wie o. ausführlich dargelegt, impliziert der Verweis auf die geschichtliche Kontingenz der
Begründungen von Religion die Möglichkeit der Akzeptanz einer Pluralität von Religionen:
Insofern alle Religionen auf Geschichte basieren und diese auf „Treu und Glauben“ akzeptiert
werden muß (s.o., Kapitel 5), ist Nathan ebenso berechtigt an seiner jüdischen Religion
festzuhalten wie der Sultan an seiner muslimischen; und „nämliches gilt für den Christen“.
Wenn wir dem Vorschlag folgen, diese Antwort konsequent als Antwort auf die
Rechtfertigungsfrage im engeren Sinn anzusehen und diese streng von der Wahrheitsfrage im
eigentlichen Sinn abzugrenzen, heißt das einerseits, daß die in der Begründung von Religion
implizierte geschichtliche Kontingenz eine prinzipielle Akzeptanz der Pluralität von
Religionen ermöglicht, eine derartige Akzeptanz andererseits aber noch nichts über die
letztendliche Wahrheit oder Unwahrheit bestimmter Religionen aussagt. Sie sagt nur aus, daß
32
Letzterer findet sich in Lessing, Nathan, S. 74f, vv. 1993-2050.
wir unter den „hic et nunc“ vorherrschenden Erkenntnisbedingungen gerechtfertigt sind,
bestimmte Religionen als prima facie gerechtfertigt anzusehen. Von der eine konstruktive
Lösung der Pluralitätsproblematik ermöglichenden Rechtfertigungsfrage in besagtem Exkurs
ist der Richterspruch zu unterscheiden, der als Antwort auf die Wahrheitsfrage angesehen
werden sollte. Dieser Spruch besteht aus zwei Elementen, dem eigentlichen Spruch, vv. 20102027, und einem darauffolgenden Rat, vv. 2029-2054. Im ersten, eigentlichen Spruch selbst,
weist der Richter das Ansinnen der drei Brüder, den richtigen unter den drei vorhandenen
Ringen ausfindig zu machen, mit einer Mischung aus Barschheit und Sarkasmus zurück:
„[...]Wenn ihr mir nun den Vater
Nicht bald zur Stelle schafft, so weis ich euch
Von meinem Stuhle. Denkt ihr, daß ich Rätsel
Zu lösen da bin? Oder harret ihr,
Bis daß der rechte Ring den Mund eröffne?[...]33“
Er erwägt hier die Möglichkeit, daß alle drei Brüder „Betrogene Betrüger“ sein könnten und
die drei Ringe allesamt nicht echt sein könnten34.
Im darauffolgenden Rat ist der Richter wesentlich milder: Er kontrastiert die Möglichkeit, daß
der Vater die Tyrannei des einen Ringes nicht länger dulden wollte und darum die zwei
anderen Ringe anfertigen ließ, mit der Gewißheit, daß er alle drei Brüder gleich geliebt hat
und die anderen beiden Ringe anfertigen ließ, um zwei nicht „drücken“ zu müssen35. Nach der
bekannten ethischen Ermahnung- „es eifre jeder seiner unbestochenen, Von Vorurteilen freien
Liebe nach![...]“36, und deren Spezifizierung erfolgt dann die eigentliche Konklusion:
„Und wenn sich dann der Steine Kräfte
Bei euren Kindes-Kindeskindern äußern:
So lad ich über tausend tausend Jahre
Sie wiederum vor diesen Stuhl. Da wird
Ein weisrer Mann auf diesem Stuhle sitzen
Als ich; und sprechen[...]“37
Auffällig ist hier die Doppelung der Lösungen von eigentlichem Spruch und Rat. Wie immer
man diese Doppelung erklären mag38, so scheint es mir doch deutlich zu sein, daß die
Betonung nicht auf dem Spruch, sondern auf dem Rat liegt. Der Spruch wird nicht nur durch
den nachfolgenden Rat überboten, sondern ist auch unnötig unfreundlich gegenüber den
Brüdern- die Brüder haben subjektiv ja alles Recht, um ihre Ansprüche geltend zu machen, da
sie ja im Glauben sind, wirklich den echten Ring zu besitzen. Außerdem geht der Spruch von
falschen Annahmen aus: Der Richter weiß nicht, was der Leser vorher zu wissen bekommen
hat, nämlich, daß tatsächlich nicht alle drei Ringe falsch sind, sondern einer echt ist und zwei
nachgemacht sind39. Kurzum, der eigentliche Richterspruch beinhaltet noch nicht die
eigentliche „Lösung“. Diese ist stattdessen im richterlichen Rat zu suchen.
33
Lessing, Nathan, S. 74, vv. 2010-2014.
Lessing, Nathan, S. 74f, vv. 2024-2028.
35
Lessing, Nathan, S. 75, vv. 2035-2040.
36
Ebd., vv. 2041-2042.
37
Ebd., vv. 2048-2053.
38
In der Lessing Literatur, die mir zugänglich war, habe ich dafür keine befriedigende Erklärung finden können.
Meines Erachtens könnte es sich hier um zwei Perspektiven handeln, die nach Art Kierkegaards nebeneinander
gestellt werden, also so, daß sich darin zwei Meinungen wiederspiegeln, die der Autor für grundsätzlich möglich
hält, ohne daß er beide aktual gleichzeitig vertritt. Diese Doppelung könnte also Lessing eigenes Ringen um
Religion wiederspiegeln: Auf der einen Seite die aufklärerisch-kritische Haltung gegenüber Religion, abweisend,
z.T. schroff, andererseits die aufklärerisch-weisheitliche, die Religion (insbesondere, insofern sie ethisch
zugespitzt ist) durchaus Sympathie entgegenbringt. Lessings eigene Sympathien liegen zur Zeit der Abfassung
des „Nathan“, also gegen Ende seines Lebens, bei der zweiten Perspektive, der weisheitlichen (s.u.).
