Neandertaler Wer waren die Neandertaler? Was haben wir mit ihnen gemeinsam, was unterscheidet sie von uns? Warum starben sie aus? Diese und andere Fragen finde ich in Bezug auf die Vorgeschichte der Menschheit ziemlich spannend. Im Folgenden ein Überblick. Diesen Überblick gibt es auch als PDF-Datei zum kostenlosen Download. Inhalt: Der Fund von 1856 und die Theorie Darwins Wer waren die Neandertaler? Jäger und Sammlerinnen mit handwerklichem Geschick Das soziale Zusammenleben Kultur Das rätselhafte Verschwinden der Neandertaler Weitere Infos und Literatur Internet-Links Der Fund von 1856 und die Theorie Darwins Im Jahre 1856 entdeckten Bauarbeiter in einem Steinbruch im Neanderthal (damalige Schreibweise) bei Mettmann unweit Düsseldorf die Schädelkalotte, also die Schädeldecke, eines Toren mit merkwürdig abgeflachter Stirn und dicken Überaugenwülsten. Der Lehrer und Hobbyforscher Johann Carl Fuhlrott (1803-1877) erkannte, dass es sich um den Schädel eines Vorzeitmenschen handeln musste. Nach weiteren Teilen wurde nicht gesucht. Es entbrannte eine erhitzte Debatte darüber, ob es in grauer Vorzeit anders aussehende Menschenwesen überhaupt gegeben haben konnte. Jahre später entdeckte man an anderen Orten Knochen und Schädelteile, die dem Schädel aus dem Neanderthal auffällig ähnelten. Es stellte sich im Laufe der Zeit in sehr kontroversen Diskussionen heraus, dass es tatsächlich Menschen mit besonderen Merkmalen gegeben hatte, die sich vom Jetztmenschen unterschieden und vor etlichen Zehntausend Jahren gelebt haben mussten. Der Fundort der Kalotte wurde zum Namengeber für alle Wesen, die diese Merkmale aufwiesen: seither sprechen wir vom Neandertaler. Der Neandertaler erregt bis heute immer wieder die Gemüter. Mittlerweile sind in Europa und Vorderasien zahlreiche Funde von Knochen, Skelett-Teilen und fast vollständigen Skeletten sowie von Werkzeugen, diversen Gegenständen, Tier- und Pflanzenresten an den Fundstellen gemacht worden, dass wir uns heute ein viel genaueres Bild von den Neandertalern machen können als vor 150 Jahren. Die letzten Funde in Deutschland wurden 1997 in der Osteifel und eine archäologische Meisterleistung - im Neandertal selbst gemacht. Doch davon später. Erstaunlicherweise bleibt die Diskussion über die Interpretation dieser Funde ähnlich kontrovers wie damals. Seinerzeit entwickelte Charles Darwin auf der Basis seiner umfassenden naturwissenschaftlichen Untersuchungen die Theorie über die Evolution, zunächst 1859 über den Ursprung der Arten durch natürliche Auslese ("The Origin of Species by Means of Natural Selection") und 1871 über die Abstammung des Menschen aus dem Tierreich ("The Descent of Man"). Damals hatte die Kirche und das religiöse Denken jedoch noch viel größeren Einfluss auch auf Wissenschaftler, als das heute der Fall ist. Der anerkannte Mediziner Rudolf Virchow wetterte heftig gegen Darwin. Es konnte doch nicht angehen, dass der Mensch, der in Gestalt -1- (C) Dietmar Konopatzki 2001 von Adam und Eva als Ebenbild Gottes von selbigem geschaffen und von den Tieren völlig getrennt und beseelt ist, nun plötzlich von den Tieren abstammen sollte! Die Ewigkeit und Unveränderbarkeit der göttlichen Ordnung, also der Welt, sollte plötzlich nicht mehr sein? Das Eine sollte sich aus dem Anderen entwickeln und sich dabei verändern? Gegen Darwin wurde eine wahre Hetzkampagne der christlichen Kirchen und aller vom christlichen Glauben "beseelten" damaligen Wissenschaftler und frühen Meinungsmacher vom Zaun gebrochen. Als nach und nach klar wurde, dass der Neandertaler sehr wohl existiert hatte, wurde er als roher, wilder Halbaffe dargestellt, der