Die Pluralität der Religionen in Lessings Ringparabel und die Unterscheidung zwischen Rechtfertigung und Wahrheit Der Beitrag, den ich gebeten worden bin zu verfassen, soll sich mit dem Thema „christlicher Wahrheitsanspruch und Pluralität der Religionen“ beschäftigen. Ich fasse dieses Thema so auf, daß dabei die Frage im Mittelpunkt steht, inwiefern das Festhalten an bestimmten religiösen Wahrheitsansprüchen kompatibel ist mit einer Tolerierung1 verschiedener Religionen. Ich werde diese Frage so angehen, daß ich in Abschnitt I das Problem der Pluralität von Religionen aus heutiger europäischer Sicht einführend skizziere. Das Ziel dieser Skizze ist nicht nur, die Relevanz dieser Problematik im heutigen europäischen Kontext deutlich zu machen, sondern auch, daß die Akzeptanz einer Pluralität von Religionen zwar heutzutage unvermeidlich, gleichzeitig aber eine mühsame Aufgabe ist. In Abschnitt II bespreche ich einen Ansatz, in dem dieses Problem in hervorragender Weise behandelt wird, nämlich Gotthold Ephraim Lessings Ringparabel. In Abschnitt III werde ich eine Implikation der Lessingschen Lösung eingehender untersuchen, die Unterscheidung zwischen Rechtfertigung und Wahrheit (religiöser Überzeugungen). Ich werde diese Unterscheidung in philosophischer Hinsicht eingehender untersuchen, d.h. in der Verwendungsweise, wie sie im Neo-Pragmatismus, bei Richard Rorty und Jeffrey Stout, auftritt. Ich schließe mit einer allgemeinen Reflektion über die Leistungskraft dieser Unterscheidung in Hinsicht auf das Problem der Pluralität von Religionen (Kapitel 8). I. Das Problem der Pluralität von Religionen aus heutiger europäischer Sicht 1) Der Dornröschenschlaf der Europäer in Religionsfragen Das Problem der Pluralität von Religionen ergibt sich zunächst einmal grundsätzlich dadurch, daß es um differierende Wahrheitsansprüche o.ä. geht: Zwei oder mehr religiöse Wahrheitsansprüche differieren voneinander, christliche Wahrheitsansprüche von jüdischen, oder, für die meisten heutigen europäischen Gesellschaften aktueller, von islamischen. Das Problem verschärft sich noch dadurch, daß beide Wahrheitsansprüche in demselben geographischen Raum vertreten werden: Zur Zeit des Westfälischen Friedens mag die Kompromißformel, differierende Konfessionen geographisch zu trennen, noch sinnvoll gewesen sein (s. dazu u., Kapitel 3), heute ist eine derartige Problemlösung aber nicht mehr möglich. Abgesehen davon, daß eine derartige Lösung im Zuge der fortschreitenden ökonomischen Globalisierung, der zugenommenen Internationalisierung von Konflikten und Konfliktherden (was sich etwa im Irak abspielt, kann Europa oder die USA nicht unberührt lassen) sowieso problematisch sein dürfte, hat sich die faktische Situation inzwischen grundlegend verändert: In vielen europäischen Staaten leben Christen und Moslems nebeneinander und die islamischen Bevölkerungsgruppen sind inzwischen so groß, daß sie schon allein deshalb nicht mehr ignoriert werden können. Das Problem ist also sozusagen „vor die Haustür“ der Europäer gewandert. Es wird natürlich noch dadurch verschärft, daß 1 Ich werde im folgenden- außer, wenn ich auf die Lessing-Diskussion eingehe- nicht die gängigen Begriffe „Pluralismus“ und „Toleranz“ verwenden, da beide durch die inzwischen geführte Diskussion zur Sache außerordentlich beladen und entsprechend unscharf geworden sind (vgl. dazu etwa den Artikel „Pluralismus“ in RGG4, Band 6, 2003, Sp. 1400 ff (Peter Haigis und Friedrich Schweitzer) sowie die Diskussion um das Toleranzproblem in Bijdragen, International Journal in Philosophy and Theology 63 (2002), speziell S. 387-416, The ups and Downs of Tolerance. An Introductory Essay on the Genalogy of (Religious) Tolerance (Theo de Wit) und S. 446-472, Het eigene en het Vreemde. Twee Vormen van Tolerantie (Peter Jonkers). Stattdessen verwende ich die etwas weniger eingängigen, aber dabei doch weniger historisch beladenen Begriffe „Pluralität“ und „Tolerierung“. etwa der Islam auch radikale Strömungen beherbergt, die so stark anti-westlich beziehungsweise anti-christlich geprägt sind, daß eine Koexistenz von westlich-christlichen Wahrheitsansprüchen und radikal-islamischen schwierig zu verwirklichen ist. Dieses Problem wird als solches in zunehmendem Maße in der breiteren europäischen Öffentlichkeit erkannt und diskutiert, vor allem im Rahmen der Diskussionen über die Ausländerpolitik. Um ein konkretes Beispiel anzuführen: In den niederländischen Medien wird momentan der Frage nach der Integration von (vor allem marokkanischen, aber auch türkischen) Moslems breiten Raum eingräumt. Die Verschärfung des Problembewußtseins zeigt sich des weiteren auch dadurch, daß traditionelle Tabus gebrochen werden und das Scheitern dieser Integrationspolitik inzwischen offen diskutiert werden kann, wobei auch laut über „politisch unkorrekte“ Maßnahmen nachgedacht werden kann, wie etwa die Integration „erzwingen“ zu wollen (etwa dadurch, daß Ausländer, die in den Niederlanden leben wollen, einen niederländischen Mindestwortschatz nachweisen müssen)- für eine Kultur, deren Identität mit der Idee der Liberalität untrennbar verbunden ist, ein schmerzliches Eingeständnis. Dieses Eingeständnis ist dadurch unumgänglich geworden, daß die Probleme, die mit dem Aufeinandertreffen religiöser und damit kulturell-ethnischer Differenzen in den Niederlanden entstanden sind, inzwischen ein solches Maß erreicht haben, daß sie selbst für den liberalsten Ideologen unübersehbar geworden sind. In der breiteren europäischen Öffentlichkeit werden die Probleme, die mit dem Aufeinandertreffen religiöser und damit kulturell-ethnischer Differenzen verbunden sind, erst seit kurzer Zeit derart intensiv diskutiert. Der terminus a quo ist dabei der 11. September 2001, die durch muslimische Extremisten ausgeführten Anschläge auf das „World Trade Center“. Des weiteren sind in diesem Zusammenhang die Konflikte in Afghanistan und im Irak (der zweite Irak-Konflikt ab 2003) und, nun auch auf den europäischen Raum übergreifend, die Anschläge auf spanische Züge im Frühjahr 2004 zu nennen, insofern sie auf das Konto islamischer Extremisten gehen. Diese Ereignisse haben das europäische Bewußtsein dafür geschärft, daß eine vernünftige Ausländerpolitik nicht ohne eine Berücksichtigung religiöser Differenzen realisierbar ist und dafür, daß bestimmte religiöse Wahrheitsansprüche möglicherweise miteinander inkompatibel sind, so daß, im Fall des Zusammenlebens in demselben geographischen Gebiet, die Konflikte sozusagen „vorprogrammiert“ sind. Die Tatsache, daß Konflikte in diesem Fall „vorprogrammiert“ sind, ist eigentlich eine Trivialität, die kaum der Erwähnung wert ist. Daß ich hier dennoch darauf eingehe, hängt damit zusammen, daß die (meisten) Europäer diese Tatsache bis vor kurzem systematisch geleugnet haben, so daß es eines derart schockierenden Erlebnisses wie des 11. September bedurfte, um sie aus ihrem „Dornröschenschlaf in Religionsfragen“ zu wecken. Hier schlägt das verheerende Erbe der modernistischen, quasi-materialistischen Religionskritik durch, die den meisten Europäern in Fleisch und Blut übergegangen ist: Sie hatten sich ganz selbstverständlich angewöhnt, das Religiöse nicht mehr als konstitutiv für das Menschliche anzusehen. Diese durch die aufklärerische Religionskritik vorbereitete Trivialisierung von Religion erhielt ihre Begründung durch materialistische oder quasi-materialistische Erklärungstheorien. Letztere hatten einen derart umfassenden und vor allem unhinterfragbaren Charakter erhalten, der ganz selbstverständlich auf Kosten aller anderen, vor allem des religiösen Aspekts des Menschseins, geltend gemacht werden konnte. So wurde der Mensch ganz selbstverständlich als „homo oeconomicus“ gedacht, für den religiöse Aspekte nicht konstitutiv sind. Diese Ideologie war nicht nur im Marxismus selbstverständlich, sondern reichte weit in das bürgerliche Lager hinein und war in den meisten europäischen Ländern mehrheits- wenn nicht gar konsensfähig. So war es bis vor kurzem noch ganz selbstverständlich, daß etwa Unruhen in Algerien, verursacht durch islamische Fundamentalisten, quasi-materialistisch interpretiert wurden. In vielen europäischen Medien galt es als ausgemachte, nicht eigens zu begründende Tatsache, daß für dies Unruhen ökonomische Gründe anzugeben sind. Fundamentalistische Eigenbeschreibungen, daß ihre Motivation genuin (fundamentalistisch-islamisch) religiös ist und ihre anti-westliche Haltung dadurch bedingt ist, konnten in Europa ganz selbstverständlich durch quasi-materialistische Erklärungen überlagert werden: „Eigentlich dreht sich der Konflikt um ökonomische Fragen. Hier äußert sich der Protest der ökonomischen Verlierer (der Globalisierung, westlicher Dominanz o.ä.)“. Die Implikation war dabei, daß, wenn die ökonomischen Umstände nur verbessert werden könnten, damit gleichzeitig auch die Probleme gelöst werden würden. Kurzum, das Religiöse wurde nicht mehr als solches Ernst genommen, sondern materialistisch „weginterpretiert“. Dieser quasi-Materialismus hat sich als verheerende Fehleinschätzung der Europäer2 erwiesen. Dieses dürfte nach dem 11. September und den nachfolgenden Ereignissen auch vom eingefleischtesten quasi-Materialisten nicht mehr zu übersehen sein. Inzwischen scheint es so, daß die Europäer dabei sind, aus ihrem religiösen Dornröschenschlaf aufzuwachen: Das Religiöse wird nicht mehr einfach negiert oder „weginterpretiert“, sondern beginnt, als solches wieder Ernst genommen zu werden. Davon zeugt die Vielzahl an Artikeln über Religion in den Medien, in denen das Religiöse als solches, also nicht nur materialistisch uminterpretiert, behandelt wird. Dazu gehört auch die steigende Nachfrage nach fachkundigen Informationen über den Islam, die sich etwa in einer wachsenden Anzahl islamwissenschaftlicher Stellenausschreibungen äußert. Daß die Europäer dabei sind, aus ihrem Dornröschenschlaf aufzuwachen und das Religiöse wieder als solches Ernst zu nehmen, ist natürlich zu begrüßen. Zu bedauern ist dabei nur, daß es nicht der Kuß des Prinzen war, der sie geweckt hat, sondern daß die Selbstverständlichkeit der Notwendigkeit, das Religiöse als solches Ernst zu nehmen, erst durch ein derart schockierendes Ereignis wie das des 11. September 2001 wieder ins Bewußtsein gedrungen ist. 2) Die Pluralität der Religionen als Konkurrenzverhältnis Die andere Auffassung, die in Europa zwar nicht so allgemeinverbindlich war wie eine quasimaterialistische Uminterpretation des Religiösen, dennoch aber weitverbreitet war, ist, daß, wenn sich alle Beteiligten nur redlich Mühe geben würden, die Probleme, die sich aus einer Pluralität von Religionen ergeben, schon gelöst werden könnten. Ich denke, daß auch hier allmählich das Bewußtsein dafür wächst, daß jedenfalls Religionen von der Art der drei abrahamitischen immer in einem Kokurrenzverhältnis oder jedenfalls potentiellen Konkurrenzverhältnis zueinander stehen und daß der „gute Wille“ aller Beteiligten nicht hinreicht, um die daraus resultierenden Probleme zu lösen. 2 Daß ich mich hier auf Europa beschränke, hat damit zu tun, daß die Sachlage in den USA anders ist. Zwar hat man auch dort die Relevanz des Religiösen unterschätzt. So haben etwa die U.S.