39
„[...]nach dem Muster seines Ringes, zwei andere bestellt“ (Lessing, Nathan, S. 72, vv. 1946f); v. 1951 ist
auch vom ununterscheidbaren „Musterring“ die Rede.
34
Das liegt auch insofern nahe, als dieser Rat die (aufklärerisch-)weisheitliche Perspektive
wiederspiegelt und der gesamte „Nathan“ in gewisser Hinsicht einen „Weisheitstext“ darstellt.
Anders als in früheren Auslassungen Lessings zur Religion geht es hier weniger um deren
Begründbarkeit oder Unbegründbarkeit o.ä. theoretische Fragen, sondern um ein
„weisheitliches“ Umgehen mit ihr und in ihr. Exemplarisch vollzieht dieses natürlich Nathan
selbst, es kommt aber auch zum Ausdruck in den Personen von Recha und dem Templer,
insofern diese als Biographien religiöser Entwicklung gelesen werden, nämlich von einer
vorurteilsbeladenen hin zu einer weisheitlichen, toleranten Form von Religiösität (Templer)
beziehungsweise einer schwärmerisch-wundergläubigen zu einer Religion der Tat (Recha)40.
Insofern sich im richterlichen Rat sozusagen mikrokosmisch wiederholt, was sich
makrokosmisch im gesamten Drama abspielt, kommt diesem besondere Bedeutung zu.
Inhaltlich gipfelt der Rat nun in der berühmten Formulierung von den „tausend tausend
Jahren“, nach denen ein „weisrer Mann“ urteilen wird. Wie immer diese Formulierung im
einzelnen auch zu interpretieren sein mag, so sind doch jedenfalls zwei Interpretationen
ausgeschlossen: Zum einen all die Interpretationen, nach denen alle drei Ringe falsch sind,
und die natürlich in der „atheistischen“ Lessing-Interpretation verwendet werden- eine
derartige Auffassung, die im eigentlichen Spruch zum Ausdruck kommt, wird mit der obigen
Kritik an diesem hinfällig. Insofern der Spruch durch den Rat sozusagen „überholt“ ist, ist
auch der Inhalt des ersteren „überholt“.
Zum zweiten sind auch diejenigen Interpretationen zurückzuweisen, nach denen hier und jetzt
entscheidbar sein soll, welche der drei Religionen die einzig richtige ist. Immer wieder ist das
Judentum in diesem Zusammenhang genannt worden41. Diese Interpretation scheitert aber
nicht nur daran, daß der Jude Nathan zwar vorbildhaft Religiösität ausübt, dabei aber nicht
sein Jude-Sein, sondern seine Qualitäten als weisheitlich-religiöser Mensch im Vordergrund
stehen42, sondern auch an eben dieser Formulierung: Insofern wir „tausend tausend Jahre“
warten müssen, ist jetzt eben noch nicht deutlich, welche der drei Religionen die einzig wahre
ist. Es wird erst dann, einstmals, deutlich werden, beziehungsweise möglicherweise deutlich
werden.
Wenn wir diesen Befund umsetzen in philosophische Kategorien, ergibt sich folgendes Bild:
Es ist einerseits nicht so, daß wir prinzipiell keine Wahrheit besitzen in Religionsfragen. Es ist
nicht so, daß alle Ringe falsch sind und damit alle Religionen „falsch“ sind. Andererseits ist
es aber auch nicht so, daß wir hier und jetzt die ganze Wahrheit schon besitzen. Zwar mag in
der Tat eine der drei Religionen doch die wahre sein. Nur ist das hic et nunc nicht erkennbar.
Es ist also nicht so, daß wir hier und jetzt wissen können, daß die jüdische Religion doch die
einzig wahre ist (dasselbe gilt für den Islam und natürlich erst Recht für das Christentum43).
Kurzum, der Befund ist, daß es zwar eine Wahrheit gibt, die vielleicht dereinst auch ans Licht
der Welt kommen wird, diese jedoch hier und jetzt noch im Dunkeln liegt.
Dieses Ergebnis ist zum einen natürlich für die Lessing-Interpretation als solche interessant:
Damit werden sowohl atheistische Interpretationen wie auch diejenige, nach der er mehr oder
Dafür, daß letzteres ein „Standardthema“ Lessings ist, vgl. etwa Schultze, S. 58ff.
So etwa Heinz Politzer, Das Schweigen der Sirenen, Stuttgart 1968, S. 367 (dort auch weitere Literatur zu
dieser Position).
42
So werden etwa keine Details seines Glaubens genannt, keine jüdischen Bräuche o.ä. Daß Religiösität hier
exemplarisch durch einen Juden verkörpert wird, hat meines Erachtens mit Lessings notorischer Parteinahme für
die Schwachen zu tun.
43
Die christlichen Gestalten kommen im „Nathan” am schlechtesten weg, insbesondere natürlich der fanatische
Patriarch, die durchtriebene Daja, der anfangs etwas begriffsstutzige und vorurteilsbeladene Templer, der erst
„geläutert“ werden muß. Am besten kommt wohl noch der christliche Mönch weg, der sich für die Intrigen des
Patriarchen nicht einspannen läßt. Wie auch aus anderen Äußerungen Lessings zur Sache deutlich ist, ist damit
aber keine prinzipielle Abwertung des Christentums impliziert, sondern eine situativ bedingte (die Kontroverse
mit Goeze, die zur Zensur Lessingscher Schriften geführt hat, ist noch nicht lange vorüber), momentane Wut auf
die kirchlich(-orthodoxen) Vertreter des Christentums.
40
41
minder heimlich eine bestimmte Religion, nämlich das Judentum, favorisieren würde,
abgewiesen.
Für unsere Zwecke hier ist dieses Ergebnis aber noch aus einem anderen Grund interessant.