mit dem Menschen, Gottes "Krone der Schöpfung", nichts zu tun haben sollte. Heute sind wir allerdings von derlei unwissenschaftlichen Behauptungen noch gar nicht so weit entfernt. Allgemein bekannt ist, dass in etlichen US-Staaten - besonders im so genannten "Bible Belt" (Bibel-Gürtel) des mittleren Westens - an den Schulen sehr wohl die Schöpfungsgeschichte der Bibel, nicht jedoch die Evolutionslehren Darwins gelehrt werden. In Europa ist die Lehre Darwins glücklicherweise allgemein akzeptiert, und durch die zahlreichen Funde von Neandertalern sind frühere Auffassungen von der Rohheit des Neandertalers und der vermeintlichen großen kulturellen Distanz zu den Jetztmenschen nicht mehr so leicht haltbar. Aber dennoch gibt es auch auf unserem Kontinent Forscher, die zwar weniger plump und religiös, dafür um so rassistischer und natürlich "modern" und geschickt verpackt, wieder und wieder das Bild des gewalttätigen Neandertalers und möglicher gewalttätiger Nachfahren aufbauen Wer waren die Neandertaler? Die ältesten Neandertaler-Funde werden auf ca. 200.000 Jahre vor unserer Zeit datiert, wobei einige Forscher den Beginn sogar auf 250.000 Jahre, viele jedoch die Zeit vor 135.000 Jahren ansetzen. Die in Ochterdung in der Osteifel von Dr. Axel von Berg gefundene Schädelkalotte stammt von einem frühen Neandertaler, der vor etwa 160.000 Jahren gelebt hat. Die zeitlich jüngsten Funde stammen aus der Zeit vor nur 27.000 Jahren. Der Cro-Magnon-Mensch, zu dem wir gehören und der benannt ist nach dem Fund eines 28.000 Jahre alten Jetztmenschen bei Cro-Magnon in Frankreich im Jahre 1868, tauchte in Europa nach allerneuestem Forschungsstand erst vor ca. 33.000 Jahren auf dem europäischen Kontinent auf, in Vorderasien allerdings schon vor etwa 60.000 Jahren. Nach den bisherigen Funden zu urteilen, lebten Neandertaler also weit über 100.000 Jahre, vielleicht 250.000 Jahre im ganzen heutigen Süd-, Mittel- und Südosteuropa sowie im vorderen Orient (Kleinasien, Palästina, Irak, Turkmenistan). Sie waren gewissermaßen die ersten Europäer oder Eurasier. Der Homo sapiens Neanderthalensis unterscheidet sich von früheren, archaischeren Formen der Gattung Homo wie auch vom Jetztmenschen Homo sapiens sapiens vor allem durch einen äußerst robusten Knochenbau und ein sehr großes Gehirn (ca. 1550 ccm im Vergleich zum Jetztmenschen mit ca. 1450 ccm). Sie hatten eine flache, fliehende Stirn, eine durchgängige Überaugenwulst, ein fliehendes Kinn, große Zähne, ein großes, hervorstehendes Gesicht und einen Nasenknochen, der auf ein relativ großes Riechorgan im Vergleich zu heutigen Menschen schließen lässt. Die große Nase ermöglichte eine großflächigere Anwärmung und Befeuchtung der eingeatmeten Luft, was unter eiszeitlichen klimatischen Bedingungen von Vorteil war. Erwachsene Männer wurden bis zu 165 cm groß und 75 kg schwer, Frauen erreichten bis ca. 153 cm Körpergröße. Frauen wie Männer waren muskelbepackt und untersetzt und konnten wohl bis ca. 65 Jahre alt werden, wenn sie die vielfach widrigen Lebensumstände bis dahin überlebten. Der grobe, schwere Knochenbau und die davon abgeleiteten Muskelpakete veranlassen Meinungsmacher, aber auch Forscher bis heute dazu, in den Neandertalern Keulen schwingende, rohe Kannibalen und Totschläger zu sehen, gewissermaßen die Rambos der Vorzeit. Das stabile Knochengerüst, die Kraft und die untersetzte Gestalt aber waren es, die die -2- (C) Dietmar Konopatzki 2001 Neandertaler erst in die Lage versetzten, in den unwirtlichen Zeiten der Saale-/Würm-Eiszeit und der letzten Weichsel-Eiszeit zu überleben. Die Neandertaler lebten zwar auch in der warmen Eem-Zwischeneiszeit