5.1.09 "Bis Du groß bist, wird sich die Gestalt der Kirche sehr verändert haben" - Aus einem Brief an "Christen pro Ethik" In den Weihnachtstagen wurde in den Berliner evangelischen Gottesdiensten eine ausführliche Werbung für "pro Reli" vorgetragen. Auf den Plätzen waren Werbeunterlagen mit Unterschriftenlisten ausgelegt. Der Mix aus Weihnachten und Werbung war ein missglücktes Festtagsmenü. Als Gottesdienstbesucher hatte ich das Gefühl, meine Sehnsucht nach dem Weihnachtsevangelium und nach einem schönen Weihnachtsgottesdienst würde für einseitige kirchenpolitische Zwecke missbraucht. Mir geht es darum, dem Eindruck entgegenzutreten, alle Evangelischen bzw. alle religiös Interessierten würden selbstverständlich für "pro Reli" votieren. Als evangelischer Pfarrer bin ich für Religion und freiwilligen Religionsunterricht, aber nicht für das Konzept der Initiative "pro Reli". Die Argumente, die offiziell von der Initiative vorgetragen werden, können bei einem aufmerksamen Zeitgenossen nicht verfangen. + Die Initiative beklagt, dass der Religionsunterricht oft in den Randstunden stattfindet. Glauben sie denn wirklich, dass bei einer anderen rechtlichen Regelung diese Problematik ausgeräumt wäre? Die Praxis in den alten Bundesländern zeigt, dass es die Randstunden-Problematik auch dort gibt, wo der Religionsunterricht "ordentliches Unterrichtsfach" ist. Solange der Religionsunterricht "konfessionell eingebundener Unterricht" ist, wird diese Problematik fortbestehen. Und die konfessionelle Aufsplitterung des Religionsunterrichts wird durch die Vorschläge von "pro Reli" gerade nicht überwunden. + Die Initiative beklagt, dass die Teilnahme am Religionsunterricht seit der Einführung von "Ethik" "rapide" zurückgegangen sei. Seit kurzem liegen diesbezügliche Zahlen auf dem Tisch. Die Teilnahme am Religionsunterricht ist kaum zurückgegangen. Der ganz leichte Rückgang ist verständlich und völlig akzeptierbar angesichts des Vorteils, dass im Ethikunterricht jetzt alle SchülerInnen mit den Themenbereichen Ethik und Religion konfrontiert werden. Natürlich muss das Angebot des Faches "Ethik", insbesondere das Religionskundeangebot immer weiter verbessert werden. Verbesserung wird aber nicht durch Sich-Zurückziehen und Ablehnung, sondern nur durch Mitarbeit erreicht. + Das dritte Argument der Initiative lässt ahnen, wohin die Reise gehen soll. Die Initiative befürchtet, dass die Kirche immer weniger Geld für die Einstellung von KatechetInnen zur Verfügung stellen kann. Deswegen – so verstehe ich es – könne die "Tradierung christlicher Bildung" nicht mehr alleine eine kirchliche Angelegenheit bleiben. Hier soll der staatlich finanzierte Religionsunterricht einspringen. Der Religionsunterricht soll rechtlich so sicher – und für die SchülerInnen rechtlich so verpflichtend werden, dass die Kirche sich fest auf ihn verlassen und in diesem Vertrauen die eigene innerkirchliche Sozialisation (Christenlehre usw.) guten Gewissens abbauen kann. Merken die Verantwortlichen nicht, dass dies ein Schritt zurück in vergangen geglaubte Zeiten einer engen Kooperation von Thron und Altar wäre? Nach dem 2. Weltkrieg kam es in Deutschland - was die kirchlichen Verhältnisse betrifft - zu einer großen Restauration. Die Neuansätze der Bekennenden Kirche wurden nicht weitergeführt, vielmehr knüpfte man dort wieder an, wo man 1933 aufgehört hatte. Nach der Wende 1989 kam eine abermalige historische