Insofern hier Lessings Rekurs auf die Geschichtlichkeit der Begründung von Religion als
Antwort auf die Rechtfertigungsfrage gelesen wird, besagter Richterspruch, also eigentlicher
Spruch plus richterlicher Rat, als Antwort auf die Wahrheitsfrage im eigentlichen Sinn, ergibt
sich ein ganz bestimmtes Bild über das Verhältnis der beiden zueinander: Wie angedeutet,
ermöglicht besagter Rekurs auf die Geschichtlichkeit, gelesen als Antwort auf die
Rechtfertigungsfrage, die Tolerierung von Religionspluralität. Anhand der obigen
Beobachtungen zu Lessings Lösung der Wahrheitsfrage können wir jetzt hinzufügen, daß
besagte Tolerierung eine bestimme Lösung des Wahrheitsproblems voraussetzt, nämlich daß
es einerseits so etwas wie Wahrheit in Religionsfragen gibt oder zumindest geben könnte
(gegen die atheistische Deutung), daß diese aber hic et nunc nicht definitiv erkennbar ist
(gegen die Meinung, Lessing würde heimlich eine bestimmte Religion als einzig wahre
ansehen). Daß die Pluralität von Religionen im Prinzip rechtfertigbar ist, setzt also einerseits
voraus, daß Religion nach bestem Wissen und Gewissen geurteilt nicht definitiv unwahr ist,
daß wir aber (noch) nicht genügend Evidenz besitzen, um eine bestimmte Religion als die
wahre zu kennzeichnen. Zusammengefaßt ausgedrückt: Die Pluralität von Religionen kann
insofern gerechtfertigt werden, als die Wahrheitsfrage noch „offen“ ist, also hic et nunc
unentscheidbar ist, welche Religion die einzig wahre ist, es aber auch hic et nunc keine
durchschlagenden Gründe gibt, Religion als unwahr abzustempeln. Kürzer: Die
Unentscheidbarkeit der Wahrheitsfrage (im genannten Sinn) ist eine logische Voraussetzung
der Tolerierung von Religionspluralität.
Daß die Unentscheidbarkeit der Wahrheitsfrage eine logische Voraussetzung besagter
Tolerierung ist, ist eigentlich unmittelbar einleuchtend. Denn wäre es anders, würde die raison
d’etre für jene Tolerierung entfallen: Wäre es einerseits so, daß hic et nunc definitiv
entschieden werden könnte, daß religiöse Ansprüche unwahr sind, wäre die logische
Konsequenz nicht die Tolerierung verschiedener derartiger Ansprüche, sondern deren
Negation. Und wäre es andererseits so, daß hic et nunc schon entschieden werden könnte,
welche Religion die einzig wahre ist, gäbe es keine Gründe mehr für die Tolerierung einer
Vielzahl von Religionen. Sondern dann wäre diese eine Religion in exklusivistischem Sinn
vorzuziehen.
Ich gehe auf das Verhältnis zwischen, einerseits, Religionspluralität ermöglichender Antwort
auf die Rechtfertigungsfrage und, andererseits, Unentscheidbarkeit der Wahrheitsfrage im
genannten Sinn aus folgendem Grund so ausführlich ein: Dieser spezifische Zusammenhang
zwischen Antwort auf die Wahrheitsfrage und Rechtfertigung von Religion wird bei einer
ganz ähnlichen Argumentation notorisch übersehen, was dann üblicherweise zu grotesken
Verzeichnungen führt. Ich denke dabei an William James pro-religiöse Argumentation in
„The Will to Believe“: Ich habe in diesem Zusammenhang deutlich gemacht, daß James
Argument, daß Religion via Wille oder Gefühl („passions“) legitimerweise vertreten werden
kann, eine Antwort auf das Rechtfertigungsproblem darstellt, die nur Sinn macht, insofern
eine bestimmte Lösung des Wahrheitsproblems vorausgesetzt wird. James argumentiert nicht,
daß wir generell den Willen o.ä. verwenden können, um Religion zu rechtfertigen- das ist eine
polemische Verzeichnung seiner Position, die in der Sekundärliteratur immer wieder
fälschlicherweise verwendet wird. Sondern er argumentiert, daß wir dazu berechtigt sind,
insofern die Evidenz für und gegen Religion gleich oder ungefähr gleich ist44. Um den
gemeinten Sachverhalt in der hier verwendeten Nomenklatur auszudrücken: Nur insofern die
44
In diesem Zusammenhang zwar weniger interessant, aber der Vollständigkeit halber noch zu erwähnen, ist,
daß er auch noch voraussetzt, daß die Entscheidung für oder gegen Religion in bestimmten Sinn unentrinnbar ist
(s. dazu Grube, William James and Apologetics: Why ‘The Will to Believe’-Argument Succeeds in Defending
Religion, erscheint in Neue Zeitschrift für Systematische Theologie, Nummer 3, 2004).
Wahrheitsfrage bezüglich Religion nicht definitiv entscheidbar ist, können Wille o.ä. zur
Rechtfertigung von Religion eingesetzt werden.
Und dasselbe gilt auch für die in Lessings Ringparabel angebotene Lösung des Problems der
Religionspluralität: Sie gilt nur, insofern die Wahrheitsfrage bezüglich Religion nicht definitiv
entschieden worden ist. Um einer Kritik wie der an James von vornherein den Wind aus den
Segeln zu nehmen: Es ist nicht so, daß Lessing argumentiert, daß wir gerechtfertigt sind, die
Pluralität von Religion ohne weitere Kautelen anzunehmen. Sondern, genau wie James, setzt
auch er eine bestimmte Verhältnisbestimmung zwischen der Antwort auf die Rechtfertigungsund die Wahrheitsfrage voraus: Nur insofern wir die Wahrheit von Religion im genannten
Sinn nicht definitiv entscheiden können, gleichzeitig aber keine durchschlagenden Gründe
besitzen, um religiöse Ansprüche als falsch erweisen zu können, ist die besagte Tolerierung
von Pluralität gerechtfertigt.
