POLYPHONIE UND ÄSTHETIK DES ALLTAGS IN JOHANNISNACHT (1996) VON UWE TIMM Karen Andresen Universitat de València ZUSAMMENFASSUNG Der Beitrag unternimmt den Versuch, diesen als Berlin-Nachwenderoman, Verwirrspiel oder auch als Komödie bezeichneten Roman zu interpretieren: Nach einer kurzen Einführung in die von Timm entwickelten Konzepte zu einer Ästhetik des Erzählens, wird besonders die Frage nach den Möglichkeiten einer Darstellung des Alltäglichen beim Verfassen von Prosawerken behandelt. Diese Konzepte werden konkret auf seinen Roman Johannisnacht bezogen. Zum anderen werden einige in diesem Roman erscheinende Leitmotive untersucht. Es werden speziell die Aspekte dieses Nachwenderomans behandelt in Bezug auf das Problem, inwiefern und ob sich die Bewohner Berlins nach der Wende als ein einig Volk fühlen. Die Zitate der verschiedenen Figurenstimmen zu diesem Thema werden eingehend untersucht. Zum anderen wird auf die intertextuelle Problematik dieses Romans verwiesen, denn der Prätext von Shakespeares Komödie Midsummer Night’s Dream wurde von Timm explizit als Motto angegeben, welches für die dargestellten Täuschungen und Enttäuschungen der Figuren in dem Verwirrspiel des Romans Johannisnacht von Bedeutung sind. Schlüsselwörter: Nachwenderoman, Berlinroman, Ost- und Westberlin, alltäglich, Figurenstimmen, Reichstagsverhüllung, ästhetische Prosakonzepte, Prätext, Verwirrspiel RESUMEN Este artículo presenta una interpretación de una novela que ha sido considerada como novela del Berlín del postcambio, como juego de confusiones e incluso como comedia: tras una breve introducción en los conceptos de estética narrativa desarrollados por Timm, se explican, sobre todo, las posibilidades de descripción de lo cotidiano cuando se escribe una obra en prosa. Estos conceptos se aplican en concreto a su novela Johannisnacht. Por otro lado, se interpretan algunos de los Leitmotive que aparecen en esta obra, especialmente los que se relacionan con el problema de hasta qué punto los habitantes de Berlín después del cambio se sienten como un único pueblo reunido. Se analiza también en qué medida las voces de los personajes mencionan este tema. Por otra parte, se hace referencia a la problemática intertextual de esta novela, ya que el mismo Timm cita explícitamente como lema de su obra el pre-texto de la comedia shakespeareana Midsummer Night’s Dream, pre-texto que es de importancia en los engaños y decepciones de los personajes en el juego de confusiones de la novela Johannisnacht. Descriptores: novela del postcambio, novela de Berlín, Berlín Oriental y Occidental, cotidianeidad, voces de la novela, Christo y el embalaje del Reichstag, estética narrativa, pretexto, juego de confusiones. Der ungeteilte Himmel – Visions de la reunificació quinze anys després, pàgines. Edició Fòrum, Tarragona, 2005 In diesem Beitrag zum Thema ‘Die Wende in der deutschen Literatur’ wird die von Uwe Timm entwickelte Ästhetik des Alltags vorgestellt. Aus dieser Poethologie werden Aspekte herausgestellt, die mir wichtig erschienen für die Interpretation des Romans Johannisnacht (1996). Uwe Timms Poethologie verweist u. a. auf seine Tätigkeit als Schriftsteller, seine Auffassung vom mündlichen und schriftlichen Erzählen, auf die Bedeutung von Alltäglich und auf seine bis 1993 erschienenen Romane. Aus diesem Grund fehlt in dem Werk Erzählen und kein Ende. Versuche zu einer Ästhetik des Alltags (1993) jeglicher konkrete Bezug zum Roman Johannisnacht. Jedoch erscheint es auf der anderen Seite interessant, seine Poethologie auf einen später herausgegebenen Roman zu beziehen, da übereinstimmende Gedanken festzustellen sind, die Einfluss auf diesen Roman gehabt haben dürften. In dem Roman Johannisnacht gelingt es Timm durch die Stimmenvielfalt der Figuren ein buntes, zum Teil widersprüchliches Bild des Lebens in Berlin nach der Wende, darzustellen. Es wird sich zeigen, inwiefern die Romanfiguren ihre eigene Meinung zum Thema Berlin ausdrücken. “Der Schreibprozess ist für ihn alles andere als ein bloßes Aneinanderreihen von Wörtern. Wichtig ist ihm, den richtigen Ton zu finden. Für ihn muss die geschriebene Sprache ebenso lebendig sein wie die gesprochene, sie muss einen ‘individuellen Atem’ haben.” (Meinecke 2005) Der Schriftsteller Uwe Timm (Hamburg, 1940) befasst sich sowohl in seinen Romanen als auch in seiner Paderborner Gastdozentur Erzählen und kein Ende. Versuche zu einer Ästhetik des Alltags, gehalten 1992 und herausgegeben 1993, mit der Problematik des von der alltäglichen Wirklichkeit ausgehenden Erzählens. Was aber bedeutet alltäglich für ihn? Timm entwickelt dazu die folgende Antwort: “Das Übliche, Gewöhnliche. Erzählt aber soll das Übliche unüblich, das Gewöhnliche ungewöhnlich. Darin verschwindet das Alltägliche nicht, sondern es wird in seiner Bedeutung erst bewusst gemacht.” (Timm 1993:119f.) Bei der Darstellung des Alltäglichen entstehen bei Uwe Timm folglich keine langweiligen Geschichten, sondern sie handeln vom Außergewöhnlichen, welches im Alltag versteckt liegt. In diesem Zusammenhang stellt Timm einen wesentlichen Unterschied zwischen dem ‘normalen’ alltäglichem Geschehen und dem Erzählen in mündlicher oder schriftlicher Form fest: “Das Erzählen löst die Chronologie auf, die im alltäglichen Geschehen unumstößlich ist. Sie löst sie auf, um die vergangene Zeit zu einer neuen erzählten Zeit wieder zusammenzubauen.” (Timm 1993:102) Wie Bedeutung und Neues bei Uwe Timm aus dem Selbstverständlichen kommen, wie die Stereotypie des Alltäglichen gebannt wird, zeigen die Fragen am Ende der ersten seiner Poetik-Vorlesungen: ‚Was bedeuten (!) die alltäglichen Dinge? Welche Geschichten tragen sie mit sich? Und welche Geschichten sind von ihnen ablesbar?’ (Dittmann 2005:198) In seinen Prosawerken versucht Timm, die sich von überschneidenden Ereignissen bedingte Wirklichkeit auf solch eine Weise zu ordnen, dass im Verlauf seiner Romane eine narrative Struktur zumindest mit Anfang und Ende erscheint; denn im Grunde haben seine Romane die narrative Struktur von lose verbundenen, unabhängigen Geschichten. Dieses oftmals verwirrende Erzählverfahren wird in dem Roman Kopfjäger (1991) am Beispiel des Fadenspiels autopoetisch erläutert. Dieses Spiel ist, so die Meinung des Ich-Erzählers, auf der ganzen Welt verbreitet: Ein Faden wird zusammengeknotet und auf den Boden geworfen, sodann wird aus dem Muster- und die Muster können unendlich sein, obwohl der Umfang des Fadens nur endlich ist […]- eine Geschichte erzählt, eine Geschichte, die man sich einfallen , eine Geschichte, die von realen Gegebenheiten inspiriert sein kann oder aber ganz frei erfunden ist, die aber immer eine andere Begebenheit schafft, ein neues Geschehen, zufällig wie das Muster, und doch steckt darin eine Ordnung, eben die der permanenten Unordnung, eine Geschichte, die endlich und unendlich zugleich ist. Sie ist einmalig und gehört doch allen. (Timm 2003:228) Zu dem Thema eines derartig labyrinthischen Erzählens erfolgt in Johannisnacht ein nachdenklicher Kommentar über die Art, wie die Figur Bucher dem Ich-Erzähler Ausschnitte aus der Geschichte seiner gescheiterten Ehe erzählt: “Ich dachte an Roglers Traum, wie sehr das alles vorerzählt klang, dieser Bucher suchte nicht nach Nebendingen, sondern erzählte seine Geschichte, als hätte er sie für meinen Besuch genau zurechtgelegt – oder aber er hatte sie schon oft erzählt.” (Timm 2002:154) Der Ich-Erzähler denkt beim Zuhören, dass Buchers Erzählung sich wohl kaum aus einer spontanen Reaktion entwickelt haben kann, weil sie schon die Ordnung und Struktur mit Anfang und Ende des bewussten oder literarischen Erzählens aufweist. Besonders wichtig ist unserem Autor, dass die Prosawerke ästhetisch und inhaltlich eine Alternative aufzeigen zu starren, verfestigten Meinungen, Vorurteilen und pseudopolitischem Gerede. Diese alternative Art zu erzählen wird von Timm politisch genannt. Der Literaturwissenschaftler Lutz Hagestedt fasst diesen Aspekt zusammen: […] die Überlegung nämlich, dass es eine Opposition gebe zwischen der – einerseits beengten und der – andererseits – freien und befreienden Phantasie, die sich sprachlich erobern und erweitern lasse. Dieser mentale, erzählerisch erworbene Freiraum darf aber offensichtlich nichts von der Wirklichkeit Losgelöstes sein, sondern ein Raum, der immer durch Rückkoppelung mit der Realität korreliert ist und dadurch auf diese wiederum einwirken kann. (Hagestedt 1995:264f.) Zu diesem Zweck bedient sich Uwe Timm der Darstellung der von ihm so genannten ‘sprechenden Situationen’, welche die jeweils geltende Aktualität bedeutungsvoll aufzeigen sollen. “Ansatzpunkte für die Darstellung sind alltägliche Ereignisse, die oft unscheinbar sind, schmuddelig, schäbig, voller komischer, kurioser, grotesker, tragischer Momente, aber doch von bewegender Kraft.” (Timm 1993:17f.) Ein wesentlicher Unterschied zum alltäglichen Sprechen, zum alltäglichen Erzählen liegt beim literarischen Erzählen darin, dass sein Interesse sich gerade auf die wenig beachteten, ich will sagen, gesellschaftlich unbewußten Verhaltensmuster konzentriert. Zugleich werden diese Wahrnehmungsmuster durch die Literatur immer wieder erweitert. Literatur liefert neue Wahrnehmungsmodelle für ein anderes Sehen, Hören, Riechen, Fühlen und auch Denken. (Timm 1993:18) Timm bemüht sich darum, sich von weit verbreiteten öffentlichen Meinungen zu distanzieren und gleichzeitig den Leser in diesen Prozess zu involvieren. Für Timm ist entscheidend, dass Erzählen in der Vergangenheit, in der Zeit desPräteritums erfolgt, also zeitlich nach den eigentlichen Ereignissen. Dieses reflektierte Erzählen gebe dem Erzähler die Möglichkeit, Geschichten zu erzählen, die so, wie sie geschildert werden, in der Wirklichkeit nicht unbedingt stattgefunden haben müssen. Wichtig bleibt dabei vor allem, dass die als Literatur geschriebenen Geschichten für den Leser glaubwürdig sind. Diese Art, die Handlung eines Romans darzustellen, gibt dem Erzähler die Freiheit, Figuren und deren Handlungen auf eine neue, andere Art zu gestalten als wie es sich wirklich zugetragen hat. Denn Erzählen, dieser “schöne Überfluß“ (Timm 1993:17f.) bedarf zum einen der Realität und zum anderen der Phantasie des Erzählers: “Literatur zielt auf die Erweiterung des Handlungsspielraums in der Wirklichkeit. Realität und Fiktion, so wird hier implizit behauptet, können sich optimal nur dann manifestieren, wenn beide Seiten voneinander profitieren.” (Hagestedt 1995:265) Uwe Timm betont die Möglichkeiten der Aufklärung, die in einer kritisch-subjektiven Literatur liegen, den heutigen, allgemeinen und lähmenden Konsens (Timm 1993:110) in Frage zu stellen (cf. Bullivant,1995:242). “Das eben ist Literatur gegenüber der Wirklichkeit: Aussetzen der normativen Zeit, Überfluss an neuen Möglichkeiten und damit anderen Wirklichkeiten, an Alternativen zum Bestehenden.” (Timm 1993:117f.) Detlef Grumbach stellt in seiner Rezension zu drei Werken 1 der Kolonialdebatte fest, dass die Bewohner der ehemaligen DDR nach der Wende den ihnen unbekannten kolonialen Mechanismen des kapitalistischen Systems der BRD gegenüber zum Teil ambivalent reagierten. Ihre Art zu antworten wäre also die eines Einwohners einer Kolonie durchaus ähnlich: Denn “einerseits übernehmen sie die Maßstäbe ihrer Eroberer, reklamieren beispielsweise Menschenrechte, andererseits schlagen sie zurück: vom Widerstand gegen die Besatzungstruppen bis zum heutigen Kampf um ökonomische, politische und kulturelle Eigenständigkeit.”