Moralisch Handeln

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Karl Garnitschnig (2003)
Moralisch Handeln
1
2
Moralisch Handeln ............................................................................................................. 1
Merkmale des moralischen Urteils ..................................................................................... 2
2.1
Gegenseitige Achtung und Anerkennung .................................................................. 3
2.1.1
Perspektivenübernahme ..................................................................................... 5
2.2
Autonomie .................................................................................................................. 5
2.3
Das Abwägen der Folgen – Person-, Situations- und Kontextmerkmale ................... 5
2.4
Betroffenheit............................................................................................................... 6
2.4.1
Weltdeutungen ................................................................................................... 6
2.5
Universalisierung ....................................................................................................... 7
2.6
Selbstverpflichtung..................................................................................................... 8
2.7
Bewusstheit ................................................................................................................ 9
3
Der sich begründende Zusammenhang der Merkmale untereinander ....Error! Bookmark
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4
Pluralismus oder eine Ethik - das Prädikat „gut“ ............................................................... 9
4.1
Gut als undefiniertes Prädikat .................................................................................. 10
4.2
Ableitung oder die Anwendung der intuitiven Einsicht von „gut“ auf Handlungen
bzw. auf Gegebenheiten ....................................................................................................... 11
4.3
Andere Formen der Moralbegründung ..................................................................... 11
4.3.1
Hedonismus ...................................................................................................... 11
4.3.2
Utilitarismus ..................................................................................................... 11
4.3.3
Emotivismus ..................................................................................................... 11
4.4
Verantwortungsethik von Hans Jonas ...................................................................... 12
4.5
Verantwortung bei Heinz von Förster ...................... Error! Bookmark not defined.
5
Entwicklungsdynamik 1: Das Prinzip gegenseitiger Anerkennung ist Prinzip und Ziel der
Entwicklung des moralischen Urteils ....................................................................................... 12
5.1
Merkmale einer Entwicklungstheorie ...................................................................... 14
5.1.1
Genese und Struktur ......................................................................................... 15
5.1.2
Das Merkmal des streng hierarchischen Aufbaus der Operationen ................. 16
5.2
Regeln und Metaregeln ............................................................................................ 16
5.3
Kompetenz und Performanz oder Hindernisse der Umsetzung ............................... 16
6
Entwicklungsdynamik 2: Entwicklung des moralischen Urteils als Entwicklung der
Prädikate des moralischen Urteils für sich und in ihrem Kontext............................................ 17
6.1
Gegenseitige Achtung und Anerkennung – Verstehen und Perspektivenübernahme ..
.................................................................................................................................. 17
6.1.1
Analyse gegenseitiger Anerkennung ................................................................ 19
6.1.2
Die Vorstellung von gut ................................................................................... 21
6.2
Autonomie ................................................................................................................ 21
6.3
Das Abwägen der Folgen von Entscheidungen........................................................ 23
6.4
Betroffenheit............................................................................................................. 23
6.5
Universalisierung ..................................................................................................... 23
7
Gutes gesellschaftliches Zusammenleben als Kriterium für Rationalität ........................ 24
7.1
Postmoderne und Ethik ............................................................................................ 24
8
Literatur ............................................................................................................................ 25
-1-
Bevor es sinnvoll ist, die Entwicklung des moralischen Urteils beobachtend oder fragend zu
verfolgen, ist es nötig, sich über das Besondere des moralischen Urteils im Unterschied zu
anderen Urteilen zu verständigen. Soweit gehen wir noch konform mit Piaget und Kohlberg.
Letzterer hat explizit für eine Theorie moralischer Entwicklung gefordert, „that any
conception of what moral judgment ought to be must rest on an adequate conception of what
it is“ (1981, S. 178, zit. nach Aufenanger 1992, S. 127 f.). Aber schon durch seine Festlegung
von Moral auf eine Theorie der Gerechtigkeit in Anschluss an John Rawls wählt er einen
Ansatz, der gegenüber Moral eine eigene Dimension darstellt. Darin ist aber sehr wohl das
Moment der Universalisierung als auch das der Reversibilität von Urteilen hervor zu heben.
Erst in neueren Arbeiten bezieht er auch das Konzept der Verantwortung ein
(Kohlberg/Levine,Hewer 1984). Wie mehrdeutig ein Begriff verwendet werden kann und was
von einer nur oberflächlichen Rezeption der Philosophie der Moral zeugt, demonstrieren die
zusammenfassenden Bemerkungen Piagets von „Das moralische Urteil beim Kinde“:
„Die Autoritätsmoral, welche die Moral der Pflicht und des Gehorsams ist, führt auf dem
Gebiet der Gerechtigkeit zur Verwechslung dessen, was gerecht ist, mit dem Inhalt des
bestehenden Gesetzes, und zur Anerkennung der Sühne. Die Moral der gegenseitigen
Achtung, welche die des Guten (im Gegensatz zur Pflicht)und der Autonomie ist, führt auf
dem Gebiet der Gerechtigkeit zur Entwicklung der Gleichheit, welcher der konstitutive
Begriff der austeilenden Gerechtigkeit und der Gegenseitigkeit ist.“ (1983, S. 383) Nur der
Begriff der gegenseitigen Achtung charakterisiert Moral im eigentlichen Sinn. Klar zeigt sich
im Text jedoch, dass Gerechtigkeit eine eigene Dimension im Verhältnis zur Moral darstellt.
In erster Annäherung können wir sagen, dass moralische Aussagen solche über Handlungen
sind, denen wir das Prädikat „gut“ geben. Was also in einem moralischen Sinn gut ist, bezieht
sich auf unsere Handlungen. Handlungen sind immer mit Entscheidungen verbunden, denn
das Handeln fordert von den Individuen Abwägen von alternativen Handlungsmöglichkeiten,
die mit Wertungen verbunden sind. Wir handeln um eines Guten willen.
Natürlich gibt es auch quasi standardisierte Entscheidungen, die einmal getroffen wurden und
sei es implizit, also ohne die klare Vorstellung vom gefällten Entscheidungsprozeß, die in
eine aktuale Entscheidung einfließen. Dies soll aber im Moment nicht das Problem sein.
Weiters setzen wir voraus, dass moralische Urteile direkt oder indirekt Menschen betreffen.
Insofern er jedoch Teil des Universums ist (vgl. Cohn 1980), hat sein Handeln Folgen auf
allen Ebenen. Daher gibt es auch eine Umweltethik, die von der Ehrfurcht und Anerkennung
gegenüber allem Lebendigen ausgeht. Die Pflanze ist nicht nur des Menschen willen
pflegenswert, sondern auch um ihrer selbst willen. So gesehen ist Mittel zum Zweck nur, was
wir für unser Leben brauchen, sofern Leben der Zweck schlechthin ist, aber nicht bloß im
Sinne des Vegetierens, sondern im Sinne der höchstmöglichen Vervollkommnung seiner
selbst. In diesem erweiterten Sinn kann alles unter einem bestimmten Aspekt moralisch
relevant sein. Denn wie eine Person an eine Aufgabe herangeht, hat Bedeutung für seine
eigene Vervollkommnung.
1 Merkmale des moralischen Urteils
Ausgangspunkt allen Definierens ist eine unmittelbare Einsicht in das, was es zu definieren
gilt. Denn wenn man zunächst noch keinen Begriff von etwas hat, und es ferner gilt, dass wir
nur auf unser zu einem gegebenen Zeitpunkt während unserer Lebensgeschichte gebildetes
Bewusstsein zurück greifen können, bleibt uns nur der Rückgriff auf das, wie wir einen
Begriff zum gegebenen Zeitpunkt unmittelbar verstehen. In der Entfaltung der Definition,
wenn wir versuchen, die notwendigen und hinreichenden Merkmale des Begriffs zu finden,
klären wir diese unmittelbare Einsicht auf. Sie kann sich in diesem Prozess auch verändern,
weil eben diese Tätigkeit des Definierens Teil unserer Lebensgeschichte wird, im besonderen
2
dann, wenn wir diesen Prozess mit anderen durchlaufen. Trotzdem bleibt dieser unmittelbare
Bezug auf sich selbst, dieses auf sich selbst Merken wesentlich für den Prozess des
Definierens, denn er soll unsere Realität treffen.
Ausgehend von unserer Einsicht in das, was unmittelbar als moralisch angesehen werden
kann, werden nach und nach jene Merkmale eingeführt, die Moral definieren. Am Ende ist zu
fragen, ob denn nun mit diesen Merkmalen, Moral auch schon hinreichend definiert sei, also
eindeutig von anderen Formen menschlicher Interaktion abgegrenzt werden könne. Ein
moralisches Urteil wird im weiteren nur als solches bezeichnet, in dem alle notwendigen und
auch hinreichenden Merkmale enthalten sind, um ein Urteil als moralisches Urteil eindeutig
bestimmen zu können. Moraldiskussionen müssen sich auf jene Merkmale beziehen, über die
Moral definiert ist. Daher ist es nötig, die Merkmale moralischen Handelns zu entwickeln.
1.1 Gegenseitige Achtung und Anerkennung
Es dürfte wohl allgemein angenommen werden, dass nur dann von einem moralischen Urteil
gesprochen werden kann, wenn die Folgen von moralischen Entscheidungen für alle anderen
bedacht werden und wenn diese Folgen für die anderen auf ihr Wohl hin bedacht werden. Es
mag zwar Situationen geben, in denen drastische Maßnahmen nötig sind, wie z. B. eine
Operation, aber dies wäre geradezu ein Beispiel für die Begründung der gemachten Annahme,
denn man wird eine Operation eben nur dann durchführen, wenn es keine andere Wahl gibt,
das Wohl einer Person zu erreichen.
Es ist im besonderen, wie schon Kant in seiner zweiten Formulierung des Kategorischen
Imperativs hervorhebt, der andere – und wir dürfen hinzufügen – das andere niemals bloß als
Mittel, sondern immer als Zweck zu sehen. Dies erfordert dem Menschen gegenüber die
Einstellung von Anerkennung und Achtung. Alles als Zweck zu sehen, impliziert die
Forderung, dass alles in seiner Einheit und gegenseitigen Abhängigkeit bzw. Vernetztheit
gesehen werden muss, weil man sonst Gefahr läuft, auch den Menschen als Selbstzweck zu
missachten.
Der Mensch als Mensch wird wohl nur dann als Selbstzweck gesehen und in unsere
Handlungsentscheidungen einbezogen, wenn er als solcher anerkannt und geachtet wird. Die
Achtung und Anerkennung des jeweils anderen ist die Bedingung dafür, dass der andere voll
zu sich selbst kommen und sich selbst zur Darstellung bringen kann, was die Grundlage allen
Glücklichseins ist. Dies ist auch der Grund, warum Kant Moral in der Beförderung der
Glückseligkeit des anderen und der eigenen Vollkommenheit sieht (Sittenlehre). Denn wie
sollte das Motiv der Beförderung der Glückseligkeit des anderen erfüllt werden können, wenn
sich nicht jeder in Selbstreflexion und in der Prüfung seines Gewissens übt, wieweit er dem
nahe ist, was er als für sich gut erkannt hat und wie weit er das Glück des anderen tatsächlich
will. Wenn dies aber geschieht, dass jeder die Glückseligkeit des anderen will und auch
befördern kann, dann sind alle glückselig. Der moralische Mensch hat daher auch den Willen,
die Perspektiven des Anderen zu übernehmen, ihn verstehen zu wollen.
Wenn Moralität über gegenseitige Anerkennung definiert wird, dann kann das Ziel nur sein,
Prinzipien für ein moralisches Handeln als Basis gemeinsamen Wollens, ein gutes
Zusammenleben zu gestalten, aufzustellen und nicht eine Moral für alle zukonstruieren. Dies
wird angesichts eines möglichen globalen Desasters – Hans Jonas (1984) baut darauf sein
Prinzip Verantwortung als Prinzip der Ethik auf – immer dringlicher. Unterschiede kann es
nur in situationsbedingten Fragen geben. Allerdings setzt dies voraus, dass tatsächlich
gemeinsam unter Anerkennung der anderen an der Gestaltung des Zusammenlebens
3
gearbeitet wird. Werden wir uns der Kriterien für Anerkennung bewusst, wird klar, warum
sich letztendlich die Vorstellungen von einem guten Leben bei einer Vielfalt der Situationen
gleichen werden.