Abschließend sei noch darauf hingewiesen, daß Lessing sich mit dieser Lösung als in einer
bestimmten Tradition des Umgangs mit Religion stehend erweist, nämlich einer Tradition, die
konstruktive Lösungen im Umkreis von Religion nicht so sehr in den Antworten auf die
Wahrheitsfrage sucht, sondern in den Antworten auf die Rechtfertigungsfrage, dabei aber
gleichzeitig die Wahrheitsfrage als unentscheidbar ansieht. Zu dieser Tradition gehören zum
einen der schon genannte James, indem er argumentiert, daß wir epistemisch gerechtfertigt
sind, uns mit Hilfe des Willens u.ä. für Religion zu entscheiden, insofern weder genügend
Evidenz für noch gegen Religion besteht. Dazu gehören des weiteren die Reformed
Epistemologists, insofern sie argumentieren, daß nichts dagegen spricht, religiöse
Überzeugungen unabhängig von der Frage nach ihrer Wahrheit als „properly basic“
anzusehen45. Schließlich gehört zu dieser Tradition auch noch- wenn ich so unbescheiden sein
darf, meinen eigenen unter diesen großen Namen zu erwähnen-, mein eigener Vorschlag,
religiöse Überzeugungssysteme unabhängig von ihrer Wahrheit verteidigen zu können,
insofern sie mit Hilfe einer kohärentistisch-holistischen Methodologie gerechtfertigt werden
können46.
III. Zur systematischen Bearbeitung der Unterscheidung zwischen Rechtfertigung und
Wahrheit und ihren Implikationen für das Pluralitätsproblem
7) Die Unterscheidung zwischen Rechtfertigung und Wahrheit im Neo-Pragmatismus
An dieser Stelle möchte ich die bisher eher intutiv in Anspruch genommene Unterscheidung
zwischen Rechtfertigung und Wahrheit philosophisch vertiefen. Dazu greife ich auf den NeoPragmatismus zurück, also auf die Schule Richard Rortys, in der diese Unterscheidung eine
wichtige Rolle spielt. Rorty selbst unterscheidet auf folgende Weise: In Hinsicht auf Wahrheit
betont er, „truth is, to be sure, an absolute notion in the following sense: ‘true for me but not
for you’ and ‘true in my culture but not in yours’ are weird, pointless locutions. So is ‘true
then, but not now’. Whereas we often say ‘good for this purpose, but not for that’ and ‘right in
this situation, but not in that’, it seems pointlessly paradoxical to relativize truth to purposes
or situations47“. Wahrheit ist also ein absolutes Prädikat, das in Hinsicht auf Personen oder
Kulturen ebensowenig relativiert werden kann wie in diachroner Hinsicht oder in Hinsicht auf
verschiedene Situationen.
45
S. dazu Alvin Plantinga, Reason and Belief in God, in: Faith and Rationality. Reason and Belief in God, S. 1693, S. 78, sowie meine Kritik daran in ‘Religious Experience after the Demise of Foundationalism’, Religious
Studies 31 (1995), S. 37-52, die allerdings noch nicht hinreichend berücksichtigt, daß sich Plantingas Thesen als
Antworten auf das Rechtfertigungs- anstelle des Wahrheitsproblems darstellen lassen.
46
S. Grube, Unbegründbarkeit Gottes?, S. 191-209.
47
Richard Rorty, Truth and Progress, Philosophical Papers, vol. 3, Cambridge, 1998, S. 2.
Rechtfertigung dagegen kann in der Tat relativiert werden: „On the other hand, justified for
me but not for you’ (or ‘justified in my culture but not in yours’) makes perfect sense48”.
Rechtfertigung ist also ein nicht-absolutes, relatives Prädikat.
Rorty, der sich selber als in der Tradition des Pragmatismus stehend ansieht, weist des
weiteren darauf hin, daß schon James diese Unterscheidung gehandhabt hat und deshalb
kritisiert worden ist: „[...](W)hen James said that ‚the true is the good in the way of belief’, he
was accused of confusing justification with truth, the relative with the absolute49“. Deshalb
wäre es besser gewesen, wenn James seine Ansprüche auf das Rechtfertigungsproblem
beschränkt hätte: „James would, indeed, have done better to say that phrases like ‚the good in
the way of belief’ and ‚what is better for us to believe’ are interchangeable with ‚justified’
rather than with ‘true’50”.
Rorty wäre nun nicht Rorty, wenn er die Gelegenheit unbenutzt ließe, in diesem
Zusammenhang gleich noch eine Polemik gegen den absoluten Wahrheitsbegriff einzufügen:
James „[...]could have gone on to say that we have no criterion of truth other than
justification, and that justification and betterness-to-believe will always be as relative to
audiences (and to ranges of truth candidates) as is goodness to purposes and rightness to
situations. Granted that ‘true’ is an absolute term, its condition of application will always be
relative. For there is no such thing as belief being justified sans phrase- justified once and for
all- for the same reason that there is no such thing as a belief that can be known, once and for
all, to be indubitable…”.51 Deshalb sollten Pragmatisten (solche a la Rorty) keine
Wahrheitstheorie anbieten, sondern betonen, daß Wahrheit kein “goal of inquiry52” sein kann:
„For the absoluteness of truth makes it unserviceable as such a goal. A goal is something you
can know that you are getting closer to, or farther away from. But there is no way to know our
distance from truth, nor even whether we are closer to it than our ancestors were. For, once
again, the only criterion we have for applying the word ‘true’ is justification, and justification
is always relative to an audience…This means that the question ‘Do our practices of
justification lead to truth?’ is as unanswerable as it is unpragmatic…”53.
In der überhaupt für seine Herangehensweise charakteristischen Art verwendet Rorty die
Unterscheidung von Wahrheit und Rechtfertigung hier in einer höchst polemischen Absicht.
Bei ihm liegt alle Betonung darauf, den Wahrheitsbegriff als absoluten Begriff zu
desavouieren. Wahrheit wird zwar als absolutes Prädikat festgehalten, doch nur deshalb, um
zu betonen, daß ein absoluter Wahrheitsbegriff unerreichbar ist. Die Kriterien, die wir dafür
besitzen, fallen insofern in die Kategorie „Rechtfertigungskriterien“, als sie relativ sind
(relativ zu bestimmten Zielgruppe etc.). Wir besitzen keine Kriterien, um feststellen zu
können, daß etwas „once and for all indubitable“ ist, sagen wir abgekürzt, „infallibil“ ist.
