Wolfgang Thierse Interview Debatten über - TP

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Debatten über Verantwortung in einem System von Verantwortungslosigkeit
Interview mit Wolfgang Thierse
TP: Herr Thierse, im Jahre 1995 haben Sie auf dem Bautzen-Forum eine Rede gehalten, die die
Überschrift trägt: Versöhnung ja, Schlußstrich nein!
Wie soll denn das gehen, eine Versöhnung ohne Schlußstrich?
Thierse: Versöhnung ist ja ein sehr großes Wort und bezeichnet eine wahrlich außerordentliche
menschliche Anstrengung, nämlich die Anstrengung, sich der Wahrheit zu stellen und sich nicht vor ihr
zu drücken; denn wirkliche Versöhnung setzt die Bemühung u m die Wahrheit und Einsicht i n die
Wahrheit voraus. Versöhnung setzt voraus, daß die unterschiedlich Beteiligten auch "Ja" sagen zum
Gespräch miteinander, zur ehrlichen Zuwendung zur Geschichte auch gerade in ihren trüben und
bitteren Seiten; sie setzt voraus, daß die Opfer "Ja" sagen, also ein Wort der Vergebung sprechen;
und das können sie ja erst dann sprechen, wenn ihre Geschichten, das ihnen angetane Unrecht auch
ausgesprochen, bewertet worden ist.
Versöhnung setzt auch voraus, daß diejenigen, die eher auf der Seite der Täter - und ich weiß, das
sind alles Vereinfachungen "Opfer" und "Täter" - gestanden und das Regime getragen haben, die auf
unterschiedliche Weise rechtlich, politisch und moralisch schuldig geworden sind, sich auch ihrer
Geschichte gestellt haben.
Also ist Versöhnung genau das Gegenteil von Schlußstrich, denn Schlußstrich heißt: Ende der
Beschäftigung mit der Vergangenheit - Augen zu, Tür zu; aber wir wissen gerade als Deutsche, das
funktioniert nicht, das geht nicht; wir haben es ja miteinander erlebt - die Älteren unmittelbar und wir
sozusagen in der zweiten Reihe -, daß das auch nach 1945 nicht gegangen ist. Wer Vergangenheit
verdrängt, muß wissen, daß er eine gesellschaftliche Krankheit provoziert, die darin besteht, daß
Unrecht weiter wuchert und daß die Opfer, die wirklichen Opfer noch ein zweites Mal erniedrigt und
beleidigt und wieder zu Opfern gemacht werden, weil ihnen nicht Gerechtigkeit widerfährt in ihrer
Lebensgeschichte.
Also, Versöhnung ist eine große Anstrengung, um einen angemessenen, differenzierten, fairen,
gerechten Umgang mit der Vergangenheit zu gewährleisten, insofern das Gegenteil von Schlußstrich.
TP: Diejenigen, die einen Schlußstrich fordern, meinen ja nicht, daß die Vergangenheit zugedeckt und
verdrängt werden soll, daß an ihr sozusagen nicht mehr gearbeitet wird, sondern sie meinen
"Schlußstrich mit s t r a f r e c h t l i c h e r Vergangenheitsbewältigung". Wäre das nicht ein
gangbarer Weg?
Thierse: Ich weiß, daß es eine solche Debatte wirklich gibt, und ich kenne auch eine ganze Reihe
Argumente, die dafür sprechen, mit der justitiellen Aufarbeitung der Vergangenheit aufzuhören. Ich
gehöre inzwischen zu denjenigen, die einigermaßen resigniert sind, weil sie sehen, diese justitielle
Aufarbeitung der DDR-Vergangenheit bringt nicht die Ergebnisse, die sich die meisten, auch ich,
gewünscht haben, sondern das ist ein Prozeß, der ständig vom Scheitern bedroht ist. Trotzdem bleibt
dann die Frage: Wer soll hier eigentlich mit welchem Recht und in wessen Auftrag einen Schlußstrich
ziehen? Soll in Bonn irgend jemand sagen, diese Vergangenheit ist strafrechtlich aufgearbeitet? Mit
welchem Recht soll er das tun, wenn es immer noch genügend Fälle gibt, immer noch genügend
Betroffene gibt, die Anklagen erheben, Schuldzuweisungen erheben, so daß der Staat auch
gezwungen ist, dies zu untersuchen.
Wir haben ja bisher ein erhebliches Ungleichgewicht in der strafrechtlichen Aufarbeitung der
Vergangenheit gehabt. Das begann aus verständlichen Gründen mit Prozessen gegen die
sogenannten Mauerschützen, also eher gegen die kleinen Täter, gegen die Ausführenden, gegen die
Befehlsempfänger; es gab dann die immer wieder schwierigeren Versuche, auch Prozesse gegen
Befehlsgeber, also die eigentlich politisch Verantwortlichen in der DDR zu führen - sie sind immer
problematisch ausgegangen; einige sind noch im Gange, es hat einige Verfahren gegen Richter und
Staatsanwälte gegeben; auch diese haben zu einem schwierigen Ende geführt, wobei mich weniger
die Urteile geärgert haben, die meist ein oder zwei Jahre auf Bewährung waren - das will ich gar nicht
für unangemessen halten -, aber es gab teilweise Urteilsbegründungen, die mich empört haben
insofern, als sie den Eindruck erweckt haben, man hätte in der DDR kein moralisches Wesen sein
können, nicht zwischen Gut und Böse unterscheiden können, nicht wissen können, was Recht oder
Unrecht ist.