Wird gegenseitige Anerkennung nicht real – Karl-Otto Apel spricht in diesem
Zusammenhang von einer „realen Kommunikationsgemeinschaft“, dann bleibt fraglich, wie
weit die Universalisierung moralischer Urteile gegeben ist. Die Vorstellungen über ein gutes
Zusammenleben sind also in Kommunikation mit den Betroffenen zu teilen, auszutauschen,
weil sich Individuen grundsätzlich über ihre Verallgemeinerungen , speziell wenn es andere
betrifft, täuschen können. Daher gibt es eine Notwendigkeit, sich über die Vorstellungen des
guten Zusammenlebens mit realen Anderen zu verständigen. Trotz dieses Verfahrens ist es
möglich, dass die Verständigung über die Vorstellungen des guten Zusammenlebens mit
anderen scheitert. Erst die Annahme einer „idealen Kommunikationsgemeinschaft“ (Apel
1983) löst dieses Problem, allerdings bloß abstrakt ideal. Das Problem der
Universalisierbarkeit (siehe 1.5) bleibt also trotz des Verfahrens iterativer Verständigung
bestehen. Es gibt aber auch kein besseres oder schlüssigeres Verfahren als das eben
Beschriebene, wenn dabei die Voraussetzung eingelöst wird, dass die Personen die
Universalisierung auf potentiell alle Menschen (gegenwärtig und zukünftig) ernst nehmen und
im Verständigungsprozess wahrhaftig sind.
Ihren Inhalt bekommt Moral durch die Konstruktion eines guten Zusammenlebens, ihre
Gewissheit und damit ihre Form durch gegenseitige Anerkennung. Das moralische Subjekt
weiß zwar, wessen es bedarf, aber das erfüllt sich erst im Blick auf den Anderen. Im Blick
jedes Subjekts auf jedes andere Subjekt, weiß es, was es wollen kann. Dessen, was der
Andere bedarf, kann zwar im Rückschluss auf sich selbst vermutet werden, aber man kann es
nie voll und ganz wissen. Glaubt man es zu wissen, werden aus den Vermutungen unter
Umständen Zumutungen an der Anderen. Ob Vermutungen zutreffen, kann der Andere
mitteilen. Eine volle Übereinstimmung sollte nie angenommen werden, denn das kann nur
allzu leicht zu einer Machtäußerung werden. Aus der Unterschiedlichkeit der Subjekte wird
deutlich, dass sie mit den Anderen in Kommunikation treten müssen, will man ihr Sosein als
Ergänzung und Bereicherung für sich selbst, jeder für jeden erfahren.
Faktisch kann man aber nur mit einer relativ kleinen Anzahl von Anderen in Beziehung
treten. Nennen wir konkreten Gruppen Vergesellschaftungen. Damit ist jene Gruppe von
Subjekten gemeint, die untereinander und für jede Mitglied bewusst faktisch mit einander
kommunizieren können.
Gegenseitige Anerkennung schließt den Willen zur Autonomie für jeden ein. Wird in
wirtschaftlichen Zusammenhängen, z. B. in der Werbung auf die Abhängigkeit des einzelnen
gesetzt, widerspricht dies dem Prinzip von Anerkennung. Entsprechend muss Management
darauf abgestellt sein, jeden einzelnen zu professionalisieren, jeden einzelnen dazu zu führen,
die Strukturen des Betriebs in allen Bereichen, auch der Budgetierung zu durchschauen. V. a.
muss auch im Sinne der Zielerreichung klar sein, welchen Beitrag jeder einzelne für das
Ganze leistet.
Unsere halbaufgeklärte Zeit fordert Gesamtaufklärung, damit Wahrheit, auch Kostenwahrheit
auf allen Gebieten erreicht werden kann. Dieser Prozess trägt selbst wieder zur
Professionalisierung bei. In solchen Organisationen wird es vermehrt Kooperationen
unterschiedlichster Art und Kommunikation geben. Es muss alles getan werden, um die
Selbst- und Fremdaufklärung von Individuen zu erweitern, ihre Handlungsmotivation und
Handlungskompetenz zu erhöhen.
4
1.1.1 Perspektivenübernahme
Marvin Berkowitz und John Gibbs (1983) konnten in einer Studien nachweisen, dass bei
„transaktiven Diskussionen“, die darin bestehen, dass die Überlegungen der Anderen in die
eigenen Überlegungen einbezogen werden, ein Stufentransformation in Richtung eines
höheren moralischen Urteils erfolgt (vgl. Aufenanger 1992, S. 161)..
1.2 Autonomie
Anerkennung und Achtung des anderen ist aber nicht möglich, wenn dies nicht jedes
Individuum von sich aus umsetzt. Niemand kann für einen anderen Anerkennung und
Achtung leisten, jeder muss es für sich selbst tun. Daher ist im Sinne eines moralischen
Urteils jeder Mensch als Individuum aufgefordert, seine Entscheidungen selbst zu treffen.
Eine übernommene Entscheidung wäre moralisch nicht ausreichend. Die Person folgt dann
äußeren Normen. Ein moralisch handelnder Mensch will seine Entscheidung selbst treffen,
will selbst die Verantwortung für seine Entscheidung übernehmen. Aber genau diese
Übernahme von Verantwortung macht das Besondere des Menschseins aus. Deshalb darf
auch ein Verbrecher, auch wenn sein Verhalten krankhaft ist, nicht aus der Verantwortung
entlassen werden. Es kann mildernde Umstände geben, aber trotzdem bleibt die
Verantwortung. Würde man ihn aus der Verantwortung entlassen, würde man ihm zugleich
absprechen, autonom handeln zu können und damit zugleich ein wesentliches Prädikat seines
Menschseins. Verantwortung schließt das Abwägen der Folgen des Handelns ein als auch
Selbstverpflichtung. Darin erweist sich die Freiheit des Subjekts, die eigene Willkür bewusst
nach selbst entworfenen Regeln einzuschränken.
Man spricht allenthalben von begrenzter Freiheit. Aber Freiheit ist entweder absolut oder sie
ist gar nicht. Die Aussage, man könne doch aus der Erfahrung nicht behaupten, der Mensch
sei absolut frei, hat viel Plausibilität, aber nur auf den ersten, oberflächlichen Blick. Der
Aussage kann tatsächlich nichts entgegen gehalten werden, wenn man nicht auf den Sinn
solcher Rede reflektiert. Es fragt sich nämlich, ob ein Handelnder darauf angewiesen ist, dass
ihm jemand sagt, nachdem er es empirisch festgestellt hat, wie sein Handeln begrenzt ist,
welche Handlungsmotive er vernünftig nur wählen oder für welche Handlungsmotive er sich
vernünftig nur entscheiden könne. Liegen der Verantwortung empirische Gründe voraus oder
ist nicht Verantwortung vor jeder empirischen Beobachtung vorauszusetzen?
Freiheit als reflektierte Selbstbestimmung verstanden steht in der Dialektik von Bestimmtheit
und Bestimmung, die sich nach dem Maß ihrer selbst, nämlich wie gut es einer Person in
Anerkennung der Freiheit anderer gelingt, mit diesen ihr Leben zu entwerfen und auch nach
diesem Entwurf zu leben und zu handeln. Danach hat Freiheit/Autonomie mindestens zwei
Aspekte. Man handelt nur dann autonom, wenn man (1) den Entscheidungsprozess nach
eigenen Prinzipien und Regeln vollzieht und (2) mit diesen Prinzipien und Regeln selbst
übereinstimmt und nicht bloß auf die Anweisung und Zumutung anderer folgt. Denn nur dann
ist auch gewährleistet, dass die Prinzipien und Regeln ihnen gemäß vollzogen werden.
Jedenfalls impliziert moralisches Handeln, wenn es autonom sein und real werden soll, dass
Menschen moralisch handeln wollen, aber nicht wie bei Kant aus Achtung vor dem Gesetz,
sondern aus Achtung und Anerkennung vor den Menschen, denn die Glückseligkeit des
Menschen ist Ziel und Zweck moralischen Handelns. Der Sinn eines Gesetzes kann nicht in
sich selbst beruhen, sondern in dem, wozu es dient.
5
1.3 Das Abwägen der Folgen – Person-, Situations- und Kontextmerkmale
Jedes Individuum kann je nach seiner intellektuellen Kapazität unterschiedlich viele Folgen
als Merkmale von Personen, Situationen und dem Kontext zwischen beiden einbeziehen. In
diesem Zusammenhang ist für ein Konzept der Entwicklung des moralischen Urteils nötig,
die intellektuelle Entwicklung zu verfolgen. Der moralische Mensch wird danach trachten, in
seine Entscheidungen alles einzubeziehen, was ihm nur möglich ist. Im weiteren dürfte wohl
klar sein, dass jemand, der sich von Situationen tatsächlich sensibel betreffen lässt, mehr
entdecken wird, was noch in der Entscheidung berücksichtigt werden sollte. Somit gehört
Sensibilisierung für Situationen zum moralischen Leben. Dazu gehört aber genauso eine
affektiv-volitive Komponente, denn eine Person kann sich verweigern, bestimmte Person-,
Situations- und Kontextmerkmale einzubeziehen. Dies führt zu einem weiteren Merkmal, dem
der Betroffenheit.
1.4 Betroffenheit
Jedes Individuum muss in sich spüren und damit bereit sein, überhaupt alle möglichen Folgen
zu beachten. Eine Person kann nämlich durchaus stärker auf ihren Vorteil bedacht sein und
daher die in die Entscheidung einzubeziehenden Situations-, Person- und Kontextmerkmale
zum eigenen Vorteil auswählen. Es ist also auch eine Frage des Wollens und der emotionalen
Betroffenheit und nicht bloß der intellektuellen Kapazität, welche und wie viele Merkmale
eine Person in die Entscheidung einbezieht (vgl. 1.5). Aus diesem Grund ist es angemessen,
das Merkmal einzuführen. Zur Betroffenheit von der Situation gehört auch sich betreffen zu
lassen. Dazu gehört Bewusstheit seiner selbst und die Bewusstheit über und in Situationen.
Menschen entscheiden sich faktisch nach unterschiedlichen Motiven. Die Motive selbst
erhalten wir aus dem Aufgegebensein, Angesprochensein, die wir in Situationen erfahren.
Aber ein und dieselbe Situation kann Menschen ganz anders ansprechen.
1.4.1 Weltdeutungen
Oser/Althof (1992, S. 31) schreiben, dass „je nach Situation und Perspektive der
Beurteilenden ... aus ein und demselben Wert unterschiedliche Handlungsentscheidungen
abgeleitet werden“, so als würden der Inhalt der Entscheidung und die Begründung für die
Entscheidung auseinander fallen. Um dieser Unklarheit zu entgehen, ist einerseits der Begriff
„Situation“ und andererseits der Begriff „Perspektive“ zu klären. Nach Franz Fischer (19 ) ist
„Situation“ ein Gewissensbegriff (Garnitschnig 1994). Die Situation gibt für sich das Motiv
des Handelns, dies natürlich nur unter der Bedingung, dass ich mich von der Situation unter
der Perspektive moralischen Handelns betreffen lasse.
Da kommt offensichtlich noch ein anderes Moment zum Tragen, das nicht aus der Situation
abgeleitet werden kann, sondern aus den Sinnbestimmungen einer Person, der Art und Weise
ihres Zugangs zur Welt bzw. seines Verhältnisses zu ihr. Die Welt umfasst (1) die natürliche
Umwelt, (2) die soziale Mitwelt, (3) den Bezug zu sich selbst in freier Selbstbestimmung und
(4) zur übernatürlichen Welt (Fichte, WL von 1804, Buber 1992). Zu all diesen Bereichen
kann horizontal und vertikal unterschiedlich Stellung bezogen werden, sie können
unterschiedlich gedeutet werden (Garnitschnig 1991). So kann horizontal zu allen Bereichen
unter dem Aspekt moralischen Handelns Bezug genommen werden oder unter dem Aspekt
sozialer Gegebenheiten. Dann verliert Moral seine eigentliche Bedeutung und wird zu einer
heteronomen oder konventionellen Moral. So kann ein und derselbe Name für einen Wert (z.
B. Gerechtigkeit) je nach der Perspektive, aus der heraus er gesehen wird, eine andere
Bedeutung annehmen. Wenn im weiteren der Begriff „Welt“ verwendet wird, meint er immer
all diese Verhältnisse. Sofern der Mensch in Situationen zu Welt Stellung bezieht, wertet er.