(Grumbach 2004) “Die Gier, Neues zu sehen und zu hören, garantiert noch keineswegs eine Sichtweise, das Verstehen ermöglicht”, bemerkt Uwe Timm in einem Beitrag zum postkolonialen Blick. "Das setzt etwas anderes, Grundsätzlicheres voraus: das Staunen. Ein Staunen darüber, wie die Menschen, wie die Dinge beschaffen sind, das heißt, anders sein können, als man selbst ist." (Grumbach 2004) Die Wahrnehmung der Differenz, so Timm, ermöglicht das Aufbrechen starrer Strukturen, ein Verstehen, so wörtlich, "das sich bemüht, die eigene Wahrnehmung als vorläufig und geschichtlich bedingt anzunehmen, also auch sich selbst als fremd und abhängig zu erfahren." (Grumbach 2004) Notwendig wäre in erster Linie das freundschaftliche Staunen über die Beschaffenheit der Menschen und Dinge anderer Kulturen. Im Zusammenhang damit wünscht sich unser Auto das Erkennen, das die Bewohner von Kolonien, anders geartet sind als man selbst. Dadurch könnte nun beim Besucher eine Reflexion erfolgen darüber, dass die eigene Wahrnehmung ebenso bedingt sei durch die aktuellen und historischen Gegebenheiten des eigenen Landes. Dies ist kurz zusammengefasst der ethnographische Blick, den Uwe Timm in seinen sämtlichen Romanen seit dem ‘historischen’ Roman Morenga von 1978 benutzt und angewendet hat. Timm drückt folgenden Wunsch aus: “Vielleicht wäre diese Haltung für den Schriftsteller produktiv: das Alltägliche mit dem Blick des Fremden zu sehen, nicht mit dem des Touristen, sondern mit dem genauen, forschenden Blick des engagierten Ethnographen.” (Timm 1993:143) Die Reise wird zu einer Expedition in ein fremdes Land. Wie der Bauingenieur im Schlangenbaum versteht der Reisende aus München die Regeln der Einheimischen nicht 1 . Lützeler, Paul Michael (Hg.), 1997. Der postkoloniale Blick. Frankfurt/M.: Suhrkamp. Lützeler, Paul Michael (Hg.), 1998. Schriftsteller und Dritte Welt - Studien zum postkolonialen Blick. Tübingen: Stauffenburg Verlag. Said, Edward W., 1994. Kultur und Imperialismus. Einbildungskraft und Politik im Zeitalter der Macht. Frankfurt/M.: Fischer. und verheddert sich in ihnen. Mit dem Fall der Mauer scheinen sich die inneren Barrieren der Menschen gelockert zu haben. Alles wird doppeldeutig, Täuschung und Enttäuschung. (Matthaei 2005:113) Wenn wir jetzt konkret den Roman Johannisnacht interpretieren, den Renate Matthaei treffend als “eine reine Komödie“(Matthaei 2005:113) bezeichnet, erscheint die Perspektive des Ethnographen zuallererst als etwas ungewöhnlich. Schließlich handelt es sich um einen aktuellen Berlin-Großstadt-Roman, dessen Geschehen sechs Jahre nach der Wende 1995 spielt. Die Handlung ist auf drei Tage beschränkt, die Tage und Nächte vor dem Mitsommernachtsfest in Berlin, also der 21., 22. und 23. Juni 1995. Und um diese Mitsommernacht geschah noch etwas anderes: Vor dem 24. Juni 1995 reisten Millionen von Menschen nach Berlin, um den verhüllten Reichstag zu bestaunen. “Nach langem Ringen, welches durch die Siebziger-, Achtziger- und Neunzigerjahre andauerte, wurde die Verhüllung des Reichstagsgebäudes am 24. Juni 1995 von einer Mannschaft bestehend aus 90 Gewerbekletterern und 120 Montagearbeitern vollendet. Der Reichstag blieb 14 Tage verhüllt, der Abbau begann am 7. Juli und alle Materialien wurden recycled.” (Hamster 1995) Das Projekt der Reichstagsverhüllung von Christo und seiner Frau Jeanne-Claude findet eine durchaus zustimmende Bewertung (Timm 2002:193) durch den Ich-Erzähler und einen Gesprächspartner, der Komponist ist und ein Requiem, Aspiration genannt, für Rosa Luxemburg verfasst hat. Beide Figuren sind sich einig, dass ihnen die Verhüllung sehr gut gefallen hat. Während des Gesprächs fügt der Komponist eine ästhetische Komponente an, die mit den Überlegungen zur Ästhetik aus Timms Poethologie und den Erfahrungen des IchErzählers in Berlin durchaus vergleichbar ist: Danach wird etwas anders sein, ich bin überzeugt, dass diese Verhüllung etwas verändert. Das Geheimnis liegt darin, dass etwas anders sein könnte. Übrigens ist keinem dieser Kunstkritiker aufgefallen, dass die Verhüllung am 23. Juni vollendet wird, also der Mitsommernacht, in der es kunterbunt zugeht, Verwechslungen, Verkleidungen, Vertauschungen sozusagen zur Tagesordnung gehören. Es ist die ästhetischste Nacht des Jahres. Die Dinge zeigen sich von einer anderen Seite, wie auch die Menschen. (Timm 2002:193) Jedoch werden diese ‘verrückten’ Menschen am Ende den Ich-Erzähler zu einer voreiligen Abfahrt aus Berlin treiben. Denn zusätzlich muss er noch sein Leben vor der Bedrohung eines tödlichen Überfalls durch einen Waffenhändler retten. Aber in der ersten Nacht weiß der Ich-Erzähler noch nichts von dem, was ihn in Berlin erwartet. So besucht er gleich nach seiner Ankunft, noch in derselben Nacht, den deutschen Reichstag. DIE NACHWENDEZEIT IM BERLINER ALLTAG: Ein namenloser, aus München kommender Ich-Erzähler, die zentrale Figur des Romans Johannisnacht versucht während eines dreitägigen Berlinbesuchs u. a. zu ergründen, ob sich die Deutschen nach der Wende wie ein einziges, nun wirklich wiedervereinigtes Volk fühlen. Er erhält die verschiedensten Antworten von Seiten der Ost- und Westberliner und der dort wohnenden Deutschen und Ausländer. Es wird deutlich, dass die im Roman sprechenden Nebenfiguren vor allem daran interessiert sind, wirtschaftlich Erfolg zu haben. Damit verbunden, hoffen sie, auch ihr persönliches Glück zu machen. Jede einzelne Figurenstimme teilt im Alltagsdialog dem Erzähler u. a. seine persönlichen Erfahrungen mit dem deutschen Geschichtsverlauf und der deutschen Gegenwart mit. Dabei handelt sich um Figuren aus