Auch in der DDR galt Menschenrecht, auch in der DDR galt Völkerrecht, auch in der DDR gab es
sogar im Strafgesetzbuch, aber auch in der gesellschaftlichen Meinung eine deutliche Unterscheidung
zwischen dem, was rechtlich in Ordnung ist, also was Menschenrechten entspricht und dem, was
Menschenrechten widerspricht. Ein deutliches Indiz dafür ist ja im übrigen auch die vielfache
Geheimhaltung von politisch relevanten Prozessen. Das tut man ja nur, wenn man ein schlechtes
Gewissen hat, und ein schlechtes Gewissen hat man, wenn man weiß, daß man hier eigentlich
Unrecht tut.
Ich erinnere daran, um zu sagen: Ich sehe niemand, der sich die Anmaßung erlauben dürfte, einen
Schlußstrich unter die justitielle Aufarbeitung zu ziehen. Ein solcher Schlußstrich, also ein solches
Ende der juristischen Anstrengung ist erst möglich, wenn wir in dieser Gesellschaft ein Resümee über
den bisherigen Ablauf der Prozesse gezogen haben, wenn eine wirkliche Debatte über so etwas wie
eine Amnestie stattgefunden hat und wenn die unterschiedlich Beteiligten in dieser gesellschaftlichen
Debatte sich haben äußern können und am Schluß eine deutliche Mehrheit für ein solches Ende der
juristischen Aufarbeitung sich abzeichnet. Ich sehe das gegenwärtig in Deutschland noch nicht, ich
sehe nur, daß es höchst unterschiedliche, gegensätzliche Meinungen gibt und einen gelegentlich auch
verletzenden Streit darüber.
TP: Kann es nicht sein, daß politische Indoktrination - wie es in den von ihnen in der Begründung
beanstandeten Urteilen gegen ehemalige DDR-Richter und Staatsanwälte zum Ausdruck kommt - in
der Tat so etwas bewirkt haben könnten wie die Trübung des Unrechtsbewußtseins?
Thierse: Das ist doch überhaupt nicht zu bestreiten. Wie in jedem Gerichtsverfahren, ist auch bei den
Prozessen gegen politisch motivierte Straftaten zu DDR-Zeiten zu berücksichtigen, unter welchen
Bedingungen, unter welchen Voraussetzungen ein Beschuldigter gehandelt hat. Und da spielt
natürlich Erziehung, gesellschaftliches Umfeld, Überzeugung eine Rolle. Und das soll auch bei der
Urteilsfindung eine angemessene Rolle spielen. Aber es wäre schon eigentümlich, wenn man sagt:
Weil einer ein überzeugter Kommunist war, hatte er die Lizenz, die Erlaubnis zu Unrechtshandlungen.
Das darf nicht sein. Man muß das bei der Würdigung des Beschuldigten und seiner Handlungen
angemessen berücksichtigen, aber es darf nicht so weit gehen, daß man sagt, der Kommunismus,
marxistische Überzeugung, das innige Verhältnis zur Sowjetunion hätten dazu führen können und gar
müssen, daß diese DDR, ihre führenden Akteure, Politbüromitglieder, Stasioffiziere, Staatsanwälte
und Richter die Genehmigung hatten, die Bürger ihrer Freiheit zu berauben, z.B. ihrer Reisefreiheit,
ihrer Bewegungsfreiheit, ihrer Meinungsfreiheit; das bleibt Unrecht. Und daß das auch Unrecht war,
davon gab es auch in der DDR ein massenhaftes Bewußtsein bis in die offizielle Terminologie hinein,
schließlich hat die DDR sich selber als eine Diktatur des Proletariats bezeichnet. Und wenn man
Diktatur sagt, meint man die Unterdrückung von elementaren Freiheitsrechten der Bürger. Man hat
das dann auch begründet. Und ich will gerne zugeben, daß es eine Rolle spielen mag, ob jemand mit
achtzehn Jahren oder mit zwanzig Jahren etwas tut, nachdem er eine volle Erziehung, ideologische
Beeinflussung zu DDR-Zeiten genossen hat oder ob jemand älter war und damit auch
Lebenserfahrung, ideologische, politische, gesellschaftliche Vergleichsmöglichkeiten hatte, die ihm ein
anderes, freieres Urteil erlaubt haben. Also Berücksichtigung von Biographie, politisch-ideologischer
Erziehung bei der Bewertung der Täter und der Strafzumessung ja, aber daraus darf kein allgemeiner
Freispruch, keine allgemeine Entlastung folgern; das wäre fatal, das erinnerte mich an das, was man
in anderen Zusammenhängen, eben nach 1945, auch immer herangezogen hat: Der Befehlsnotstand
war dann immer ein Grund, alles und jedes zu entschuldigen, als hätte man auch früher nicht gewußt,
daß die Erschießung von Gefangenen etwas unrechtmäßiges ist, etwas strafbares; daß einer
sozusagen unter Befehl, also mit vorgehaltener Waffe seines Offiziers dann selber schuldig wurde,
das mag ein mildernder Umstand sein, aber damit war das immer noch eine unrechtmäßige Tat.
TP: Bleiben wir mal bei Richtern und Staatsanwälten: Sind solche Leute nicht irgendwo verpflichtet,
aufgrund bestehender Gesetze, die ihnen das System vorschreibt - woher auch immer legitimiert - zu
handeln?