Deshalb sollten (Rortyansche) Pragmatisten Wahrheit überhaupt nicht als „goal of inquiry“
ansehen.
Obwohl ich die Unterscheidung zwischen Wahrheit und Rechtfertigung auch verwenden
werde, möchte ich mich an dieser Stelle deutlich von Rorty abgrenzen: Abgesehen davon, daß
Rorty hier vorschnell Dinge wie „goal of inquiry“-Sein mit Infallibilität identifiziert,
verurteile ich die genannte polemische Absicht seiner Argumentation. Anders als Rorty geht
es mir keineswegs darum, die Relativität des Rechtfertigungsbegriffs dazu zu verwenden, um
einen absoluten Wahrheitsbegriff zu desavouieren.
Stattdessen kommt es mir darauf an, die Relativität des Rechtfertigungsbegriffs zur
konstruktiven Theoriebildung in Religionsfragen zu verwenden. Konkret geht es darum, die
48
Ebd.
Ebd..
50
Ebd.
51
Ebd.
52
Rorty, Truth, S. 3.
53
Rorty, Truth, S. 3f.
49
mit dem relativen Charakter von Rechtfertigung implizierte Akzeptanz von Pluralität
konstruktiv zur Lösung des Problems der Pluralität von Religionen zu verwenden- was mir,
wie o. deutlich geworden sein dürfte (s. Sektion II), bei Lessing schon angedeutet zu sein
scheint. Der absolute Wahrheitsbegriff wird dabei nicht a la Rorty desavouiert, sondern spielt
in bestimmter, nämlich negativer Hinsicht eine Rolle, sozusagen als Grenzbegriff der
Theoriebildung (s.u.).
Die Tatsache, daß Rorty besagte Unterscheidung zur Polemik gegen den Wahrheitsbegriff
verwendet, hat nichts mit der Unterscheidung als solcher zu tun hat, sondern mit Rortys
Neigung, alle absoluten Begriffe in möglichst polemischer Weise zu desavouieren. Daß diese
Unterscheidung auch in anderer, wesentlich konstruktiverer Weise, verwendet werden kann,
möchte ich abschließend noch an deren Verwendung durch einen anderen, viel gemäßigteren
Neo-Pragmatisten54 zeigen, nämlich Jeffrey Stout.
Schon in seiner Monographie „Ethics after Babel“ stellt besagte Unterscheidung einen
Grundzug dar: Immer wieder betont Stout hier, daß die Rechtfertigung moralischer Prinzipien
oder Einzelurteile relativ ist, während deren Wahrheit nicht relativ ist. So ist etwa die
Wahrheit der Aussage „slavery is evil“ nicht relativ in dem Sinn, daß sie im Prinzip zu allen
Zeiten an allen Orten gilt. Ihre Rechtfertigung ist dagegen in der Tat relativ. Ob sie tatsächlich
gerechtfertigt werden kann, hängt von den konkreten Umständen ab, etwa dem jeweiligen
Menschenbild, das in einer Kultur vorherrscht. Die Relativität ihrer Rechtfertigung ändert
aber nichts an ihrer grundsätzlich absoluten Wahrheit. Die Unterscheidung zwischen der
absoluten Wahrheit dieser Aussage und ihrer relativen Rechtfertigung ermöglicht es Stout
dann auch, etwa „moral blame“, sagen wir, „moralische Schuld“, als relativ, von den
Umständen abhängig anzusehen, ohne dabei die Aussage als solche relativieren zu müssen:
Ob eine bestimmte Kultur oder Gruppe, etwa im antiken Griechenland, tatsächlich moralisch
schuldig ist, weil sie diese Aussage als ungerechtfertigt angesehen hat (also das Halten von
Sklaven moralisch gerechtfertigt fand), hängt von den näheren Umständen ab. Aber wie die
Antwort auf diese Frage auch ausfällt, das ändert nichts an der Wahrheit der Aussage „slavery
is evil“55.
In seiner neuesten Monographie, „Democracy and Tradition“, widmet Stout besagter
Unterscheidung zwei Kapitel. Im ersten Kapitel über Rechtfertigung stellt er im Gegenüber
zum moralischen Skeptizismus fest, daß „many of us are justified in holding some of the
moral beliefs we hold56“. Doch gleichzeitig gilt auch hier, daß „[...]being justified in believing
something- being entitled to believe it- is a status that can vary from context to context57”.
Auch hier gilt, daß Wahrheit nicht relativ ist. Insofern Wahrheit von Rechtfertigung zu
unterscheiden ist, können beide auf unterschiedliche Weise behandelt werden: „[...]they
behave so differently that it makes sense to combine a contextualist account of justification
with a nonrelativist account of moral truth58“.
Einerseits habe ich bezüglich der konkreten Durchführung von Stouts Programm Zweifel. Vor
allem scheint mir seine konzeptionelle Einholung des Wahrheitsproblems in „Ethics after
Babel“ ungenügend zu sein. Hier arbeitet er den nicht-relativen Wahrheitsbegriff mit Hilfe
von Kategorien aus, die der umgangssprachlichen Richtung der Sprachphilosophie entlehnt
sind: „[...]once we have learned everything that Davidson, Austin and others like them have to
teach us about the behaviour of is true and cognate expressions, there is nothing remaining to
54
Stout ist insofern ein gemäßigter Neo-Pragmatist, als er sich einerseits intensiv mit Rorty beschäftigt und
dessen Einsichten für die Religionsphilosophie und Ethik fruchtbar zu machen versucht, andererseits aber
kritisch gegenüber Rortys Radikalismen, dessen „pithy little formulae“ (Jeffrey Stout, Ethics after Babel, Boston,
1988, S. 248) ist.
55
S. Stout, Ethics, S. 86f u.ö.
56
Jeffrey Stout, Democracy and Tradition, Princeton 2004, S. 231.
57
Ebd.