dem Berliner Alltagsleben, z.B. Taxifahrer, Restaurantswirte, Pensionsgäste und Berlinbesucher, die im Gespräch dem Erzähler ihre persönliche Auffassung von der Wende erzählen. In Johannisnacht wird deutlich, dass der Gedanke des ‘einen deutschen Volkes’ zum gegenwärtigen Zeitpunkt, nach sechs Jahren des Lebens mit der Wiedervereinigung, auf berechtigten Widerstand stößt. Zum anderen erscheint es fraglich, ob in Zeiten der Internationalisierung und Globalisierung aller Lebensverhältnisse die Problematik des vereinten Deutschlands nicht schon der Vergangenheit angehört, denn die sprechenden Figuren kommen zu einem großen Teil aus dem Ausland. DIE VORGESCHICHTE IN MÜNCHEN: Ein etwa fünfzigjähriger Münchner Schriftsteller erleidet eine Schreibblockade, denn er kann den ersten Satz für eine Erzählung nicht finden. Dieser namenlose Ich-Erzähler, der jedoch viele Eigenschaften des Schriftstellers Uwe Timm hat, bemüht sich noch in München, seine Schreibhemmung durch Ablenkungsmanöver zu umgehen: er spielt einige Schachpartien von Karpow nach und beginnt vor lauter Frust wieder Zigarren zu rauchen. Durch das Rauchen erinnert er sich an seinen Lieblingsgroßonkel, der wunderschöne Kringel rauchen konnte und außerdem ein hervorragender Kenner der Kartoffel war: Dieser Onkel mit Namen Heinz war in der Lage, jede Kartoffelart beim Essen herauszuschmecken. Auf seinem Sterbebett sagte er ‘Roter Baum’, was seitdem als ein nichtgelöstes Rätsel in die Familiengeschichte eingegangen ist. Die Erinnerung an den letzten Ausspruch des Onkels veranlasst den Ich-Erzähler, den Auftrag einer Zeitschrift anzunehmen, einen längeren Artikel über die Kartoffel, Geschichte und Gebräuche derselben, zu schreiben. Denn er geht von der Annahme aus, bei dem Ausdruck ‘Roter Baum’ könnte es sich um eine Kartoffelsorte handeln. Schon nach einigen Tagen der Suche nach Material in der Münchener Bibliothek beginnt er sich über den umfangreichen Büchern zum Kartoffelthema zu langweilen und kommt zu dem Schluss, dass es ergiebiger wäre, direkt einen Kartoffelspezialisten zu befragen. Von seinem Freund Kubin erhält er im Verlauf eines Telefongesprächs den Hinweis auf einen ehemaligen DDR-Agrarwissenschaftler und Kartoffelspezialisten. Dieser Dr. Rogler soll einen Kartoffelgeschmackskatalog verfasst haben, wie Kubin ihm mitteilt. Aufgrund dieser Information beschließt der Ich-Erzähler sofort nach Berlin zu fliegen, sozusagen ins historische Zentrum der preußischen und deutschen Kartoffelgeschichte. DIE ROMANHANDLUNG IN BERLIN: Bis zu diesem Punkt ist die Handlung des Romans Johannisnacht relativ einfach nachzuerzählen. Jedoch macht schon der Titel Johannisnacht, als die Nacht der Sommersonnenwende, wo Mann und Frau durchs Feuer springen und sich wie im Fasching verkleiden, die Verwicklungen erahnen, die in der folgenden Handlung den Protagonisten ereilen werden. Die Figur Tina macht ihn auf die Verwirrungen während der Johannisnacht aufmerksam: “Denn in dieser magischen Nacht ist alles erlaubt.” Und weiter führt sie aus: “Heute ist ein verrückter Tag. [...] Ist der längste Tag. Heute spielen alle verrückt. Und die meisten wissen nicht einmal, warum.“ (Timm 2002:107) Auf Tina wird der Ich-Erzähler aufmerksam, weil sie mit Rogler zusammengearbeitet und ihre Magisterarbeit über das Thema ‘Die Kartoffel in der deutschen Gegenwartsliteratur’ geschrieben hat. Nach dem Studium der Germanistik fand sie jedoch keine Arbeitsstelle in der Germanistik und macht jetzt Telefonsex. Sie hat eine Geheimnummer und nimmt Anrufe ihrer Kunden entgegen um ihnen lange, spannende Geschichten zu erzählen. Durch die Geschichten werden die Kunden so aufgegeilt, dass sie vollkommen vergessen, wie viel Geld sie bezahlen müssen. Der Ich-Erzähler reagiert zuerst ungläubig, denn so etwas hat er noch nie gehört. Aber Tina erklärt ihm “Aber mir macht es Spaß, und die Kohle stimmt. Absolut clean, keine Berührung, und man kann und muss spontan reagieren. […] Ich laß Geschichten entstehen. Möglichkeiten, es entsteht was im Kopf, wie beim Lesen. Insofern hat mir auch mein Studium geholfen. Erzählen ist total erotisch.” (Timm 2002:102) Im Grunde ist der Ich-Erzähler völlig fasziniert von dieser Frau; sie ist jung, attraktiv und intelligent und kommt durch ihr Germanistikstudium und ihre jetzige Arbeit als Telefongirl sozusagen aus dem Bereich der Literatur, d.h. sie kann Theorie und Praxis des Geschichtenerzählens auf lukrative Weise verbinden. Schon in früheren Romanen machte Timm auf das Geschichtenerzählen als Möglichkeit des Geldverdienens aufmerksam: Der Protagonist, der als Broker arbeitende Peter Walter aus Kopfjäger (1989), beeinflusst seine Kunden durch Geschichtenerzählen, damit sie ihr Geld in seiner Firma ‚Sekuritas’ anlegen. In der Novelle Die Entdeckung der Currywurst (1993) erhält die jetzt im Altersheim wohnende Figur Lena Brücker durch ihr ausgiebiges Geschichtenerzählen die Möglichkeit, den IchErzähler und Rechercheur ihrer Lebensgeschichte zu immer neuen Besuchen bei sich zu provozieren. Auf der anderen Seite ist das Berlin jener Tage im Juni 1995 von Touristen übervölkert, die in die Hauptstadt gereist sind, um die von Christo ausgeführte Reichstagsverhüllung zu besuchen. Diese Verhüllung des Reichstags wird vom Ich-Erzähler und einem weiteren Besucher der Pension Imperator als ein ästhetischer Akt interpretiert, der dazu führen könnte, die Wahrnehmungsfähigkeit der Menschen zu verändern. Die Veränderung der Wahrnehmungsfähigkeit ist ein wichtiges Anliegen für Uwe Timm. Auch in seinen Romanen versucht er, die Wahrnehmung von Geschichte und Gegenwart seiner Leser durch für sie neue, unbekannte Aspekte zu verändern. Timm beruft sich dabei auf Baumgarten, der in