Thierse: Es gab aber zu DDR-Zeiten auch genügend Auslegungsmöglichkeiten von Gesetzen. Es gibt
keinen Automatismus, daß aus gesetzlichen Regelungen dann auch eine bestimmte Art von
Strafzumessung erfolgen mußte; daß Richter und Staatsanwälte in der DDR noch einmal unfreier
waren als die Bürger insgesamt, will ich ausdrücklich in Rechnung stellen, und deswegen sage ich:
Dies muß bei der Bewertung der Person und ihrer Handlung und damit bei der Strafzumessung eine
Rolle spielen; aber - ich bin der Sohn eines Juristen, eines Rechtsanwaltes, ich bin aufgewachsen mit
juristischen Konfliktfällen, die mein Vater erzählt hat - ich weiß, daß auch im Rechtssystem der DDR
immer ein gewisser Spielraum war und daß dem einzelnen auch noch abzuverlangen ist, daß er - ich
denke auch nicht besserwisserisch im nachhinein, sondern aus meiner eigenen Lebenserfahrung in
der DDR - diesen Spielraum auch ausnutzt und nicht sklavisch nur Befehlen gehorcht und das tut, was
ihm vorgeschrieben ist oder sich sogar noch hervortut durch besonderen Eifer. Es gab ja eine Reihe
von Prozessen, in denen dies deutlich wurde, in denen Staatsanwälte, aber vor allem auch Richter
geradezu "bravourös" die Vorgaben, die Anordnungen aus der SED-Führung, aus der jeweiligen
zuständigen SED-Leitung auch ausgeführt haben. Sich jetzt darauf zu berufen und zu sagen, das
müsse doch mildernd in Rechnung gestellt werden, hat natürlich etwas fatales, weil das dann
wiederum nach dieser allgemeinen Entschuldigung des Befehlsnotstandes aussieht. Ich halte das für
ganz unangemessen, weil dann am Schluß, wenn man sich wirklich darauf einläßt - wie gesagt, ich
sage ausdrücklich, die Berücksichtigung bezogen auf den einzelnen Beschuldigten ist richtig niemand verantwortlich gewesen ist für irgend etwas und so eine allgemeine Entlastung daraus
gemacht wird; dann war es das System oder die Ideologie, oder es war der "Große Bruder"; das
kommt mir so vor wie manche Ausreden schlimmster Art nach 1945, wo es am Schluß immer nur
Hitler selber gewesen ist; niemand anderes wäre dann nach 1945 schuldig gewesen oder schuldig zu
sprechen gewesen - außer Hitler selber; denn in einem Führerstaat ist natürlich letztendlich der Führer
verantwortlich.
Ich will ausdrücklich nicht Nazireich und DDR wirklich vergleichen; ich sage nur, hinsichtlich der
Entschuldigungsmechanismen drängt sich diese Analogie auf, und ich wehre mich gegen diese
Analogie; so sehr die DDR ein unselbständiger Staat war, so sehr sie von der Sowjetunion abhängig
und ihr unterworfen war, so sehr sie ein ideologisch geprägtes Gemeinwesen war, so sehr diese DDR
auch - wenn man so will - ein absolutistisches Staatswesen war - also beherrscht von einem
allmächtigen Politbüro: Ausgeführt, verwirklicht, realisiert worden ist dieses politische System immer
von konkreten Menschen und nicht nur von einem einzigen, sondern von vielen Tausenden,
Zehntausenden, Hunderttausenden, die abhängig von ihrer Stellung in dieser gesellschaftlichen
Hierarchie, meinetwegen auch in der Befehlshierarchie, ein unterschiedliches Ausmaß von
Verantwortung auf sich geladen haben, dem sie sich stellen müssen.
TP: Hans Modrow steht auf dem Standpunkt, daß Prozesse der Art, wie sie derzeit gegen politische
Funktionsträger der ehemaligen DDR geführt werden, auch gegen Grenzsoldaten und so weiter, das
deutsche Volk eher spalten als es zu vereinen. Können Sie das irgendwo nachvollziehen?
Thierse: Ich sehe die Schwierigkeiten dieser Prozesse. Sie sind zunächst solche der Beweisführung,
also der eindeutigen, nachweisbaren Zurechnung der persönlichen Verantwortung von Beschuldigten,
von Angeklagten. Während es auf der untersten Ebene, also bei den Mauerschützen, noch geht,
durch Zeugen, vielleicht auch durch Indizien, aber vor allem durch Zeugen nachzuweisen, daß ein
Mauerschütze geschossen und getroffen hat, ist es schon viel schwieriger nachzuweisen, ob und wer
einen Befehl dazu gegeben hat. Und es ist noch viel schwieriger nachzuweisen, wer in der Führung
der DDR, also im Politbüro, auf den obersten Ebenen der Justiz und der staatlichen Verwaltung die
individuelle Verantwortung getragen hat. Das Diktum von Rudolf Bahro von vor knapp zwanzig Jahren
ist ja ganz zutreffend, als er die DDR als ein "System der organisierten Verantwortungslosigkeit"
bezeichnet hat. Damit hat er ja das gemeint, was gesellschaftlich massenhaft stattgefunden hat, daß
wir als DDR-Bürger individuell keine Verantwortung übernehmen konnten, weil alles unter der Führung
der Partei stattfinden mußte, was ja dazu führte, daß politische, wirklich gesellschaftliche
Verantwortung dem einzelnen gar nicht übertragen werden konnte, denn dazu bedarf es eines
bestimmten Ausmaßes von Freiheit, nur dann kann man persönlich verantwortlich sein.