-amerikanischen Sicherheitsdienste die politische Relevanz und Durchschlagskraft der Exilregierung Chomeinis am Ende des Schah-Regimes im früheren Persien falsch eingeschätzt. Dennoch sind in der allgemeinen Geisteslage in den USA besagte quasi-materialistische Uminterpretationen des Religiösen weit weniger en vogue gewesen als seinerzeit in Europa. Das hat zum einen damit zu tun, daß im anglo-amerikanischen Geistesleben derartige Uminterpretationen sowieso verpönter sind als im kontinentalen Bereich- wenn dort jemand äußert, daß seine Beweggründe religiös sind, kann diese Äußerung nicht so leicht in dem Sinn uminterpretiert werden, daß er „eigentlich“ nur etwas über seine ökonomischen Umstände sagt. Zum anderen hat es auch damit zu tun, daß in den USA eine viel schärfere Trennung zwischen privat und öffentlich vorherrscht, die es ermöglicht, Utopien jeder Art, also auch religiösen, breiten Raum einzuräumen- solange sie sich auf den im weitesten Sinn privaten Raum beschränken. Die Lektion von 11. September u.ä. Ereignissen ist natürlich, daß dieses im Fall bestimmter religiöser Utopien gerade nicht möglich ist (s. auch u., Kapitel 2). Diese Fehleinschätzung ist aber andrer Art als die der Europäer und bedarf einer gesonderten Diskussion, die ich hier nicht führen kann, so daß ich die Gültigkeit der folgenden Skizze auf Europa beschränke. Auch bei dieser Auffassung hat eine Unterschätzung des Religiösen eine zwar nicht so gravierende, dennoch aber wichtige Rolle gespielt: Religiöse Wahrheitsansprüche sind oft nach dem Muster anderer, leichter zu vereinbarenderer Ansprüche interpretiert worden, wobei übersehen worden ist, daß religiöse Wahrheitsansprüche einen anderen Charakter besitzen. Selbstverständlich existieren Arten von Ansprüchen, bei denen Differenzen nicht notwendig als Konkurrenz oder potentielle Konkurrenz aufgefaßt werden müssen. So können Differenzen über die Vorzüge von Erdbeer- oder Himbeereis oder über die künstlerische Qualität von van Goghs „Die Brücke von Arles“ bestehen bleiben, ohne daß damit schon notwendigerweise ein Konkurrenzanspruch gegeben ist. Geschmacks- und ästhetische Ansprüche lassen wir für gewöhnlich nebeneinander gelten, auch wenn sie inkompatibel sind. Doch nur der, der religiöse Ansprüche unterschätzt, wird sie in diese Kategorie rubrizieren wollen. Derjenige dagegen, der diesen Fehler vermeidet, wird sie in eine Kategorie einordnen, bei der Differenzen tatsächlich ein potentielles Konkurrenzverhältnis implizieren. Und, um gleich noch mit einem in diesem Zusammenhang auch verbreiteten Fehlurteil aufzuräumen, das hat nichts mit kontingenten Faktoren zu tun, etwa damit, daß ihre Vertreter nun leider einmal derart missionarische Neigungen besitzen. Sondern daß Differenzen im religiösen Bereich automatisch die Tendenz besitzen, eine Konkurrenzsituation herbeizuführen, liegt an den ontologischen Charakteristika, die Religionen wie den besagten inhärent sind3. Ich führe hier zwei davon auf: 1) Diese Wahrheitsansprüche implizieren ontologische Annahmen, die umfassende Implikationen beinhalten, z.B. über die Entstehung der Welt (etwa als Gottes Schöpfung), über die Verfaßtheit des Menschen (etwa als Sünder), zumeist auch über die Zukunft des Individuums oder gar der Welt als ganzer (der eschatologische Ausblick). Hiermit ist eine mehr oder minder umfassende Weltsicht impliziert, die eben aufgrund ihres Umfassungscharakters zumindest eine Tendenz zu Hegemonialansprüchen besitzt. Damit ist nicht gesagt, daß religiöse Wahrheitsansprüche mit allen anderen großflächigen Theorien notwendigerweise konkurrieren müssen. So mag es etwa möglich sein, um ein viel diskutiertes Beispiel aufzunehmen, christlich-religiöse Wahrheitsansprüche mit einer großflächigen Theorie wie der Evolutionstheorie zusammen zu denken (ob das tatsächlich möglich ist, hängt davon ab, inwieweit diese christlichen Wahrheitsansprüche die Welt nicht nur als Schöpfung Gottes ansehen, sondern diesen Schöpfungakst auch inhaltlich weiter präzisieren, etwa als Schöpfung in sieben Tagen o.ä.). Aber damit ist ausgesagt, daß religiöse Wahrheitsansprüche wie die christlichen aufgrund ihres Umfassungscharakters mit religiösen Wahrheitsansprüchen, die einen vergleichbaren Umfassungscharakter haben, potentiell in einem Konkurrenzverhältnis stehen. 2) Die Ontologie steht bei den besagten Religionen zumeist im Zeichen der Ethik. Die oben genannten Annahmen über die Entstehung der Welt, ihr eschatologisches telos etc., enthalten zumeist auch Handlungsimpulse. Pointierter gesagt, die Beschreibung von Wirklichkeit ist bei besagten Religionen nicht allein in deskriptiver Hinsicht relevant, sondern großenteils auch in präskriptiver. Beschreibung geht Hand in Hand mit Bewertung von Wirklichkeit undinsofern Bewertung Anleitung zum Handeln gibt-, impliziert damit potentiell auch Handeln. Insofern nun diese Handlungsanleitungen differieren, verschiedene Religionen verschiedene Praktiken implizieren, ist von vornherein deutlich, daß sie nicht schiedlich-friedlich nebeneinander existieren können, sondern in einem zumindest potentiellen Konkurrenzverhältnis stehen4. Kurzum, es ist also deutlich, daß Religionen wie die besagten Vgl. dazu auch meinen Artikel „Geltung“, RGG4, Band 3, 2000, Sp. 604. In der Zeit der Aufklärung konnte dieses verständlicherweise noch nicht so deutlich sein. So kann Lessing in der Ringparabel davon ausgehen, daß alle Religionen im Prinzip ethisch doch dasselbe wollen, etwa „Sanftmut“, „herzlichste Verträglichkeit“ und „Wohltun“ (Lessing, Nathan der Weise, Stuttgart 1990 (Reclam 3), S. 75, vv. 2045f. Derartige Formulierungen müssen heutzutage nicht nur aufgrund einer „Hermeneutik des Verdachts“ als suspekt beurteilt werden- also als heimlich von bestimmten, etwa christlichen Ideen geprägt-, sondern sprechen auch den faktisch ausgeübten Praktiken vieler Religionen Hohn. 3 4 in einem zumindest potentiellen Konkurrenzverhältnis stehen. Dieses läßt sich nicht so einfach durch den „guten Willen“ aller Beteiligten lösen, sondern liegt im Fall von Religionen sozusagen „in der Natur der Sache“. Nun ist die Feststellung, daß es in der Natur der Sache liegt, daß Religionen in einem Konkurrenzverhältnis stehen, nicht als Kassandraruf gedacht. Doch sie ist als Warnung davor gedacht, die Probleme, die mit einer Pluralität von Religionen gegeben sind, zu leicht zu nehmen. Nur wenn wir die damit implizierten Probleme ernster nehmen als es die Europäer bis vor kurzem getan haben, können wir zu politisch akzpetablen Lösungen kommen. Und diese sind in Europa umso drängender, als der Proporz zwischen christlichen und islamischen Bevölkerungsgruppen in vielen europäischen Ländern im Begriff ist, sich zu verändern. Man denke hier etwa, einerseits, an die hohen Geburtenraten unter islamischen Glaubensangehörigen in fast allen europäischen Ländern und, andererseits, die relativ schwachen Geburtenraten bei christlichen Glaubensangehörigen in vielen europäischen Ländern (etwa Deutschland) sowie die steigende Animosität gegenüber dem Christentum, die sich etwa in einer großen Zahl von Kirchenautritten manifestiert- ganz zu schweigen vom möglichen Zutritt der Türkei zur EU und der damit implizierten Verschiebung der Kräfteverhältnisse zwischen Islam und Christentum in Europa. Insofern verschiedene religiöse Ansprüche potentiell immer in einem Konkurrenzverhältnis zueinander stehen, muß, wenn wir eine irgendwie pluralistische Lösung anstreben5, diese Konkurrenz „gemanagt“ werden, in sozialverträgliche Bahnen gelenkt werden. Das „Managen“ der Religionspluralität sollte dabei aber die Voraussetzungen der religiösen Binnenperspektive ernster nehmen, als es die Europäer bisher getan haben- die religiöse Binnenperspektive sollte nicht mehr so leichtfertig durch außenperspektivische Rekonstruktionen wie besagte materialistische Uminterpretation ersetzt werden. Der folgende Beitrag soll als Versuch der Legitimation und Ausarbeitung besagten „Managens“ bei gleichzeitigem Ernstnehmen der religiös-binnenperspektivischen Ansprüche verstanden werden. Es soll also darum gehen, einen theoretischen Hintergrund zu skizzieren, mit dessen Hilfe ein Religionspluralismus legitimiert werden kann, der gleichzeitig aber den religiösbinnenperspektivischen Ansprüchen gerecht wird, so weit dieses philosophisch möglich und ethisch vertretbar ist. II. Lessings Lösung des Problems der Religionspluralität in der Ringparabel 3) Das Problem der Religionspluralität in der deutschen Aufklärung Die Probleme, die sich aus einer Pluralität konkurrierender religiöser Wahrheitsansprüche ergeben, sind nun keineswegs neu. Das Zeitalter, in dem diese Probleme in aller Schärfe hervortreten, ist das der Aufklärung. Ich möchte im folgenden an dem wohl interessantesten Vertreter der deutschen Aufklärung, Lessing, zeigen, inwiefern seine Lösung auch für die heutige Diskussion weiterführend sein kann. Vor dem Hintergrund unserer Ausgangsfragestellung, inwiefern das Festhalten an bestimmten religiösen Wahrheitsansprüchen kompatibel ist mit einer Tolerierung verschiedener Religionen, ist die deutsche Aufklärung sicherlich der interessanteste Gesprächspartner, da hier die Radikalismen sowohl der französischen wie auch der englischen Aufkärung weitgehend vermieden werden. Die deutsche Aufklärung vermeidet (weitgehend) den radikal 5 Ich setze dabei voraus, daß es unter den Denkbedingungen, die im heutigen Europa vorherrschen, keine Alternative zu einer pluralistische Lösung gibt, da alle anderen, etwa exklusivistischen Lösungen, nicht nur schwerwiegende Legitimationsprobleme aufwerfen würden, sondern auch schlichtweg politisch undurchführbar wären, da sie zu viel zu großen Verwerfungen innerhalb der europäischen Gesellschaften führen würden. religionskritischen Ansatz der französischen wie auch den reduktionistisch(-deistischen) Ansatz der englischen6 Aufklärung. Hier wird weder die Möglichkeit, an den eigenen religiösen Überzeugungen festhalten zu können, apriori bestritten, noch wird hier auf breiter Front die Meinung vertreten, daß (redliche) Religiösität nur in einem Deismus bestehen könne. Wie sich zeigen wird, geht es Lessing gerade um die Möglichkeit, an der je eigenen religiösen Überzeugung festhalten zu können und dabei doch die Pluralität von Religionen tolerieren zu können. Was die deutsche Aufklärung betrifft, werden die Probleme, die sich aus einer Pluralität konkurrierender Religionen ergeben, vor allem im 18. Jahrhundert relevant. In dieser Zeit werden diese Probleme in aller Dringlichkeit erfahren und vor allem wesentlich gründlicher als früher theoretisch reflektiert. Die Gründe dafür sind zum einen natürlich in der Vorgeschichte zu suchen: Die Konfessionskriege des 17. Jahrhunderts haben den im nördlichen Kontinentaleuropa, insbesondere im deutschen Sprachraum Lebenden, die verheerenden Auswirkungen religiöser Differenzen deutlich zu Bewußtsein gebracht. Die seit dem Augsburger Religionsfrieden von 1555 geltende und später in das „ius reformandi“ des Westfälischen Friedens (1648) eingegangene Kompromißformel „cuius regio, eius religio“7, hat zwar die unmittelbaren Kampfhandlungen beendet, aber ein doch nur fragiles Gleichgewicht herzustellen vermocht. Abgesehen davon, daß sich diese Formel im Zuge der mit dem Aufblühen kapitalistischer Wirtschaftsformen implizierten größeren Mobilität schwerlich auf Dauer durchhalten ließ, ist damit das Problem religiöser Minderheiten, christlicher Außenseitergruppen wie etwa der Spiritualisten, oder der jüdischen Minderheiten, gar nicht oder zumindest doch nicht zureichend geregelt8. Zum anderen hat die Tatsache, daß das Problem konkurrierender religiöser Wahrheitsansprüche und der Toleranzbegriff im deutschen Sprachraum in dieser Zeit so zentral werden auch damit zu tun, daß nunmehr die Existenz von „Kulturvölkern“ mit vollkommen andersgearteten Religionen mit den Reiseberichten aus China und Indien ins europäische Bewußtsein dringt9. War es vorher, etwa im späten Mitelalter, noch möglich gewesen, die Existenz andersgearteter Religionen zwar zur Kenntnis zu nehmen, das damit aufgegebene Problem konkurrierender Wahrheitsansprüche aber dadurch zu entschärfen, daß man diese in eine deutliche Wertskala einordnete, in der das Christentum an der Spitze stand, ist das gegenüber diesen „Kulturvölkern“ mit ihren Religonen nicht mehr möglich. Das Problem konkurrierender religiöser Wahrheitsansprüche, das nicht durch entsprechende Wertungen aufgelöst werden kann, stellt sich nunmehr in voller Schärfe. In dieser Situation gewinnt nun der Begriff der Toleranz zentrale Bedeutung. Selbst ein wegen seines Spotts über Religionsfragen im deutschen Sprachraum keineswes unumstrittener 6 Selbstverständlich gibt es auch in der deutschen Aufklärung Vertreter des Deismus oder der Neologie, etwa Reimarus oder Semler (s. zu diesen z.B. Helmut Thielicke, Glauben und Denken in der Neuzeit, Tübingen, 1983, S. 87ff und 156ff, Gerhard Freund, Theologie im Widerspruch. Die Lessing-Goeze-Kontroverse, Stuttgart, Berlin, Köln, S. 165ff). Das Interessante an der deutschen Aufklärung ist aber, daß derartige Positionen nicht kennzeichnend für diese geworden sind und durch ihre führenden geistigen Köpfe auch nicht vertreten worden sind. Obwohl ich nicht explizit auf diese Frage eingehen werde, wird aus dem Folgenden aber doch implizit hervorgehen, daß das Urteil, Lessing sei ein „Hauptvertreter des dt. D(eismus)“ (Peter Byrne, „Deismus“, RGG 4, Band 2, 1999, Sp. 616) gewesen, falsch ist. Zu den Unterschieden zwischen der französischen, englischen und deutschen Aufklärung, vgl. etwa Hans J. Störig, Geschiedenis van de filosofie, Utrecht 2000 (Übersetzung von Kleine Weltgeschichte der Philosophie, Stuttgart, 25 2000) S. 373ff, 392ff und 416ff sowie die RGG-Artikel „Aufklärung“, Band 1, 1998, Sp. 930ff und 941ff (beide von Albrecht Beutel) und „Deismus“, Band 2, 1999, Sp. 614ff (Byrne u.a.). 