seiner Aesthetica von 1750/ 58 noch direkt von den sinnlichen Eindrücken des Menschen, ausgegangen ist. (cf. Timm 1993:19 u. 101). Auf die Kunst der Literatur bezogen, entwirft Uwe Timm den folgenden Gedanken: Ein wesentlicher Unterschied zum alltäglichen Sprechen, zum alltäglichen Erzählen liegt im literarischen Erzählen darin, dass sein Interesse sich gerade auf die wenig beachteten, ich will sagen, gesellschaftlich unbewussten Verhaltensmuster konzentriert. Zugleich werden diese Wahrnehmungsmuster durch die Literatur immer wieder erweitert. Literatur liefert neue Wahrnehmungsmodelle für ein anderes Sehen, Hören, Riechen, Fühlen und auch Denken. (Timm 1993:18) Gleich nach einem ausgiebigen, italienischen Abendessen bei seinem Freund Kubin, der seine Verwunderung über das Kartoffelthema ausspricht: “Wie kommst du ausgerechnet auf diesen Proleten unter den Gemüsen?” (Timm 2002:13), macht sich der Ich-Erzähler in einem Taxi auf den Weg um sich die Reichstagsverhüllung anzusehen. Der Taxifahrer erwähnt, dass man seit der Wiedervereinigung in Berlin im Stau steht: “Überall Baustellen, Umleitungen, Einbahnstraßen, wo gestern keine waren.” (Timm 2002:18) Der Taxifahrer erinnert sich an die ‘gute’ alte Berliner Zeit. Da er nicht zur Bundeswehr wollte, war er vor zwanzig Jahren nach Berlin gekommen: “War damals ein Sammelpunkt für Aussteiger und Querköppe. Ein Sozialtopos, ummauert, gut bewacht. Jetzt kommen all die Jungs her, die ne schnelle Mark machen wollen. Ich überlege mir, ob ich nicht weggeh.” (Timm 2002:19) Am Reichstag wird der Ich-Erzähler sogleich Opfer eines durchaus charmanten Betrügers: ein Italiener gibt vor, er wolle vor der Abreise nach Mailand noch schnell ein paar Lederjacken verkaufen. Da die Jacken äußerst preiswert angeboten werden, denkt der IchErzähler, er mache ein gutes Geschäft und freut sich über die wärmende Jacke im kalten Berlin: “Die Italiener sind, dachte ich, wunderbar, machen ihre kleinen Geschäfte, kleine Betrügereien, aber immer so, dass man selbst am Betrogenwerden noch seine Freude haben kann, wobei ich diesen netten Italiener ganz schön über den Tisch gezogen habe.” (Timm 2002:25) Nach einiger Zeit im Regenschauer jedoch erweist es sich, dass die angebliche Lederjacke nicht aus Leder sondern aus Löschpapier genäht ist. Der Ich-Erzähler, der in seiner Jugend eine Kürschnerlehre machte, muss nun erkennen, dass er auf den sympathischen Italiener hereingefallen ist und sich von dem aufgenähten Etikett hat beeindrucken lassen. An diesem Punkt können wir feststellen, dass in dem Berlin, welches der Ich-Erzähler besucht, die Menschen nicht unbedingt die Wahrheit sagen, sondern, ähnlich wie in dem Drama Mitsommernacht von Shakespeare, bereitwillig eher dazu neigen, etwas zu verbergen oder, wie Uwe Timm es auf Hamburgerisch ausdrückt, ein bisschen zu tünen (schwindeln). Aufgrund der verschiedenen Ereignisse und Figuren sieht sich der Ich-Erzähler gezwungen, auch seinen eigenen Begriff von Wahrheit zu hinterfragen. Der Roman Johannisnacht ist ein Prosatext, in welchem der fiktive, namenlose IchErzähler den Mittelpunkt bildet, in dem die verrücktesten Geschichten konvergieren. An Hand vielfältiger Geschehnisse und mündlicher, meist in Dialogform vorgetragener Geschichten versucht der Ich-Erzähler ein durchaus ‘realistisches’ Bild von der Situation in der deutschen Hauptstadt nach der sechs Jahre zuvor erfolgten Wiedervereinigung zu entwerfen. Der Roman gehört damit zur Gattung der Berlinromane; das Eigentümliche ist jedoch, dass der Ich-Erzähler nicht aus Berlin stammt, sondern aus München kommend für nur drei Tage die Stadt bereist. Dort versucht er zu Anfang vor allem Auskunft für den Zeitschriftenartikel über die Kartoffel zu erhalten. Er unterscheidet sich von den auswärtigen Touristen allerdings dadurch, dass er sich gut in dem Berlin vor der Wende auskannte. Denn der Ich-Erzähler weist ausdrücklich darauf hin, dass er sich bei seinen Berlinbesuchen in der Pension Imperator in der Meinekestraße in Charlottenburg aufzuhalten pflegt. “Sie (die Pensionswirtin K.A.) kennt mich seit Jahren, kennt meinen wunderlichen Bekanntenkreis, weiß von meinen merkwürdigen Recherchen, sie ist von einer vorbildlichen Diskretion […].” (Timm 2002:68) Der Ich-Erzähler unternimmt den Versuch, durch die von ihm gekürzten, in Form gebrachten Figurenreden ein kaleidoskopartiges, buntes Panorama der Großstadt und ihrer Bewohner zu entwerfen. Schon die 1993 erschienene Novelle Die Entdeckung der Currywurst enthält eine Autopoiesis, d.h. eine Poethologie, die sich auf die Schwierigkeiten des Erzählers bezieht, das oftmals ausufernde, mündlich vorgetragene Alltagsgespräch in eine für den Roman geeignetere Form zu fassen: “Das alles erzählte sie stückchenweiße, das Ende hinausschiebend, in kühnen Vor- und Rückgriffen, so dass ich hier auswählen, begradigen, verknüpfen und kürzen muss.” (Timm 1993a:20) Der Blick des Ich-Erzählers auf die Menschen in Berlin entspricht dem eines interessierten, liebevollen Ethnographen, der den Menschen, die ihm in der Hauptstadt begegnen, mit einer ihre persönliche Meinung respektierenden Haltung begegnet. Später, beim Verfassen Romans fügt er diese Figurenreden innerhalb der Romanerzählung in wörtlicher oder indirekter Rede in halbwegs begradigter Form ein. Daraus ergibt sich ein interessanter Kontrast zwischen der Erzählerperspektive des von Außen kommenden Berlinbesuchers und den unterschiedlichsten Figurenperspektiven, die aus eigener Erfahrung von Berlin sprechen, da sie hier geboren sind oder zumindest hier ihren Wohnort haben. Diese Berichterstattung aus dem Inneren von Berlin ist wiederum unterteilt in Figuren, die aus Berlin stammen und anderen, deutschen oder