Die Verschleierung individueller Verantwortung ist eine Systemeigenschaft der DDR, das macht einen
Teil der Schwierigkeiten der jetzigen Prozesse aus. Trotzdem sind sie sinnvoll. Ich habe immer gesagt
- das war mein Hauptargument, und es gilt eigentlich auch heute noch, obwohl ich viel skeptischer
geworden bin und sehe, daß das Strafrecht eben nur ein begrenzt wirksames Instrument bei der
Vergangenheitsbewältigung sein kann -, daß die Justiz doch nicht in vorauseilender Resignation vor
den Schwierigkeiten in der Beweisführung, in der Urteilsfindung gegenüber Straftaten aus DDR-Zeiten
aufgeben dürfte, sondern verpflichtet ist, öffentlich den Versuch zu machen, auch mit den Mitteln des
Strafrechts, also mit strengen Regeln nach den Verantwortlichkeiten zu suchen, gerade in einem
System organisierter Verantwortungslosigkeit. Diese Anstrengung ist wichtig für das
Rechtsbewußtsein der Deutschen insgesamt, aber vor allem der Ostdeutschen, ist wichtig, um dem
populären Vorurteil zu begegnen, daß man ja wie üblich die Kleinen hängt und die Großen laufenläßt;
ist auch wichtig in diesem dramatischen Umbruchsprozeß, in dem so viele Menschen unendlich viel
nicht nur gewonnen, sondern auch den Verlust von Arbeitsplätzen, die Entwertung ihrer politischen,
gesellschaftlichen, sozialen Erfahrungen und Überzeugungen erlebt haben, eben ein großes Ausmaß
von sozialer Verunsicherung, in dem viele Menschen nicht nur die Vorzüge der Freiheit erfahren,
sondern auch ihre problematische Seiten. Und es auch ein Grundklima von Vorwurf, von
Enttäuschung, von Erbitterung gibt. Gerade in einer solchen Situation ist es notwendig und sinnvoll,
danach zu fragen: Wer ist eigentlich verantwortlich für die Misere, in der sich jetzt viele befinden? Wer
hat zur Vorgeschichte beigetragen? Wer hat das mitverursacht, daß die DDR zusammengebrochen
ist, daß sie in einer wirtschaftlichen Katastrophe endete, daß die öffentliche Moral in der DDR zerstört
worden ist?
Ich füge ausdrücklich hinzu - das war meine Meinung schon vor Jahren -, die Strafjustiz kann nur
einen kleineren Teil davon übernehmen, ich habe die gesellschaftliche Debatte über politische und
moralische Bewertungsfragen immer für das wichtigere gehalten. Deswegen habe ich vor Jahren mit
anderen zusammen einen Vorschlag gemacht, mit der ungeschickten Vokabel versehen, ein
"Tribunal" zu machen. Es ging darum, öffentliche und zugleich strenge Formen der Debatte, der
differenzierten Debatte über Vergangenheit und ihre Aufarbeitung, über Verantwortung in einem
System von Verantwortungslosigkeit zu führen. Ich halte das für das wichtigere...
TP: Auf die Tribunale wollte ich später zurückkommen.
Thierse: Was die Prozesse betrifft, wollte ich nochmals sagen, die Justiz dürfte nicht in vorauseilender
Resignation gegenüber den zu erwartenden Schwierigkeiten überhaupt nichts tun; dann hätte man
wieder sagen können, es wird niemand zur Verantwortung gezogen, wer auch immer vorher schuldig
geworden ist, Macht über Menschen ausgeübt und sie auch mißbraucht hat, er bräuchte niemals
Angst zu haben, daß ihm daraus irgend eine Konsequenz erwüchse. Die Wirkung solcher
Tatenlosigkeit auf die gemeinschaftliche politische Moral wäre verheerend gewesen; dann ist es schon
wichtig, daß wir Ostdeutschen diesem quälenden Lernprozeß ausgesetzt werden, wie schwierig, wie
schwer sich ein Rechtsstaat tut, tun muß mit politisch motivierten Taten aus einer Diktatur, wie
unangemessen seine Mittel gegenüber einem solchen System sind.
Die Erfahrung haben die Deutschen schon einmal gemacht, nur konnten damals im Nürnberger
Prozeß die Siegermächte gewissermaßen neues Völkerrecht setzen. Das können wir in Deutschland
nicht, weil es nicht um das Verhältnis von Siegern und Besiegten geht; aber daß die Justiz unter
Anwendung von DDR-Recht und in Bezugnahme auf Völkerrecht und auf universelles Menschenrecht
jetzt versucht, den Verantwortlichen beizukommen, das ist, glaube ich, notwendig gewesen. Und wo
es schwierig wird, haben wir zu lernen, daß der Rechtsstaat sich von einem Unrechtsstaat eben
genau dadurch unterscheidet, daß er nicht - noch so verständliches - Rachebedürfnis befriedigt, daß
er nicht schon den Verdacht für den Beweis halten kann, daß er deutlich unterscheiden muß zwischen
dem politischen und moralischen Urteil über Menschen und ihrer Handlungen einerseits und dem, was
strafrechtlich relevant, beweisbar, zurechenbar ist, andererseits.
Diese Unterscheidung zu lernen und zu akzeptieren, so schwer es vielen fallen mag, ist ein wichtiger
Lernprozeß für das Rechtsbewußtsein in Deutschland.
TP: Sie haben jetzt zum Ausdruck gebracht, was der Rechtsstaat tun muß, um etwas zu bewirken,
aber ist das, was er dann tatsächlich macht, nicht eher hinderlich für das Zusammenwachsen der
beiden Bevölkerungsgruppen Ost und West?
Thierse: Es mag sein, daß ein Teil der Ostdeutschen sich durch diese Prozesse bedroht und beleidigt
fühlt. Ich will das ernstnehmen. Aber ich frage anders herum: Stellen Sie sich vor, es hätte überhaupt
keinerlei juristischen, strafrechtlichen Versuch gegeben, sondern man hätte bereits im Jahr 1990
gewissermaßen ohne Nachfrage, ohne jede Untersuchung und Überprüfung gesagt, es wird keinen
Prozeß geben; es wäre doch in Deutschland ein Klima eines latenten Verdachtes dagewesen...
TP:
In
Ost
oder
West
oder
in
beiden
Teilen?