6
Ob er will oder nicht, ob es ihm bewusst ist oder nicht, er bezieht Stellung. Auch wenn
manche Handlungen unbewusst ablaufen, der Mensch sich also verhält, so als passierte ihm
etwas, gehört es doch zum Menschsein, dass er für das verantwortlich ist, was er tut. Sprechen
wir jemand die Verantwortung für sein Handeln ab, sprechen wir ihm auch sein Menschsein
ab.
Wie nun der Mensch Stellung bezieht, lässt sich über die Weisen seines
Bestimmungsverhältnisses zur Welt bestimmen, das über Situationen variieren kann. Erst in
Handlungen in der Weise freier Selbstbestimmung (3) ist der Mensch definitionsgemäß
moralisch.
1.5 Universalisierung
Damit ein Urteil als moralisch bezeichnet werden kann, will die handelnde Person die
Konsequenzen der Entscheidung bezogen auf prinzipiell alle Menschen, aber auch letztlich
das gesamte Universum beachten. Denn wie wir gegenüber der Natur handeln, hat auch
Folgen für den Menschen. Dieses Merkmal moralischen Urteilens hängt auch mit dem
Merkmal gegenseitiger Achtung und Anerkennung zusammen, denn diese setzen die
Bereitschaft voraus, Folgen des eigenen Handelns für andere Personen zu bedenken.
Auch wenn es letztlich unmöglich ist, alle Konsequenzen zu beachten, und damit Urteile
niemals universalisierbar sind, darin ist Baumann recht zu geben (1995, S. 25 f.), hält der
moralische Mensch doch den Anspruch aufrecht. Wenn er also handelnd erfährt, dass seine
Handlungen negative Konsequenzen zeitigen, ist er bereit, die Folgen dafür zu tragen. Man
würde wieder in die Rationalität der Moderne zurückfallen, wollte man eine strikte
Universalisierung fordern. Kritische Intellektualisten neigen dazu, die Postulate der Vernunft
absolut einzufordern, wenn sie schon aufgestellt werden, um den Gedanken selbst zu
destruieren.
Deutlich wird aber die Konsequenz erst von der Negation des Postulats oder des Motivs. Das
Motiv der Universalisierung nicht prinzipiell anzuerkennen würde dazu führen,
Gruppenethiken einzuführen. Was für die eine Gruppe gilt, mag für eine andere nicht gelten.
Dies ist eine cosa nostra-Ideologie, die gegenseitige Anerkennung und den Menschen als
Zweck für sich selbst zu sehen und zu achten ablehnt. Daraus folgt, dass moralisches Handeln
prozesshaft zu denken ist. Es ist niemals abgeschlossen in dem Sinne, dass wir immer noch
umfassender unsere komplexe Welt zu erfassen suchen und wir uns weiterhin sensibilisieren
und uns von allen Situationen betreffen lassen. Übrigens ist das auch ein Aspekt der besseren
Erfassung unserer Welt.
Moraltheoretiker, die glauben, Moral auf allgemeingültige Regeln aufbauen zu können, die
für alle gelten, sind offensichtlich zum Scheitern verurteilt. Aber deshalb kann niemand
wollen, dass es überhaupt keine Handlungsmotive gibt, die zwischenmenschliches Leben
steuern. Da ferner klar geworden ist, dass es nicht gelingen wird, alle Menschen für die
Annahme gemeinsamer Voraussetzungen zu begeistern, von denen ausgehend man
Vorstellungen für ein gutes Zusammenleben entwickeln kann, wird man nicht umhin können,
Menschen zu suchen, mit denen man zu einem gemeinsamen Verständnis kommen kann.
Macht man gegenseitige Anerkennung zu einer notwendigen Bedingung moralischen
Handelns, dann könnte die Bedingung allgemein annehmbar sein. Fakten und auch
Erklärungen und auch gesellschaftlichen Praktiken wie die Todesstrafe sprechen das
Gegenteil. Universalisierung ist bezogen (1) auf Personen und (2) auf Situationsmerkmale.
7
ad 1. Diese Bedeutung von Universalisierung setzt Perspektivenübernahme, prosoziales
Verhalten bzw. Handeln, Verstehen, Einfühlen voraus. Im Sinne des Definitionsmerkmals
„Selbstverantwortlichkeit für moralische Urteile“ gibt es und kann es kein bloß technisches
Verfahren geben, nach dem universalisierte Aussagen „errechnet“ werden könnten. Vielmehr
bedarf die Anwendung jedes Kriteriums wieder einer Entscheidung, die auf mehreren
Möglichkeiten fußt. Jede Entscheidung eröffnet wieder ein Feld von Entscheidungen, die
wieder Entscheidungen fordern. Am Ende steht ein Komplex von Entscheidungen, der vom
Individuum letztlich vom Sinn der Kriterien her entschieden werden muss.
ad 2. In diesem Zusammenhang stellt sich die Frage, ob Personen bereit sind, alle Faktoren zu
bedenken, die für eine moralische Entscheidung von Bedeutung sein könnten. Dass dies
wegen der Komplexität von Welt grundsätzlich nicht möglich ist, haben wir schon oben
erörtert. Der moralische Imperativ kann also nur lauten: Lasse nie willkürlich aus parteiischen
Überlegungen Situationsmerkmale unberücksichtigt. Es kommt wieder das Zusammenspiel
aller Merkmale, im besonderen das der Anerkennung zum Tragen.
In einer Zeit, in der das Überleben der Menschheit in Frage steht, bekommt das Moment der
Universalisierung eine verschärfte Bedeutung. Er ist überlebensnotwendig geworden. Hans
Jonas baut sein Prinzip „Verantwortung“ darauf auf. „Globalisierung“ als Stichwort weist in
die gleiche Richtung. Für die moralische Argumentation ist da aber Vorsicht geboten. Baut
nämlich Moral auf solchen Argumenten auf, dann verrät sie sich selbst. Denn fühlt sich eine
Person nicht von sich aus für den anderen verantwortlich ohne jeden weiteren Grund, wird
sowohl die Kategorie der Selbstverpflichtung als auch der Autonomie wie der Achtung vor
dem anderen nicht erfüllt. Denn der Andere sollte in seinen Bedürfnissen für sich, als reiner
Selbstzweck wahrgenommen werden. Am radikalsten hat diesen Gedanken Emmanuel
Lévinas (1987) ausgedrückt.
1.6 Selbstverpflichtung
Wegen des Merkmals der Autonomie moralischen Handelns kann es keine Verpflichtung von
außen geben. Moralische Regelsysteme werden in unserer heutigen pluralistischen
Gesellschaft nicht nur nicht beachtet, sondern würden auch gegen die Verantwortung des
einzelnen verstoßen. Sie könnten höchstens Anlass sein, sich mit ihnen auseinander zu setzen,
nicht um sie als moralische Regel zur Grundlage seines Handelns zu machen, sondern als
Grundlage für die eigene Prüfung. Außerdem ist jede Situation und jeder Mensch so einmalig,
dass eine Regel niemals ohne eigene Überlegung anwendbar ist.
Nach Kant gebührt allein dem Gesetz Achtung. Ihm seien wir unterworfen, „als uns von uns
selbst auferlegt“ (Grundlegung zur Metaphysik der Sitten S. 40, Anm.). Wenn aber Kant die
„Achtung für eine Person“ in die Achtung für das Gesetz legt, das sie in sich verkörpert, dann
ist das insofern problematisch, als er nicht beachtet, dass es auch Pflicht ist, will ich insgesamt
Sittlichkeit befördern, dass ich die Glückseligkeit des anderen befördere. Achtung gebührt
also dem Menschen, weil er in der Lage ist, das moralische Gesetz in sich zu verwirklichen,
ob er es nun tut oder nicht.
Im Sinne der Selbstverpflichtung will eine Person gute Entscheidungen treffen. Im Zentrum
moralischen Urteilens steht also das Wollen und nicht das Sollen, welches einen Rechtbegriff
darstellt. Hinter der Selbstverpflichtung steht auch der Anspruch an sich selbst, wachsen zu
wollen, um immer leichter moralisch leben zu können. Moralisches Handeln kann also nicht
erzwungen werden, sondern kann nur einer anderen Person unter Berücksichtigung der
Merkmale moralischen Handelns immer und allerorts angemutet werden. Erfolgt dies in
8
Achtung und Anerkennung und aus dem Willen, den anderen zu verstehen, ist dies die realste
Chance, dass der andere ein moralisches Leben von sich aus beginnt. Man könnte sich schon
zufrieden geben, wenn jemand sich selbst verpflichtet, moralisch zu handeln und es auch tut.
Der eigentliche moralische Mensch ist aber der, der moralisch handeln will, für den ein
anderes Handeln erst gar nicht in Frage kommt. Nach Friedrich Schiller wäre das die „schöne
Seele“. Sie will in sich Einheit und Harmonie.
1.7 Bewusstheit
Die Spanne des Bewusstseins reicht von unbewusst bis überbewusst. Mit Bewusstheit ist aber
das tatsächliche Gewahrsein seiner selbst in einer Entscheidungssituation gemeint. Wenn eine
Person in ähnlichen Situationen immer wieder bewusst handelt und entschiedet, wird die
Entscheidung ritualisiert, sie läuft mehr oder weniger automatisch ab. Dies nützt Individuen
und auch Gruppen zur Entlastung. In diesem Sinne kann man Entscheidungen wohl auch
unter moralischen Aspekten akzeptieren, aber es wäre moralisch nicht legitim, eine Handlung
mit dem Hinweis zu rechtfertigen: Das hätte man schon immer so gemacht. Eine einmal
bewusste Handlung kann immer wieder bewusst gemacht werden.
Aus diesen Erörterungen kann nun als Definition des moralischen Urteils bzw. als Moral
formuliert werden: Moralisch sind jene Handlungsentscheidungen, die autonom, unter
Abwägung ihrer Folgen für potentiell alle Menschen unter dem Prinzip gegenseitiger
Achtung und Anerkennung getroffen werden.
Man wird zurecht die Frage stellen, warum in die Definition nur vier Merkmale einfließen.
Genau bedacht ergeben sich die anderen Merkmale von selbst. Sie wurden bei der Ableitung
der Merkmale nur eingeführt, um keine Missverständnisse aufkommen zu lassen.
2 Pluralismus oder eine Ethik - das Prädikat „gut“
Kann es einen Grundsatz geben, der für alle gilt und der zugleich den Grund für eine
universelle Ethik legen könnte. Akzeptiert man einen solchen Ansatz nicht, dann muss man
sich den Vorwurf nicht nur der Relativität – ein solcher Standpunkt wird heute von vielen
vertreten und gilt als salonfähig – sondern der Beliebigkeit gefallen lassen Versuche solcher
Grundlegungen von Ethik, die von einem Grundsatz ausgeht, gibt es schon viele. Dass es
viele gibt, hat einen guten Grund. Wir dürfen annehmen, dass die, die eine einheitliche Ethik
wollten, von einem positiven Motiv geleitet waren. Aber können nicht alle Versuche der
Definition von gut oder gutem Handeln einen wahren Kern haben, nämlich dann, wenn sie
den Merkmalen entsprechen, wie sie oben formuliert wurden. Das größtmögliche Glück oder
der größtmögliche Nutzen, die höchste Lust, wenn sie jeweils für alle gemeint sind, nicht nur
für eine ausgewählte Gruppe sondern universell, mit Beachtung der Folgen des Handelns
usw., dann fallen diese Prädikate alle zusammen und „gut“ ist dann nicht mehr über ein
bestimmtes Prädikat definiert, sondern über alle diese Prädikate und das Verdikt des
naturalistischen Fehlschlusses (Moore 1970) wird überwunden. Fasst man also jedes Prädikat
von gut über die Kriterien, dann werden sie universell auch in diesem Sinn, dass Glück auch
Nutzen und Lust bedeuten und Lust auch Nutzen und Glück herzustellen vermag. Die
Verabsolutierung der Prädikate hat möglicherweise ihren Grund in der Vorstellung der
jeweiligen Vertreter einer Partikularethik, dass über dieses Prädikat am leichtesten und am
rationellsten die Erfüllung der Kriterien möglich ist. Daraufhin könnten die Hauptvertreter
dieser Ethiken untersucht werden.
9
Die unterschiedlichen Moralsysteme lassen sich im Prinzip der Anerkennung integrieren.