58
Stout, Democracy, S. 240 (“contextualist” entspricht hier dem, was o. als „relativistisch“ bezeichnet worden
war).
be told about the concept or essence of truth59”. Und in Hinsicht auf den Begriff der
Rechtfertigung gilt, „[...]that social-scientific and historical insight into the character of
justificatory practices plus Wittgensteinian insight into the use of epistemic terminology give
all the insight into justification we know how to get60”. Umgangssprachliche Analysen im
Wittgensteinschen o.ä. Sinn sind nun sicher nicht hinreichend zur Konzeption des
Rechtfertigungsbegriffs und vor allem nicht eines wie auch immer zu spezifizierenden
Wahrheitsbegriffs mit Absolutheitsansprüchen. Stout läßt sich hier durch seine Kritik am
Essentialismus zu übertriebenen Entgegenstellungen verleiten, nach dem Motto: „Wer dem
Wahrheitsbegriff keine intrinsische Essenz zuschreibt, landet bei Wittgenstein“. Es sind aber
sicherlich Konzeptionen des Wahrheitsbegriffs denkbar, die beide Extreme vermeiden, zwar
nicht essentialistisch sind, dabei aber trotzdem robustere Ressourcen zu seiner
konzeptionellen Einholung bereitstellen, als der Wittgensteinianismus aufbieten kann61.
Andererseits scheint mir trotz aller Zweifel an der konkreten Durchführung von Stouts
Programm sein Ansatz als solcher vielversprechend zu sein. Die Unterscheidung zwischen
relativer und damit notwendig pluraler Rechtfertigung und absoluter, damit nicht pluraler
Wahrheit, scheint mir nicht nur ein interessantes Instrument zu sein, um Lessings Ringparabel
besser verstehen zu können, sondern gleichzeitig auch einen Ansatz zur Lösung des Problems
der Pluralität von Religionen in der gegenwärtigen Situation bieten zu können. Das
Zugeständnis von Pluralität (s. dazu u., Kapitel 8) wird hier nämlich nicht um den Preis einer
Degradierung von Religion erkauft: Es ist also nicht so, daß wir im Fall von Religion „nur“
plurale Rechtfertigungen besitzen, in anderen Fällen, besonders natürlich in den
Naturwissenschaften, aber absolute Wahrheit im eigentlichen Sinn. Nein, Wahrheit ist
prinzipiell unzugänglich, in den Naturwissenschaften ebenso wie im Fall von Religion. Alles,
was wir hic et nunc zur Verfügung haben, sind prinzipiell „perspektivische“, „contextualist“,
prinzipiell fallibile etc. Rechtfertigungen, keine absoluten Wahrheitsansprüche. Daß das für
Religion gilt, hat also nichts damit zu tun, daß diese im Vergleich mit z.B. den
Naturwissenschaften in kognitiver Hinsicht defizitär wäre, sondern ist ein natürliches Korollar
des gewählten neo-pragmatistischen Ansatzes.
8) Die Konsequenzen der Unterscheidung zwischen Rechtfertigung und Wahrheit in
Hinsicht auf das Pluralismusproblem
Wichtig bei der hier vorgeschlagenen Interpretation ist nun, genau zu beachten, welche
Problembestände mit welcher Antwort verbunden werden. Ich möchte dabei analog zu Stout
vorgehen, der vorschlägt, konkrete ethische Fragen mit dem Rechtfertigungsproblem statt mit
dem Wahrheitsproblem zu verbinden: Die Frage, ob ein moralisch Handelnder moralisch
schuldig ist oder nicht, hängt von den konkreten (kulturellen u.ä.) Umständen ab, die
Wahrheit einer ethischen Aussage nicht.
Ebenso sollten wir in dem uns hier interessierenden Fall vorgehen und konkrete ethische
Fragen bezüglich des Pluralismusproblems mit der Rechtfertigungsfrage statt der
Wahrheitsfrage verbinden: Die Frage, wie weit wir den Radius legitimer Pluralität ziehen
sollten, konkret also, welche spezifischen Religionen wir tolerieren sollten, sollten wir
unabhängig von der Wahrheitsfrage beantworten. Wir sollten stattdessen fragen, welche
Religionen oder religiöse Subströmungen innerhalb der etablierten Religionen rechtfertigbar,
59
Stout, Ethics, S. 252.
Ebd.
61
S. dazu auch u., Kapitel 8. In „Democracy“ vermeidet Stout zwar derartig übertriebene Entgegenstellungen,
betont aber meines Erachtens noch immer zu stark den nicht operationalisierbaren Charakter des
Wahrheitsbegriffs (s. etwa. S. 240). An dieser Stelle hat sich Stout noch nicht hinreichend vom Einfluß
Rortyscher Radikalismen befreit.
60
oder jedenfalls im Prinzip rechtfertigbar sind und welche nicht. Damit sind aber keine
weiteren Ansprüche verbunden bezüglich der Wahrheit oder Unwahrheit dieser Religionen.
Ich meine, daß ein derartiges Verfahren einige Vorteile aufweist, zu denen u.a. die folgenden
gehören:
- Ein philosophischer Vorteil dieser Herangehensweise ist, daß die Ermöglichung der
besagten pluralistischen Lösung nicht auf Kosten einer Trivialisierung des Wahrheitsbegriffs
erkauft ist: Daß eine Pluralität von Religionen prinzipiell zugestanden ist, heißt nicht, das
damit auch der Wahrheitsbegriff als solcher „pluralisiert“ werden müßte. Die
Schwierigkeiten, die bei einer „Pluralisierung“ des Wahrheitsbegriffs auftreten- wie etwa in
Formulierungen wie, „x ist wahr in Sprache L1, aber nicht in Sprache L2“62-, können hier also
vermieden werden. Insofern das Pluralismusproblem an die Rechtfertigungs- statt an die
Wahrheitsfrage angekoppelt wird, wird die Ermöglichung von Pluralität bei der hier
vorgeschlagenen Interpretation also nicht um den Preis einer postmodernistischen
Verflachung des Wahrheitsbegriffs oder gar von dessen Inkonsistenz erkauft.