Thierse: Auf unterschiedliche Weise in West und in Ost. In West gegen die im Osten: Wo sind die
Verantwortlichen, wer hat da was gegen wen getan? Im Osten die wirklichen Opfer - es sind nicht
Hunderttausende gewesen oder Millionen, aber es sind doch eine beträchtliche Anzahl. Sie hätten
sich noch einmal beleidigt fühlen müssen, noch einmal zurechtgesetzt, weil ihnen nicht Recht
widerfahren wäre, nämlich auch nicht Rehabilitierung; denn Rehabilitierung setzt voraus, daß man
belegen kann, daß Unrecht geschehen ist, und damit ist man schon bei den Verfahren, bei
Offenlegung von Unrechtshandlungen und damit natürlich auch notwendigerweise bei der Zuweisung
der unterschiedlichen "Rollen", nämlich der der Opfer und der der Täter; ich glaube, daß eine
Atmosphäre eines latent wuchernden, unterschwelligen Verdachtes in Deutschland entstanden wäre;
immer wieder wäre altes Leid aufgebrochen; es wäre zu Anklagen gekommen - wie hätte man damit
umgehen können?
Ein Blick zu unseren osteuropäischen Nachbarn, etwa nach Polen, nach Ungarn, nach Tschechien,
zeigt, daß der Versuch, den Mantel der Nächstenliebe schnell über die Vergangenheit zu ziehen, nicht
funktioniert. In Polen debattiert man darüber, wie man nun doch mit dem eigenen Geheimdienst und
seinen Taten umgeht, ob man nicht eine öffentliche Debatte und auch eben Prozesse braucht, um
bestimmte Dinge doch aufzuklären, wenigstens exemplarische Prozesse. Das war auch meine
Überzeugung, um auch mit den Mitteln des Strafrechts zu analysieren, wie hat dieses DDRGemeinwesen, insofern es ein Unrechtsstaat war, als Unrechtsstaat funktioniert? Die DDR war ja nicht
nur ein Unrechtsstaat, man muß die DDR unter sehr verschiedenen Gesichtspunkten betrachten.
Aber ich sehe auch, daß das Damoklesschwert einer Verurteilung nicht förderlich ist für das, was
notwendig wäre, wenn man miteinander halbwegs öffentlich über Vergangenheit debattieren will,
nämlich den Freimut und die Aufrichtigkeit der Betroffenen; zumal derer, die, wenn sie öffentlich etwas
eingestehen, in den Status des Beschuldigten und Angeklagten geraten können; ich sehe auch: Der
anhaltende Versuch, auch mit den Mitteln des Strafrechts der DDR-Vergangenheit beizukommen, hat
bei den vielen Betroffenen, Beschuldigten, Verdächtigten immer wieder dazu geführt, zu leugnen,
abzuwehren, zu verheimlichen, sich bedeckt zu halten; eine Ermunterung zur Aufrichtigkeit ist das
nicht. Ich weiß also, daß das durchaus ein zweischneidiges Schwert ist, aber ich argumentiere
gewissermaßen ex negativo: Was wäre, wenn wir diesen Versuch überhaupt niemals gemacht hätten?
Ich glaube, dann hätten spätestens in zehn oder in zwanzig Jahren unsere Kinder - so wie die 68er in
der alten Bundesrepublik - uns angeklagt: Warum habt ihr euch nie ernsthaft, aufrichtig mit dieser
Vergangenheit befaßt?
TP: Was wäre passiert, wenn es zu Tribunalen gekommen wäre, die Sie mit Friedrich Schorlemmer
und Wolfgang Ullmann ja mal gefordert hatten?
Thierse: Das Wort "Tribunal" war ein Mißgriff. Wir meinten in Erinnerung an das Russel-Tribunal
eigentlich eine strenge, zugleich öffentliche Form, in der man sich mit dieser Vergangenheit befaßt, wo
in einer justizförmigen - ich betone das "förmigen" - Weise, also nach den Regeln der Fairneß, über
Vergangenheit gehandelt wird, ohne ein strafrechtliches Urteil sprechen zu wollen, sondern wo es um
politische, moralische Bewertungen von Verhalten und Verhältnissen ging. Das ist aus
unterschiedlichen Gründen gescheitert. Wir hatten miteinander nicht Kraft genug, wir haben in
Deutschland nicht die Atmosphäre gehabt, daß man eine solche Art von öffentlichem Freimut hätte
inszenieren können. Das hat auch mit dem zu tun, was ich gerade eben sagte: Eine Menge
derjenigen, also die überwiegende Mehrzahl derjenigen, die mit der Unrechtsseite des DDR-Regimes
identifiziert waren, die insofern politische oder moralische Schuld auf sich geladen haben, war nicht
bereit und ist auch heute noch nicht bereit, darüber öffentlich und auch selbstkritisch und aufrichtig zu
reden.
TP:
Wie
ginge
das
denn
eigentlich
mit
dem
Staatsanwalt
im
Rücken?
Thierse: Eben: Wenn der Staatsanwalt droht, ist man dazu nicht bereit, aufrichtig zu sein und
öffentlich zu sprechen. Allerdings gibt es ja eine Menge Verhaltensweisen, die strafrechtlich überhaupt
nicht relevant sind, bei denen also Schweigen nicht mit dem Hinweis auf den Staatsanwalt erklärt
werden kann.
TP: Sie sind ja Politiker in Bonn: Hätte man da vielleicht auch politisch insofern Vorsorge treffen
können, daß der Staatsanwalt bei solchen Tribunalen erst gar nicht eingreifen kann - man hat es ja
1987 auch geschafft, für Honecker ein Straffreiheitsgesetz zu erlassen, daß er in die Bundesrepublik
einreisen konnte und somit die Staatsanwaltschaft auch politisch ausgeschaltet?