7 Die als solche allerdings nicht fixiert worden ist; s. „Cuius regio, eius religio“, in: RGG 4, Bd. 2, Sp. 503, sowie „Augsburger Religionsfriede“, in: RGG4, Bd. 1, Sp. 957f. 8 S. Harald Schultze, Lessings Toleranzbegriff. Eine theologische Studie, Göttingen 1969, S. 12ff sowie Albrecht Beutel, „Aufklärung I. Geistesgeschichtlich“, in: RGG4, Sp. 929ff sowie ders., „Aufklärung II. Theologischkirchlich“, Sp. 941ff. Vgl. dazu auch die o.g. RGG-Artikel sowie etwa Johannes von Lüpke, Wege der Weisheit: Studien zu Lessings Theologiekritik, Göttingen 1989, S. 17ff und Freund, a.a.O., S. 18ff. 9 Vgl. dazu die interessante Anmerkung von Schultze, a.a.O., S. 17ff. Geist wie der Voltaires wird wegen seines uneingeschränkten Engagements für Toleranz doch allgemein bewundert10. Dabei ist unter den führenden Aufklärern nicht so sehr die Wünschbarkeit von Toleranz umstritten, sondern mehr die Frage ihrer theoretischen Realisierbarkeit beziehungsweise Begründbarkeit. Im Folgenden wird denn auch deutlich werden, daß die Spitze von Lessings Argumentation nicht im Erweis der Wünschbarkeit von Toleranz besteht, sondern in dem ihrer theoretischen Realisierbarkeit. Daß Toleranz dabei ganz selbstverständlich als wünschbar beziehungweise positiver Wert angesehen wird, hat mit den ganz spezifischen Voraussetzungen des aufklärerischen Denkens zu tun. Zu diesen Voraussetzungen gehört die Annahme, daß die praktischen Konsequenzen religiöser Wahrheitsansprüche weitgehend neutralisiert und damit entschärft werden können. Dieses zeigt sich zum einen darin, daß Religion mehr als zuvor privatisiert wird, ihre möglichen Konsequenzen in praktischer Hinsicht somit entschärft werden11. Zum zweiten zeigt es sich aber vor allem in dem Optimismus, die Ethik in zunehmenden Maße von der Religion emanzipieren und rein „vernunftmäßig“ betreiben zu können. Sowohl die Begründung wie auch die konkrete inhaltliche Füllung der Ethik werden nun als auf rein säkularer Basis möglich angesehen. Zumindest die grundlegenden ethischen Prinzipien werden als evident und damit dem Anspruch nach als universell gültig angesehen. Insofern die Ethik nun also sowohl in Hinsicht auf ihre Begründung wie auch ihre Inhalte als sozusagen „religionstranszendierend“ angesehen wird, wird gleichzeitig die Bedeutung des Religiösen für den ethischen und damit gesellschaftspolitischen Bereich im Aufklärungsdenken minimiert: Differenzen im Religiösen werden nicht mehr als unmittelbar auf den Bereich des Ethischen und Gesellschaftspolitischen durchschlagend angesehen. Durch diese Unabhängigkeit des Ethischen und Gesellschaftspolitischen vom Religiösen wird gleichzeitig der Spielraum gewonnen, um dem Religiösen toleranter als zuvor gegenüberstehen zu können. Der aufklärerische Staat kann sich ein gewisses Maß an Religionstoleranz leisten, da seine grundlegenden Ordnungsprinzipien durch Differenzen im religiösen Bereich nicht berührt werden- diese Prinzipien werden unabhängig von aller Religion legitimiert und ausgearbeitet. 4) Schultzes Rekonstruktion von Lessings Toleranzbegriff Das hier interessierende Thema der Religionspluralität wird in der Studie von Schultze zu Lessings Toleranzbegiff eingehend bearbeitet, so daß sich diese als Ausgangspunkt für die folgende Untersuchung anbietet. In diesem Kapitel werde ich vor allem Schultzes Ergebnisse widergeben, im folgenden kritisch darauf eingehen. Schultze diagnostiziert vier Motive für Lessings Favorisierung von Toleranz: 1) Als negatives Toleranzmotiv sieht er die Differenz zwischen positiver Religion und den Wahrheitskriterien, die aus dem aufklärerischen Vernunftbegriff erwachsen. In Übereinstimmung mit den meisten Aufklärungsschriftstellern ist sich Lessing der Differenz zwischen den Wahrheitsansprüchen positiver Religionen und den mit Hilfe der Vernunft 10 Friedrich II. kann in der Gedenkrede, die er auf Voltaire verlesen läßt, dessen Einsatz für Toleranz als dessen höchstes Verdienst anerkennen, s. dazu Schultze, a.a.O., S. 5f. 11 S. Schultze, a.a.O., S. 18f (s. auch S. 17 für das Folgende). Die Vorstellung, daß sich die ethischen Konsequenzen von Religion in dieser Weise neutralisieren lassen, ist heutzutage natürlich nicht mehr plausibel. Dieses ist zum einen die Lektion, die aus dem Aufleben fundamentalistisch-islamischer Strömungen mit ihren deutlichen Konsequenzen in praktischer Hinsicht gelernt werden kann, wie auch schon früheren Entwicklungen in westlich-christlichen Ländern, etwa der Betonung der politischen Implikationen des Glaubens bei großen Teilen der christlichen Theologie seit den siebziger Jahren des abgelaufenen Jahrhunderts (etwa der Befreiungstheologie). Hier wie dort zeigt sich, daß, wenn Religion praktiziert wird, sich ihre praktischen Konsequenzen nicht auf das Private beschränken lassen, sondern eine wie auch immer geartete öffentliche oder politische Dimension implizieren. legitimierten Absolutheits- und damit Universalitätsansprüchen bewußt. Letzteren gegenüber sind die positiv religiösen Wahrheitsansprüche defizitär. Insofern sie defizitär sind, können sie keine universellen Ansprüche legitimieren12. In diesem Zusammenhang führt Schultze Lessings Rekurs auf die Geschichte in der Ringparabel an: Auf die Frage des Sultans nach der einzig wahren Religion antwortet Nathan mit einem Verweis auf die geschichtliche Begründungsgestalt der drei abrahamitischen Religionen: Alle drei gründen auf Geschichte und diese muß auf Treu und Glauben angenommen werden13. Schultze interpretiert diesen Zusammenhang so, daß das geschichtlich Einmalige aufgrund seines kontingenten, nicht wiederholbaren Charakters nicht zum „Geschichtsbeweis“ im strengen Wortsinn taugt: „Alles Geschichtliche kann kausal erklärt werden, aber nie als notwendig demonstriert werden; ihm fehlt die metaphysische Evidenz, die allein den reinen Vernunftwahrheiten zukommt“14. 2) Als zweites Motiv nennt Schultze ein positives Toleranzmotiv: Alle Religionen stimmen in den „einfachen Vernunftwahrheiten, in der natürlichen Religion“15, überein. In der „Mannigfaltigkeit der Offenbarungsformen“ besteht eine „Strukturgleichheit von Gehalt und Absicht, die dem glaubenden Menschen zur Aneignung und Erfüllung aufgetragen sind“16. Insofern die positiven Religionen auf einer bestimmten Ebene doch ähnlich sind, besagte Strukturgleichheit besteht, entsteht erst gar keine eigentliche Konkurrenzsituation. Wie immer man zur These besagter Strukturgleichheit aus heutiger Sicht auch stehen mag, bleibt jedenfalls festzuhalten, daß Schultze hier den Fehler vieler Lessing-Interpreten vermeidet, Lessing eine Reduktion positiver Religion im aufklärerischen Sinn unterstellen zu wollen. Lessing hat einem Deismus oder ähnlichen aufklärerischen Reduktionen nie das Wort geredet (s. dazu auch o., Anm. 3). Stattdessen sieht er die verschiedenen positiven Religionen mit ihren Differenzen und ihren individuellen Eigenheiten nicht als prinzipiell defizitäre Verwirklichungsformen der Vernunft- oder natürlichen Religion an, sondern als „das Vernünftige selbst in der „Existenzform der Wirklichkeit“17. Anders als im aufklärerischen Geist seiner Zeit en vogue fordert Lessing nicht zuerst eine Reduktion der positiven Religionen auf eine „Vernunft“- oder „natürliche Religion“, um dann die nicht sehr überraschende Feststellung zu treffen, daß die solchermaßen domestizierten Religionen tatsächlich alle gleich sind. Sondern besagte Gleichheitsthese ist bei Lessing mehr eine Art deskriptive Feststellung: Nicht die reduktionistisch rekonstruierten Religionen besitzen besagte Strukturgleichheit, sondern die faktisch bestehenden Religionen, insofern sie adäquat interpretiert werden. 3) Damit hängt auch das dritte Motiv zusammen, das in der Transzendenz von Lessings Wahrheitsbegriff begründet ist: Insofern die Wahrheit religiöser Überzeugungen prinzipiell transzendent, also empirisch nicht realisierbar ist, bleiben ihre positiven Verwirklichungsversuche in Gestalt der einzelnen Religionen notwendig defizitär und damit perspektivisch. Positive Verwirklichungsversuche transzendenter religiöser Wahrheit können diese niemals exhaustieren, sondern bestenfalls nur perspektivisch beschränkt widergeben18. 12 Vgl. Schultze, a.a.O., S. 71ff.. Vgl. Lessing, Nathan, S. 73, vv. 1975ff. 14 Schultze, a.a.O., S. 74, unter Verweis auf Lessings berühmtes Wort vom “grastigen breiten Graben” zwischen zufälligen Geschichtswahrheiten und notwendigen Vernunftwahrheiten. 15 Schultze, a.a.O., S. 75f. 16 Schultze, a.a.O., S. 76, s. auch S. 94. 17 Schultze, a.a.O., S. 76. Gegenüber dem naheliegenden Einwand, daß Lessings Herausgabe des Reimarus Nachlasses doch dafür spricht, daß er dessen Deismus teilt, sei hier noch kurz entgegnet, daß diese Herausgabe weniger durch eine Übereinstimmung mit dessen Inhalten motiviert ist, sondern durch ein radikal durchgehaltenes aufklärerisches Wahrheitsethos, demzufolge alle Positionen ein Recht darauf haben, gehört zu werden (so wie natürlich auch durch Lessings persönliche Antipathie gegenüber allen selbstzufriedenen Absolutheitsansprüchen der kirchlichen Orthodoxie). 18 Hier bestehen offensichtliche Ählichkeiten zu dem, was ich andernorts die „Inexhaustivität des Unbedingten“ bei Paul Tillich genannt habe, worunter vor allem sein „Protestantisches Prinzip“ fällt, wie auch zu Hicks 13 Insofern keine einzige religöse Perspektive einen Monopolanspruch auf (das Exhaustieren von) Wahrheit erheben kann, entfallen alle Begründungen, intolerant zu sein19. 