Denn wird durch Anerkennung die Perspektive des anderen übernommen, dann muss wohl
auf alle Aspekte des Personseins des Anderen eingegangen werden, auf sein Wohlsein ebenso
wie auf die Nützlichkeit einer Entscheidung für ihn. Wenn Personen in der Entwicklung ihrer
kognitiven Kompetenz so weit sind, dass sie fähig wären, im definierten Sinn moralisch zu
handeln, es aber doch nicht tun, muss das Verstehen dieses Handelns anders konzipiert sein,
will man einer Person nicht bloß böse Absicht bescheinigen. Es kann sein, dass Menschen
äußerst trickreich oder völlig offen z. B. einen niedrigen Utilitarismus vertreten oder einfach
einen Rechtsstandpunkt. Da die Annahme eines Standpunkts auch gewollt werden muss,
Personen es aber auch ablehnen können, einen Standpunkt annehmen zu wollen, obwohl sie
es könnten, werden sie ihren Verstand dazu einsetzen, den eigenen Stanpunkt intellektuell zu
verteidigen.
Erleben etwa Personen keine ausreichende Anerkennung, wird es ihnen schwer fallen, andere
anzuerkennen, wenn sie überhaupt dazu in der Lage sind. , sondern je nach ihrer Möglichkeit
andere in ihre Überlegungen einbeziehen und im Sinne des Moralbegriffs defiziente Weisen
des Aushandelns von Regeln wählen: Eudaimonismus, niederer oder höherer Utilitarimus
(vlg. Anzenbacher 1992).
Ein weiterer Grund für die Akzeptanz unterschiedlicher Vorstellungen liegt im Pluralismus
unserer Gesellschaft. Schon aus dem Prinzip gegenseitiger Anerkennung müssen
unterschiedliche Vorstellungen zugelassen werden. Sie können die Debatte sehr bereichern,
wenn sich Personen nicht auf eine Vorstellung versteifen, oder andere, weil
voraussetzungsreichere Vorstellungen abtun. Meist sind es weltanschauliche Fragen, die
Personen es äußerst schwierig macht , sich auf Standpunkte anderer einzustellen.
2.1 Gut als undefiniertes Prädikat
Gut zu definieren bedeutet einen naturalistischen Fehlschluss (Moore)1. Von gut darf kein
bestimmtes Bild gemacht werden. Es muss grundsätzlich der Intuition offen bleiben. Daher
gibt es eine dauernde Veränderung der intuitiven Einsicht von gut seiner Qualität und seinem
Inhalt nach. Dies lässt sich sowohl historisch als auch individuell lebensgeschichtlich
beobachten. Um nun nicht einer Fixierung auf ein bestimmtes Prädikat von gut zu verfallen,
muss immer mit dem Urteil Aufmerksamkeit verbunden sein, den je und je bestimmten Inhalt
nicht zu fixieren.
Die unterschiedlichen Moralsysteme (Hedonismus, Utilitarismus ...) haben „gut“ in
bestimmter Weise definiert, einen Inhalt von gut fixiert. Gut kann den Inhalt von Wohltun
oder von Nützlichkeit haben, aber geht darin nicht auf. Gut ist all das, was unter gut
vorgestellt werden kann, in sich integriert. Was im Sinne des Utilitarismus Nutzen für einen
anderen ist, entspricht auch der Lust – nicht als biologische Kategorie – denn der moralisch
Handelnde will den Nutzen für den anderen.
Zunächst wollen wir die Frage stellen, welcher Art das Prädikat „gut“ ist. „Gut“ als ein
traditionell transzendentales Prädikat meint eine Bedingung der Möglichkeit der Prädikation
von Handlungen al sgut, also überhaupt von Handlungen in einem bewertenden Sinn sprechen
zu können. Mehr ist damit nicht ausgesagt. „Gut“ als Prädikat ist also nur dadurch definiert,
dass es möglich ist, von Handlungen zu sagen, dass sie gut sind. Nicht jeder Handlung kommt
Missverständnis dessen, was „naturalistischer Fehlschluss“ bedeutet, bei Kohlberg (1971, S. 222). Vgl.
Aufenanger 1992, S. 131 f.  ausführen im Text
1
10
das Prädikat „gut“ zu. Aber wie können Handlungen, denen das Prädikat „gut“ zukommt von
solchen unterschieden werden, denen es nicht zukommt.
Alle Ethiken, die „gut“ definieren, sind trivial. Solche Ethiken definieren „gut“, um
entscheidbar zu machen, welche Handlungen „moralisch“ sind. Man verkennt dabei
allerdings, dass man damit moralische Handlungen auf ein bestimmtes Muster beschränkt.
Diese Ethiken verfallen einer Reduktion, weil sie nach einem Algorithmus entscheiden
können wollen, welche Handlungen „gut“ sind.
Definiert man „gut“ nicht, betrachtet man „gut“ als ein undefiniertes Prädikat, dann kann
„gut“ jede Bedeutung annehmen: wohlsein (Hedonismus), nützlich für die möglichst größte
Zahl (Utilitarismus), gerecht im Sinne von, dass allen Gleiches zukommen soll, aber auch
jedem nach seinen Bedürfnissen... Es wird dann spannand zu fragen, wie denn das Wohlsein,
die Nützlichkeit für jeden und für alle, Gerechtigkeit ... in einer Handlung erfüllt sein kann.
Auf diese Weise kommt Ethik von trivialen Sätzen weg und wird dynamisch und trotzdem
nicht beliebig. Es wird klar, dass dann nicht mehr nach Eindeutigkeit ethischen Handelns und
nach eindeutiger Entscheidbarkeit gefragt wird, sondern gefragt ist die Person in ihrer
Einmaligkeit und ihre Achtung und Verantwortung für andere. Eine eindeutige
Entscheidbarkeit auf der Basis von I. Kants zweiter Formulierung des kategorischen
Imperativs „Handle so, daß du die Menschheit sowohl in deiner Person, als in der Person
eines jeden anderen jederzeit zugleich als Zweck, niemals bloß als Mittel brauchest“ (Kant
1786, S. 79) zu verlangen, hieße, Personalität und Subjektivität und damit Verantwortung
aufzugeben und auf algorithmische Prozeduren zu verlegen. Mit Heinz von Foerster (1993)
könnte man davon sprechen, dass der Mensch nicht nur maschinenanalog, sondern analog
einer Trivialmaschine gedacht würde.
2.2 Ableitung oder die Anwendung der intuitiven Einsicht von „gut“ auf
Handlungen bzw. auf Gegebenheiten
Will man einem anderen mitteilen, was gut ist, bzw. was man unter gut versteht, dann ist das
nur möglich, wenn die intuitive Einsicht auf konkrete Handlungsentscheidungen übertragen
wird, wenn man also einem anderen mitteilt, warum man sich in einer bestimmten Situation
so entschieden habe oder entscheiden würde und warum man diese Entscheidung für gut hält.
Wie schon betont, „gut“ kann durch verschiedene Merkmale bestimmt werden, aber es darf
keines dieser Merkmale absolut gesetzt werden, will man nicht in den Streit der Morallehren
geraten. Man kann also eine „gute“ Entscheidung sehr wohl dadurch begründen, dass man
sagt, sie würde Glück verschaffen, sie wäre nützlich usw..
2.3 Andere Formen der Moralbegründung
2.3.1 Hedonismus
2.3.2 Utilitarismus
2.3.3 Emotivismus
Dass Werturteile von Gefühlen begleitet sind, nimmt der Emotivismus als Ausgangspunkt
seiner Werttheorie (Stephenson, Ayer). Aber diese Gefühle konstituieren nicht Werturteile
(Lenk 1994, S. 171).
11
2.4 Verantwortungsethik von Hans Jonas
Es lässt sich zurecht fragen, warum nicht auch „Verantwortung“, zumal sie in der Moral eine
so große Rolle spielt, als Prädikat des moralischen Urteils eingeführt wurde. Dies wäre nur zu
rechtfertigen, wenn angenommen werden kann, dass „Verantwortung“ in den anderen
Prädikaten enthalten ist. Wer sich selbst zu moralischem Handeln verpflichtet und bereit ist
alle Folgen seines Handelns zu tragen, handelt verantwortlich. Tatsächlich leitet auch Hans
Jonas aus seinem Prinzip Verantwortung nicht etwas für moralische Entscheidungen ab,
sondern will wegen der tatsächlichen Gefährdung unserer Lebensgrundlagen moralischen
Entscheidungen eine besondere Valenz geben. Tatsächlich ist die Verantwortung jeder
einzelnen Person immer gefragt.
3 Entwicklungsdynamik
1:
Das
Prinzip
gegenseitiger
Anerkennung ist Prinzip und Ziel der Entwicklung des moralischen
Urteils
Die Entwicklung eines Subjekts geschieht im Austausch mit der Umwelt, bei dem innere und
äußere Faktoren zusammenspielen. Dem Kind müssen schon von allem Anfang an
Fähigkeiten des Zugangs zur und der Verarbeitung von Reizen aus der Umwelt zugeschrieben
werden, weil sich sonst Entwicklung als dynamischer oder dialektischer Austauschprozess
zwischen einem Organismus und seiner Umwelt nicht fassen ließe. Interessant in unserem
Kontext ist nun in besonderer Weise, welches denn die Fähigkeiten eines menschlichen
Subjekts sind, über die es sich mit seiner Umwelt austauscht und wie es sich durch die aktive
Auseinandersetzung mit der Umwelt entwickelt. Innerhalb eines derartigen Ansatzes sind
Formulierungen, nach denen das Subjekt durch die soziale Welt konstituiert werden soll,
wobei das Subjekt diese wieder mitgestaltet falsch (vgl. Aufenanger 1992, S. 31 – 36, 183 f.,
der sich auf Hurrelmann 1983 bzw. später auf Oevermann 1976, 1979 bezieht). Vielmehr
wird das Subjekt durch den wechselseitigen Austausch mit der Um- und Mitwelt konstituiert,
wobei noch angenommen werden muss, dass dieser Austausch über die Kompetenzen des
Subjekts bestimmt ist, welche sich durch den und im Austausch differenzieren. 2 Dieser
Prozess kann durch die Kompetenz des Menschen zu Reflexivität im Idealfall bis zur
Selbstkonstitution des Subjekts in dem Sinn führen, dass er sich eine bestimmte geistige
Existenz gibt. Richtig ist, dass das Kind „von Anfang an an einer Interaktion [teilnimmt],
welche das für seine Rekonstruktionsleistungen notwendige Material zur Verfügung stellt“
(Aufenanger 1992, S. 183). Aufenanger verfährt hier widersprüchlich, wenn er einmal
schreibt: „Die Sinnstrukturen von Interaktionen werden durch die Anwendung von
Kompetenzen der handelnden Subjekte hervorgerufen.“ Als gelte dies nicht auch für das
Kind. Dann schreibt er weiter, dass die Interaktionsstrukturen erst durch die Eltern „einen
spezifischen Sinn bekommen, den das sich und ohne Kompetenzen ausgestattete Kind zur
Konstruktion seiner eigenen Kompetenzen rekonstruieren kann“ (a. a. O., S. 184). Wie soll
das möglich sein, wenn dem Kind nicht schon Kompetenzen zugeschrieben werden, dies zu
leisten. Richtig wäre zu sagen, dass das Kind nur an den menschlichen Interaktionsstrukturen,
ausgehend von seinen sich in den Interaktionen ausdifferenzierenden psychischen Funktionen,
sich Welt mit ihren Strukturgesetzlichkeiten aneignet.
In diesem Kontext darf der Als-ob-Gedanke nicht zu weit getroeben werden. Der Pädagoge
handelt dem Kind gegenüber so, als würde er Sprache schon verstehen, als wäre es schon
2
Wolfskinder sind in diesem Kontext kein Gegenbeispiel, denn sie hatten bestimmte Kompetenzen, die sich
unter gegebenen Bedingungen nicht weiter ausformen konnten.. Sie und Kinder unter Bedingungen des
Hospitalismus zeigen aber, wie wesentlich die Qualität der Beziehung für die Entwicklung des Subjekts ist. Je
nach der Qualität der Beziehungen in der Kindheit hat diese auch im Erwachsenenalter eine große Bedeutung.
12
autonom, zu Kommunikation fähig. Tatsächlich muss das Kind dazu schon gewissermaßen
fähig sein, sonst könnte es nicht lernen – und es lernt mit einer enormen Geschwindigkeit.