Thierse: Ja, aber das hätte wiederum vorausgesetzt, daß man ein Straffreiheitsgesetz für alles, was
in der DDR passiert ist, durchgesetzt hätte. Und da sage ich noch einmal: Das war zu früh, das ist zu
früh, dafür gibt es keine gesellschaftliche Mehrheit - soweit ich das sehe. Und so etwas kann nicht von
Bonn aus, von irgendwelchen Politikern dekretiert werden, sondern das kann nur formuliert werden,
nur durchgesetzt werden nach einem gesellschaftlichen Diskussionsprozeß.
TP: Man hätte das ja auch nur für solche Leute machen können, die bereit sind, sich einem solchen
Tribunal zu stellen - wie man ja auch in anderen Bereichen hingeht, etwa im Betäubungsmittelrecht,
daß nur demjenigen Straffreiheit oder erhebliche Milderung garantiert wird, der ernsthaft an der
Aufklärung oder Bewältigung von Unrecht mitwirkt.
Thierse: Das wäre eine Möglichkeit gewesen, aber wir haben ja zunächst einmal bescheidener
gedacht. Es gibt eine Menge Leute, deren Handlungen überhaupt nicht strafrechtlich relevant sind:
Spitzelei und Denunziation sind als solche keine Straftatbestände. Sie sind menschlich, also moralisch
zu bewerten.
TP: Und mit drei Vater unser zu bestrafen...
Thierse: Wie immer Sie wollen..., IM-Tätigkeit ist kein Straftatbestand und trotzdem erleben wir, daß
fast alle, die irgendwann einmal der IM-Tätigkeit überführt worden sind, nicht freiwillig von sich aus
dies eingestanden haben, auch gegenüber ihren eigenen Opfern nicht, daß sie bis zum Schluß
geleugnet haben und niemals bereit waren oder nur in wenigen Ausnahmen, darüber zu reden. Daran
kann man sehen, daß es wohl - wahrscheinlich ist das eine ziemlich menschliche Verhaltensweise eine außerordentliche Leistung verlangt, moralische Schuld einzugestehen und sich mit ihr im
Gespräch mit anderen auseinanderzusetzen, sich also gewissermaßen preiszugeben. Ein Tribunal,
wenn es denn gesellschaftlich und politisch relevant sein soll, verlangt nach Öffentlichkeit. Aber über
individuelle Schuld und individuelles Versagen zu sprechen, verlangt wohl nach dem Schutz der
Intimität, dem Schutz eines persönlichen Raumes. Die katholische Kirche z.B. tradiert eine uralte
menschliche Erfahrung: Der Beichtstuhl ist ein geschützter, ein persönlicher Raum, der zugleich auch
ein notwendiges Maß von Entpersonalisierung bietet; das ist aber eben kein politischer Vorgang,
während es uns schon darum ging, einen Umgang mit der Vergangenheit zu erreichen, der auch eine
politische Qualität, eine demokratisierende, eine reinigende Qualität hat und der deswegen nach
Öffentlichkeit verlangt; wahrscheinlich war dies ein Irrtum - ich will ihn immer noch für einen
sympathischen Irrtum halten.
Möglicherweise müssen wir jetzt unsere Hoffnung darauf setzen, daß einerseits die wissenschaftliche,
also die historiographische Aufarbeitung von Vergangenheit differenziert genug und empirisch genug
betrieben wird und daß auch das, was man im weitesten Sinne des Wortes "künstlerische
Aufarbeitung" bezeichnet, also literarische Aufarbeitung von Vergangenheit, vorangeht, damit wir
lernen, wie es genau gewesen ist, wie individuelles Verhalten in der DDR abgelaufen ist.
Und das Dritte, was ich mir wünsche und was ich für ganz wichtig halte, ist, daß Leute mit einer
typischen DDR-Biographie sprachfähiger werden und über ihre Lebensgeschichte aufrichtig,
differenziert reden können, sie aufschreiben. Bisher ist es immer so gewesen, daß Beschuldigte in der
DDR, die irgendeiner Spitzelei beschuldigt wurden, wie ertappte Sünder reagiert haben, abgestritten
haben, zum Gegenangriff übergegangen sind. Es ist die Ausnahme, daß Leute sagen: Ja, das habe
ich getan, ich erzähl euch mal, ich schreib mal auf, was die Vorgeschichte ist, wie es dazu gekommen
ist. Es ist aber wichtig, daß das endlich geschieht, damit Ossis und die Wessis miteinander lernen, wie
so etwas abgelaufen ist, damit diese Schwarzweiß-Urteile überwunden werden, vielleicht auch ein
bestimmter moralischer Rigorismus relativiert wird, der ja verständlich ist, aber der gelegentlich
unangemessen ist gegenüber den wirklichen Entscheidungskonflikten, in denen Menschen in der
DDR gewesen sind. Also, ich wünsche mir, daß Autoren, öffentliche Figuren aus der DDR-Zeit, aber
auch andere über ihre Lebensgeschichte aufrichtig, selbstkritisch, aber nicht devot schreiben, also ihre
Lebensgeschichte erzählen in dieser Mischung von Selbstbewußtsein und Selbstkritik, daß sie
erzählen, wo sie feige waren, wo sie mutig waren, wo sie frech waren, wo sie ängstlich waren, wo sie
mitgemacht haben, wo sie widerstanden haben, also die wirkliche bunte Vielfalt, damit man endlich
diese Klischees überwindet, daß es da auf der einen Seite die Täter, die Verruchten, die Mitmacher
gegeben hat und auf der anderen Seite die Opfer und Helden. Die Mehrzahl der DDR-Bürger ist mit
keiner dieser beiden Kategorien zu fassen, sondern wir waren ziemlich normale Menschen, das heißt:
Wir waren mutig und feige zugleich, frech und ängstlich; und dies zu erzählen und damit Apologetik
und Lüge zu überwinden, die bisher dominierten, wenn jemand ertappt worden ist, das wünsche ich
mir. Da kann ich nur appellieren - an DDR-Schriftsteller, die irgendwann mal "erwischt" worden sind,
daß sie nicht nur abwehren und sagen: Ich laß mich nicht moralisch unter Druck setzen; sondern daß
sie ihre Geschichte erzählen. Oder an Politiker oder andere öffentliche Personen aus der DDR ihre
Geschichte so differenziert wie möglich erzählen. Damit tun sie vielen anderen DDR-Bürgern einen
Dienst, die nicht die Sprache, nicht die Artikulationsfähigkeit und Artikulationsmöglichkeit haben,
unsere DDR-Biographien auch im nachhinein begreifbar zu machen. Ich habe gelegentlich den
Eindruck, daß das Leben in der DDR uns immer mehr entschwindet in diese Urteilsklischees, die eine
oberflächliche Journaille uns andient. Und das ist dem Leben in der DDR ganz unangemessen.