4) Damit ist eng ein viertes Motiv verwandt, nämlich, daß jeder „Mensch[...]auf seinem eigenen, ihm entsprechenden Wege zu Gott gelangen“ darf- „die Unterschiedlichkeit der Wege ist Ausdruck des Reichtums der Wahrheit“20. Die Verschiedenheit religiöser Perspektiven und Herangehensweisen wird hier also mit der Fülle religiöser Wahrheit und damit deren Inexhausitivität legitimiert. Schultze unterscheidet das vierte Motiv nicht explizit vom dritten. Meines Erachtens sollten beide allerdings deutlich voneinander abgegrenzt werden, da ihre Begründungen variieren: Ist die Argumentation mit der Transzendenz von Wahrheit epistemologischer Art- das „Absolute“ (um es mit Tillich zu sagen), ist endlichen Erkenntissubjekten prinzipiell unzugänglich-, ist das vierte Motiv, ausgehend „vom Reichtum der Wahrheit“, eher theologisch-ontologisch. Hier wird ein sehr viel stärkeres (Vor)wissen von der Wahrheit (Gottes) vorausgesetzt als im dritten. Im übrigen weist das vierte Motiv mit dem Ansatz einer positiven Würdigung von Individualität über rein aufklärerisches Denken mit seiner Betonung von Uniformität hinaus in Richtung auf die deutsche Romantik mit ihrer Betonung des Wertes (der Ausbildung) von individueller Verschiedenheit. Insofern Lessing an dieser Stelle hier in bestimmter Weise über rein aufklärerisches Denken hinausgeht, er sozusagen nur noch an der Grenze der Aufklärung zu lokalisieren ist, bietet es sich an, dieses Motiv vom unter 3) genannten Motiv zu unterscheiden. 5) Die konstruktive Bedeutung des Geschichtlichen21 in der Ringparabel So zutreffend Schultzes Rekonstruktion im allgemeinen auch sein mag, so ist doch Kritik an der Bedeutungszuweisung zu üben, die er dem Geschichtlichen im „Nathan“ unterstellt. Er verfällt in den Fehler vieler Lessing-Interpreten, die Funktion des Geschichtlichen hier zu unterschätzen. Dieses ist o., Kapitel 4, bei seiner Rekonstruktion des ersten Motivs deutlich geworden und wird auch daran deutlich, daß er von einer „Disqualifizierung des Geschichtlichen“22 bei Lessing sprechen kann sowie von einer „Unabhängigkeit des Glaubens von aller historischen Begründung[...]“23. Hier wird der Fehler gemacht, den Rekurs auf das Geschichtliche bei Lessing als allein negativ motiviert zu beurteilen und dabei die konstitutiven Funktionen zu übersehen, die dieser im „Nathan“ zur Bearbeitung des Problems der Religionspluralität besitzt. Dieses Urteil gilt meines Erachtens für die Lessing-Forschung im allgemeinen, bei der ein Defizit darin besteht, Lessings Stellung zum Geschichtlichen im „Nathan“ aus seinen anderen Äußerungen zur Sache, etwa aus dem „Fragmenten-Streit“24, ableiten zu wollen. Bei derartigen Versuchen wird übersehen, daß Lessing ebensowenig ein „systematischer“ Schriftsteller ist wie etwa Kierkegaard. Ihm geht es nicht so sehr darum, ein konsistentes Postulat eines „real an sich“ (s. dazu den Vergleich zwischen beiden in Grube, Unbegründbarkeit Gottes? Tillichs und Barths Erkenntnistheorien im Horizont der gegenwärtigen Philosophie, Marburg 1998, S. 41-6; s. dazu auch Christian Danz Beitrag in diesem Band, S. ... 19 Vgl. Schultze, a.a.O., S. 81f. 20 Schultze, a.a.O., S. 98, ähnlich S. 105. 21 Ich übernehme Begriffe wie „Geschichtliches“ aus der einschlägigen Lessing-Forschung und verwende sie im folgenden analog zum Englischen „historicism“ oder „historicizing“, also als philosophische Kategorien, die eine Historisierung, Relativierung, Kontextualisierung etc. angeblich un-geschichtlich, absoluter, universaler o.ä. Ansprüche implizieren. 22 Schultze, a.a.O., S. 90. 23 Schultze, a.a.O., S. 91 (s. aber S. 94). 24 S. zu diesem etwa Peter von Düffel, Erläuterungen und Dokumente. G.E. Lessing. Nathan der Weise, Stuttgart 1998 (Reclam 8118), S. 87ff. Gesamtsystem aufzustellen, sondern darum, eine für die jeweilige Situation adäquate Antwort zu finden. Und die Situation hat sich zwischen der Abfassung des „Fragmenten-Streites“ und dem „Nathan“ grundlegend verändert: Im „Fragmenten-Streit“ war der Gegner die kirchliche Orthodoxie, die Glaubensansprüche durch historische Rekurse absichern will, Offenbarungsansprüche durch Geschichtsbeweise, etwa einen Rekurs auf die biblischen Wunderberichte, legitimieren will. Diesem Gegner gegenüber betont Lessing die prinzipielle Defizienz von Geschichtsbeweisen und hier hat der Satz vom „garstigen Graben“ 25 seinen systematischen Ort. So scharf Lessing im „Nathan“ auch die krichliche Orthodoxie in der Person des Patriarchen angreift, so marginal ist dieses Thema doch insgesamt hier. Das Zentralthema ist das der Religionspluralität, das nicht nur in der Ringparabel als solcher, sondern auch im Gesamtdrama wichtig ist, wie etwa in der stufenweisen Aufklärung von sowohl dem Templer als auch Rechas deutlich wird. Und hier, im Zusammenhang dieser Problematik, gewinnt das Geschichtliche konstitutive Funktionen. Es ist nicht nur eine „Verlegenheitslösung“ nach dem Motto: „Leider können wir bei den drei abrahamitischen Religionen nicht mehr als nur geschichtliche, d.h. kontingente Beweise anführen!“. Sondern es ist der Angelpunkt, an dem die Möglichkeit einer konstruktiven Lösung des Problems der Religionspluralität hängt. Das werde ich im folgenden aufzeigen. Dazu rekonstruiere ich zunächst kurz den einschlägigen Zusammenhang: Der Ringparabel geht im „Nathan“ die Frage Saladins voraus, welche der drei Religionen, Judentum, Islam oder Christentum, die eine wahre ist. „Von diesen drei Religionen kann doch eine nur die wahre sein26“. Saladin schmeichelt daraufhin dem für seine Weisheit bekannten Nathan, indem er weiter fragt: „Ein Mann, wie Du, bleibt da Nicht stehen, wo der Zufall der Geburt Ihn hingeworfen: oder, wenn er bleibt, Bleibt er aus Einsicht, Gründen, Wahl des Besseren. Wohlan! so teile Deine Einsicht mir, Dann mit. Laß mich die Gründe hören, denen Ich selber nachzugrübeln, nicht die Zeit Gehabt. Laß mich die Wahl, die diese Gründe Bestimmt- versteht sich, im Vertrauen- wissen, Damit ich sie zu meiner mache[...]“27 Saladin fragt hier also nach einer nicht-kontingenten Begründung von Religion beziehungsweise einer nicht-kontingenten Begründung der Wahl von Religion („[...]bleibt da nicht stehen, wo der Zufall der Geburt Ihn hingeworfen: oder, wenn er bleibt, bleibt er aus Einsicht[...]“). Dieses philosophische Begründungsersuchen geht bei Saladin Hand in Hand mit einem sehr lebenspraktischen Interesse: Chronisch in Finanznot, will er vom reichen Kaufmann Nathan Geld erhalten und versucht daher, diesen in eine Zwangslage zu bringen. Diese besteht in dem Dilemma, daß der Jude Nathan am Hofe des muslimischen Sultans nicht einfach sagen kann, daß das Judentum die einzige wahre Religion ist, andererseits dessen Gültigkeit aber auch nicht einfach zugunsten des Islam (oder gar des Christentums) verleugnen kann, da er dann sofort mit der Frage konfrontiert würde, warum er in diesem Fall nicht konvertiert. Nathan befreit sich aus diesem Dilemma mit der bekannten Ringparabel. Saladin ist von der eigentlichen Parabel von den drei Ringen selbst, also ohne den zusätzlichen Richterspruch sowie den Rekurs über Geschichtlichkeit, nicht wirklich überzeugt. Er moniert, daß die 25 Vgl. von Düffel, a.a.O., S. 94 u.ö. Lessing, Nathan, S. 69, vv. 1845-1847. 27 Lessing, Nathan, S. 69, vv. 1847-1854. 26 Religionen, anders als die drei Ringe, sehr wohl zu unterscheiden wären. Daraufhin antwortet Nathan mit dem hier interessierenden Rekurs auf Geschichtlichkeit: „Und nur von Seiten ihrer Gründe nicht.Denn gründen alle sich nicht auf Geschichte? Geschrieben oder überliefert! – Und Geschichte muß doch wohl auf Treu Und Glauben angenommen werden? – Nicht?Nur wessen Treu und Glauben zieht man denn Am wenigsten in Zweifel? Doch der Seinen? Doch deren Blut wir sind? Doch deren, die Von Kindheit an uns Proben ihrer Liebe Gegeben? Die uns nie getäuscht, als wo Getäuscht zu werden uns heilsamer war?Wie kann ich meinen Vätern weniger Als Du den Deinen glauben? Oder umgekehrt.Kann ich von Dir verlangen, daß du deine Vorfahren Lügen strafst, um meinen nicht Zu widersprechen? Oder umgekehrt. Das nämliche gilt von den Christen. Nicht?“28 Die für das Problem der Religionspluralität konstitutive Funktion dieser Reflexion auf die Geschichtlichkeit der Begründung von Religion wird meines Erachtens in der einschlägigen Forschung nicht genügend gewürdigt. Daß diese Reflexion wichtig ist, zeigt sich schon innerhalb des Erzählzusammenhangs: Sie markiert den entscheidenden Wendepunkt innerhalb der Erzählung: Von jetzt ab ist Saladin wirklich überzeugt. Er gibt alle Versuche auf, Nathan in eine Dilemmasituation zu bringen und bietet ihm am Ende echte Freundschaft an statt zu versuchen, Geld von ihm zu erhalten (das Nathan ihm später freiwillig gibt). Die Wichtigkeit dieser Reflexion wird aber nicht nur durch ihre Stellung innerhalb des Erzählzusammenhangs deutlich, sondern auch dadurch, daß hier Lessings eigene Lösung des Problems der Pluralität von Religionen beziehungsweise des der Tolerierung anderer Religionen zu suchen ist. Das zeigt sich schon daran, daß diese Reflexion Lessings ganz eigener Zusatz ist, der in dem Quelltext, der der Ringprarabel zugrunde liegt, Boccacios „Decamerone“29, nicht existiert. In dieser Reflexion ist also ein Schlüssel zur Rekonstruktion von Lessings eigener Sicht des Problems der Pluralität der Religionen zu suchen. Inhaltlich besteht diese Sicht darin, daß Lessing hier den Ausgangspunkt zurückweist, der mit der suggestiven Frage Saladins gegeben war (s.o.): Die Gründe für die Wahl einer Religion sind andere, als die, die Saladin hören will. Nathan gibt hier nicht etwa „Vernunftgründe“ o.ä. an, warum die eine Religion besser wäre als die andere. Stattdessen votiert er für eine wohlbegründete Akzeptanz von Geschichtlichkeit und damit Kontigenz. Die Kontingenz, die Saladin abfällig als „Zufall der Geburt“ (s.o.) bezeichnet, erfährt bei Nathan eine ganz andere Wertung: Es geht nicht darum, das Kontigente zu überwinden, den „Zufall der Geburt“ durch nicht-kontingente Gründe zu überhöhen, oder, wie faktisch zumeist der Fall, durch derartige Gründe post factum zu rechtfertigen (was sowieso leicht durchschaubar ist, da die „Vernunftgründe“ zumeist offensichtlich so konstruiert sind, das sie im Nachhinein dasjenige legitimieren, was sowieso schon immer geglaubt wurde30). Bei Lessing geht es hier nicht darum, geschichtliche Kontingenz durch angeblich rationale Gründe zu überwinden, sondern darum, diese positiv zu rezipieren, konstruktiv mit ihr umzugehen. In dieser Umwertung von geschichtlicher Kontingenz, dessen Logik sich Saladin nicht entziehen kann, liegt auch der eigentliche Grund für den Umschlag von dessen Verhalten. 28 Lessing, Nathan, S. 73f, vv. 1974-1990. Auszugsweise in von Düffel abgedruckt, a.a.O., S. 75-77. 30 Vgl. dazu meine Kritik an Tillichs Äußerungen zur Sache, in Unbegründbarkeit Gottes? S. 77-79. 