und in den wärmeren Gegenden Südeuropas und des Nahen Ostens, Zehntausende von Jahren jedoch vornehmlich in einer Tundra- und Steppenlandschaft am Rande gigantischer eiszeitlicher Gletscher, die ganz Nordeuropa und das nördliche Mitteleuropa bedeckten. Landschaft und Klima ähnelten weitgehend den heutigen Lebensbedingungen in Lappland, Sibirien oder Nordkanada. Die Winter waren zumeist lang und eisig. Ein gedrungener Körper war da hilfreich. Er gibt weniger Wärme ab als ein langer, dünner, stellte also eine gute Anpassung an die damaligen Umweltbedingungen dar. Und Kraft ist beim Schleppen von Lasten, bei der Jagd und beim Zerlegen und Verarbeiten erlegter Tiere auch nicht unbedingt schädlich. Die immer wieder behauptete Rohheit und Wildheit der Neandertaler sind reine Spekulation und verraten mehr über das Weltbild und die Fantasie heutiger Betrachter als der damaligen Menschen. Jäger und Sammlerinnen mit handwerklichem Geschick Die stark ausgeprägten Überaugenwulste schließlich belegen ebenso wie die bei Kieferknochen älterer Neandertaler nachgewiesenen stark abgenutzten Zähne, dass die Neandertaler ihre starken Kaumuskeln und Zähne nicht nur zum Essen benutzten, sondern damit auch Sehnen, Leder und andere Stoffe bearbeiteten. Sie stellten Werkzeuge, Waffen, Zelte, Kleidung, Riemen, Taschen und andere Dinge her. Sie waren Meister und Meisterinnen in der Bearbeitung von Steinen, aus denen sie Messer, Pfeilspitzen, Schaber, Sägen, Bohrer und anderes fertigten. Die seit ca. 130.000 vor unserer Zeit übliche Levallois-Technik der Vorbearbeitung von Steinen zu Halbprodukten, aus denen man dann die verschiedensten Dinge fertigen konnte, ist an vielen Fundorten nachgewiesen. Auf vielfältige Art und Weise bearbeiteten die Neandertalerinnen und Neandertaler auch die von ihnen erlegten Tiere. Häute und Fälle wurden zu Kleidung, Decken und Zelten und wohl auch zu Gefäßen verarbeitet, aus Knochen stellte man Gebrauchsgegenstände und Waffenteile her. Zweifellos benutzten die Neandertalerinnen und Neandertaler ihre großen Gehirne jedenfalls nicht in erster Linie dazu, die ihrer Mitmenschen einzuschlagen. Kräftige Muskeln und ein großes Hirn verlangen natürlich nach Eiweiß und Proteinen. In den Tundren der Eiszeit gab es keine besonders üppige Pflanzenwelt. Allerdings weiß man aus Pollenfunden, dass die Neandertaler Nüsse, Pilze, wilde Möhren, Sanddorn, Wildkorn, verschiedene Wurzeln und Kräuter sowie Beeren als pflanzliche Nahrung zu sich nahmen. Auf Grund des hohen Energiebedarfs waren ihre Körper aber vor allem auf Fleisch angewiesen. Dieses war damals sowohl in Gestalt von Kleingetier wie Hasen, Wildgänsen und -enten, sehr zahlreich aber auch in Form von Großtieren wie Wildpferden, Halbeseln, Steppenbisons, Auerochsen, Rentieren, Riesenhirschen und natürlich Mammuts vorhanden. Das gezielte Erlegen von Mammuts wird wohl aber eher die Ausnahme gewesen sein, da es doch viel Jagdglück erforderte und sehr riskant war. Vielfach werden die Menschen sich mit Kleingetier und mit dem Fleisch bereits verendeter Tiere begnügt haben. Auch Fischfang wurde betrieben. Unsere damaligen Verwandten hatten es auch mit Höhlenbären, Wollnashörnern, Wölfen, Höhlen-Löwen, und -Hyänen zu tun, die eine große Gefahr für Leib und Leben darstellten. Löcher in Schädeldecken, die lange Zeit als Beleg für die Gewalttätigkeit der damaligen Menschen untereinander angesehen wurden, rühren vom Todes-Biss einer Höhlen-Hyäne und belegen eindrucksvoll, dass diese Todesart nicht die große Ausnahme gewesen sein wird. Nur in der Gemeinschaft konnten Tiere gejagt oder aber vertrieben werden, mit bearbeiteten