TP: Wenn z.B. Leute ihre Geschichte erzählten, die in der DDR in Opposition waren oder unterdrückt
waren,
würde
da
auch
so
etwas
wie
Mitschuld
offenbar
werden?
Thierse: Ich wünsche mir, daß unterschiedliche Leute ihre Geschichte erzählen, also Leute, die in der
SED Macht und Einfluß hatten; von Literaten in erster Linie wünsche ich mir eine aufrichtige
Geschichte ihrer Existenz in der DDR, nicht das, was Hermann Kant macht, das ist geschmeidigste
Apologetik; aber vielleicht so, wie es Günter de Bruyn gerade in seinem Buch "Vierzig Jahre" gezeigt
hat. Es gibt weitere Beispiele für selbstkritischen Umgang mit der eigenen Geschichte - ich denke an
Gerhard Schürer und Günter Schabowski. Aber viele sind es eben nicht. Mein Wunsch bleibt deshalb,
daß sehr unterschiedliche Leute ihre Geschichte erzählen und zwar diejenigen, die politische
Verantwortung in der DDR getragen hatten oder Einfluß hatten, öffentliche Figuren waren, aber auch
solche, die eher zu den Kreisen der Opposition, des Widerstehens, der Opfer gehört haben, daß auch
sie ihre Geschichte erzählen, was ja mindestens genauso wichtig ist; daß diejenigen, die in der DDR
zum Schweigen verurteilt waren, jetzt endlich erzählen können, was ihnen passiert ist, was ihnen
angetan worden ist, aber wo auch sie Angst hatten, wo auch sie geschwiegen haben; denn noch jeder
Held ist nicht immer ein Held, noch jeder Märtyrer ist nicht immer ein Märtyrer, jeder hat seine
Geschichte, so wie das auch für diejenigen gilt, die eher auf die Seite der "Täter" zählen, daß auch sie
Gründe hatten, also auch eine persönliche Geschichte, die sie in diese oder jene Rolle gebracht hat
und die sie die Rolle so oder so hat ausführen lassen. Also, diese Lebensgeschichten der DDR fair,
differenziert, selbstkritisch und selbstbewußt zugleich darzustellen und dann lesen und hören und
sehen zu können, das ist wichtig in Deutschland, damit die Urteile über das Leben in der DDR
wegkommen von diesem Schwarzweiß, von dem unterschwelligen Verdacht, daß dieses DDR-Volk
ein Volk von Spitzeln und Denunzianten und Verrätern und Feiglingen gewesen ist.
TP: Günter Gaus hat den Vorschlag gemacht, daß man einfach junge Journalisten losschickt mit
Mikrophonen, den Leuten das Mikrophon einfach vorhält und sie dann ihre Geschichten erzählen läßt,
ohne sie zu werten, sie einfach reden läßt, und wenn sie sich rechtfertigen, sie sich rechtfertigen läßt.
Wäre das ein gangbarer Weg?
Thierse: Das ist eine organisatorische Frage - wer kann das leisten, wer kann das finanzieren?
TP: Günter Gaus hielt hier eine Stiftung z.B. für angebracht.