Chance zur Aufnahme von neuen Lernerfahrungen. Es wurden heftige Debatten über den Sinn und Unsinn von Militärseelsorge, Religionsunterricht und Kirchensteuer geführt. Im Ergebnis sind alle Einsprüche gegen die Strukturen der Alt-EKD zurückgewiesen worden. Der Evangelische Kirchenbund in den neuen Bundesländern löste sich auf. Die Restauration hatte ein zweites Mal gesiegt – es gab jedoch noch kleine Nischen, wo der Sieg nicht vollkommen war. Eine solche kleine Nische für noch nicht endgültig bereinigte Sonderstrukturen war der Religionsunterricht in Berlin. Nunmehr sollen auch diese kleinen Restnischen beseitigt werden. Und das makabre ist, dass die Kirchen selbst die Agitatoren für die neuerliche Restaurationswelle sind. Wie gesagt, es geht beim Religionsunterricht um die Angelegenheiten der Kirche. Und in dieser Auseinandersetzung um die Angelegenheiten der Kirche vertritt die Politik mehrheitlich die Position des Fortschritts, während die Kirche für die Anliegen der Restauration streitet! Während die Kirchen dort, wo man sich ihren Widerstand wünschen würde, oft mit dem gesellschaftlichen Trend mitschwimmen, treten sie hier in Widerspruch zu der Mehrheitsmeinung – obwohl sie damit ihre Entwicklung zu mehr Eigenständigkeit und Eigenverantwortung selbst blockieren. Nicht die Politik hat sich von der Mehrheitsmeinung getrennt – sodass der Kirche nunmehr die Aufgabe zufallen könnte, auf dem Weg des Volksbegehrens die Politik zu korrigieren. Ein falsches Bild von der Mehrheitsmeinung hat vielmehr die Kirche. Aber man kann den Streit um die Mehrheitsmeinung eigentlich auf sich beruhen lassen. Denn es geht der Kirche gar nicht um das Anliegen, der Mehrheitsmeinung zum Durchbruch zu verhelfen, sondern um den Ausbau ihrer Privilegien. Die Einführung des Religionsunterrichts als eines ordentlichen Unterrichtsfaches in einem Wahlpflichtbereich würde die Privilegierung der Kirche verstärken. Vergessen scheint die Einsicht, dass die Kirche kein Selbstzweck ist. Das Festhalten an Privilegien oder die Vernachlässigung ihres Dienstes aus Besorgnis um gefährdete Eigeninteressen schadet ihrer Glaubwürdigkeit. Die Freiheit der Kirche gründet in ihrem Auftrag (Barmer Theologische Erklärung 1934). Mich erinnert das Wetteifern für "pro Reli" daran, wie Dietrich Bonhoeffer in "Widerstand und Ergebung" die Situation der Kirche analysiert und ihre Zukunftsanforderungen beschrieben hat. In seinen in "Widerstand und Ergebung" abgedruckten "Gedanken zum Tauftag von D. W. R." vom Mai 1944 schreibt Bonhoeffer: "Unsere Kirche, die in diesen Jahren nur um ihre Selbsterhaltung gekämpft hat, als wäre sie ein Selbstzweck, ist unfähig, Träger des versöhnenden und erlösenden Wortes für die Menschen und für die Welt zu sein. Darum müssen die früheren Worte kraftlos werden und verstummen, und unser Christsein wird heute nur in zweierlei bestehen: im Beten und im Tun des Gerechten unter den Menschen. Alles Denken, Reden und Organisieren in den Dingen des Christentums muß neugeboren werden aus diesem Beten und diesem Tun. Bis Du groß bist, wird sich die Gestalt der Kirche sehr verändert haben. Die Umschmelzung ist noch nicht zu Ende, und jeder Versuch, ihr vorzeitig zu neuer organisatorischer Machtentfaltung zu verhelfen, wird nur eine Verzögerung ihrer Umkehr und Läuterung sein" (Dietrich Bonhoeffer Werke Band 8, Seite 435f.). Dr. Karl Martin, ev. Pfarrer Berlin-Karlshorst, Januar 2009