- Ein gesellschaftspolitischer Vorteil besteht darin, daß konkrete Fragen nach der Tolerierung
von Religion unabhängig von der schwierigen Frage nach deren Wahrheit beanwortet werden
können. Es ist also nicht so, daß wir erst die definitieve Unwahrheit einer bestimmten
Religion oder religiösen Strömung wie etwa radikal islamitischer Strömungen aufzeigen
müssen, bevor wir diese als intolerabel ansehen können. Nein, insofern sich diese als nicht
akzeptabel erweisen lassen, sind wir gerechtfertigt, sie auch als intolerabel anzusehen und
entsprechend zu handeln. Durch eine derartige Ausblendung der Wahrheitsfrage im konkreten
ethischen Bereich ergibt sich ein Zuwachs an ethisch-politischem Handlungsspielraum63.
- Der dritte Vorteil ist theoretisch ethischer Art: Dieser Zuwachs an Handlungsspielraum ist
aber nicht um den Preis universaler Legitimationsansprüche oder ähnlich weitreichender
Ansprüche mit ihren bekannten Problemen erkauft. Es muß also nicht erst etwa die Idee
allgemeiner Menschenrechte abgesichert werden, bevor bestimmte religiöse Strömungen
verurteilt werden können. Diese Idee ist ja viel zu abstrakt, um konkrete Probleme zu lösen,
insofern sie prinzipiell inoperationalisierbar (in Hinsicht auf konkrete Probleme) ist oder doch
zumindest keine eindeutigen Lösungen ermöglicht- vgl. etwa das bekannte Problem, wie das
Recht auf Freiheit der religiösen Meinungsäußerung im Gegenüber zu anderen,
fundamentalen Rechten unserer Gesellschaftssysteme abzuwägen ist. Hier liefert die Idee der
Menschenrechte entweder keine konkreten Lösungen oder, insofern sie auf konkrete
Lösungen hin zugespitzt wird, findet diese Zuspitzung, Z, aus einer bestimmten Perspektive,
p, heraus statt. Das ist aber nicht nur theoretisch insofern problematisch, als Zp dem mit der
Idee von Menschenrechten implizierten Anspruch universaler Gültigkeit widerspricht,
sondern ist auch ganz praktisch insofern problematisch, als Z natürlich aus einer anderen
Perspektive als p bestritten werden kann, zumeist mit guten Gründen (so können etwa nichtChristen behaupten, daß das Konzept der Menschenrechte auf verkappten christlichen
Voraussetzungen beruht).
Hier bietet die vorgeschlagene Entkoppelung des angesprochenen Tolerierungsproblems von
absoluten Wahrheitsansprüchen und dessen Ankoppelung an relative
Rechtfertigungsansprüche insofern Vorteile, als damit die Probleme, die bei absoluten,
universalen Legitimationsansprüchen auftreten, von vornherein vermieden werden: Es geht
nicht darum, „eine Perspektive jenseits aller Perspektiven“ zu kreieren, also angeblich
universale Ansprüche zu machen- die dann doch nicht unabhängig von allen Perspektiven
legitimiert werden können. Sondern es geht um hic et nunc rechtfertigbare Ansprüche. Die
62
S. zu diesen Schwierigkeiten etwa Joseph Margolis, The Truth about Relativism, Cambridge (USA), Oxford
(UK) 1991, S. 7ff.
63
Ein derartiger Zuwachs an Handlungsspielraum ist etwa für ein Land wie Deutschland zu begrüßen, in dem es
eine Vielzahl radikal-islamistischer Gruppierungen gibt, und wo es außerordentlich schwierig ist, entsprechende
politische Maßnahmen zu ergreifen und zu legitimieren.
Lösungen, die uns in unserer heutigen Lebenswelt rechtfertigbar erscheinen, müssen nicht
erst- diachron- als zeitlos gültige nachgewiesen sein, bevor wir sie akzeptieren können. Daß
sie für uns heute gültig sind bedeutet also noch nicht, daß sie auch im vorchristlichen
Griechenland gültig gewesen sein müssen. Auch müssen sie nicht- synchron- universal gültig
sein. Daß sie für unsere heutige Lebenswelt- wie immer diese definiert wird, sagen wir
westlich-demokratisch- gültig sind, bedeutet nicht, daß sie auch für Australische aboriginals
oder gar Marsmenschen gültig sein müssen.
Der Abschied von allen absoluten, angeblich universalistischen Ansprüchen, der mit
besagtem Rekurs auf Rechtfertigungs- statt Wahrheitsansprüche gegeben ist, braucht nun
keineswegs derart agressiv vorgetragen zu werden, wie etwa Rorty ihn vorträgt. Sicherlich ist
es richtig, daß wir aus unserer heutigen Perspektive, wie immer diese im einzelnen definiert
wird, heraus urteilen- wir haben keine andere zur Verfügung. Doch muß diese Erkenntnis
nicht derart desensibel gegenüber Anderen vorgetragen werden, wie es Rorty und manche
andere Verfechter der Ethnozentrismus-These bisweilen tun64. Daß wir aus unserer heutigen
Perspektive heraus, „ethnozentrisch“, urteilen, bedeutet ja nicht, daß wir uns gegenüber
anderen Perspektiven prinzipiell abschließen müßten. Perspektiven sind keine
abgeschlossenen Entitäten, sondern durchaus veränderbar und verbesserbar. Dort, wo wir von
anderen Perspektiven lernen können, wo andere Menschen uns bereichern können, oder wo
wir andere Religionen tolerieren können, sollten wir dieses auch aktiv tun beziehungsweise
zulassen.