Thierse: Ich habe selbst Gespräche zwischen Ostdeutschen und Westdeutschen angeregt. Ich bin
immer wieder wie ein politischer Wanderprediger durch die Lande gezogen und habe seit 1990
öffentlich gesagt, daß wir Ostdeutschen und Westdeutschen uns wechselseitig unsere
Lebensgeschichten erzählen müssen. Und dann wird man feststellen, daß die Ossis nicht nur finstere
Schurkengeschichten und die Westdeutschen nicht nur strahlende Heldenstories hinter sich haben,
sondern daß die Grautöne und die Farbtupfer höchst unterschiedlich verteilt sind. Diese Idee ist auch
verwirklicht worden. Die Friedrich-Ebert-Stiftung macht seit ein paar Jahren genau dieses: Ein
Wochenende lang läßt sie acht Leute - vier Wessis, vier Ossis - miteinander über ihre politische
Biographien - was hat sie geprägt, welche Entscheidung hat man aus welchen Gründen getroffen,
worauf ist man noch heute stolz, wofür schämt man sich - reden. Und alle, die daran beteiligt waren,
haben das als einen außerordentlich spannenden, aufregenden, menschlich bereichernden Vorgang
empfunden. Daraus sind auch Freundschaften entstanden, weil man sich kennengelernt hat und
plötzlich etwas voneinander begreift und die Vergleichbarkeit der Systeme, die Vergleichbarkeit
menschlicher Verhaltensweisen und Verhaltensqualitäten erfahren hat. Man sieht übrigens daran, daß
Verständigungsprozesse natürlich auch einer bestimmten Intimität bedürfen; um offen, freimütig zu
reden, kann man nicht auf den Marktplatz gehen, sondern da muß man sich ins Gesicht sehen und
erst dann ist man dazu in der Lage, freimütig miteinander zu reden. So etwas wünsche ich mir
massenhaft, daß Ostdeutsche und Westdeutsche Orte und Gelegenheiten und Zeit finden, sich ihre
Geschichten zu erzählen. Und zwar so viel Zeit, daß die erste Phase der Rechtfertigung und der
Beschönigung überwunden wird, daß man zu einer zweiten Phase kommt, in der man aufrichtig und
schonungslos über das Eigene redet. Und das Ergebnis ist immer, das sagt die Erfahrung dieser
Gesprächsreihe in der Friedrich-Ebert-Stiftung, daß es nicht um Anklage und Entschuldigung geht,
sondern Verstehensprozesse in Gang gesetzt werden, die lange nachwirken.
TP:
Wenn
wir
so
weitermachen,
sehen
wir
rosigen
Zeiten
entgegen?
Thierse: Nein, wir sehen nicht rosigen Zeiten entgegen, das wäre zu leichtsinnig, dazu ist diese DDRGeschichte ein eratischer Block, an dem man sich ganz lange abarbeiten muß. Und die
unterschiedlichen Generationen werden sich auch unterschiedlich zur DDR-Geschichte verhalten. Ich
sage nur, wenn wir Ostdeutschen nicht unseren, eben größeren Teil dazu beitragen, daß wir zu einer
kritischen, differenzierten, fairen Aufarbeitung und Bewertung unserer Biographien kommen, dann
wird diese unaufgearbeitete Vergangenheit immer wieder neu zu einem Instrument, zu einer Waffe in
deutsch-deutschen Verteilungskonflikten. Wem man Unaufgeklärtes vorwerfen kann, der ist in der
Auseinandersetzung um einen Arbeitsplatz, um eine Stellung in der Hierarchie dieses Vereinigten
Deutschlands im Nachteil.
TP: Und auch in den Kommunikationsmöglichkeiten mit seinen Mitmenschen.
Thierse: Deswegen sage ich, wenn wir verhindern wollen, daß unsere DDR-Vergangenheit uns wie
ein Mühlstein am Halse hängt, mit der ständigen Gefahr, daß wir ersaufen, dann müssen wir eben
selbstkritischer mit unserer Geschichte umgehen, sonst obsiegt jene Atmosphäre der Verdächtigung
und der Vermarktung der DDR-Geschichten zu Skandalgeschichten von Feigheit und Verrat, wie man
sie im "Spiegel" oder im Fernsehen oder mit geringem Niveau in manchen Massenblättern nachlesen
kann. Das wird es immer wieder geben.
Wir brauchen in Ostdeutschland eine selbstkritische Atmosphäre im Umgang mit der eigenen
Geschichte, und das meint immer beides: Ehrliche Aufarbeitung von Vergangenheit, aber auch, den
Ostdeutschen die Chance zu geben, zu ihrer Biographie zu stehen, ihnen nicht abzuverlangen, daß
sie alles und jedes aus ihrer Vergangenheit für falsch halten und für unrecht halten. Wer ihnen das
abverlangt, verlangt etwas Unmenschliches von ihnen.
TP: Und ihnen vor allem auch zugestanden werden muß, daß sie ihre kleinen Geheimnisse auch noch
für sich behalten können.
Thierse: Die vollständige Entblößung von jemandem zu verlangen, ist auch unmenschlich, das wird
auch nicht funktionieren. Darum geht es auch nicht.
TP: Wird aber von manchen Menschen erwartet.
Thierse: Es geht auch nicht um die kollektive öffentliche Beichte, sondern darum, daß man über
gesellschaftliche Verhältnisse, Verantwortlichkeiten, über politisch in einem besonderen Maße
relevante Handlungen miteinander reden kann und daß man das nicht verdrängt. Und nicht anfängt zu
beschönigen in einer eigentümlichen Art von DDR-Nostalgien angesichts der gegenwärtigen
ökonomischen, sozialen Schwierigkeiten, die die DDR-Vergangenheit schöner erscheinen läßt und
den Preis für soziale Sicherheit, die es in der DDR gegeben hat, nicht mehr in Erinnerung ruft. Also
das meine ich: einen sowohl selbstkritischen als auch selbstbewußten Umgang mit der
Vergangenheit, Leuten zu ermöglichen, zu ihrer Biographie zu stehen, ohne sie dem Beschönigungsund Verdrängungszwang auszusetzen; das, denke ich, wäre der angemessene Umgang; wenn uns
das nicht gelingt, wird uns von anderer Seite immer wieder aus parteipolitischen oder geschäftlichen
Gründen die Vergangenheit vorgeworfen werden und um die Ohren gehauen. Und wir sind dann darin
wehrlos oder können uns immer nur einigeln, was übrigens der falsche Umgang mit der
Vergangenheit ist, Ich sag noch einmal den stolzen und pathetischen Satz: Auch Scham ist ein
Moment der menschlichen Würde.
Interview: Dietmar Jochum, TP Berlin
Wolfgang Thierse ist Mitglied des Bundestages seit 1990 und stellvertretender Vorsitzender der
SPD sowie stellvertretender Vorsitzender der SPD-Fraktion im Bundestag.
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