Dieses Handeln ist nicht „kontrafaktisch“ (a. a. O., S. 185 f.), sondern es muss angenommen
werden, dass im Kern diese Fähigkeiten bereits angelegt sind, sonst wäre es sinnlos, so zu
handeln. Unter diesem Gesichtspunkt muss auch die Vorstellung stellvertretender Deutung
revidiert werden. Für welches Alter soll diese Operation gelten, die Aufenanger in folgendem
Zitat beschreibt? „Es (das Kind, KG) interpretiert die ihm durch stellvertretende Deutung
unterstellte Handlung als seine Handlung und erfährt damit eine mögliche Lesart von
rationaler Vermittlung von Handlungskontext und Handlungsabsicht.“ (S. 187,
Unterstreichung im Original) Das Kind ist schon sehr früh zu intentionalem Handeln fähig,
wohl aber nicht so schnell zu einer derartigen Interpretation wie im Zitat beschrieben. Die
durch den Saugreflex ausgelöste Handlung des Trinkens wird schon nach ein paar Tagen zu
einem aktiven Suchen. Außerdem reagiert das Kind schon sofort mit der Geburt auf Angebote
der Mutter. Es hört auf die Stimme der Mutter und hört z. B. auf zu schreien. Anstatt mit dem
komplexen Begriff der Deutung wäre günstiger mit dem Konzept der ErwartungsErwartungen operieren, die Kommunikation definieren und wie seit sie anschlussfähig sind.
Entsprechen Erwartungs-Erwartungen bekommt das Kind Sicherheit, ist dies nicht der Fall,
dann entsteht beim Kind Unsicherheit und es zieht sich zurück. Häufigere Schleifen von
solchen Erwartungs-Erwartungen führen zu Generalisierungen und damit zu ersten
Strukturbildungen. Man sollte unter pädagogischen Gesichtspunkten damit vorsichtig sein,
man könne für das Kind irgendetwas ersetzen. Indem man mit ihm lebt und handelt, ergeben
sich ständig spezifische Anlässe zu Wahrnehmungen und Generalisierungen, wie das Kind die
Sprache mit ihrer Grammatik lernt, ohne über sie bewusst zu verfügen.
Pädagogisch gewendet ist die Frage zu stellen, was Bezugspersonen zur Förderung dieser
Entwicklung auf ein bestimmtes ideal gedachtes Ziel hin beitragen können. Darin erweist sich
die Sonderstellung der Erziehungswissenschaft von der Soziologie und der Psychologie, die
feststellen, welche Faktoren den Prozess der Persönlichkeitsentwicklung unter subjekthaften
und welche unter gesellschaftlichen Bedingungen beeinflussen. Die Erziehungswissenschaft
bedient sich dieser Ergebnisse und stellt sie in den normativen Kontext der Förderung des
Subjekts zu einer voll handlungsfähigen Person.
Wenn ein Kind geboren wird, ist es zwar einerseits auf Pflege, Fürsorge, Zuwendung,
Achtung und Anerkennung angewiesen, andererseits ist es ein eigentätiges, selbständiges
Wesen, das eben auch nur überleben kann, weil es schon bestimmte Kompetenzen hat.
Könnte es nicht atmen, saugen, würde es sterben. Darüber hinaus hat es aber ein klares
Empfinden bezüglich dessen, was ihm wohl tut. Es reagiert sofort positiv auf Streicheln und
reagiert negativ auf Situationen, die Unbehagen erzeugen. Es muss also schon von Anfang an
die Interaktion mit dem Säugling als komplementär aufgefasst werden. Die Aktionen der
Bezugspersonen müssen für das Kind anschlussfähig sein. Dann schließt es gerne an. Die
Eigenaktivität des Organismus auf Entwicklung hin ist eine biologische Grundkonstante.
Diese äußerst sich beim Menschen schnell in spezifischer Weise.
Erfährt das Kind Achtung und Anerkennung, dann entwickelt es schon sehr bald soziales
Handeln, beginnend mit dem sozialen Lächeln (Stern 19 ), in der Regel spätestens mit der 3.
Woche. Schon in dieser ganz frühen Zeit kann es zu Defizitentwicklungen kommen, wenn das
Kind zu wenig Achtung und Anerkennung erfährt. Es sollte von Anfang an klar sein, dass die
Entwicklung der abgeleiteten Kompetenzen moralischen Urteilens von Anfang an je nach der
Gestaltung der Interaktionen glücken oder scheitern können, entweder differenziert das Kind
seine Möglichkeiten der Eigentätigkeit (Autonomie) aus, oder es gibt diese auf. Dasselbe gilt
für alle anderen wesentlichen Merkmale des moralischen Urteils. Entweder das Kind kann
13
seine Bewertungsgrundlage in sich selbst behalten oder es wird von außen so überformt, dass
es an sich zu zweifeln beginnt.
Dass die Beziehung zum Säugling äußerst sensibel ist, zeugen die vielen neurotischen
Karrieren von Personen, aber auch jene, die sich so angepasst haben, dass sie im Grunde sich
selbst aufgegeben haben (vgl. Gruen 1986, 1990). Bei diesem Entwicklungskonzept des
moralischen Urteils ist also die Dynamik des Glückens und Scheiterns integraler Bestandteil.
Damit das Kind gegenseitige Anerkennung entwickeln kann, muss es gegenseitige
Anerkennung erfahren, damit es autonom entscheiden kann, muss ihm Autonomie gewährt
werden, damit es sich von Situationen betreffen lassen kann, muss es spüren können dürfen,
was für es selbst gut ist. Um zu lernen möglichst viele Situations-, Person- und
Kontextmerkmale in seine Entscheidungen aufzunehmen, muss es immer wieder in
Entscheidungen einbezogen werden, in denen es sich selbst äußern kann.
Speziell am Anfang der Entwicklung ist die emotionale Komponente von besonders großer
Bedeutung. Aus Untersuchungen darf angenommen werden, dass zunächst die kognitive
Entwicklung an das emotionale Reifen geknüpft ist. Zunächst gewinnt das Kind an der
Bezugsperson, wenn sie zuverlässig ist, das Gefühl der Konstanz des „Objekts“ und damit das
Bewusstsein von einer äußeren gestaltbaren Welt. Gerade das negative Beispiel, der
frühkindliche Hospitalismus zeigt, welche Bedeutung positive emotionale Beziehungen für
die Entwicklung haben. Die Qualität sozialer Beziehungen wird in verschiedenen
Untersuchungen betont. So hat Warren (1994) nachgewiesen, dass blinde Kinder bedeutend
früher nach der Mutter als nach Gegenständen greifen (vgl. Hackl 1997, S. 82) Die
Moralentwicklung im eigentlichen Sprachgebrauch beginnt also schon mit der Geburt oder
schon vorher.
Es ist für die Beschreibung der Entwicklung zu zeigen, unter welchen umweltlichen
Bedingungen jeweils die Entwicklung der einzelnen Merkmale steht. Es ist darauf zu achten,
dass es nicht nur soziale Aspekte sind, über die wir „universale Fähigkeiten und Fertigkeiten,
die im Begriff einer Kompetenz gefaßt werden können“ (Aufenanger 1992, S. 11) erwerben,
wenn auch dem sozialen Aspekt unwidersprochen das größere Gewicht zukommt.
Die gegenständlichen Überlegungen gehen von einem Entwicklungsbegriff aus, der die
psychischen Funktionen, über die der Austausch mit der Umwelt erfolgt und Welt angeeignet
wird, in diesem Prozess als einander stützend und integrierend begreift. In jeder Handlung
spielen immer alle Operationen – wenn auch jeweils unterschiedlich konstelliert und
gewichtet – zusammen. Für die Förderung von Entwicklung bedeutet dies, dass jeweils auf
die psychische Verfassung einer Person zu achten ist, um feststellen zu können, bei welcher
Funktion zu einem gegeben Zeitpunkt am besten anzusetzen ist. Denn kognitive Entwicklung
kann durch emotionale Probleme behindert werden, genauso aber auch durch einen Mangel an
Aufmerksamkeit, also einer Entwicklungshemmung im Bereich der Funktion des Wollens.
Wo für die Förderung der Entwicklung jeweils anzusetzen ist, werden erst mehrere Versuche
zeigen können und es erweist sich als zielführend, jeweils mehrere Zugänge zu versuchen.
3.1 Merkmale einer Entwicklungstheorie
Aufenenanger (1992) weist darauf hin, dass es in unserem Jahrhundert schon so viele
differenzierte Entwicklungstheorien gibt, so dass sich die Definitionsversuche kaum noch
überblicken lassen. Dazu gibt Ulich (1986) einen guten Überblick. In unserem
Zusammenhang gilt es nur zu prüfen, wie weit die eigene Theorie nicht wichtige
Differenzierungen vermissen lässt. Es wird auch notwendig sein, explizit auf die Theorie von
14
Piaget und Kohlberg Bezug zu nehmen, weil es gerade diese Theorien zu kritisieren gilt.
Bei Piaget und Kohlberg finden sich mehrere Merkmale, durch die Entwicklungstheorien
gekennzeichnet sind. Der zentrale Aspekt ist die Strukturgenese. In ihr wird Entwicklung „als
eine Folge von Transformationen in qualitativ jeweils neue Strukturmuster, wobei die
früheren Errungenschaften in die neuen Strukturen eingehen“ (Geulen 1981, S 545, zit. nach
Aufenanger 1992, S. 90), verstanden. Diesen einzelnen Merkmalen nachzugehen, wird die
eigene Theorie präzisieren lassen.
3.1.1 Genese und Struktur
Entwicklung verläuft in einer Abfolge von immer ausbalancierteren Strukturen (die eine
Ganzheit bilden) der Interaktion mit der Umwelt durch Transformation, die wieder Gesetzen
folgt. Diese Transformationsregeln sichern die Möglichkeit der Selbstregulierung. Diese
Regeln sind nach Piaget: Identität, Negation, Reziprozität. Der Strukturbegriff führt zum
Theorem der hierarchischen Abfolge. Jede Stufe stellt eine strukturelle Ganzheit dar, die so zu
einer umfassenderen Stufe transformiert wird, dass diese die weniger differenzierte Stufe in
sich einschließt3.
Problematisch ist, dass Piaget die Operationen an kognitive Strukturen bindet, wodurch es bei
ihm voroperationale Stufen gibt, für die dann das formulierte Gesetz nicht gelten kann. Als
strukturbildend dürfen also nicht nur Denkgesetze angenommen werden, sondern jede Form
von Verallgemeinerung (Generalisierung), die auf nicht bewusster Ebene erfolgt, die schon
mit der Geburt gegeben ist. Den Anfang der Strukturbildung sieht Piaget in der
wechselseitigen Anpassung von Organismus und Umwelt. In diesem Sinn kann der
Strukturbegriff universell verstanden werden. Wenn Piaget allerdings diesen Prozess wieder
an das Denken koppelt, nimmt er eine unnötige Einschränkung vor.
Aufenanger (1992) erklärt den Prozess der Entwicklung durch die Unterscheidung von
retroaktiven und proaktiven Akten beim Aufbau von Welt (S. 175). In retroaktiven Akten
werden Interaktionen mit der Umwelt rekonstruiert bzw. analysiert4, während in proaktiven
Akten neue Regeln ausprobiert werden, die zu einer äquilibrierteren Stufe der Interkationen
führen können. Beide Akte spielen bei der Interpretation von Welt und somit beim Aufbau
der Welt des Kindes zusammen. Diesen Prozess konzeptualisiert Aufenanger (1992, S. 179)
in gleicher Weise über die von Peirce (1973) eingebrachte Unterscheidung in Induktion,
Deduktion und Abduktion, wobei letztere der neuen Einsicht, dem schöpferischen Einfall
einer neuen Idee entspricht, also einem proaktiven Akt. In diesem Sinne bezeichnet
Aufenanger (1992, S. 180) das Kind mit Recht als „rekonstruktiven Hermeneut“, was
bedeutet, dass es alles intentional interpretiert. In der Terminologie von Franz Fischer (1985)
heißt diese Unterscheidung Reflexion und Proflexion.
Dass bei diesem Prozess emotionale Operationen immer auch begleitend auftreten, ist so
offensichtlich, dass dies nicht weiter bewiesen zu werden braucht. Sowohl intra- als auch
interindividuelle Faktoren sind maßgebend. Das Kind muss sich bei diesem Experimentieren
sicher fühlen können und zu sich selbst Zuversicht gewonnen haben, damit es gerade in
seinen ersten sechs Lebensjahren, in denen es im wesentlichen seine Welt aufbaut und die
entscheidend für seine Entwicklung sind, eine sichere Basis aufbauen kann (vgl. dazu auch
Piaget 1981).
3
4
Dieses Stufenkonzept wird von Flavell 1979 kritisiert.