29 Schematisiert wiedergegeben besteht Lessings Antwort auf die Frage, welche der drei Religionen die wahre ist, in folgender Antwort: - Alle drei Religionen basieren auf Geschichtlichkeit (insofern sie auf historischen Ansprüchen beruhen) - Geschichtlichkeit kann nur auf der Basis von Vertrauen akzeptiert werden (“auf Treu und Glauben angenommen“, s.o.) - Vertrauen wird naturgemäß zuerst „den Seinen“ geschenkt, denjenigen, die „von Kindheit an uns Proben ihrer Liebe gegeben[...]uns nie getäuscht“ (s.o.). Was hier symbolisch als „Familiengeschehen“ dargestellt wird, stellt auf der nicht-symbolischen Ebene die eigene Tradition dar, insbesondere die religiöse Tradition. Kurzum, Nathan argumentiert hier, daß es „naturgemäß“ ist, den Ansprüchen der eigenen religiösen Tradition zuerst Glauben zu schenken. Wenn wir an dieser Stelle den Umschlag von der Textebene auf die Interpretationsebene vornehmen, ergibt sich folgendes Bild: Insofern Nathan an dieser Stelle Lessings eigene Position widergibt, argumentiert letzterer hier, daß es „naturgemäß“ ist, den Ansprüchen der eigenen religiösen Tradition zuerst Glauben zu schenken. Entscheidend dabei ist die Einsicht, daß diese „Naturgemäßheit“ gleichzeitig eine Legitimation für Lessing darstellt. Es ist nicht nur „naturgemäß“, der eigenen Tradition zuerst Glauben zu schenken, insofern es „leider, leider“ keine andere Lösung des Problems gibt, sondern es ist „naturgemäß“ im Sinne von „epistemisch gerechtfertigt“: Der Glaubende ist berechtigt, zuerst seiner eigenen Tradition Glauben zu schenken. Mit dieser Antwort geht Lessing deutlich über schlichtes Aufklärungsdenken hinaus. In fast postmodernistisch, etwa Rortyansch anmutender Weise akzeptiert er hier geschichtliche Kontingenz: Die Kontingenz, die aus besagten Gründen in der Wahl der je eigenen Religion impliziert ist, muß nicht noch einmal durch angeblich rationale, „Vernunftgründe“, überhöht werden. Sondern sie kann als solche, nicht weiter fundierbare, stehen gelassen werden und ihre Konsequenzen können positiv rezipiert werden. In dieser positiven Rezeption von Kontingenz liegt dann auch der eigentliche Schlüssel zum Problem der Pluralität von Religionen im „Nathan“: Der Gläubige ist zumindest prima facie epistemisch gerechtfertigt, seiner je eigenen Religion anzuhangen31 (wie u. gezeigt werden wird, handelt es sich dabei um eine Teillösung, die der Ergänzung durch einen anderen Lösungsaspekt bedarf, der sich in Lessings zweitem Zusatz zum „Decamerone“ zeigt, nämlich dem Richterspruch). Natürlich kann diese Antwort nicht die Wahrheitsfrage im eigentlichen Sinn beantworten: Wahrheit ist nicht-kontingent und nicht geschichtlich vermittelt beziehungsweise begründet. Außerdem ist sie, jedenfalls im Prinzip, eine. Und die Einheit von Wahrheit kann natürlich durch eine derartige Argumentation, bei der jeder legitimerweise seiner je eigenen Religion weiter anhangen kann, nicht gesichert werden. Diese Tatsache bereitet der Lessing-Forschung denn auch viel Kopfzerbrechen (s.o., Schultzes Bearbeitung des Geschichtsmotivs aus der Ringparabel unter der Überschrift „negatives Toleranzmotiv“). Ich denke, daß sich manche Interpretationsprobleme vermeiden lassen, wenn diese Lösung des Toleranzproblems nicht als Antwort auf die Wahrheitsfrage verstanden wird, sondern als Antwort auf die Rechtfertigungsfrage. Es geht hier gar nicht so sehr um Wahrheit im strengen Sinn des Wortes. Hier geht es stattdessen um das Rechtfertigungsproblem. Lessing argumentiert nicht, daß alle drei Religionen im strengen Sinn des Wortes wahr sind, sondern (um es in gegenwärtiger Parlance zu sagen), daß wir epistemisch gerechtfertigt sind, unserer je eigenen Religion anzuhangen. Kurzum, die Funktion dieser Reflexion auf die Geschichtlichkeit der Begründung von Religion ist also nicht die Lösung des Wahrheitsproblems im eigentlichen Sinn, sondern die Lösung des Rechtfertigungsproblems. 31 Wie schon Karl Barth gesehen hat (Die protestantische Theologie im 19. Jahrhundert, Zollikon/Zürich, 1952, S. 232). Sie lautet: „Ja, wir sind gerechtfertigt unserer je eigenen Religion anzuhangen“- und das gilt in gewissem Sinn unabhängig von der Frage nach der Wahrheit dieser Religion (s. dazu u., Kapitel 6). Der Grund, warum diese eigentlich verblüffend einfache und geradlinige Lösung des Problems der Pluralität von Religionen im „Nathan“ bisher nicht ausreichend gewürdigt worden ist, hängt meines Erachtens damit zusammen, daß die meisten Interpreten zwei miteinander zusammenhängende Fehler begehen: Sie übersehen die konstitutiven Funktionen dieses Rekurses auf die Geschichtlichkeit (s.o.), weil sie ihn fälschlicherweise als Antwort auf die Wahrheitsfrage auffassen. Als solcher leistet er in der Tat nicht besonders viel, Wahrheit ist eben nicht geschichtlich. Die Folge davon ist dann, daß das Geschichtliche abgewertet wird, etwa im Sinne von Lessings Äußerungen im „Fragmenten-Streit“. Beide Fehler können aber vermieden werden, wenn die Unterscheidung zwischen Wahrheitsund Rechtfertigungszusammenhang konsequent durchgeführt wird. Dann kann Lessings Rekurs auf Geschichtlichkeit und damit Kontingenz strikt als Antwort auf die Rechtfertigungsfrage gesehen werden, wodurch die Probleme vermieden werden können, die entstehen, wenn dieser Rekurs als Antwort auf die Wahrheitsfrage angesehen wird. Damit wird dann der Weg frei, die konstruktiven Funktionen dieses Rekurses für die Lösung der Toleranzproblematik positiv würdigen zu können: Insofern die Lösung der Rechtfertigungsproblematik, anders als die der Wahrheitsproblematik, nicht notwendig ungeschichtlich und nicht-kontingent sein muß, kann das geschichtlich Kontingente, hier die geschichtliche Begründung von Religion, als solche akzeptiert werden. Die damit verbundene Ermöglichung von Pluralität ermöglicht dann ihrerseits einen konstruktiven Umgang mit der Religionspluralität, kurz gesagt, die Lösung des Problems der Tolerierung anderer Religionen. 6) Der Richterspruch in der Ringparabel Wie o. angedeutet, fügt Lessing in seiner Ringparabel zwei Zusätze zum Quelltext, der der Ringparabel zugrunde liegt, dem Decamerone, hinzu, den o. analysierten Exkurs über die Geschichtlichkeit der Begründungen von Religion und den Richterspruch am Ende der Ringparabel32. Die Lösung des Problems der Pluralität von Religionen wird zumeist in letzterem Spruch gesehen. Nun ist das sicherlich nicht grundsätzlich verkehrt. Doch mein Vorschlag ist, den Richterspruch nicht isoliert, sondern im Zusammenhang mit Lessings anderem Zusatz, besagtem Exkurs, zu sehen und darin die eigentliche Lösung des Problems der Pluralität von Religionen zu suchen. Dabei sollte der Exkurs konsequent als Antwort auf die Rechtfertigungs- oder Begründungsfrage gelesen werden, der Richterspruch als Antwort auf die Wahrheitsfrage im eigentlichen Sinn. Wenn beide Antworten im Zusammenhang gelesen werden, ergibt sich eine interessante Interpretationsmöglichkeit, die ich im folgenden näher skizzieren werde. Wie o. ausführlich dargelegt, impliziert der Verweis auf die geschichtliche Kontingenz der Begründungen von Religion die Möglichkeit der Akzeptanz einer Pluralität von Religionen: Insofern alle Religionen auf Geschichte basieren und diese auf „Treu und Glauben“ akzeptiert werden muß (s.o., Kapitel 5), ist Nathan ebenso berechtigt an seiner jüdischen Religion festzuhalten wie der Sultan an seiner muslimischen; und „nämliches gilt für den Christen“. Wenn wir dem Vorschlag folgen, diese Antwort konsequent als Antwort auf die Rechtfertigungsfrage im engeren Sinn anzusehen und diese streng von der Wahrheitsfrage im eigentlichen Sinn abzugrenzen, heißt das einerseits, daß die in der Begründung von Religion implizierte geschichtliche Kontingenz eine prinzipielle Akzeptanz der Pluralität von Religionen ermöglicht, eine derartige Akzeptanz andererseits aber noch nichts über die letztendliche Wahrheit oder Unwahrheit bestimmter Religionen aussagt. Sie sagt nur aus, daß 32 Letzterer findet sich in Lessing, Nathan, S. 74f, vv. 1993-2050. wir unter den „hic et nunc“ vorherrschenden Erkenntnisbedingungen gerechtfertigt sind, bestimmte Religionen als prima facie gerechtfertigt anzusehen. Von der eine konstruktive Lösung der Pluralitätsproblematik ermöglichenden Rechtfertigungsfrage in besagtem Exkurs ist der Richterspruch zu unterscheiden, der als Antwort auf die Wahrheitsfrage angesehen werden sollte. Dieser Spruch besteht aus zwei Elementen, dem eigentlichen Spruch, vv. 20102027, und einem darauffolgenden Rat, vv. 2029-2054. Im ersten, eigentlichen Spruch selbst, weist der Richter das Ansinnen der drei Brüder, den richtigen unter den drei vorhandenen Ringen ausfindig zu machen, mit einer Mischung aus Barschheit und Sarkasmus zurück: „[...]Wenn ihr mir nun den Vater Nicht bald zur Stelle schafft, so weis ich euch Von meinem Stuhle. Denkt ihr, daß ich Rätsel Zu lösen da bin? Oder harret ihr, Bis daß der rechte Ring den Mund eröffne?[...]33“ Er erwägt hier die Möglichkeit, daß alle drei Brüder „Betrogene Betrüger“ sein könnten und die drei Ringe allesamt nicht echt sein könnten34. Im darauffolgenden Rat ist der Richter wesentlich milder: Er kontrastiert die Möglichkeit, daß der Vater die Tyrannei des einen Ringes nicht länger dulden wollte und darum die zwei anderen Ringe anfertigen ließ, mit der Gewißheit, daß er alle drei Brüder gleich geliebt hat und die anderen beiden Ringe anfertigen ließ, um zwei nicht „drücken“ zu müssen35. Nach der bekannten ethischen Ermahnung- „es eifre jeder seiner unbestochenen, Von Vorurteilen freien Liebe nach![...]“36, und deren Spezifizierung erfolgt dann die eigentliche Konklusion: „Und wenn sich dann der Steine Kräfte Bei euren Kindes-Kindeskindern äußern: So lad ich über tausend tausend Jahre Sie wiederum vor diesen Stuhl. Da wird Ein weisrer Mann auf diesem Stuhle sitzen Als ich; und sprechen[...]“37 Auffällig ist hier die Doppelung der Lösungen von eigentlichem Spruch und Rat. Wie immer man diese Doppelung erklären mag38, so scheint es mir doch deutlich zu sein, daß die Betonung nicht auf dem Spruch, sondern auf dem Rat liegt. Der Spruch wird nicht nur durch den nachfolgenden Rat überboten, sondern ist auch unnötig unfreundlich gegenüber den Brüdern- die Brüder haben subjektiv ja alles Recht, um ihre Ansprüche geltend zu machen, da sie ja im Glauben sind, wirklich den echten Ring zu besitzen. Außerdem geht der Spruch von falschen Annahmen aus: Der Richter weiß nicht, was der Leser vorher zu wissen bekommen hat, nämlich, daß tatsächlich nicht alle drei Ringe falsch sind, sondern einer echt ist und zwei nachgemacht sind39. Kurzum, der eigentliche Richterspruch beinhaltet noch nicht die eigentliche „Lösung“. Diese ist stattdessen im richterlichen Rat zu suchen. 33 Lessing, Nathan, S. 74, vv. 2010-2014. Lessing, Nathan, S. 74f, vv. 2024-2028. 35 Lessing, Nathan, S. 75, vv. 2035-2040. 36 Ebd., vv. 2041-2042. 37 Ebd., vv. 2048-2053. 38 In der Lessing Literatur, die mir zugänglich war, habe ich dafür keine befriedigende Erklärung finden können. Meines Erachtens könnte es sich hier um zwei Perspektiven handeln, die nach Art Kierkegaards nebeneinander gestellt werden, also so, daß sich darin zwei Meinungen wiederspiegeln, die der Autor für grundsätzlich möglich hält, ohne daß er beide aktual gleichzeitig vertritt. Diese Doppelung könnte also Lessing eigenes Ringen um Religion wiederspiegeln: Auf der einen Seite die aufklärerisch-kritische Haltung gegenüber Religion, abweisend, z.T. schroff, andererseits die aufklärerisch-weisheitliche, die Religion (insbesondere, insofern sie ethisch zugespitzt ist) durchaus Sympathie entgegenbringt. Lessings eigene Sympathien liegen zur Zeit der Abfassung des „Nathan“, also gegen Ende seines Lebens, bei der zweiten Perspektive, der weisheitlichen (s.u.). 39 „[...]nach dem Muster seines Ringes, zwei andere bestellt“ (Lessing, Nathan, S. 72, vv. 1946f); v. 1951 ist auch vom ununterscheidbaren „Musterring“ die Rede. 34 Das liegt auch insofern nahe, als dieser Rat die (aufklärerisch-)weisheitliche Perspektive wiederspiegelt und der gesamte „Nathan“ in gewisser Hinsicht einen „Weisheitstext“ darstellt. Anders als in früheren Auslassungen Lessings zur Religion geht es hier weniger um deren Begründbarkeit oder Unbegründbarkeit o.