nichtdeutschen Einwanderern, die in die Stadt zogen, da sie glaubten, hier durch Arbeit ihre persönlichen oder finanziellen Probleme zum Besseren verändern zu können. Auf diese Weise ergibt sich ein ausgesprochen buntes, vielfältiges Panorama von Berlinbewohnern: ein Beduine aus der Sahara, ein griechischer Restaurantbesitzer, ein portugiesischer Taxifahrer, eine ostpreußische Ladenbesitzerin, eine in unbekannter Sprache sprechende Prostituierte, ein bulgarischer Waffenhändler, ein russischer Opernsänger, welche sich alle dadurch auszeichnen, dem Ich-Erzähler bereitwillig von ihren persönlichen Erfahrungen mit der Situation in dem Berlin vor oder nach der Wende zu berichten. Die Figuren der eigentlichen Berliner charakterisieren sich ebenso durch eine ausdrückliche Stimmenvielfalt. Ihre Kommentare zur historischen und aktuellen Situation der Stadt Berlin sind äußerst verschiedenartig gestaltet. Auf der Suche nach dem Nachlass von Dr. Rogler kommt der Ich-Erzähler in den Ostteil der Hauptstadt. Hier trifft er Dr. Spranger, ehemaliger Wissenschaftler und DDR-Akademiemitglied, Freund des verstorbenen Dr. Rogler, der sich an die nicht genutzten Möglichkeiten, die seiner Meinung nach 1989 in der Wiedervereinigung lagen, erinnert: Ich habe buchstäblich aufgeatmet, als unsere senile Altherrenriege wegdemonstriert wurde, aber ich gehöre auch nicht zu den Einvolkjublern. Übrigens war ich in dieser Beziehung mit Rogler durchaus einig. Wir haben uns etwas anderes gewünscht, nicht die Treuhand. Die Voraussetzungen dafür waren nicht schlecht. Ihr Westler seid die Formalisten, wir waren die Informellen, wir waren in diesem ideologisch erstarrten System Pfadfinder, hervorragende Bastler, Improvisateure. Kleinkämpfer gegen Verordnung und Gängelung, subversive Verweigerer. (Timm 2002:61) Spranger sah also die Möglichkeit, ein vereintes Deutschland nach menschenwürdigeren Bedingungen für die Einwohner der Ex-DDR zu schaffen. Er träumte von einem vereinten Deutschland, in dem der jeweils andere deutsche Teilstaat respektiert werde, in dem beide Teile voneinander hätten lernen können, miteinander hätten arbeiten können aus der bewussten Einsicht in die historischen Vorzüge des jeweils anderen politischen Systems. Dagegen drückt der jetzt eine Umzugsfirma betreibende ehemalige Oberstleutnant der Nationalen Volksarmee Berger seine Zufriedenheit über die deutsche Wiedervereinigung aus. Er nutzt seine Kenntnisse der polnischen Sprache, um fleißige polnische Arbeiter, wie er sagt, bei sich anzustellen. Das Firmenschild Transport-Berger versetzt Berge (Timm 2002:84) zeugt von der kommerziellen Zuversicht des Geschäftsinhabers, der selbstbewusst davon spricht, wie er sofort die finanziellen Vorteile nach der Wende erkannte: “Ich habe gleich einen Kredit bekommen. War mir gleich klar, die Wiedervereinigung bringt hier einiges in Bewegung, Alteigentümer und Neueigentümer kommen, und die Nichteigentümer, die Mieter gehen. Logistisch hochinteressant. Da haben Umzugsfirmen gute Chancen.” (Timm 2002:85) Er denkt jedoch nicht über das menschliche Problem der nun wohnungslos gewordenen Nichteigentümer nach. Aber diese Fragestellung wäre ja durchaus untypisch für einen Geschäftsmann, der sich als früheres Volksarmeemitglied mit Problemen der Logistik beschäftigte und aus diesem Grund hervorragend für das Mitmachen im kapitalistischen Konkurrenzkampf vorbereitet sein dürfte. Weitere Figuren aus Ostberlin jedoch drücken ihren Frust über die für sie unhaltbare, aktuelle Situation aus. Ein anonymer, misstrauischer Ostberliner Taxifahrer kann seine Wut gegen die Westdeutschen nicht verbergen. Nachdem er die Genformeln der Kartoffeln in dem Karton des Ich-Erzählers bemerkt hat, denkt er aufgrund der Erfahrung mit verkauftem DDRGeheimmaterial, dass der Ich-Erzähler sich ebenfalls durch gestohlene DDR-Unterlagen bereichern will: “Wird alles verhökert, nach drüben, sagte er, verstehn Se, allet, kommen her, machen platt.” (Timm 2002:64) Der Ostberliner Taxifahrer bezieht sich auf die Eigenschaft der Westdeutschen, mit Geld und angeblich besserem Wissen die ehemalige DDR aufzukaufen und politisch zu beherrschen. Zudem ist er als einfacher Taxifahrer davon überzeugt, dass er niemals einen Kredit für ein neues Taxi bekommen hätte. Der dem westlichen Denken und Handeln angepasste, jetzt als Immobilienhändler arbeitende Rosenow aus dem ehemaligen Ostberlin drückt die Befürchtung aus, sich bei den ehemaligen Nachbarn mit seinem neuen BMW zu zeigen. Aus diesem Grund zieht er es vor, nicht mehr in seinen früheren Stadtteil zu fahren. So kann man zum Thema Nachbarschaft feststellen, dass Uwe Timm in seinen Romanen zu diesem Thema Stellung bezieht. Er kritisiert, dass die ursprünglich gewachsenen Stadtteile durch den Aufkauf der Immobilienfirmen von Wohnungen und Geschäften grundlegend verändert werden. Die reichen Leute, die so genannte Schickeria, ziehen in ehemals populäre Wohngebiete, wodurch Anonymität und Kommunikationslosigkeit auf erschreckende Weise zunehmen. Die ehemaligen DDR-Bewohner sind also in diesem Roman in zwei Gruppen unterteilt: die Gruppe der Gewinner und die Gruppe der Verlierer. Die erste Gruppe hat sich dem kapitalistischen System ohne Schwierigkeiten angepasst und es erreicht, finanzielle Gewinne im für sie zunächst unbekanntem Wirtschaftssystem zu erzielen. Die zweite Gruppe wird jetzt im kapitalistischen System zum Verlierer. Denn die Menschen haben ihre Existenzgrundlage, Wohnung und Arbeit, verloren, weil sie plötzlich nicht mehr nützlich sind und gebraucht werden. Sie werden abgewickelt und gehen an dieser “neue(n) Arroganz der Macht”(cf. Delius 2003:128) zugrunde, wie Friedrich Christian Delius die deutsche Lage kritisch