Nicht interpretiert, wie Aufenanger (ebd.) schreibt, weil Interpretation beide Akte einschließt.
15
3.1.2 Das Merkmal des streng hierarchischen Aufbaus der Operationen
Dieses Merkmal gilt nur begrenzt, sofern nämlich Basisoperationen angenommen werden
müssen, die erworben sein müssen, damit komplexere Operationen aufgebaut werden können.
So ist die Operation der Konstanz von Flüssigkeiten, der Konstanz des Gewichts, des
Volumens erst möglich, wenn es dem Kind möglich ist, mindestens zwei strukturell
verbundene Merkmale – der Flüssigkeitspegel sinkt, wenn die Basis des Gefäßes eine größere
Flache bekommt – als solche zu erfassen. Anders verhält es sich bei anschaulichen
Merkmalen wie Kugeln verschiedener Größe und Farbe. Bei dieser Aufgabe handelt es sich
um eine Zentrierung auf ein Merkmal. Beim früheren Beispiel aber müssen die beiden
Merkmale in ihrer Abhängigkeit erkannt werden. Die Tätigkeit des Umgießens mehrmals
durchgeführt reicht noch nicht aus, um dieses Koppelung zwischen zwei abhängigen Größen
zu erfassen. Wie häufig muss die Tätigkeit durchgeführt werden, bis das Kind die Einsicht
bekommt.
Wenn aber das Kind bereits in der Lage ist, Zusammenhänge zwischen abhängigen
Merkmalen zu erkennen, dann können beliebige Merkmale in unterschiedlichen inhaltlichen
Bereichen miteinander verknüpft werden. Zum Beispiel kann dann die vorher beschriebene
Aufgabe der Gleichheit der Flüssigkeitsmenge genauso gelöst werden, wie Aufgaben, die sich
auf Strafen, Konventionen oder Gerechtigkeitsfragen beziehen. Dann lässt sich nämlich
zeigen, dass Fragen der Bestrafung, der Konvention, der Gerechtigkeit usw. innerhalb anderer
Dimensionen liegen, die alle mit Fragen der Moral gekoppelt werden können, aber nicht
genuin moralisches Handeln definieren. So gesehen ist der durchgängige hierarchische
Aufbau von Wissensstrukturen, aber auch von Strukturen innerhalb der anderen psychischen
Funktionen ein aufzuhebender Mythos.
Um diese Strukturen zu verstehen, wären genaue Analysen vorzunehmen, die zeigen, auf
welchen Basisoperationen komplexere Operationen aufbauen und wie die Linerarität der
Entwicklung in Verzweigungen übergeht. Unterschiedliche Operationen koppeln sich zu
verschiedenen Mustern, die dann jeweils komplexere Operationen bilden. Dies gilt sowohl
innerhalb einer Funktion, z. B. der Wahrnehmung, gilt aber auch zwischen den Funktionen.
Basisoperationen der Wahrnehmung verbinden sich mit solchen des Denkens und des Fühlens
wie des Wollens – prinzipiell mit allen Basisoperationen aller Funktionen.
3.2 Regeln und Metaregeln
Hirnphysiologische Untersuchungen in Verbindung mit Computersimulationen über die
unterschiedlich leistungsfähige Netzwerke experimentell geprüft werden können, legen nahe,
dass das komplex vernetzte Hirn ohne bewusste Regelbildung selbständig Regeln bildet
(Spitzer 1997). Metaregeln wären dann solche, die Regeln über die Regeln bilden. Dies
scheint formale Akte des Denkens voraus zu setzen. Bis hin aber zu den konkreten
Operationen im Sinne von Piaget lassen sich automatisch generierte Regeln vorstellen.
Unabhängig davon, wie sich dies hirnphysiologisch verhält.
Unterscheidung zwischen impliziten und expliziten Regeln (Polanyi 1985).
3.3 Kompetenz und Performanz oder Hindernisse der Umsetzung
Es kann nun dazu kommen – und es kommt dazu leider allzu häufig - , dass die Entwicklung
der Kompetenzen in der Regel durch Behinderungen der Funktionen des Fühlens und
Wollens, die eben auch mit Motivation zu tun haben, nicht nur gehemmt wird, sondern eine
Person auf frühere Operationen zurück fällt bzw. unbewusst zurück greift. Die Gründe dafür
können sowohl interaktions-, kommunikations- oder bindungstheoretisch, als auch auf einer
16
komplexeren Ebene sozialisationstheoretisch bzw. sozialisationsökologisch (Bronfenbrenner
1976) untersucht werden.
Siehe in diesem Zusammenhang auch die Unterscheidung von regulativen und konstitutiven
Regeln nach Searle (1971) zit. bei Aufenanger (1992, S. 62)
Fassen wir nochmals die Faktorengruppen zusammen, die für eine Theorie der Entwicklung
des moralischen Urteils von Bedeutung sind:
4 Entwicklungsdynamik 2: Entwicklung des moralischen Urteils
als Entwicklung der Prädikate des moralischen Urteils für sich und
in ihrem Kontext
Moral ist kein Endstadium einer Entwicklung wie bei Piaget oder Kohlberg. Wird moralische
Entwicklung auf diese Weise gefasst, dann gibt es vorethische Stadien, bzw. Stadien, die
genau das Gegenteil von Moral sind, die heteronome Phase bei Piaget oder die Stufen bei
Kohlberg bis hin zur eigentlichen Stufe von Moral, der prinzipiengeleiteten Perspektive. Was
sich entwickelt bzw. was bei der Entwicklung des moralischen Urteils verfolgt werden muss,
sind das moralische Bewusstsein selbst, bzw. die ein moralisches Urteil definierenden
Merkmale, in den sie repräsentierenden psychischen Operationen.
Diese Entwicklung wird – wie die Entwicklung anderer menschlicher Fähigkeiten, z. B.
Leistung – durch Umweltfaktoren gefördert oder gehemmt. Natürlich können dies sehr
unterschiedliche Faktoren sein. Im besonderen wird von Moraldefinitionen her zu fragen sein,
wie weit sich gegenseitige Anerkennung entwickelt hat und wodurch eine solche Entwicklung
gefördert werden kann (1). Je nachdem, welchen Grad der Ausprägung gegenseitige
Anerkennung erreicht hat, wird sie bezogen auf alle Sozialperspektiven, die eine Person
einnehmen kann, stärker oder schwächer sein bzw. wird eine Person bestimmte
Sozialperspektiven bevorzugen (2), auch wenn sie nach ihrer kognitiven Kompetenz auch
schon weitere Sozialperspektiven übernehmen könnte (3). In Abhängigkeit davon wird eine
Person mehr oder weniger Betroffenheit von Situationen zeigen, die stärker ichbezogen sind
oder stärker im Ich-Du-Bezug stehen.
Im Sinne der Moralentwicklung kann 1. an der Betroffenheit von Situationen und der
Sensibilität für sie angesetzt werden, 2. an der kognitiven Fähigkeit, Situationsmerkmale in
ihren Konsequenzen für andere Personen aber auch für die Umwelt, was indirekt wieder
Personen betrifft, abzuwägen. Die kognitive Fähigkeit steht in Zusammenhang mit der
Betroffenheit von Situationen, weil immer auch Bewertungsprozesse eine Rolle spielen.
Natürlich muss grundsätzlich die Fähigkeit gegeben sein, komplex und vernetzt zu denken.
Um tatsächlich die Entwicklung des moralischen Urteils in seiner Dynamik verfolgen zu
können, müssen die philosophisch gewonnenen Merkmale in psychische Operationen
übersetzt werden, wie sie sich im alltäglichen moralischen Handeln zeigen. Dabei wird in
zwei Schritten vorgegangen. Zunächst werden die Operationen dargestellt, die das jeweilige
Merkmal moralischen Handelns in seiner Vollfunktion beschreiben, um dann in einem
zweiten Schritt zu zeigen, auf welchen basalen Operationen diese aufbauen, deren
Entwicklung dann jeweils bis zu ihrem Ende hin verfolgt wird.
4.1 Gegenseitige Achtung und Anerkennung – Verstehen und
Perspektivenübernahme
Weder Verstehen noch Perspektivenübernahme ist ohne Reversibilität möglich. Daher ist sie
eine Basisoperation, die darin besteht, dass eine Person in der Lage ist zu erkennen, dass ein
17
Vorgang, eine Operation umkehrbar ist. In der einfachsten logischen Form heißt dies, dass
wenn a gleich b ist, dann ist b gleich a. Auf Handlungen bezogen heißt es, dass wenn ich eine
Handlung umkehre, dass dann wieder der Ausgangspunkt erreicht ist, innerhalb
zwischenmenschlicher Beziehungen, dass ich gegenüber einen Anderen in gleicher Weise
handle, wie ich möchte, dass er mir gegenüber handelt und umgekehrt. Kohlberg (1979, siehe
Aufenanger 1992, S. 134, S. 168) hat die Entwicklung von Reversibilität beschrieben,
allerdings auf eine Weise, wie in dieser Beschreibung wieder deutlich wird, dass bei ihm
Entwicklung nicht mit der Beobachtung von Kindern zu tun hat, sondern mit einer
Konstruktion. Denn wenn er die Stufe 1 „als eine rein mechanische Reziprozität, auf der die
Lösung moralischer Konflikte unter dem Aspekt der konkreten Gleichheit von Handlungen
gesehen wird“ (Aufenanger 1992, S. 134) und dies auch gleich mit dem alttestamentlichen
„Auge um Auge, Zahn um Zahn“ vergleicht, dann beschreibt er Erwachsenenverhalten.
Außerdem konstruiert er Reversibilität in gleicher Weise nach wie die
Perspektivenübernahme in seinen Stufen der moralischen Entwicklung. Kohlberg beschreibt
aufeinander aufbauende Konzepte und nicht Entwicklung. Er hat seine Daten ja auch
tatsächlich von älteren Kindern und Erwachsenen gewonnen.
Im Bereich der Perspektivenübernahme folgt die kognitive der sozial-emotionalen
Entwicklung. Sie verläuft von der idealtypisch gedachten Symbiose mit einer Bezugsperson,
über die Primärgruppenperspektive und Sekundärgruppen- oder Systemperspektive bis zur
Möglichkeit der Einbeziehung potentiell aller Menschen (vgl. Selman 1984).
In klinischen Untersuchungen hat v. a. der Kinderpsychiater Hellbrügge in München an
deprivierten Kindern gezeigt, wie sehr bei Repression ihre Selbstwahrnehmung und die
Wahrnehmung von anderen eingeschränkt ist. Ihre Möglichkeit soziale Beziehungen
aufzunehmen war anfangs fast unmöglich. Zu gleichen Ergebnissen kamen auf klinischer
Ebene Robert Kegan (1986) und Arno Gruen (1986, 1990). Nach letzterem führt Macht im
Gegensatz zu Liebe zur Abspaltung der Gefühle nach innen oder nach außen. Die Folge
davon sind entweder Neurosenbildungen oder völlige Anpassung, die er als „Wahnsinn der
Normalität“ (1990) bezeichnet. Menschliches Leben – wie überhaupt Leben – will erhalten
werden. Den anderen vom eigenen Standpunkt überzeugen zu wollen, bedeutet nicht
gegenseitige Anerkennung. Diese bedeutet vielmehr, die Überzeugungen der anderen
verstehen zu wollen.
Die Entwicklung von Anerkennung hat die Eigenart, dass sie sich nur entwickelt, wenn man
in seiner Kindheit Anerkennung erfahren hat. Wenn sich Menschen anerkannt fühlen, können
sie sich freier, selbstbewusster, bei sich bleibend und damit originär äußern. Anerkennung in
schulischen Situationen würde bedeuten, dass alle ihr Zusammenleben frei und demokratisch
gestalten, die Regeln für ihr Zusammenleben in gegenseitiger Anerkennung aushandeln.
Dadurch entsteht eine gute Gesellschaft.
Empirisch konnte dies Monika Keller (1976) nachweisen. Die sozio-affektive Dimension
elterlichen Erzieherverhaltens – ausgedrückt in Wärme und Unterstützung – hat für die
Fähigkeit zur Rollenübernahme große Bedeutung (vgl. Aufenanger 1992, S. 123).5
Das Leiden des Anderen (Metz 19..) als Ausgangspunkt für moralisches Handeln zu wählen,
ist eine Minimalforderung. Die Kantsche Forderung, die Glückseligkeit des anderen befördern
zu wollen, steht am anderen Pol. Sensibilität für die Bedürfnisse der anderen zu entwickeln
wird auf jeden Fall Bedingung sein. Je sensibler eine Person aber für seine Bedürfnisse ist,
Weitere empirische Belege siehe in Datei „Kompetenz“, in der das Moralurteil förderliche Bedingungen
beschreiben werden.