ä. theoretische Fragen, sondern um ein „weisheitliches“ Umgehen mit ihr und in ihr. Exemplarisch vollzieht dieses natürlich Nathan selbst, es kommt aber auch zum Ausdruck in den Personen von Recha und dem Templer, insofern diese als Biographien religiöser Entwicklung gelesen werden, nämlich von einer vorurteilsbeladenen hin zu einer weisheitlichen, toleranten Form von Religiösität (Templer) beziehungsweise einer schwärmerisch-wundergläubigen zu einer Religion der Tat (Recha)40. Insofern sich im richterlichen Rat sozusagen mikrokosmisch wiederholt, was sich makrokosmisch im gesamten Drama abspielt, kommt diesem besondere Bedeutung zu. Inhaltlich gipfelt der Rat nun in der berühmten Formulierung von den „tausend tausend Jahren“, nach denen ein „weisrer Mann“ urteilen wird. Wie immer diese Formulierung im einzelnen auch zu interpretieren sein mag, so sind doch jedenfalls zwei Interpretationen ausgeschlossen: Zum einen all die Interpretationen, nach denen alle drei Ringe falsch sind, und die natürlich in der „atheistischen“ Lessing-Interpretation verwendet werden- eine derartige Auffassung, die im eigentlichen Spruch zum Ausdruck kommt, wird mit der obigen Kritik an diesem hinfällig. Insofern der Spruch durch den Rat sozusagen „überholt“ ist, ist auch der Inhalt des ersteren „überholt“. Zum zweiten sind auch diejenigen Interpretationen zurückzuweisen, nach denen hier und jetzt entscheidbar sein soll, welche der drei Religionen die einzig richtige ist. Immer wieder ist das Judentum in diesem Zusammenhang genannt worden41. Diese Interpretation scheitert aber nicht nur daran, daß der Jude Nathan zwar vorbildhaft Religiösität ausübt, dabei aber nicht sein Jude-Sein, sondern seine Qualitäten als weisheitlich-religiöser Mensch im Vordergrund stehen42, sondern auch an eben dieser Formulierung: Insofern wir „tausend tausend Jahre“ warten müssen, ist jetzt eben noch nicht deutlich, welche der drei Religionen die einzig wahre ist. Es wird erst dann, einstmals, deutlich werden, beziehungsweise möglicherweise deutlich werden. Wenn wir diesen Befund umsetzen in philosophische Kategorien, ergibt sich folgendes Bild: Es ist einerseits nicht so, daß wir prinzipiell keine Wahrheit besitzen in Religionsfragen. Es ist nicht so, daß alle Ringe falsch sind und damit alle Religionen „falsch“ sind. Andererseits ist es aber auch nicht so, daß wir hier und jetzt die ganze Wahrheit schon besitzen. Zwar mag in der Tat eine der drei Religionen doch die wahre sein. Nur ist das hic et nunc nicht erkennbar. Es ist also nicht so, daß wir hier und jetzt wissen können, daß die jüdische Religion doch die einzig wahre ist (dasselbe gilt für den Islam und natürlich erst Recht für das Christentum43). Kurzum, der Befund ist, daß es zwar eine Wahrheit gibt, die vielleicht dereinst auch ans Licht der Welt kommen wird, diese jedoch hier und jetzt noch im Dunkeln liegt. Dieses Ergebnis ist zum einen natürlich für die Lessing-Interpretation als solche interessant: Damit werden sowohl atheistische Interpretationen wie auch diejenige, nach der er mehr oder Dafür, daß letzteres ein „Standardthema“ Lessings ist, vgl. etwa Schultze, S. 58ff. So etwa Heinz Politzer, Das Schweigen der Sirenen, Stuttgart 1968, S. 367 (dort auch weitere Literatur zu dieser Position). 42 So werden etwa keine Details seines Glaubens genannt, keine jüdischen Bräuche o.ä. Daß Religiösität hier exemplarisch durch einen Juden verkörpert wird, hat meines Erachtens mit Lessings notorischer Parteinahme für die Schwachen zu tun. 43 Die christlichen Gestalten kommen im „Nathan” am schlechtesten weg, insbesondere natürlich der fanatische Patriarch, die durchtriebene Daja, der anfangs etwas begriffsstutzige und vorurteilsbeladene Templer, der erst „geläutert“ werden muß. Am besten kommt wohl noch der christliche Mönch weg, der sich für die Intrigen des Patriarchen nicht einspannen läßt. Wie auch aus anderen Äußerungen Lessings zur Sache deutlich ist, ist damit aber keine prinzipielle Abwertung des Christentums impliziert, sondern eine situativ bedingte (die Kontroverse mit Goeze, die zur Zensur Lessingscher Schriften geführt hat, ist noch nicht lange vorüber), momentane Wut auf die kirchlich(-orthodoxen) Vertreter des Christentums. 40 41 minder heimlich eine bestimmte Religion, nämlich das Judentum, favorisieren würde, abgewiesen. Für unsere Zwecke hier ist dieses Ergebnis aber noch aus einem anderen Grund interessant. Insofern hier Lessings Rekurs auf die Geschichtlichkeit der Begründung von Religion als Antwort auf die Rechtfertigungsfrage gelesen wird, besagter Richterspruch, also eigentlicher Spruch plus richterlicher Rat, als Antwort auf die Wahrheitsfrage im eigentlichen Sinn, ergibt sich ein ganz bestimmtes Bild über das Verhältnis der beiden zueinander: Wie angedeutet, ermöglicht besagter Rekurs auf die Geschichtlichkeit, gelesen als Antwort auf die Rechtfertigungsfrage, die Tolerierung von Religionspluralität. Anhand der obigen Beobachtungen zu Lessings Lösung der Wahrheitsfrage können wir jetzt hinzufügen, daß besagte Tolerierung eine bestimme Lösung des Wahrheitsproblems voraussetzt, nämlich daß es einerseits so etwas wie Wahrheit in Religionsfragen gibt oder zumindest geben könnte (gegen die atheistische Deutung), daß diese aber hic et nunc nicht definitiv erkennbar ist (gegen die Meinung, Lessing würde heimlich eine bestimmte Religion als einzig wahre ansehen). Daß die Pluralität von Religionen im Prinzip rechtfertigbar ist, setzt also einerseits voraus, daß Religion nach bestem Wissen und Gewissen geurteilt nicht definitiv unwahr ist, daß wir aber (noch) nicht genügend Evidenz besitzen, um eine bestimmte Religion als die wahre zu kennzeichnen. Zusammengefaßt ausgedrückt: Die Pluralität von Religionen kann insofern gerechtfertigt werden, als die Wahrheitsfrage noch „offen“ ist, also hic et nunc unentscheidbar ist, welche Religion die einzig wahre ist, es aber auch hic et nunc keine durchschlagenden Gründe gibt, Religion als unwahr abzustempeln. Kürzer: Die Unentscheidbarkeit der Wahrheitsfrage (im genannten Sinn) ist eine logische Voraussetzung der Tolerierung von Religionspluralität. Daß die Unentscheidbarkeit der Wahrheitsfrage eine logische Voraussetzung besagter Tolerierung ist, ist eigentlich unmittelbar einleuchtend. Denn wäre es anders, würde die raison d’etre für jene Tolerierung entfallen: Wäre es einerseits so, daß hic et nunc definitiv entschieden werden könnte, daß religiöse Ansprüche unwahr sind, wäre die logische Konsequenz nicht die Tolerierung verschiedener derartiger Ansprüche, sondern deren Negation. Und wäre es andererseits so, daß hic et nunc schon entschieden werden könnte, welche Religion die einzig wahre ist, gäbe es keine Gründe mehr für die Tolerierung einer Vielzahl von Religionen. Sondern dann wäre diese eine Religion in exklusivistischem Sinn vorzuziehen. Ich gehe auf das Verhältnis zwischen, einerseits, Religionspluralität ermöglichender Antwort auf die Rechtfertigungsfrage und, andererseits, Unentscheidbarkeit der Wahrheitsfrage im genannten Sinn aus folgendem Grund so ausführlich ein: Dieser spezifische Zusammenhang zwischen Antwort auf die Wahrheitsfrage und Rechtfertigung von Religion wird bei einer ganz ähnlichen Argumentation notorisch übersehen, was dann üblicherweise zu grotesken Verzeichnungen führt. Ich denke dabei an William James pro-religiöse Argumentation in „The Will to Believe“: Ich habe in diesem Zusammenhang deutlich gemacht, daß James Argument, daß Religion via Wille oder Gefühl („passions“) legitimerweise vertreten werden kann, eine Antwort auf das Rechtfertigungsproblem darstellt, die nur Sinn macht, insofern eine bestimmte Lösung des Wahrheitsproblems vorausgesetzt wird. James argumentiert nicht, daß wir generell den Willen o.ä. verwenden können, um Religion zu rechtfertigen- das ist eine polemische Verzeichnung seiner Position, die in der Sekundärliteratur immer wieder fälschlicherweise verwendet wird. Sondern er argumentiert, daß wir dazu berechtigt sind, insofern die Evidenz für und gegen Religion gleich oder ungefähr gleich ist44. Um den gemeinten Sachverhalt in der hier verwendeten Nomenklatur auszudrücken: Nur insofern die 44 In diesem Zusammenhang zwar weniger interessant, aber der Vollständigkeit halber noch zu erwähnen, ist, daß er auch noch voraussetzt, daß die Entscheidung für oder gegen Religion in bestimmten Sinn unentrinnbar ist (s. dazu Grube, William James and Apologetics: Why ‘The Will to Believe’-Argument Succeeds in Defending Religion, erscheint in Neue Zeitschrift für Systematische Theologie, Nummer 3, 2004). Wahrheitsfrage bezüglich Religion nicht definitiv entscheidbar ist, können Wille o.ä. zur Rechtfertigung von Religion eingesetzt werden. Und dasselbe gilt auch für die in Lessings Ringparabel angebotene Lösung des Problems der Religionspluralität: Sie gilt nur, insofern die Wahrheitsfrage bezüglich Religion nicht definitiv entschieden worden ist. Um einer Kritik wie der an James von vornherein den Wind aus den Segeln zu nehmen: Es ist nicht so, daß Lessing argumentiert, daß wir gerechtfertigt sind, die Pluralität von Religion ohne weitere Kautelen anzunehmen. Sondern, genau wie James, setzt auch er eine bestimmte Verhältnisbestimmung zwischen der Antwort auf die Rechtfertigungsund die Wahrheitsfrage voraus: Nur insofern wir die Wahrheit von Religion im genannten Sinn nicht definitiv entscheiden können, gleichzeitig aber keine durchschlagenden Gründe besitzen, um religiöse Ansprüche als falsch erweisen zu können, ist die besagte Tolerierung von Pluralität gerechtfertigt. Abschließend sei noch darauf hingewiesen, daß Lessing sich mit dieser Lösung als in einer bestimmten Tradition des Umgangs mit Religion stehend erweist, nämlich einer Tradition, die konstruktive Lösungen im Umkreis von Religion nicht so sehr in den Antworten auf die Wahrheitsfrage sucht, sondern in den Antworten auf die Rechtfertigungsfrage, dabei aber gleichzeitig die Wahrheitsfrage als unentscheidbar ansieht. Zu dieser Tradition gehören zum einen der schon genannte James, indem er argumentiert, daß wir epistemisch gerechtfertigt sind, uns mit Hilfe des Willens u.ä. für Religion zu entscheiden, insofern weder genügend Evidenz für noch gegen Religion besteht. Dazu gehören des weiteren die Reformed Epistemologists, insofern sie argumentieren, daß nichts dagegen spricht, religiöse Überzeugungen unabhängig von der Frage nach ihrer Wahrheit als „properly basic“ anzusehen45. Schließlich gehört zu dieser Tradition auch noch- wenn ich so unbescheiden sein darf, meinen eigenen unter diesen großen Namen zu erwähnen-, mein eigener Vorschlag, religiöse Überzeugungssysteme unabhängig von ihrer Wahrheit verteidigen zu können, insofern sie mit Hilfe einer kohärentistisch-holistischen Methodologie gerechtfertigt werden können46. III. Zur systematischen Bearbeitung der Unterscheidung zwischen Rechtfertigung und Wahrheit und ihren Implikationen für das Pluralitätsproblem 7) Die Unterscheidung zwischen Rechtfertigung und Wahrheit im Neo-Pragmatismus An dieser Stelle möchte ich die bisher eher intutiv in Anspruch genommene Unterscheidung zwischen Rechtfertigung und Wahrheit philosophisch vertiefen. Dazu greife ich auf den NeoPragmatismus zurück, also auf die Schule Richard Rortys, in der diese Unterscheidung eine wichtige Rolle spielt. Rorty selbst unterscheidet auf folgende Weise: In Hinsicht auf Wahrheit betont er, „truth is, to be sure, an absolute notion in the following sense: ‘true for me but not for you’ and ‘true in my culture but not in yours’ are weird, pointless locutions. So is ‘true then, but not now’. Whereas we often say ‘good for this purpose, but not for that’ and ‘right in this situation, but not in that’, it seems pointlessly paradoxical to relativize truth to purposes or situations47“. Wahrheit ist also ein absolutes Prädikat, das in Hinsicht auf Personen oder Kulturen ebensowenig relativiert werden kann wie in diachroner Hinsicht oder in Hinsicht auf verschiedene Situationen. 45 S. dazu Alvin Plantinga, Reason and Belief in God, in: Faith and Rationality. Reason and Belief in God, S. 1693, S. 78, sowie meine Kritik daran in ‘Religious Experience after the Demise of Foundationalism’, Religious Studies 31 (1995), S. 37-52, die allerdings noch nicht hinreichend berücksichtigt, daß sich Plantingas Thesen als Antworten auf das Rechtfertigungs- anstelle des Wahrheitsproblems darstellen lassen. 46 S. Grube, Unbegründbarkeit Gottes?, S. 191-209. 