Steinen, Lanzen und Speeren. Das erjagte Fleisch wurde mit Sicherheit in der Regel "gegrillt" oder auf heißen Steinen gebacken, ebenso ein Teil der Pilze und Wildgemüse, die wahrscheinlich, in Blätter gewickelt, in die Glut gelegt wurden. Die Verwendung des Feuers war ja schon dem Homo erectus über eine halbe Million Jahre zuvor bekannt gewesen. Natürlich -3- (C) Dietmar Konopatzki 2001 werden Neandertaler Fleisch vielfach aber auch roh verzehrt worden sein, etwa, wenn kein Feuer gemacht werden konnte oder bei rituellen Anlässen, vielleicht ähnlich wie die Prärieindianer bei der Bisonjagd das Herz des Bisons roh aßen, um nach ihrem Glauben seine Stärke in sich aufzunehmen. Das soziale Zusammenleben Das wirft die Frage nach dem sozialen Zusammenleben und der Kultur der Neandertaler auf. Die Neandertaler zogen wahrscheinlich als Sippen bis zu einigen wenigen Dutzend als Nomaden umher und folgten den Spuren der Tiere, ihrer Jagdbeute. Sie bauten aus Fellen und Holzstämmchen oder Mammutknochen Zelte, ähnlich den Tipis der Prärie-Indianer. Sie lebten aber vornehmlich unter Felsvorsprüngen und in Höhlen, manchmal sogar über mehrere Generationen, so dass man die Neandertaler zurecht auch als Höhlenmenschen bezeichnen kann. In den strengen Wintern mussten sie ohnehin bei kalten Stürmen Schutz suchen. Durch das Zusammenleben und die gemeinsame Jagd unter widrigen Umweltverhältnissen waren die Neandertaler aufeinander angewiesen und müssen eine ausgeprägte soziale Organisation und Kommunikation gehabt haben. Einer der zahlreichen Knochenfunde ist ein Zungenbein aus Kebara im heutigen Israel, das die entscheidende Voraussetzung für Sprache bildet. Auch bestimmte der Abdruck Gehirnwölbungen in Schädelkalotten deuten nicht erst bei Neandertalern, sondern sogar schon beim Homo erectus auf ein Sprachzentrum hin. Wahrscheinlich hat schon dieser eine Art Proto-Sprache entwickelt. Wenn die Neandertaler nachweislich über ein Zungenbein verfügten und ihre Lebensweise ähnlich wie die späterer Steinzeitmenschen war, dann werden sie mit Sicherheit auch eine Sprache entwickelt haben, die über die Artikulation bestimmter Laute mit bestimmter Bedeutung - etwa bei Schimpansen entscheidend hinaus geht und voll und ganz die Bezeichnung "Sprache" im heutigen Sinne verdient. Es ist allerdings möglich, dass aufgrund der längeren Zunge die Neandertaler nicht alle Laute hervorbringen konnten, die für die Sprachen heutiger Menschen kennzeichnend sind. Die Neandertaler haben sich - ganz im Gegensatz zu der ständig wiederholten Behauptung ihres rohen und gewalttätigen Charakters - zumindest innerhalb ihrer Sippe oder sonstigen Gruppe - ausgesprochen sozial um einander gekümmert. Es gibt mehrere Knochenfunde, die belegen, dass diese Individuen Wunden und Krankheiten hatten, mit denen sie mehrere Jahre lang gelebt, aber unmöglich gejagt oder sich ohne fremde Hilfe ernährt haben können. Einer der gefundenen Neandertaler litt nachweislich schwer unter Arthrose (La Chapelle-aux-Saints, Frankreich), einer an einer Fußverletzung mit Knochenwucherung (Shanidar III im Irak), bei einem war eine gebrochene Rippe wieder verheilt (Shanidar IV), wieder ein anderer war auf dem rechten Auge blind und hatte einen verkürzten rechten Arm und ein krankes rechtes Bein (Shanidar I). Die Starken und Gesunden müssen ihre Nahrung mit diesen Schwachen und Kranken geteilt und diese im wahrsten Sinne des Wortes "mitgeschleppt" haben, denn anders wäre ein Überleben gar nicht möglich gewesen. Natürlich schließt das nicht aus, dass es auch Gewalt gegeben hat. Auch Kannibalismus in Zeiten großen Hungers und erst recht zu rituellen