Anklage Soldaten

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Interview, 13.08.2007, 15:07 Uhr
Deutsch-Deutsche Geschichte ausreichend aufgearbeitet?
Zum Jahrestag des Mauerbaus am 13. August 1961 hat der Fund eines
uneingeschränkten Schießbefehls auf DDR-Flüchtlinge die Frage nach neuen
Ermittlungen gegen Verantwortliche aufgeworfen. Das zum einen. Zum anderen
wird diskutiert, ob sich die Beurteilung der DDR durch den Fund dieses
Dokumentes ändern wird? Berlins Regierender Bürgermeister, Klaus Wowereit,
meint: NEIN. "Die Beurteilung des Unrechtsregimes bleibt die gleiche", sagte er
heute, bei einer Gedenkveranstaltung zum Jahrestag des Mauerbaus in Berlin.
Das gefundene Dokument zeige nur erneut die Unerbittlichkeit, Willkürlichkeit
und Menschenverachtung des DDR-Regimes.
Die Einschätzung von Wolfgang Thierse, Bundestags-Vize-Präsident, im
Gespräch mit Sabine Porn.
Das Interview im Wortlaut:
Sabine Porn: Folgen Sie der Einschätzung von Klaus Wowereit, dass sich mit
diesem Dokument nicht viel verändert, verändern wird in der Beurteilung der
DDR?
Wolfgang Thierse: Ich bin derselben Meinung. Wir wussten doch, dass so viele
Menschen an der innerdeutschen Grenze erschossen, gestorben sind, nur weil sie
die DDR verlassen wollten. Wir wussten doch auch, dass da nicht junge
Männer, Grenzsoldaten, aus Jux und Dollerei geschossen haben, sondern dass
sie auf Anweisung gemordet haben und dass die Anweisungen von oben kamen.
Egal, ob da ein schriftlicher allgemein gültiger Schießbefehl vorliegt, oder ob
wir den jemals finden werden, oder ob das mündliche Befehle waren. Das
Dokument bestätigt nur noch einmal, dass es solche Anweisungen gegeben hat.
Also qualitativ ist das nichts Neues. Es bestätigt die brutale Unmenschlichkeit
des Grenzregimes und die Verantwortung der SED dafür.
Porn: Die Veröffentlichung dieses Dokumentes hat dennoch eine Debatte um
den Umgang mit der DDR-Vergangenheit neu entfacht, unter anderem, weil das
Dokument eben auch kein neues ist, sondern vor zehn Jahren in einer
wissenschaftlichen Abhandlung veröffentlicht wurde. Das allerdings war der
Bundesbeauftragten für die Stasiunterlagen Susanne Birthler nicht bekannt. Wie
kann das sein?
Thierse: Die Aufregung darüber verstehe ich nicht ganz. Auch Herr Knabe, der
ja ein Sachverständiger ist, hat sich daran nicht erinnert, wie viele andere auch.
Die damalige Veröffentlichung eines vergleichbaren Dokumentes hat keinerlei
Aufsehen erregt unter den Journalisten. Wem will ich das vorwerfen, dass es erst
jetzt Aufregung verursacht, und jetzt erst richtig wahrgenommen wird? Das
scheint mir eine Scheinaufregung zu sein. Wichtig ist, der Inhalt dieses
Dokumentes hat noch einmal bestätigt, was an der Grenze stattgefunden hat. Die
Barbarische Inhumanität des Grenzregimes.
Porn: Sie sagen Scheinaufregung. Kann man es auch so deuten, dass die
Aufarbeitung der DDR-Vergangenheit immer noch nicht so funktioniert hat, wie
man es sich wünschen würde, das dadurch auch ein bisschen erklärlich wird,
warum jetzt mit solcher Verve darüber diskutiert wird?
Thierse: Also die, die Frau Birthler jetzt kritisieren und die auch eine Ende der
Behörde fordern, ist zum einen Herr Farth, der ist für das Ende der Behörde
schon seit Monaten oder auch Jahren, andererseits sind es Vertreter der Partei
der Linken. Da überrascht es weniger, dass die diese Behörde loswerden wollen.
Ich glaube, dass die Stasibehörde wichtige Arbeit getan hat und auch weiterhin
tun wird: Die Akten der Täter den Opfern zur Verfügung stellen, Beiträge zur
Aufarbeitung der DDR-Geschichte zu leisten, wissenschaftliche Arbeit zu
unterstützen. All das ist wichtig und nötig und das brauchen wir auch weiterhin.
Das dabei Fehler passieren, Irrtümer, das ist nicht zu vermeiden. Dass die Akten
immer noch in riesigen Beständen nicht vollständig erforscht sind - auch das ist
ja ein Argument dafür, dass die Arbeit weiter gehen muss.
Porn: Das heißt, die Behörde muss nicht um ihre Zukunft fürchten?
Thierse: Es gibt ja Leute die ihr keine Zukunft mehr gönnen. Ich bin dafür, die
SPD ist dafür, dass die Stasiunterlagenbehörde bis 2019 ihre Arbeit tun kann,
das sind 30 Jahre seit 1989. Das entspricht den 30 Jahresfristen des
Bundesarchivgesetzes, das entspricht auch der Dauer des Solidarpaktes. Man
kann in dieser Zeit darüber diskutieren und Konzepte erarbeiten wie, welche
Aufgaben der Stasiunterlagenbehörde anschließend wie und in welcher Form
und durch welche Institution übernommen werden soll. Die Arbeit muss weiter
geschehen, sie ist - man sieht es ja auch an diesem Beispiel- noch lange nicht
beendet. Die DDR-Vergangenheit ist eben auch eine Vergangenheit die nicht
vergeht.
Porn: Sie haben es gerade selber gesagt, die Aufarbeitung der DDRVergangenheit ist noch nicht abgeschlossen. Was muss passieren?
Thierse: Wir brauchen noch viel wissenschaftliche Forschung um auch wirklich
ein differenziertes Bild der DDR immer wieder neu zu präsentieren gegen
Schwarz-Weiss-Urteil, aber auch gegen alle Beschönigungen, Verharmlosungen
a la Egon Krenz und andere ehemalige SED-Funktionäre oder StasiFunktionäre, die ja bis in die Linkspartei hineinreichen. Wir brauchen auch
unerhörte Anstrengungen in den Schulen, in der Bildung. Junge Leute können
sich gar nicht mehr vorstellen, was das einmal war: die DDR, das Grenzregime.
Die Zeugnisse, etwas im Stadtbild Berlins verschwinden allmählich. Da müssen
wir erhebliche Anstrengungen machen bei der politischen Bildung im
Schulunterricht, aber auch in den Museen, in der Gedenkstättenarbeit. Die
Anstrengungen müssen weitergehen, denn die Vergangenheit muss präsent
gehalten werden, gerade weil wir uns immer wieder vergegenwärtigen müssen,
was der Verlust von Freiheit und Demokratie für Konsequenzen hat.
http://www2.inforadio.de/radiotoread.do?pid=594&subpage=null&command=d
etailview&dataid=201494
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