bezeichnet. An diesen Beispielen stellt Uwe Timm dar, dass es im Jahre 1995 weiterhin zwei unüberbrückbare, scharf getrennte Teile von Berlin gibt. Die Westberliner Jugendlichen, mit denen der Ich-Erzähler in Kontakt kommt, scheinen wenig Interesse daran zu haben, in den anderen Teil der Stadt zu fahren: “Geht doch keiner von hier rüber, höchstens mal ins Theater.” (Timm 2002:168), wie die Figur Airborne oder Puk, der als Hairstylist (Friseur) arbeitet, es ausdrückt. Auf der Suche nach der Wohnung von Dr. Rogler kommt der Ich-Erzähler direkt mit der Ostberliner Wirklichkeit in Kontakt, d.h. mit Situationen auf den Straßen. Ihm geht eine entschiedene Kritik an seinem jetzt als Immobilienhändler arbeitenden Freund durch den Kopf: “Kubin, der behauptet hatte, die äußeren Unterschiede zwischen Ost und West seien längst verschwunden, kann nie hier gewesen sein.” (Timm 2002:43) Ebenso antwortet eine weitere Figur, diesmal Westberliner Taxifahrer, auf die Frage, ob er oft Fahrten nach Ostberlin bekommt: “Nee, sagte der, und wenn sichs vermeiden läßt, fahr ick ooch nich, kenn mich nich so jut aus, is doch ne fremde Stadt, andere Jebräuche, andere Sitten. Nee. Die Stimmung is, jeder soll mal hübsch bei sich bleiben. Ohne Mauer, det is jut.” (Timm 2002:81) Der Literaturwissenschaftler Hartmut Steinecke fasst den Roman Johannisnacht auf diese Weise zusammen: “Ein fröhliches Durcheinander, teilweise additiv gereiht – und doch ist die Anarchie des Romans kunstvoll geordnet. Denn der Weg des Erzählers folgt natürlich einem Plan des Romanciers Timm, der die Abfolge der Kapitel komponiert, Anfang und Schluss verbindet, Leitmotive einflicht, intertextuelle Bezüge verwebt.” (Steinecke 1999:206) Die von Steinecke erwähnten Leitmotive erscheinen überaus zahlreich in Johannisnacht. Hier werde ich hier nur die für unser Thema wichtigsten besprechen: Die Suche nach der Bedeutung von dem Ausdruck ‘Roter Baum’ des Großonkels, die die gesamte Romanhandlung durchzieht und zum Schluss, nach häufigem Fragen und allen möglichen Erklärungen von Seiten vieler Figuren, wird schließlich vom Ich-Erzähler selbst durch das von einem russischen Opernsänger vorgetragene Lied Die Gedanken sind frei zur Aufklärung geführt. Denn dieses Lied erweckt in ihm eine Kindheitserinnerung. In einer Geschichte erzählte ihm damals sein Onkel, dass ‘Roter Baum’ der Name eines Gasthofes war, wo der Großonkel mit seinem Vater einkehrte, um das von Polizei und Gutsherrn verhängte Verbot zu umgehen, dem in jener Zeit so genannten sozialdemokratischen Aufrührer zuzuhören: ”Der Agitador redete. Der Gasthof hieß, wie gesagt, ‘Roter Baum’. Nichts Politisches. Gemeint war ein Grenzbaum. Zwischen Mecklenburg und Preußen. ‘Roter Baum’ meinte eine Grenze. Und die hatte auch der Vater von dem Onkel damals überschritten. Also doch auch politisch.” (Timm 2002:242) Dieses Geheimnis, welches die gesamte Romanhandlung durchzieht und ihr Spannung verleiht, wird also zum Schluss vom Erzähler selbst aufgedeckt. Ein weiteres Leitmotiv, welches sicher das wichtigste in diesem Roman darstellt, ist die Auseinandersetzung der Bewohner des heutigen Berlins mit der aktuellen und historischen Situation der Trennung Deutschlands, die nun nach vierzig Jahren durch die Wiedervereinigung der Historie angehört oder, besser gesagt, wie im Roman gezeigt wird, längst noch nicht als aufgehoben erscheint. Zum Thema Wiedervereinigung bemerkt Uwe Timm in seiner Poetikvorlesung Erzählen und kein Ende. Zu einer Ästhetik des Alltags: Man muss keine prophetische Gabe besitzen, um vorherzusagen, dass die Vereinigung der beiden deutschen Staaten, insbesondere aber die Implosion des Sozialismus in der DDR, in Osteuropa, mit all ihren teilweise unfaßlichen Begleiterscheinungen, dass die Destruktion der sozialistischen gesellschaftlichen Werte von einem anhaltenden Erzählen begleitet sein wird, im Alltag wie auch in der Literatur. Denn es findet eine neue Identitätssuche im Individuellen wie auch im Gesellschaftlichen statt. Und das gleiche gilt auch für das alltägliche und das literarische Erzählen in den so genannten alten Bundesländern. Wir erleben, wie zwei Gesellschaften mit grundverschiedenen Mentalitäten aufeinanderprallen, und das erzeugt notwendig permanent Missverständnisse, Reibungen, soziale Spannungen, emotionale und mentale Konflikte. (Timm 1993:100) Die im Roman auftretenden Ausländer, die zum Teil schon seit längerer Zeit in Berlin leben und damit der deutschen Sprache mächtig sind, haben selbstverständlich ebenso eine eigene Meinung zum Thema Wiedervereinigung. Dadurch wird die ursprünglich nur Deutschland betreffende Angelegenheit zu einem Problem, welches im Grunde Menschen aus aller Welt betrifft. Ein anderes Leitmotiv ist der Wunsch des Ich-Erzählers, mit der ihn faszinierenden Tina ein engeres Liebesverhältnis einzugehen. Dieser Wusch wird nicht erfüllt, da Tina möglicherweise gar keine Frau ist, was der Ich-Erzähler in der letzten Nacht beim Tanzen mit ihr bemerkt: “Nur einmal bekomm ich von hinten einen kräftigen Stoß und fliege förmlich auf sie, nein, in sie hinein, spüre ihren Körper, zart und weich, habe einen Moment den Eindruck, mit einem Mann zu tanzen, als sei da etwas, was nicht zwischen die Beine einer Frau gehöre.” (Timm 2002:215) Dieser körperliche Eindruck veranlasst den Ich-Erzähler zu einer überstürzten Flucht vor ihr oder ihm. Er verschwindet in Richtung Toilette, geht jedoch durch die Küche, wo gerade der Koch Chappi-Dosen in einen Topf mit schwarzen Bohnen leert. (cf. Timm 2002:217) Der Ich-Erzähler denkt halbwegs befriedigt: “[…] also ist wenigstens die Geschichte mit dem Chappi keine Wandersage” (Timm 2002:218) Sein ursprünglicher Wunsch nach einem