Daß die hier vorgeschlagene Vorgehensweise in diesem Punkt anders aussieht als bei
manchen Neo-Pragmatisten, hängt mit einer anderen Behandlung des Wahrheitsproblems
zusammen. Wie o. angedeutet, hält Rorty nur an absoluten Wahrheitsansprüchen fest, um
diese sofort mit Hilfe des relativen Rechtfertigungsbegriffs zu desavouieren: „[…] we have no
criterion of truth other than justification […] Granted that ‘true’ is an absolute term, its
condition of application will always be relative” (s.o., Kapitel 7). In der hier vorgeschlagenen
Perspektive ist das zwar durchaus zutreffend, aber nur die eine, kognitive Seite der Medaille.
Davon zu unterscheiden ist die andere, ethische Seite: Daß wir wissen, daß wir keine
Kriterien besitzen, um das definitive Bestehen absoluter Wahrheit festzustellen, muß ethische
beziehungsweise wissenschaftsethische Konsequenzen besitzen. Es muß zu einer Ethik der
Bescheidenheit in kognitiven und vergleichbaren Ansprüchen führen.
Diese Ethik der Bescheidenheit ist darin begründet, daß das, was wir aus unserer heutigen
Perspektive als rechtfertigbar ansehen, nicht auch gleichzeitig absolut wahr sein muß. Es
könnte also durchaus sein, daß das, was wir heute als rechtfertigbar ansehen, in der Zukunft
als nicht rechtfertigbar angesehen wird- und umgekehrt. Insofern hier eine Differenz zwischen
Rechtfertigung beziehungsweise Rechtfertigbarkeit und absoluter Wahrheit besteht und wir
außerdem darum wissen, sollten wir bescheiden sein in unseren Ansprüchen und diese nicht
vorschnell verabsolutieren.
Diese Ethik der Bescheidenheit kann dann etwa in Form von epistemischen Pflichten
zugespitzt werden. Um nur zwei derartige Pflichten zu nennen: Zum einen ist da die Pflicht
des auf-Andere-Hörens-und-Andere-Ernst-Nehmens zu nennen. Wir sollten uns aktiv
bemühen, andere Perspektiven zu verstehen. Diese Pflicht folgt aus der Erkenntnis der
Perspektvität und damit Beschränktheit unserer jeweiligen Rechtfertigungsbemühungen.
Darum wissend sollten wir uns aktiv bemühen, diese Beschränktheiten zu reduzieren. Das
schließt etwa ein, daß wir versuchen, so gut wie möglich Andere zu verstehen, um auf diese
Weise unseren Horizont zu erweitern und die Beschränktheiten unserer jeweiligen
64
S. dazu Rorty, Solidarity or Objectivity?, in: Richard Rorty, Objectivity, Relativism, and Truth. Philosophical
Papers vol. 1, Cambridge 1991, S. 21-34 and Richard Rorty, On Ethnocentrism: A Reply to Clifford Geertz, in:
Rorty, Objectivity, S. 203-210.
Rechtfertigungsbemühungen zu reduzieren- ohne allerdings jemals den Anspruch zu haben,
diese Beschränkungen in via65 vollständig überwinden zu können.
Zum zweiten ist auch eine Sorgfaltspflicht in diesem Zusammenhang zu nennen: Insofern wir
wissen, daß unsere Rechtfertigungsbemühungen immer beschränkt sind, wir aber nicht anders
können, als auf diese Weise zu rechtfertigen, sollten wir alles daran setzen, unsere
Rechtfertigungsbemühungen so sorgfältig wie möglich zu formulieren. Das impliziert etwa
die Pflicht, relevante Informationen so weit wie möglich zur Kenntnis zu nehmen, andere
Perspektiven mit ihren abweichenden Kriterien66 zur Kenntnis zu nehmen, wo immer
möglich.
Abschließend sei noch darauf hingewiesen, daß besagte Ethik der Bescheidenheit keine
falsche Bescheidenheit impliziert und keine Tolerierung von Religionspluralität ohne alle
Grenzen. Es sollte aus dem Vorhergegangenen deutlich geworden sein, daß das Ziel nicht sein
kann, jedwede Pluralität zu tolerieren und uns jedweden Urteils über andere Perspektiven,
etwa religiöser Art, zu enthalten (s. vor allem Kapitel 1 und 2). Der Vorteil der hier
vorgeschlagenen Herangehensweise ist ja gerade, daß sie Handeln in aller Vorläufigkeit
legitimiert. Wir brauchen also nicht erst zu warten, bis wir die universale Begründung
besitzen, mit deren Hilfe wir etwa religiösen Fanatismus verurteilen. Wir brauchen nicht zu
warten, bis dessen Unwahrheit definitiv erwiesen worden ist, sondern können ihn hic en nunc
verurteilen und daraus die entprechenden Konsequenzen ziehen, insofern wir dazu
gerechtfertigt sind- vorausgesetzt natürlich, wir haben besagte Pflichten erfüllt.
Besagte Vorgehensweise ist nun vielleicht weniger glamourös als universelle Ansprüche,
Projekte eines universalen „Weltethos“ o.ä. es sind. Aber sie ist nüchterner und ermöglicht
auf ihre nüchterne Art verantwortliches politisches Handeln und dessen
(religions)philosophische Legitimation. Und oftmals sind es ja gerade nicht die glamourösen,
sondern die nüchternen Vorschläge, die auf lange Sicht für alle Beteiligten die besten
Resultate zeitigen.
65
Dieser Zusatz mit seinem theologisch-eschatologischen Implikationen soll en passant deutlich machen, daß
die hier vorgeschlagene Interpretation nicht nur aus (religions)philosophischer Perspektive heraus akzeptabel ist,
sondern dieses durchaus auch aus theologischer Perspektive sein kann. Da das hier nicht mein Thema ist,
beschränke ich mich auf einen kurzen Hinweis: Bei der Betonung der Beschränkungen unserer jeweiligen
Rechtfertigungsbemühungen denke man etwa an die ethischen Impulse, die die (christlich-protestantische)
Rechtfertigungslehre impliziert und die etwa in der paulinischen Relativierung von (der Erkenntnis) des
Weltlichen kanonisiert sind.
66
Damit sind insbesondere abweichende second-order-Kriterien gemeint, also solche zur Rechtfertigung von
kognitiven oder ethischen Ansprüchen.
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