47 Richard Rorty, Truth and Progress, Philosophical Papers, vol. 3, Cambridge, 1998, S. 2. Rechtfertigung dagegen kann in der Tat relativiert werden: „On the other hand, justified for me but not for you’ (or ‘justified in my culture but not in yours’) makes perfect sense48”. Rechtfertigung ist also ein nicht-absolutes, relatives Prädikat. Rorty, der sich selber als in der Tradition des Pragmatismus stehend ansieht, weist des weiteren darauf hin, daß schon James diese Unterscheidung gehandhabt hat und deshalb kritisiert worden ist: „[...](W)hen James said that ‚the true is the good in the way of belief’, he was accused of confusing justification with truth, the relative with the absolute49“. Deshalb wäre es besser gewesen, wenn James seine Ansprüche auf das Rechtfertigungsproblem beschränkt hätte: „James would, indeed, have done better to say that phrases like ‚the good in the way of belief’ and ‚what is better for us to believe’ are interchangeable with ‚justified’ rather than with ‘true’50”. Rorty wäre nun nicht Rorty, wenn er die Gelegenheit unbenutzt ließe, in diesem Zusammenhang gleich noch eine Polemik gegen den absoluten Wahrheitsbegriff einzufügen: James „[...]could have gone on to say that we have no criterion of truth other than justification, and that justification and betterness-to-believe will always be as relative to audiences (and to ranges of truth candidates) as is goodness to purposes and rightness to situations. Granted that ‘true’ is an absolute term, its condition of application will always be relative. For there is no such thing as belief being justified sans phrase- justified once and for all- for the same reason that there is no such thing as a belief that can be known, once and for all, to be indubitable…”.51 Deshalb sollten Pragmatisten (solche a la Rorty) keine Wahrheitstheorie anbieten, sondern betonen, daß Wahrheit kein “goal of inquiry52” sein kann: „For the absoluteness of truth makes it unserviceable as such a goal. A goal is something you can know that you are getting closer to, or farther away from. But there is no way to know our distance from truth, nor even whether we are closer to it than our ancestors were. For, once again, the only criterion we have for applying the word ‘true’ is justification, and justification is always relative to an audience…This means that the question ‘Do our practices of justification lead to truth?’ is as unanswerable as it is unpragmatic…”53. In der überhaupt für seine Herangehensweise charakteristischen Art verwendet Rorty die Unterscheidung von Wahrheit und Rechtfertigung hier in einer höchst polemischen Absicht. Bei ihm liegt alle Betonung darauf, den Wahrheitsbegriff als absoluten Begriff zu desavouieren. Wahrheit wird zwar als absolutes Prädikat festgehalten, doch nur deshalb, um zu betonen, daß ein absoluter Wahrheitsbegriff unerreichbar ist. Die Kriterien, die wir dafür besitzen, fallen insofern in die Kategorie „Rechtfertigungskriterien“, als sie relativ sind (relativ zu bestimmten Zielgruppe etc.). Wir besitzen keine Kriterien, um feststellen zu können, daß etwas „once and for all indubitable“ ist, sagen wir abgekürzt, „infallibil“ ist. Deshalb sollten (Rortyansche) Pragmatisten Wahrheit überhaupt nicht als „goal of inquiry“ ansehen. Obwohl ich die Unterscheidung zwischen Wahrheit und Rechtfertigung auch verwenden werde, möchte ich mich an dieser Stelle deutlich von Rorty abgrenzen: Abgesehen davon, daß Rorty hier vorschnell Dinge wie „goal of inquiry“-Sein mit Infallibilität identifiziert, verurteile ich die genannte polemische Absicht seiner Argumentation. Anders als Rorty geht es mir keineswegs darum, die Relativität des Rechtfertigungsbegriffs dazu zu verwenden, um einen absoluten Wahrheitsbegriff zu desavouieren. Stattdessen kommt es mir darauf an, die Relativität des Rechtfertigungsbegriffs zur konstruktiven Theoriebildung in Religionsfragen zu verwenden. Konkret geht es darum, die 48 Ebd. Ebd.. 50 Ebd. 51 Ebd. 52 Rorty, Truth, S. 3. 53 Rorty, Truth, S. 3f. 49 mit dem relativen Charakter von Rechtfertigung implizierte Akzeptanz von Pluralität konstruktiv zur Lösung des Problems der Pluralität von Religionen zu verwenden- was mir, wie o. deutlich geworden sein dürfte (s. Sektion II), bei Lessing schon angedeutet zu sein scheint. Der absolute Wahrheitsbegriff wird dabei nicht a la Rorty desavouiert, sondern spielt in bestimmter, nämlich negativer Hinsicht eine Rolle, sozusagen als Grenzbegriff der Theoriebildung (s.u.). Die Tatsache, daß Rorty besagte Unterscheidung zur Polemik gegen den Wahrheitsbegriff verwendet, hat nichts mit der Unterscheidung als solcher zu tun hat, sondern mit Rortys Neigung, alle absoluten Begriffe in möglichst polemischer Weise zu desavouieren. Daß diese Unterscheidung auch in anderer, wesentlich konstruktiverer Weise, verwendet werden kann, möchte ich abschließend noch an deren Verwendung durch einen anderen, viel gemäßigteren Neo-Pragmatisten54 zeigen, nämlich Jeffrey Stout. Schon in seiner Monographie „Ethics after Babel“ stellt besagte Unterscheidung einen Grundzug dar: Immer wieder betont Stout hier, daß die Rechtfertigung moralischer Prinzipien oder Einzelurteile relativ ist, während deren Wahrheit nicht relativ ist. So ist etwa die Wahrheit der Aussage „slavery is evil“ nicht relativ in dem Sinn, daß sie im Prinzip zu allen Zeiten an allen Orten gilt. Ihre Rechtfertigung ist dagegen in der Tat relativ. Ob sie tatsächlich gerechtfertigt werden kann, hängt von den konkreten Umständen ab, etwa dem jeweiligen Menschenbild, das in einer Kultur vorherrscht. Die Relativität ihrer Rechtfertigung ändert aber nichts an ihrer grundsätzlich absoluten Wahrheit. Die Unterscheidung zwischen der absoluten Wahrheit dieser Aussage und ihrer relativen Rechtfertigung ermöglicht es Stout dann auch, etwa „moral blame“, sagen wir, „moralische Schuld“, als relativ, von den Umständen abhängig anzusehen, ohne dabei die Aussage als solche relativieren zu müssen: Ob eine bestimmte Kultur oder Gruppe, etwa im antiken Griechenland, tatsächlich moralisch schuldig ist, weil sie diese Aussage als ungerechtfertigt angesehen hat (also das Halten von Sklaven moralisch gerechtfertigt fand), hängt von den näheren Umständen ab. Aber wie die Antwort auf diese Frage auch ausfällt, das ändert nichts an der Wahrheit der Aussage „slavery is evil“55. In seiner neuesten Monographie, „Democracy and Tradition“, widmet Stout besagter Unterscheidung zwei Kapitel. Im ersten Kapitel über Rechtfertigung stellt er im Gegenüber zum moralischen Skeptizismus fest, daß „many of us are justified in holding some of the moral beliefs we hold56“. Doch gleichzeitig gilt auch hier, daß „[...]being justified in believing something- being entitled to believe it- is a status that can vary from context to context57”. Auch hier gilt, daß Wahrheit nicht relativ ist. Insofern Wahrheit von Rechtfertigung zu unterscheiden ist, können beide auf unterschiedliche Weise behandelt werden: „[...]they behave so differently that it makes sense to combine a contextualist account of justification with a nonrelativist account of moral truth58“. Einerseits habe ich bezüglich der konkreten Durchführung von Stouts Programm Zweifel. Vor allem scheint mir seine konzeptionelle Einholung des Wahrheitsproblems in „Ethics after Babel“ ungenügend zu sein. Hier arbeitet er den nicht-relativen Wahrheitsbegriff mit Hilfe von Kategorien aus, die der umgangssprachlichen Richtung der Sprachphilosophie entlehnt sind: „[...]once we have learned everything that Davidson, Austin and others like them have to teach us about the behaviour of is true and cognate expressions, there is nothing remaining to 54 Stout ist insofern ein gemäßigter Neo-Pragmatist, als er sich einerseits intensiv mit Rorty beschäftigt und dessen Einsichten für die Religionsphilosophie und Ethik fruchtbar zu machen versucht, andererseits aber kritisch gegenüber Rortys Radikalismen, dessen „pithy little formulae“ (Jeffrey Stout, Ethics after Babel, Boston, 1988, S. 248) ist. 55 S. Stout, Ethics, S. 86f u.ö. 56 Jeffrey Stout, Democracy and Tradition, Princeton 2004, S. 231. 57 Ebd. 58 Stout, Democracy, S. 240 (“contextualist” entspricht hier dem, was o. als „relativistisch“ bezeichnet worden war). be told about the concept or essence of truth59”. Und in Hinsicht auf den Begriff der Rechtfertigung gilt, „[...]that social-scientific and historical insight into the character of justificatory practices plus Wittgensteinian insight into the use of epistemic terminology give all the insight into justification we know how to get60”. Umgangssprachliche Analysen im Wittgensteinschen o.ä. Sinn sind nun sicher nicht hinreichend zur Konzeption des Rechtfertigungsbegriffs und vor allem nicht eines wie auch immer zu spezifizierenden Wahrheitsbegriffs mit Absolutheitsansprüchen. Stout läßt sich hier durch seine Kritik am Essentialismus zu übertriebenen Entgegenstellungen verleiten, nach dem Motto: „Wer dem Wahrheitsbegriff keine intrinsische Essenz zuschreibt, landet bei Wittgenstein“. Es sind aber sicherlich Konzeptionen des Wahrheitsbegriffs denkbar, die beide Extreme vermeiden, zwar nicht essentialistisch sind, dabei aber trotzdem robustere Ressourcen zu seiner konzeptionellen Einholung bereitstellen, als der Wittgensteinianismus aufbieten kann61. Andererseits scheint mir trotz aller Zweifel an der konkreten Durchführung von Stouts Programm sein Ansatz als solcher vielversprechend zu sein. Die Unterscheidung zwischen relativer und damit notwendig pluraler Rechtfertigung und absoluter, damit nicht pluraler Wahrheit, scheint mir nicht nur ein interessantes Instrument zu sein, um Lessings Ringparabel besser verstehen zu können, sondern gleichzeitig auch einen Ansatz zur Lösung des Problems der Pluralität von Religionen in der gegenwärtigen Situation bieten zu können. Das Zugeständnis von Pluralität (s. dazu u., Kapitel 8) wird hier nämlich nicht um den Preis einer Degradierung von Religion erkauft: Es ist also nicht so, daß wir im Fall von Religion „nur“ plurale Rechtfertigungen besitzen, in anderen Fällen, besonders natürlich in den Naturwissenschaften, aber absolute Wahrheit im eigentlichen Sinn. Nein, Wahrheit ist prinzipiell unzugänglich, in den Naturwissenschaften ebenso wie im Fall von Religion. Alles, was wir hic et nunc zur Verfügung haben, sind prinzipiell „perspektivische“, „contextualist“, prinzipiell fallibile etc. Rechtfertigungen, keine absoluten Wahrheitsansprüche. Daß das für Religion gilt, hat also nichts damit zu tun, daß diese im Vergleich mit z.B. den Naturwissenschaften in kognitiver Hinsicht defizitär wäre, sondern ist ein natürliches Korollar des gewählten neo-pragmatistischen Ansatzes. 8) Die Konsequenzen der Unterscheidung zwischen Rechtfertigung und Wahrheit in Hinsicht auf das Pluralismusproblem Wichtig bei der hier vorgeschlagenen Interpretation ist nun, genau zu beachten, welche Problembestände mit welcher Antwort verbunden werden. Ich möchte dabei analog zu Stout vorgehen, der vorschlägt, konkrete ethische Fragen mit dem Rechtfertigungsproblem statt mit dem Wahrheitsproblem zu verbinden: Die Frage, ob ein moralisch Handelnder moralisch schuldig ist oder nicht, hängt von den konkreten (kulturellen u.ä.) Umständen ab, die Wahrheit einer ethischen Aussage nicht. Ebenso sollten wir in dem uns hier interessierenden Fall vorgehen und konkrete ethische Fragen bezüglich des Pluralismusproblems mit der Rechtfertigungsfrage statt der Wahrheitsfrage verbinden: Die Frage, wie weit wir den Radius legitimer Pluralität ziehen sollten, konkret also, welche spezifischen Religionen wir tolerieren sollten, sollten wir unabhängig von der Wahrheitsfrage beantworten. Wir sollten stattdessen fragen, welche Religionen oder religiöse Subströmungen innerhalb der etablierten Religionen rechtfertigbar, 59 Stout, Ethics, S. 252. Ebd. 61 S. dazu auch u., Kapitel 8. In „Democracy“ vermeidet Stout zwar derartig übertriebene Entgegenstellungen, betont aber meines Erachtens noch immer zu stark den nicht operationalisierbaren Charakter des Wahrheitsbegriffs (s. etwa. S. 240). An dieser Stelle hat sich Stout noch nicht hinreichend vom Einfluß Rortyscher Radikalismen befreit. 