Zwecken ist vorstellbar. Der Fund von gespaltenen Schädeln und Knochen von insgesamt 20 Männern, Frauen und Kindern bei Krapina im heutigen Kroatien könnte auf eine derartige Tötung hindeuten. Es gibt aber keinerlei Belege dafür, dass Mord, Krieg oder Kannibalismus entscheidende Wesenszüge der Neandertaler gewesen sind, während es umgekehrt die genannten unwiderlegbaren Belege für ihre soziale Einstellung gegenüber Angehörigen ihrer Gruppe gibt. Kultur Das Sozialverhalten der Neandertaler bestimmt auch die Frage nach ihrer Kultur. Auch wenn es immer noch WissenschaftlerInnen gibt, die in Frage stellen, dass Neandertaler tote Angehörige -4- (C) Dietmar Konopatzki 2001 bestattet haben, so sprechen die Funde doch eine andere Sprache. In der Kebara-Höhle im heutigen Israel wurde eine eindeutig bewusst angelegte Grabkammer gefunden. In der Höhle von Shanidar im heutigen Irak wurden Pollen zahlreicher Blumen direkt unter einem dort liegenden Skelett eines ca. 30-45jährigen Mannes gefunden, die unmöglich per Zufall dort vom Wind herein geweht sein können: der Tote war auf ein Bett von Blumen gebettet worden! Bei den Knochen anderer Neandertaler in Grabstätten fand man auch Werkzeuge und Nahrung, was sogar ein Hinweis auf die Vorstellung von einem Weiterleben nach dem Tod sein könnte. Bei mehreren bestatteten Skeletten fehlt der Schädel, was von bestimmten Wissenschaftlern erneut vermuten ließ, hier sei wieder einmal die rohe Gewalt am Werke gewesen. Inzwischen ist sich die Mehrheit der Wissenschaftler sicher, dass dies einem Totenschädel-Kult geschuldet ist. Aus rituellen Gründen wurden die Schädel - vielleicht von Angehörigen? - entfernt und aufbewahrt. Bei den späteren Cro-Magnon-Menschen ist dies nachgewiesen, für die Neandertaler ist es anzunehmen. In vielen Höhlen gibt es auch zahlreiche Bärenschädel, was lange Zeit als Beleg dafür angesehen wurde, dass die Neandertaler wie spätere eiszeitliche Menschen einen reglerechten Höhlenbärenkult betrieben haben. Heute gehen die meisten Wissenschaftler jedoch davon aus, dass schlichtweg sowohl Höhlenbären als auch Neandertaler über den Zeitraum mehrerer hundert Jahre zu unterschiedlichen Zeiten die selbe Höhle bewohnt haben oder dass Neandertaler die Bärenknochen wie auch andere Abfälle einfach in der Höhle deponiert haben. Bewiesen ist hier jedoch nichts. Aus Knochen stellten die Neandertaler wahrscheinlich sogar Flöten her. Das im heutigen Slowenien gefundene Exemplar eines bearbeiteten Bärenknochens mit Löchern für den Lufteinund Ausgang und Seitenlöchern lässt diesen Schluss zu. An mehreren Stellen wurden bearbeitete Knochenstückchen mit kleinen runden Löchern gefunden, die kaum einem anderen Zweck gedient haben können, als die Körper als Schmuck zu zieren. Die Verwendung von Ocker zur Färbung entweder der eigenen Körper (rituelle Bemalung?) oder der hergestellten Gegenstände ist ebenfalls erwiesen. Wenn man die Verwendung von Farbe, Bestattungen und andere rituelle Handlungen der Neandertaler berücksichtigt, dann ist wohl auch von einer Art Religion oder Schamanismus auszugehen. Einzig Höhlenmalereien aus der Hand von Neandertaler-Künstlern hat man bisher nicht entdeckt. Wahrscheinlich waren dazu erst die Jetztmenschen in der Lage. Das rätselhafte Verschwinden der Neandertaler Die jüngsten Funde von Neandertalern sind rund 27.000 Jahre alt. Der Neandertaler ist ausgestorben wie wenige Jahrtausende nach ihm seine Zeitgenossen aus der Tierwelt - das Mammut, der Höhlenbär, das Wollnashorn oder der Höhlenbär. Seit mindestens 33.000 Jahren gibt es in Mitteleuropa, seit über 60.000 Jahren im Nahen Osten den modernen