Liebesverhältnis mit der jungen Frau führt also zu keinem glücklichen Ende. Und auch das eigentliche Hauptmotiv des Romans, die Recherche nach der Bedeutung der Kartoffel in der deutschen Geschichte und Gegenwart, führt zu keinem den Ich-Erzähler befriedigenden Ergebnis. Die Aufzeichnungen und der Geschmackskatalog des abgewickelten DDR-Wissenschaftlers Dr. Roglers gehen bei der turbulenten Taxifahrt mit einem aggressiven und unsympathischen Ostberliner Taxifahrer von Ost- nach Westberlin verloren. Dieser Taxifahrer wirft den Ich-Erzähler mitsamt dem Kartoffelmaterial aus seinem Taxi. Die einzelnen Papiere werden vom Wind auf der Straße verstreut. Da Dr. Rogler vor einigen Monaten verstorben ist, scheut der Ich-Erzähler jedoch keine Mühe, zumindest das Lebenswerk Dr. Roglers, den Geschmackskatalog wiederzubekommen. Er setzt eine Anzeige in zwei Berliner Zeitungen, aber nur mit dem Erfolg, dass sich ein bulgarischer Waffenhändler bei ihm meldet. Denn in der Fachsprache der Waffenhändler ist das Wort Kartoffel ein Synonym für Mine, Tretmine und ähnliches. Dieser Waffenhändler beginnt zusammen mit seinem Leibwächter den Ich-Erzähler zu verfolgen. Beide tauchen sogar in der Pension Imperator auf. Aus diesem Grund sieht sich der Ich-Erzähler gezwungen um sein Leben zu retten, Berlin noch in derselben Nacht schnellstens mit dem letzten abfahrenden Zug in Richtung Leipzig zu verlassen. Trotz dieser lebensgefährlichen Affäre mit dem Waffenhändler kann man grundsätzlich behaupten, dass der Ich-Erzähler von Berlin und seinen Bewohnern begeistert ist. Diese Stadt bietet ihm ein variationsreiches Biotop seltsamer Figuren, welche seine freudige Aufmerksamkeit erregen. So erzählt er dem Beduinen Moussa von seiner Reiselust und kommentiert die in Berlin gelebten Abenteuer: “Allerdings was ich noch nie in der Sahara. Aber hier, in den letzten Tagen, bin ich viel herumgekommen. Ich habe seltsame Dinge erlebt. Weit mehr als in einem Jahr in München.“ (Timm 2002:160) Der bereits im Titel Johannisnacht - Mitsommernacht - angedeutete intertextuelle Bezug verweist auf Shakespeares Drama Midsummer Night’s Dream. Das literarische Beziehungsgeflecht hat seinen Kern in dem Motto aus Shakespeares Komödie ‘Swift as a shadow, short as a dream…’, das zum Leitmotiv des Romans und vieler Einzelszenen wird, auch in der Art der Darstellung: für das Bunte und Schrille, das Spiel im Spiel, das Erzählen im Erzählen, das Vertauschen von Schein und Sein, das Nebeneinander von Erhabenem und Komischen, von großen und kleinen Themen – denn immerhin geht es ja nicht nur um skurrile Abenteuer eines Provinzschriftstellers in der Möchtegern-Hauptstadt, sondern auch um Themen, die sonst eher mit ernster Stimme, gedankenbeschwert und fremdwörterbeladen behandelt werden, wie die berüchtigte Mauer in den Köpfen der Menschen in Berlin oder die Lebensformen der No-FutureGeneration. (Steinecke 2003:207f.) Die Romanhandlung ist im Grunde genauso verrückt wie der Prätext von Shakespeare, nur fehlt hier vollkommen das vom Leser erhoffte Happyend. Die Figur Tina könnte die Elfenkönigin Titania (cf. Kreißig 2002:55) als Vorbild haben. Der Hairstylist Puk trägt den Namen von Oberons Hofnarr und ebenso erscheinen zwei weitere Figuren aus Shakespeares Komödie, die Elfen Spinnweb und Rosenblüte. Letztere treten in diesem Roman jedoch nur kurz bei einem Reggaekonzert in einer Bar als Tänzerinnen auf. Das literarische Beziehungsgeflecht hat sein Zentrum in dem Zitat aus Shakespeares “Verwirrkomödie“ (Steinecke 2005:256) Midsummer Night’s Dream, welches als intertextuelles Motto dem Roman vorangestellt ist und sicher weiteren Aufschluss zu einer spezifisch intertextuellen Interpretation beider Werke - Midsummer Night’s Dream und Johannisnacht – bieten könnte. Swift as a shadow, short as any dream, Brief as the lightning in the collied night, That, in a spleen, unfolds both heaven and earth, And, ere a man hath power to say “Behold!”, The jaws of darkness do devour it up: So quick bright things come to confusion. Shakespeare: Midsummer Night’s Dream (1.1.145-148) Abschließend möchte ich darauf verweisen, dass der Roman Johannisnacht den Leser zu immer neuen Fragen provoziert, denn er ist voll von witzigen, ungewöhnlichen und auch zum Teil tragischen Aspekten zur deutschen Geschichte und Aktualität. Der Leser merkt an der Sprache und Komposition, dass es sich bei Uwe Timm um einen begnadeten und kritischen Erzähler handelt. Uwe Timm ist es gelungen zu zeigen, wie dieses uralte und dennoch auch heutzutage notwendige Erzählen selbst in einer komplizierten Gegenwart seine Leser begeistern kann. Davon legen letztendlich auch die überaus zahlreichen Neuauflagen seiner Werke Zeugnis ab. LITERATURVERZEICHNIS DELIUS, Friedrich Christian, 2003. Warum ich schon immer Recht hatte - und andere Irrtümer. Ein Leitfaden für deutsches Denken. Berlin: Rowohlt. DITTMANN, Ulrich, 2005. “Timm-Rituale.” In: Malchow, Helge (Hg.), 2005. Der schöne Überfluß. Texte zu Leben und Werk von Uwe Timm. Köln, Kiepenheuer & Witsch, S. 197-200. BULLIVANT, Keith, 1995. “Uwe Timm und die Ästhetik des Alltags.” In: Durzack, Manfred und Steinecke, Hartmut (Hg.). Die Archäologie der Wünsche. Studien zum Werk von Uwe Timm, Köln: Kiepenheuer & Witsch, S. 231-243. GRUMBACH, Detlef: “Rezension. ” >http://home.t-online.de.detlef.grumbach/postkol.html< [1.3.05] HAGESTEDT, Lutz, 1995. “Von essenden Sängern und singenden Ochsen. Sprechsituationen bei Uwe Timm.” In: Durzack, Manfred und Steinecke, Hartmut (Hg.). Die Archäologie der Wünsche. Studien zum Werk von Uwe Timm, Köln: Kiepenheuer & Witsch, S. 245-265. HAMSTER, Harald, 1995: “Christo + Jeanne-Claude. 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