60 oder jedenfalls im Prinzip rechtfertigbar sind und welche nicht. Damit sind aber keine weiteren Ansprüche verbunden bezüglich der Wahrheit oder Unwahrheit dieser Religionen. Ich meine, daß ein derartiges Verfahren einige Vorteile aufweist, zu denen u.a. die folgenden gehören: - Ein philosophischer Vorteil dieser Herangehensweise ist, daß die Ermöglichung der besagten pluralistischen Lösung nicht auf Kosten einer Trivialisierung des Wahrheitsbegriffs erkauft ist: Daß eine Pluralität von Religionen prinzipiell zugestanden ist, heißt nicht, das damit auch der Wahrheitsbegriff als solcher „pluralisiert“ werden müßte. Die Schwierigkeiten, die bei einer „Pluralisierung“ des Wahrheitsbegriffs auftreten- wie etwa in Formulierungen wie, „x ist wahr in Sprache L1, aber nicht in Sprache L2“62-, können hier also vermieden werden. Insofern das Pluralismusproblem an die Rechtfertigungs- statt an die Wahrheitsfrage angekoppelt wird, wird die Ermöglichung von Pluralität bei der hier vorgeschlagenen Interpretation also nicht um den Preis einer postmodernistischen Verflachung des Wahrheitsbegriffs oder gar von dessen Inkonsistenz erkauft. - Ein gesellschaftspolitischer Vorteil besteht darin, daß konkrete Fragen nach der Tolerierung von Religion unabhängig von der schwierigen Frage nach deren Wahrheit beanwortet werden können. Es ist also nicht so, daß wir erst die definitieve Unwahrheit einer bestimmten Religion oder religiösen Strömung wie etwa radikal islamitischer Strömungen aufzeigen müssen, bevor wir diese als intolerabel ansehen können. Nein, insofern sich diese als nicht akzeptabel erweisen lassen, sind wir gerechtfertigt, sie auch als intolerabel anzusehen und entsprechend zu handeln. Durch eine derartige Ausblendung der Wahrheitsfrage im konkreten ethischen Bereich ergibt sich ein Zuwachs an ethisch-politischem Handlungsspielraum63. - Der dritte Vorteil ist theoretisch ethischer Art: Dieser Zuwachs an Handlungsspielraum ist aber nicht um den Preis universaler Legitimationsansprüche oder ähnlich weitreichender Ansprüche mit ihren bekannten Problemen erkauft. Es muß also nicht erst etwa die Idee allgemeiner Menschenrechte abgesichert werden, bevor bestimmte religiöse Strömungen verurteilt werden können. Diese Idee ist ja viel zu abstrakt, um konkrete Probleme zu lösen, insofern sie prinzipiell inoperationalisierbar (in Hinsicht auf konkrete Probleme) ist oder doch zumindest keine eindeutigen Lösungen ermöglicht- vgl. etwa das bekannte Problem, wie das Recht auf Freiheit der religiösen Meinungsäußerung im Gegenüber zu anderen, fundamentalen Rechten unserer Gesellschaftssysteme abzuwägen ist. Hier liefert die Idee der Menschenrechte entweder keine konkreten Lösungen oder, insofern sie auf konkrete Lösungen hin zugespitzt wird, findet diese Zuspitzung, Z, aus einer bestimmten Perspektive, p, heraus statt. Das ist aber nicht nur theoretisch insofern problematisch, als Zp dem mit der Idee von Menschenrechten implizierten Anspruch universaler Gültigkeit widerspricht, sondern ist auch ganz praktisch insofern problematisch, als Z natürlich aus einer anderen Perspektive als p bestritten werden kann, zumeist mit guten Gründen (so können etwa nichtChristen behaupten, daß das Konzept der Menschenrechte auf verkappten christlichen Voraussetzungen beruht). Hier bietet die vorgeschlagene Entkoppelung des angesprochenen Tolerierungsproblems von absoluten Wahrheitsansprüchen und dessen Ankoppelung an relative Rechtfertigungsansprüche insofern Vorteile, als damit die Probleme, die bei absoluten, universalen Legitimationsansprüchen auftreten, von vornherein vermieden werden: Es geht nicht darum, „eine Perspektive jenseits aller Perspektiven“ zu kreieren, also angeblich universale Ansprüche zu machen- die dann doch nicht unabhängig von allen Perspektiven legitimiert werden können. Sondern es geht um hic et nunc rechtfertigbare Ansprüche. Die 62 S. zu diesen Schwierigkeiten etwa Joseph Margolis, The Truth about Relativism, Cambridge (USA), Oxford (UK) 1991, S. 7ff. 63 Ein derartiger Zuwachs an Handlungsspielraum ist etwa für ein Land wie Deutschland zu begrüßen, in dem es eine Vielzahl radikal-islamistischer Gruppierungen gibt, und wo es außerordentlich schwierig ist, entsprechende politische Maßnahmen zu ergreifen und zu legitimieren. Lösungen, die uns in unserer heutigen Lebenswelt rechtfertigbar erscheinen, müssen nicht erst- diachron- als zeitlos gültige nachgewiesen sein, bevor wir sie akzeptieren können. Daß sie für uns heute gültig sind bedeutet also noch nicht, daß sie auch im vorchristlichen Griechenland gültig gewesen sein müssen. Auch müssen sie nicht- synchron- universal gültig sein. Daß sie für unsere heutige Lebenswelt- wie immer diese definiert wird, sagen wir westlich-demokratisch- gültig sind, bedeutet nicht, daß sie auch für Australische aboriginals oder gar Marsmenschen gültig sein müssen. Der Abschied von allen absoluten, angeblich universalistischen Ansprüchen, der mit besagtem Rekurs auf Rechtfertigungs- statt Wahrheitsansprüche gegeben ist, braucht nun keineswegs derart agressiv vorgetragen zu werden, wie etwa Rorty ihn vorträgt. Sicherlich ist es richtig, daß wir aus unserer heutigen Perspektive, wie immer diese im einzelnen definiert wird, heraus urteilen- wir haben keine andere zur Verfügung. Doch muß diese Erkenntnis nicht derart desensibel gegenüber Anderen vorgetragen werden, wie es Rorty und manche andere Verfechter der Ethnozentrismus-These bisweilen tun64. Daß wir aus unserer heutigen Perspektive heraus, „ethnozentrisch“, urteilen, bedeutet ja nicht, daß wir uns gegenüber anderen Perspektiven prinzipiell abschließen müßten. Perspektiven sind keine abgeschlossenen Entitäten, sondern durchaus veränderbar und verbesserbar. Dort, wo wir von anderen Perspektiven lernen können, wo andere Menschen uns bereichern können, oder wo wir andere Religionen tolerieren können, sollten wir dieses auch aktiv tun beziehungsweise zulassen. Daß die hier vorgeschlagene Vorgehensweise in diesem Punkt anders aussieht als bei manchen Neo-Pragmatisten, hängt mit einer anderen Behandlung des Wahrheitsproblems zusammen. Wie o. angedeutet, hält Rorty nur an absoluten Wahrheitsansprüchen fest, um diese sofort mit Hilfe des relativen Rechtfertigungsbegriffs zu desavouieren: „[…] we have no criterion of truth other than justification […] Granted that ‘true’ is an absolute term, its condition of application will always be relative” (s.o., Kapitel 7). In der hier vorgeschlagenen Perspektive ist das zwar durchaus zutreffend, aber nur die eine, kognitive Seite der Medaille. Davon zu unterscheiden ist die andere, ethische Seite: Daß wir wissen, daß wir keine Kriterien besitzen, um das definitive Bestehen absoluter Wahrheit festzustellen, muß ethische beziehungsweise wissenschaftsethische Konsequenzen besitzen. Es muß zu einer Ethik der Bescheidenheit in kognitiven und vergleichbaren Ansprüchen führen. Diese Ethik der Bescheidenheit ist darin begründet, daß das, was wir aus unserer heutigen Perspektive als rechtfertigbar ansehen, nicht auch gleichzeitig absolut wahr sein muß. Es könnte also durchaus sein, daß das, was wir heute als rechtfertigbar ansehen, in der Zukunft als nicht rechtfertigbar angesehen wird- und umgekehrt. Insofern hier eine Differenz zwischen Rechtfertigung beziehungsweise Rechtfertigbarkeit und absoluter Wahrheit besteht und wir außerdem darum wissen, sollten wir bescheiden sein in unseren Ansprüchen und diese nicht vorschnell verabsolutieren. Diese Ethik der Bescheidenheit kann dann etwa in Form von epistemischen Pflichten zugespitzt werden. Um nur zwei derartige Pflichten zu nennen: Zum einen ist da die Pflicht des auf-Andere-Hörens-und-Andere-Ernst-Nehmens zu nennen. Wir sollten uns aktiv bemühen, andere Perspektiven zu verstehen. Diese Pflicht folgt aus der Erkenntnis der Perspektvität und damit Beschränktheit unserer jeweiligen Rechtfertigungsbemühungen. Darum wissend sollten wir uns aktiv bemühen, diese Beschränktheiten zu reduzieren. Das schließt etwa ein, daß wir versuchen, so gut wie möglich Andere zu verstehen, um auf diese Weise unseren Horizont zu erweitern und die Beschränktheiten unserer jeweiligen 64 S. dazu Rorty, Solidarity or Objectivity?, in: Richard Rorty, Objectivity, Relativism, and Truth. Philosophical Papers vol. 1, Cambridge 1991, S. 21-34 and Richard Rorty, On Ethnocentrism: A Reply to Clifford Geertz, in: Rorty, Objectivity, S. 203-210. Rechtfertigungsbemühungen zu reduzieren- ohne allerdings jemals den Anspruch zu haben, diese Beschränkungen in via65 vollständig überwinden zu können. Zum zweiten ist auch eine Sorgfaltspflicht in diesem Zusammenhang zu nennen: Insofern wir wissen, daß unsere Rechtfertigungsbemühungen immer beschränkt sind, wir aber nicht anders können, als auf diese Weise zu rechtfertigen, sollten wir alles daran setzen, unsere Rechtfertigungsbemühungen so sorgfältig wie möglich zu formulieren. Das impliziert etwa die Pflicht, relevante Informationen so weit wie möglich zur Kenntnis zu nehmen, andere Perspektiven mit ihren abweichenden Kriterien66 zur Kenntnis zu nehmen, wo immer möglich. Abschließend sei noch darauf hingewiesen, daß besagte Ethik der Bescheidenheit keine falsche Bescheidenheit impliziert und keine Tolerierung von Religionspluralität ohne alle Grenzen. Es sollte aus dem Vorhergegangenen deutlich geworden sein, daß das Ziel nicht sein kann, jedwede Pluralität zu tolerieren und uns jedweden Urteils über andere Perspektiven, etwa religiöser Art, zu enthalten (s. vor allem Kapitel 1 und 2). Der Vorteil der hier vorgeschlagenen Herangehensweise ist ja gerade, daß sie Handeln in aller Vorläufigkeit legitimiert. Wir brauchen also nicht erst zu warten, bis wir die universale Begründung besitzen, mit deren Hilfe wir etwa religiösen Fanatismus verurteilen. Wir brauchen nicht zu warten, bis dessen Unwahrheit definitiv erwiesen worden ist, sondern können ihn hic en nunc verurteilen und daraus die entprechenden Konsequenzen ziehen, insofern wir dazu gerechtfertigt sind- vorausgesetzt natürlich, wir haben besagte Pflichten erfüllt. Besagte Vorgehensweise ist nun vielleicht weniger glamourös als universelle Ansprüche, Projekte eines universalen „Weltethos“ o.ä. es sind. Aber sie ist nüchterner und ermöglicht auf ihre nüchterne Art verantwortliches politisches Handeln und dessen (religions)philosophische Legitimation. Und oftmals sind es ja gerade nicht die glamourösen, sondern die nüchternen Vorschläge, die auf lange Sicht für alle Beteiligten die besten Resultate zeitigen. 65 Dieser Zusatz mit seinem theologisch-eschatologischen Implikationen soll en passant deutlich machen, daß die hier vorgeschlagene Interpretation nicht nur aus (religions)philosophischer Perspektive heraus akzeptabel ist, sondern dieses durchaus auch aus theologischer Perspektive sein kann. Da das hier nicht mein Thema ist, beschränke ich mich auf einen kurzen Hinweis: Bei der Betonung der Beschränkungen unserer jeweiligen Rechtfertigungsbemühungen denke man etwa an die ethischen Impulse, die die (christlich-protestantische) Rechtfertigungslehre impliziert und die etwa in der paulinischen Relativierung von (der Erkenntnis) des Weltlichen kanonisiert sind. 66 Damit sind insbesondere abweichende second-order-Kriterien gemeint, also solche zur Rechtfertigung von kognitiven oder ethischen Ansprüchen.