Cro-MagnonMenschen, hochgewachsen, mit hoher Stirn, markantem Kinn und einem relativ zierlichen Knochengerüst. Jahrtausende lang haben diese Menschen nicht wesentlich anders gelebt als die Neandertaler - sie jagten die gleichen Tiere mit den gleichen Lanzen und Speeren, sammelten die gleichen Pflanzen, kleideten sich mit Fellen und lebten in Höhlen, Unterständen und einfachen Zelten. Aber sie entwickelten sich weiter. Sie fertigten Höhlenmalereien und später erste Plastiken, erfanden die Speerschleuder, später Pfeil und Bogen, zähmten Tiere, begannen mit Ackerbau und Viehzucht und wurden sesshaft. Nur 20.000 Jahre nach dem bisher festgestellten Verschwinden der Neandertaler bauten sie Jericho und andere Städte. Das ist der Stoff, aus dem Fantasien und Spekulationen über den Grund des Aussterbens der Neandertaler gemacht ist. Nachdem die Neandertaler robust genug waren, zwei Eiszeiten und eine warme Zwischeneiszeit zu durchleben, sowohl in Schnee und Eis als auch in Wäldern und Savannen mehr als 100.000 Jahre erfolgreich zu bestehen, scheint eine mangelhafte -5- (C) Dietmar Konopatzki 2001 Anpassung an ein sich veränderndes Klima nicht der Grund für ihr Verschwinden zu sein. Deshalb blühen bis heute Theorien von der gewaltsamen, kriegerischen Verdrängung der Neandertaler durch die Jetztmenschen. Dafür gibt es jedoch keine Belege. Es gab für die Jetztmenschen auch keine Notwendigkeit, die Neandertaler auszurotten, da die Bevölkerung so dünn war, dass sich die beiden unterschiedlichen Menschengruppen ihre Jagd- und Sammelreviere nicht gegenseitig streitig zu machen brauchten. Es gibt im Gegenteil mehrere Belege sowohl für ein Jahrtausende währendes zeitlich paralleles Leben von Neandertalern und Cro-Magnon-Menschen. Im Nahen Osten tauchten die ersten Jetztmenschen etwa vor 60.000 Jahren auf, die Neandertaler begannen dort aber erst vor ca. 40.000 zu verschwinden. Auch die These, die modernen Menschen hätten, von Südosten kommend, die Neandertaler immer weiter nach Westen bis nach Gibraltar verdrängt, wo die bis dahin jüngsten Neandertaler-Knochen gefunden wurden, ist inzwischen nicht mehr haltbar, da bei Vindija in Kroatien, also gewissermaßen im Neandertaler-Kernland, 29.000 bis 28.000 Jahre alte Neandertaler-Knochen gefunden wurden. Aber vielleicht gab es demografische Ursachen für das Aussterben. Allein eine nur unwesentlich schlechtere Vermehrungsrate gegenüber den Cro-Magnon-Menschen kann innerhalb weniger Jahrtausende zum Aussterben geführt haben. Schließlich gibt es noch den Hinweis, dass die Hirnwölbungen des Neandertalers geringer waren als die des modernen Menschen und der robuste Schädel eine weiter gehende Auffaltung und damit Entwicklung des Gehirns nicht zuließ. Die modernen Menschen hätten demnach eine größere Intelligenz und damit eine bessere Anpassung an die Umwelt erreichen können als ihre Zeitgenossen. Das wäre dann doch eine evolutionäre Ursache für das Aussterben der Neandertaler. An mehreren Fundstellen gibt es Belege für Mischformen von modernen Menschen und Neandertalern, was entweder für wiederholte Paarungen als auch für eine Weiterentwicklung von Neandertalern sprechen könnte. Auf der Hamburger Elbinsel Hahnöfersand wurde 1973 die bisher am weitesten nördlich gelegene Schädelkalotte eines Neandertalers gefunden, die etwa 27.000 Jahre alt ist, allerdings auch Anzeichen des Schädels moderner Menschen aufweist. Ähnliche Funde gibt es auch im Nahen Osten. Im Jahre 1998 wurden ca. 25.000 Jahre alte Knochen eines Cro-Magnon-Kindes gefunden, das aber kurze Unterschenkel und ein fliehendes Kinn hatte - typische Merkmale von Neandertalern. Der Hamburger Neandertaler-Forscher