5
18
desto besser wird er sie auch bei anderen spüren. In diesem Kontext kann auf die Skalierung
von Tausch/Tausch (1977) zurück gegriffen werden.
Kommt eine Person nicht zu gegenseitiger Anerkennung, wird sie einen Standpunkt
einnehmen, der dadurch gekennzeichnet ist, dass die Person sich als Mittelpunkt aller
Überlegungen sieht und Subjekte wie Objekte betrachtet, d. h. sie für ihre eigenen Zwecke
instrumentalisiert. Dies ist vermutlich zur Zeit immer noch die häufigste Erscheinungsform in
der Wirtschaft, im Verhältnis von Leitern und Mitarbeitern. In der öffentlichen Verwaltung
erfolgt die Instrumentalisierung der Mitarbeiter mediatisiert über Gesetze. Dadurch mag ein
gemilderter Eindruck dieses Standpunkts entstehen
Es gibt zwei moralische Theorien, deren Axiome von einem solchen Standpunkt ausgehen,
der Hedonismus und der niedere Utilitarismus, deren Grundsatz das eigene größtmögliche
Wohl bzw. der eigene größtmögliche Nutzen auf Kosten der Anderen ist. Diese Form des
Hedonismus bzw. Utilitarismus wird zwar heute theoretisch nicht mehr vertreten, wenn auch
bei einzelnen Liberalen dieser Standpunkt immer noch durchkommt, aber als Lebenspraxis
dürfte sie nicht selten vorkommen. Untersuchungen dazu wären interessant.
4.1.1 Analyse gegenseitiger Anerkennung
Person A anerkennt Person B und umgekehrt. Dies ist die einfachste analytische Formel. In
Wirklichkeit sind es immer mehrere Personen, potentiell alle Menschen, die der Anerkennung
bedürfen. Anerkennung ist so als zweistelliges Prädikat definiert, wobei jedoch an der Stelle
der Verbalphrase potentiell alle Menschen stehen könnten. Der Sachverhalt wird aber
nochmals komplexer, wenn man bedenkt, dass die Anerkennung des Anderen/der Anderen
immer auch bedeutet, ihn in allen seinen Lebensbezügen, die er braucht, anzuerkennen,
andernfalls bliebe die Anerkennung abstrakt. Dadurch wird das Prädikat dreistellig: Jemand
erkennt einen anderen mit all seinen Lebensbezügen an. Zur genauen Bestimmung von
Anerkennung einer Person müssen wir also zumindest alle jene Merkmale noch anführen, die
zu ihrer Integrität in dem Sinne gehören, dass wir nicht sagen könnten, wir würden einen
Anderen anerkennen, wenn wir nicht auch das zu seinem Leben Gehörige anerkennen. Dazu
zählt zumindest all das, was Personen brauchen, um sich physisch und psychisch wohl zu
fühlen, aber auch, was sie dazu brauchen, um ihr Leben bestmöglich zur eigenen
Vervollkommnung hin zu gestalten. Jeder braucht eine Position in einer Referenzgruppe, um
sich sicher zu fühlen. Daraus ergibt sich an jeder Stelle der Ableitung eine Fülle von Fragen,
die alle im Blick auf die Anderen bzw. mit den Anderen diskutiert werden müssen, weil sonst
die Anwendung der Regel formal bleibt. Noch dazu laufen alle diese Diskussionen unter der
Bedingung der Begrenztheit von Gütern ab. Aber genau unter der Beachtung dieser
Bedingungen wird das Prinzip gegenseitiger Anerkennung konkret und erweist sich als
notwendiges Merkmal der Bestimmung moralischen Handelns. Gegenseitige Anerkennung
kann also nur real werden, wenn das Leben der Anderen in all seinen Bezügen geachtet wird,
aber auch, dass sie sich frei äußern können und jeder sich innerhalb des frei anerkannten
Rahmens bewegen kann. Dies wäre nicht ein für alle Male zu beschließen, denn dann kämen
wir in die Sphäre des Rechts bzw. der Politik, sondern je und je neu zu bedenken und
auszuhandeln. Ausüben von Gewalt in welcher Form immer, auch in der Form der
Einschüchterung, der Manipulation, ist ausgeschlossen. Der „herrschaftsfreie Dialog“ in
gegenseitiger Anerkennung ist Bedingung für die Ableitung von moralischen Urteilen, von
Wertaussagen und moralischem Handeln als Form. Der Inhalt kommt erst aus den
Vereinbarungen über ein gutes Zusammenleben unter dem gegebenen faktischen
Rahmenbedingungen gruppen-, gemeinschafts- und (welt)gesellschaftsbezogener Art. Die
19
historischen so und so gewordenen Gegebenheiten sind das Material, das in gegenseitiger
Anerkennung darauf hin zu befragen ist, wie es geordnet werden müsste.
Bei all diesen Überlegungen wird deutlich, dass die gesamte Realität niemals gedanklich
eingeholt werden kann, wohl aber haben Handeln und Sprache „einen zwischenmenschlichen
Mehrwert und Überschuß, der über alles in ihr Gesagte hinausgeht“ (Miething 1991, S. 206).
Miething fährt weiter fort: „Reden ‚über’ ist dem Unendlichen des Lebendigen im anderen
Menschen oder des Transzendenten nicht angemessen.“ (a. a. O., S. 209) Ebenso könne man
den Charakter der Ich-Du-Beziehung nicht erfassen, ohne den moralischen Charakter in dieser
Beziehung. Die Gegenseitigkeit allein reiche nicht aus, die Ich-Du-Beziehung heraus zu
arbeiten (a. a. O., S. 211). Drückt man Gegenseitigkeit über die Formel „Wie du mir, so ich
dir“ aus, dann bleibt Gegenseitigkeit formal, kann unmoralisch werden, denn das heißt ja
auch, wenn mir jemand ein Unrecht zufügt, zahle ich es ihm in gleicher Münze heim. Dieser
Grundsatz begründet höchstens einen schlechten Rechtsbegriff, denn auch das Recht will
dazu beitragen, dass Individuen sich nicht immer weiter verletzen, sondern will nur dem
Recht schaffen, dem Unrecht geschah oder geschieht, Recht konstituiert sich erst auf dem
Grund gegenseitiger Anerkennung im Sinne der Anerkennung der formalen Gleichheit aller
Individuen. Wie ich meine Integrität anerkannt wissen möchte, erkenne ich die Integrität des
Anderen an. So gesehen konstituiert sich auch Recht nicht über ein Sollen, sondern über die
Übereinkunft, den Anderen so weit gelten zu lassen und ihm so viel Freiraum zu geben als er
braucht, sofern er nicht meinen Freiraum einschränkt. Das Recht regelt also Freiräume von
Individuen, was dann nötig wird, wenn sich (1) das soziale Gebilde so kompliziert hat, dass
die Individuen nicht mehr untereinander ihre Handlungsräume selbst abstecken können oder
(2) einzelne über andere Macht ausüben wollen. In kleinen, für den einzelnen überschaubaren
Vergesellschaftungen braucht es daher kein formales kodifiziertes Recht, es genügt die Sitte
oder bei Übergriffen einzelner, Sanktionen bis hin zum Ausschluss aus der Gemeinschaft,
wenn gegenseitige Anerkennung nicht in einem angemessenen Rahmen zu erwarten ist. Dies
setzt einen Konsens über das gegenseitig Anerkennenswerte hinaus oder noch besser
faktische gegenseitige Anerkennung voraus. Ist diese nicht gegeben, dann beginnt man
darüber nachzudenken, was konsensfähig ist oder sein könnte oder – in total pluralistischen
Gesellschaften - sein müsste.
Gegenseitige Anerkennung bekommt eine ganz andere Qualität, wenn sie die Anderen auch
sofern im Blick hat, als die Anderen vielleicht nur im Moment, vielleicht auch auf Dauer zu
ihrer Entwicklung ein Mehr an Fürsorge, ein Mehr an Handlungsspielraum brauchen als ihnen
unter dem Aspekt formaler Tauschbedingungen zustehen würde. Das Verhältnis Ich-Du wird
dann asymmetrisch – aber nicht im Sinne von Macht – sondern der Gewährung. Ein Ich
gewahrt ein Du als Du und sieht, dass Du etwas braucht und gewährt es. Es kommt mit der
formalen Anerkennung das Achten in den Blick. Nicht die bloße Beachtung, sondern auch die
Achtung und Fürsorge wird angesprochen. Die Beachtung ist nur Bedingung, geht voraus.
Aber das Beachten bekommt erst aus der Achtung und dann auch Wertschätzung die Qualität,
die Du sich äußern lässt, dass die Beachtung das Gute erfährt.
Damit sind die Bedingungen für die Entwicklung zur Anerkennung des Anderen:
 Anerkennung, Achtung des anderen
 Verstehen des anderen
 ihm Vertrauen schenken
 den Willen des anderen respektieren
 Einbeziehen in Entscheidungen, auch wenn sie zunächst gefühlsmäßig getroffen
werden
 Auffordern, Entscheidungen zu treffen, Motive zu erfassen, Folgen zu bedenken
 Hilfe beim Abwägen der Folgen
20
 eigene Entscheidungen begründen, ein Nein oder Sanktionen sind
begründungspflichtig
 die Argumente des anderen ernst nehmen, ihn um Argumente fragen
 je und je volles Menschsein zur Darstellung bringen helfen
Diese Liste ließe sich noch lange fortsetzen. Es zeigt sich jetzt schon deutlich, was gemeint
ist. Einen Säugling hat man im Sinne dieser Entwicklung schon unterstützt, wenn man ihn
anlächelt, ihn massiert, sein differenziertes Schreien beachtet.
 Informationen über den anderen, seine Einstellungen und Denkweisen
 Wahrnehmen seiner selbst und des anderen
 Klärung des eigenen Vorverständnisses
 Nachvollziehen der Logik des anderen, seiner inneren Welt, die er im Laufe seiner
Lebensgeschichte gewonnen hat und wozu er in ihr geworden ist
 einfühlendes Verstehen des anderen
 iterativer Deutungsprozess – Verstehen

4.1.2 Die Vorstellung von gut
Bis Kinder etwa 10 Jahre als sind, erklären sie das was gut ist, mit Beispielen, d. h. mit
konkreten Eigenschaften von Personen oder Dingen oder mit konkreten Situationen. Damit
zeigen sie, dass sie zwar intuitiv wissen, was gut ist, aber sie können es nicht explizit sagen.
Erst Kinder, die formal operieren können, fassen gut als gut, können einen Allgemeinbegriff
von gut geben. Handlungen werden als solche gesehen und daher an sich gut oder schlecht
beurteilt. Die Begründung erfolgt zirkulär. Man macht etwas nicht, weil man so etwas nicht
macht, „man ist doch nicht so gemein“. „Gemein“ ist eine Substitution für „schlecht“. Auch
werden positive oder negative Handlungen mit Gefühlsausdrücken belegt und durch sie
begründet. Man ist traurig, man fühl sich gut oder nicht gut. Handlungen, bei denen man sich
nicht gut fühlt, sind schlecht, bei denen man sich gut fühlt, sind auch gut.

 Kinder begründen Handlungen als gut, weil mit ihnen Angenehmes oder
Unangenehmes verbunden ist. 9jährige Kinder begründen aus der Sozialperspektive
der Gruppe. Es gelingt ihnen noch nicht über die Gruppe, in der sie sind, hinaus zu
denken. Die Gruppe als Gruppe kommt noch nicht in den Blick.

4.2 Autonomie
Aus Heteronomie kann nicht Autonomie entstehen, wie das bei Piaget und Kohlberg der Fall
zu sein scheint. Es müssen daher die autonomen Äußerungen des Kindes von der Geburt an
aufgedeckt werden, um den Prozess moralischer Entwicklung zu erfassen und fördern zu
können.