Prof. Bräuer ist überzeugt, dass es zu Vermischungen der beiden Menschentypen kam. Wir wissen aber nicht, ob "Mischlinge" ihrerseits in der Lage waren, Nachkommen zu zeugen. Die ersten gentechnologischen Untersuchen seit 1997 deuten jedenfalls darauf hin, dass die heutigen Menschen nicht von den Neandertalern abstammen und noch nicht einmal Bestände aus dem Genpool von Neandertalern in sich tragen. Britische Wissenschaftler meinen nun entdeckt zu haben, dass das für roten Haarwuchs verantwortliche "Ginger-Gen" mindestens 50.000 Jahre alt sei und deshalb nur von Neandertalern stammen könne. Mehr als fragwürdig sind aber ihre Schlussfolgerungen, wonach deshalb die heutigen Rothaarigen Nachfolger der Neandertaler und deshalb auch besonders aggressiv seien, wie etwa die Schotten. Ich sehe in derlei Aussage nichts anderes als den Versuch einer biologischen Begründung für nationalistische Vorurteile, letztlich also blanken Rassismus. Derlei Meinungen sollten kein Gehör finden. Die Spekulation über das Verschwinden der Neandertaler offenbart auch zwei miteinander konkurrierende Theorien über die Abstammung des Menschen. Es ist mittlerweile zwar unbestritten, dass die ältesten Hominiden, also die aufrecht gehenden Australopithecinen, vor über 4 Millionen Jahren in Ostafrika entstanden sind und dass die ältesten Exemplare der Gattung Homo, die über ein deutlich größeres Gehirn verfügten, Steine systematisch bearbeiteten und später das Feuer beherrschten, ebenfalls aus Afrika stammten, ehe sie sich nach Asien und Europa ausbreiteten. Aber ob auch die Jetztmenschen sich in einer eigenen Entwicklungslinie - parallel zu den frühen Neandertalern - in Afrika entwickelten und von dort aus nach Asien und Europa und Australien wanderten und die Neandertaler verdrängten, oder -6- (C) Dietmar Konopatzki 2001 ob sich moderne Menschen in mehreren Regionen der Erde entwickelten und die Neandertaler ein Zwischenglied zwischen archaischen Menschentypen und den Jetztmenschen darstellen, ist bis heute nicht endgültig geklärt.Erst weitere Funde und neue Forschungsmethoden dürften in der Zukunft hierüber Auskunft geben. In diesem Zusammenhang sollte der schon eingangs erwähnte Fund im Jahre 1997 nicht unerwähnt bleiben. Ein Forscherteam unter der Leitung von Dr. Jürgen Thissen und Dr. Ralf W. Schmitz vollbrachte in mühsamer Kleinarbeit eine detektivische Glanzleistung und eine archäologische Sensation. In dem seit 141 Jahren verschütteten und mehrfach veränderten Neandertal fanden sie einen Gesichtsknochen, der exakt zu der berühmten Schädelkalotte von 1856 passt, sowie einen Schenkelknochen desselben Individuums! Außerdem entdeckten sie Knochenteile eines ca. 40.000 Jahre alten Menschen, von dem noch unklar ist, ob es sich um einen Neandertaler, einen "Mischling" oder einen Cro-Magnon-Menschen handelt. Hut ab vor solchen Forschern! Ich persönlich neige der These zu, dass auch die Jetztmenschen aus Afrika eingewandert sind. Sie haben Jahrtausende gemeinsam mit Neandertalern gelebt, sich teilweise mit ihnen vermischt, sind aber nicht die direkten Nachfahren der Neandertaler. Die Vorfahren aller heutigen Menschen sind Afrikaner. Die Neandertalerinnen und Neandertaler betrachte ich dennoch nicht als fremde Wesen. Sie sind unsere Cousinen und Cousins. Weitere Infos und Literatur Wer sich näher für Neandertaler interessiert, ist natürlich besonders gut beraten, sich ins Neanderthal-Museum zu begeben. Es ist nicht nur von den Ausstellungsgegenständen und den dort stattfindenden wissenschaftlichen Symposien her interessant, sondern auch von seiner Architektur, die mehrere Auszeichnungen erhielt. Der Bau ist spiralförmig konstruiert und symbolisiert so die Evolution. Dabei gibt er einen Blick auf die Fundstätte der berühmten Kalotte frei. Wenn man keine Gelegenheit hat, das Museum vor Ort zu besuchen, so kann man auch einen virtuellen Rundgang im Internet machen. Unter www.neanderthal.de erhält man interessante Informationen. Im Museumsladen kann man auch online verschiedene Accessoires bestellen, wobei ich besonders Eltern von Kindern im Alter ab etwa 6 Jahren das Memoryähnliche Spiel "Im Neanderthal" für 19,80 DM empfehlen möchte, das von zwei und mehr Personen gespielt werden kann und mit dem man spielerisch nebenbei auch noch viel über das Leben der Neandertaler erfährt. Meine Informationen habe ich im Laufe der Jahre aus verschiedenen Quellen bezogen. An dieser Stelle möchte ich folgende Bücher hervorheben: Richard Leakey: Die ersten Spuren. Über den Ursprung des Menschen, Goldmann Verlag, München 1999 (ISBN 3-442-15031-0) Ein sehr guter Überblick über die Herausbildung des Menschen von den Anfängen bis zum Cro-Magnon-Menschen, geschrieben von einem Angehörigen der inzwischen berühmten Forscherfamilie aus Kenia, die 1978 das weltbekannte AustralopithecinenMädchen "Lucy" entdeckte Elmar-Björn Krause (Herausg.): Die Neandertaler - Feuer im Eis. 250.000 Jahre europäische Geschichte, Edition Archaea, Gelsenkirchen/Schwelm 1999 (ISBN 3-929439-76X) Das Buch zu einem Fernsehfilm des ZDF aus dem Jahre 2000, geschrieben von verschiedenen Autoren, mit vielen Fotos und Skizzen, manchmal sehr trockenwissenschaftlich -7- (C) Dietmar Konopatzki 2001 Neandertaler. Die Suche nach dem zweiten Menschen, in: GEO Nr.4/April 2001, Verlag Gruner + Jahr, Hamburg 2001 Ein Artikel mit sehr anschaulichen Fotos und Bildern, in dem die neuesten Forschungsergebnisse berücksichtigt werden Göran Burenhult (Herausg.): Die ersten Menschen. Die Ursprünge des Menschen bis 10.000 vor Christus, Weltbild Verlag, Augsburg 2000 (ISBN 3-8289-0741-5) Ein informativer Bildband mit vielen Fotos und Bildern, geschrieben von verschiedenen Autoren; der Abschnitt über die Neandertaler negiert aber sehr deutlich die wissenschaftlichen Meinungen, die die Nähe der Neandertaler zu den Jetztmenschen aufzeigen. In diesen Büchern findet man dann natürlich noch weiter gehende und vor allem wissenschaftliche Literaturangaben. Internet-Links Websites mit einem Überblick zum Thema "Evolution" und "Evolution des Menschen" findet ihr auf meiner einleitenden Seite "Ur- und Frühgeschichte". Zum Thema "Neandertaler" muss ich nochmals die Site des Neanderthal Museums in Mettmann bei Düsseldorf hervorheben: www.neanderthal.de . Ansonsten finde ich folgende Seiten interessant, wobei ich natürlich selbstverständlich für deren Inhalt nicht verantwortlich bin: http://home.t-online.de/home/feldhof/bfrfeld.htm Informationen über die Ausgrabungen und Funde im Neandertal, insbesondere ein spannender Bericht über die Entdeckung weiterer Knochen des original Neandertalers im Jahre 1997. Störend ist nur der "Uga-uga!"-Sound, der vielleicht den Australopithecinen oder Tarzan gut zu Gesicht stehen würde, aber sicherlich nicht den Neandertalern. http://www.unet.univie.ac.at/~a8612692/Arch%e4oNews/texte/970903nean.htm Kurzinfo über die in Slowenien gefundene Flöte aus Bärenknochen und die Möglichkeit, damit nach der diatonischen Tonleiter Musik zu erzeugen. http://www.wort-und-wissen.de/sij/sij51-9m.html Gute Kurzinfo zur Bärenknochenflöte. http://www.webster.sk.ca/greenwich/fl-compl.htm Ausführliche musikwissenschaftliche Analyse der Bärenknochenflöte durch einen Musikwissenschaftler. Auf Englisch. -8- (C) Dietmar Konopatzki 2001