Die sg. +1-Regel nach Blatt/Kohlberg (1975, vgl. auch Oser/Althof 1992), dass bei der
Förderung der Entwicklung des moralischen Urteils Argumente, Begründungen auf der nächst
höheren Stufe vorgelegt werden müssten, würde den Prozess der Entwicklung in unserem
Sinn hemmen, weil nicht moralische Argumente benützt werden. Diese gibt es
definitionsgemäß erst auf der Stufe 5. Also nur Personen, die auf dieser Stufe stehen, könnte
die Regel nützen. In unserer Bedeutung des moralischen Urteils ist vielmehr danach zu
fragen, welche autonomen Äußerungen, Bestrebungen des Kindes zu einem klaren
Bewusstsein der genuinen Dimensionen des moralischen Urteils führen. Im Prinzip sind es
die Einbeziehung des Kindes in moralische Entscheidungen und die Hilfe bei der Erweiterung
seiner Handlungsräume über die erste Technik.
21
Lebensgeschichtlich dürfen wir davon ausgehen, weil es eine anthropologische Konstante ist,
dass das Kind zunächst die Bewertungsgrundlage für sein Tun in sich selbst hat. Wir setzen
ein Selbst ohne Selbsttäuschung voraus. Verzerrungen der Wahrnehmung entstehen erst im
Laufe missglückter, durch Macht bestimmter Interaktionen (vgl. dazu Rogers’ (1973)
humanistisches Bild der Persönlichkeitsentwicklung und Gruens (1986) Psychodynamik der
Abspaltung der Gefühle). Der autonome moralische Mensch will sich nicht täuschen und
täuschen lassen. Er wird in allen Entscheidungen darauf achten in gegenseitiger Anerkennung
das Eine, Wahre, Gute und Schöne in sich zu verwirklichen, nicht aus Pflicht sondern aus
eigenem Wollen.
Die Entwicklung zur Autonomie gerade beim kleinen Kind ist an Sicherheit, die bei
Anerkennung gegeben ist, gebunden. In unsicheren Situationen wagt sich eine Person nicht
aus sich heraus, fragt, forscht, untersucht nicht (siehe die Aussagen unter dem vorigen Kap.).
Offenheit, die wiederum Sicherheit usw. voraussetzt ist auch für den Ausdruck jeder Art von
Bedeutung.
Fritz Oser (1981) hat in einer groß angelegten Untersuchung (1200 Schüler im Alter von 15
Jahren in 42 Klassen) Interaktionen in Gruppen bei der Lösung moralischer Probleme auf
dem Hintergrund des Stufenkonzepts von Kohlberg beschrieben: Er unterscheidet vier Stufen,
die sich auch empirisch bestätigten.
1. Funktionale Stufe: Die Mitglieder der Gruppe sind allein am Ergebnis ohne
systematische Legitimation orientiert.
2. Analytische Interaktionsstufe: Die Lösung eines Problems wird auf der
Faktenebene gesucht.
3. Normative Interaktionsstufe: In die Problemlösung werden moralische Regeln
und Prinzipien einbezogen. Normen werden diskutiert und hierarchisiert.
4. Philosophische oder authentische Interaktionsstufe: Die Gruppe konzipiert eine
Theorie gerechten Handelns, die Universalität beansprucht (vgl. Aufenanger
1992, S. 159 f.).
Es zeigt sich, dass in einer Gruppe von gleichaltrigen Schülern alle Weisen des
Argumentierens von einer funktionalen bis zu einer prinzipiengeleiteten, nach Universalität
strebenden Form verwendet werden. Interessant wäre nun festzustellen, von welchen
Faktoren sowohl die Kompetenz als auch die Performanz der Argumentation abhängig ist.
Oser konnte in seiner Untersuchung nur einige Aspekte zur Klärung bringen, die er an die
Interventionen bindet, die in den Gruppen gemacht wurden. Es waren drei Interventionen in
unterschiedlichen Gruppen:
1. Es werden Informationen zur Differenzierung der Fakten gegeben, die mit dem
Problem verbunden sind. Es handelt sich also um eine Stimulierung zu höherer
kognitiver Komplexität.
2. Es werden unterschiedliche Gerechtigkeitsregeln vorgelegt, die mit Kohlbergs
Stufenschema korrespondieren.
3. Es wird eine Strategie zur Lösung des moralischen Problems vorgelegt
Die Studie zeigt, dass in erster Linie die Vorgabe von Gerechtigkeitsregeln zu einer höheren
Interaktionsstufe führen.
Bedenken und Prüfung von Erwartungen von außen – Modifikation der Erwartungen nach
selbst gewählten Motiven. Aus sozialen Interaktionen entwickelt sich das Selbst (Noam 1993,
S. 174)
 Bedenken/Reflexion der Trieb-/Bedürfnisansprüche von innen
 Integration von Körper/Seele/Geist
 sich selbst definieren – in sich einfühlen
 Selbstverpflichtung
22
 selbst die eigenen Entscheidungen verantworten
 aufmerksames Gewahrsein des Prozesses
 Selbstbewußtsein, Selbstgewahrsein

4.3 Das Abwägen der Folgen von Entscheidungen
Dabei handelt es sich zunächst um eine kognitive Funktion. Es ist die Frage, wie viele
Merkmale Kinder von ihrer kognitiven Entwicklung her zur gleichen Zeit in Erwägung ziehen
können. Wie viele Elemente also können gleichzeitig beachtet, in der Aufmerksamkeit
behalten werden? Daran zeigt es sich, dass Kognition auch etwas mit dem Wollen zu tun hat.
Kann ein Kind in der von Piaget gestellten Situation, ob ein Freund weiterhin Freund bleiben
kann, auch wenn er einen Diebstahl begeht und der Diebstahl negativ bewertet wird, beide
widerstreitenden Merkmale im Auge behalten? Zunächst sieht das Kind nur den Freund oder
nur den Diebstahl und je nach dem worauf es im Moment die Aufmerksamkeit gerichtet hat,
kann der Freund bleiben oder nicht. Erst wenn das Kind gelernt hat, beide Momente in der
Aufmerksamkeit zu halten und damit in der Lage ist, sie gegeneinander abzuwägen, kann ein
Freund trotz Diebstahl Freund bleiben.
Das Begreifen von Einstellungsobjekten oder von Werten ist in seiner Entwicklung von einer
undifferenzierten nur ein Merkmal einschließenden Vorstellung bis hin zu einer
differenzierten, hochäquilibrierten, potentiell alle Situations- und Personmerkmale
umfassenden Vorstellung zu beschreiben.
4.4 Betroffenheit
Gertraud Nunner-Winkler (1991) konnte in eigenen Untersuchungen feststellen, dass die
unmittelbare Betroffenheit von einer Sache ausschlaggebend für die moralische Orientierung
(im Sinne von Giligan) ist (S. 132)
Aufmerksamkeit
 sich in sich einfühlen – offen sein für die Situation, sich von der Situation so ansprechen
lassen (zweckmäßiges Wahrnehmen), dass man sich quasi durch sie zur „guten Tat“
drängen lässt.
 der oben genannte iterative Deutungsprozess ist auch um des Anderen willen gewollt –
„Nichts ist gut als allein ein guter Wille.“ (Kant)
 sich der Situation aus tiefer existentieller Erfahrung aus einem inneren Gefühl stellen
4.5 Universalisierung
Universalisierung ist sowohl an das Subjekt als auch an den Diskurs gebunden. Damit sind
unterschiedliche Operationen zu aktivieren. Es ist unerlässlich, einerseits die Frage zu stellen,
ob eine bestimmte Handlungsmaxime, d. h. ein als gut erkanntes Handlungsmotiv zunächst
aus einer subjektiven Einsicht, dann aus der Sicht von Partnern, schließlich aus der fiktiven
Sicht potentiell aller Menschen, die dieser oder ähnlichen Handlungsmaximen gefolgt sind,
gut ist und damit universalisierbar.
Aus subjektiver Sicht folgt, dass der Einzelne für sich selbst prüfen muss, welche Folgen
seine Entscheidung für andere hat.
Aus der Sicht der Diskurspartner heißt dies, der Einzelne muss bereit sein, die Abwägungen
und Einschätzungen anderer über die Folgen einer Entscheidung in seine Überlegungen
einzubeziehen. Das Individuum soll bei der eigenen Prüfung seiner Entscheidung die Sicht
anderer nicht vernachlässigen oder gar negieren. Außerdem könnte ein Individuum zu einem
gegebenen Zeitpunkt für sich eine bestimmte Handlungsmaxime bevorzugen und eine andere
23
bessere übersehen. Unter diesem Gesichtspunkt beseht sogar die Pflicht, auf mögliche andere
Handlungsmaximen oder Entscheidungsmöglichkeiten aufmerksam zu machen. Da sich
Menschen grundsätzlich immer täuschen können, ist jede Möglichkeit des Findens
universalisierbarer Handlungsmaximen zu ergreifen.
Universalisierung fordert noch eine weitere Kompetenz, nämlich die Handlungsfolgen für alle
Menschen auf der ganzen Erde und für die Zukunft zu bedenken.
Sich Entscheiden erfordert
 das aufmerksame, kognitive Abwägen der Folgen einer Entscheidung.
 das Herstellen einer Beziehung zwischen der Entscheidung und der inneren
Gewissheit der Übereinstimmung zwischen der Entscheidung und der Idee eines guten
Zusammenlebens. Da Universalisierung wegen der Komplexität der Welt theoretisch
niemals möglich ist, ist diese intuitive Überprüfung nötig: Wurde die Entscheidung
nach bestem Wissen und Gewissen gefällt.
 Da moralische Entscheidungen immer Personen betrifft, besteht die Verpflichtung,
wenn es möglich ist, sich zu vergewissern, ob der andere sich in der Entscheidung voll
berücksichtigt weiß.
 Damit muss die Entscheidung für den anderen/die anderen nachvollziehbar sein.
5 Gutes gesellschaftliches Zusammenleben als Kriterium für
Rationalität
Angenommen, es ließen sich Kriterien, Bedingungen für Handlungsentscheidungen, die ein
gutes Zusammenleben ausmachen, formulieren, dann müssten doch alle, mit denen man
kommunizieren kann, gefragt werden, ob sie damit einverstanden sind. Denn dies erfordert
das Kriterium gegenseitiger Anerkennung.
5.1 Postmoderne und Ethik
Es ist beliebt geworden, Moral und Ethik als überständig abzutun. Es sei das gut, was
Individuen für sich einfach tun wollen, ohne nach einer Legitimation danach zu fragen. Eine
Legitimation gäbe es ohnehin nicht. Die großen Systeme der Ethik wie die Kants, Fichtes
oder gar Nicolai Hartmanns materiale Wertethik als Ausdruck der Moderne gehörten der
Vergangenheit an.
Zur einzigen moralischen Regel einer Ausprägung der Postmoderne ist eine indifferente
Toleranz geworden, und es gilt als einzige moralische Quasiregel, Individuen das tun zu
lassen, was sie tun wollen, eine Regel, die eigentlich keine Regel ist, weil sie nichts regelt,
sondern nur ein Nichtstellungnehmen auferlegt. Dies allerdings hinterlässt ein Unbehagen,
denn bei einer solch indifferenten Haltung lässt sich nichts kommunizieren, zu einer
gemeinsamen Sache machen. Sich vereinzelnde und vereinzelte Individuen fühlen sich nicht
glücklich, geraten in neurotische, wenn nicht psychotische Depression. Diese nimmt in einem
epidemischen Ausmaß zu.
Eine Zeit des Après-Devoir, in der man nichts mehr soll oder gar muss, wie sie Gilles
Lipovetsky (zit. nach Zygmunt Bauman (1995) herbeisehnt, kann einerseits als Befreiung von
letzten Überresten von Geboten und Pflichten gefeiert werden, andererseits ist eine derartige
Sicht der Dinge zynisch, denn leisten könnten sich das nur einige wenige oder diese Wenigen
würden sich wundern, wenn sie nicht mehr auf ihre liebgewordenen Infrastrukturen
zurückgreifen könnten. Gegenüber Auswüchsen schulbürokratischer Regelementierungen
(mehr Verordnungen als Tage im Jahr) könnte man wohl diese Haltung einnehmen. Dann
allerdings wird Moral nicht an sich abgewehrt, sondern nur die Übergriffe gegen Wünsche,
sich selbst autonom zu regeln.
24
Aus diesen Überlegungen ergeben sich zwei Ansätze über Moral zu sprechen:
1. Kommunikation, Zusammenleben will Verbindlichkeiten, die nicht von außen vorgegeben
werden, sondern von den Individuen selbst eingegangen werden wollen.
2. Nicht das Sollen ist die grundlegende ethische Kategorie, sondern das Wollen. Das Sollen
konstituiert Recht und nicht Moral. Moral wird durch den Willen sich selbst
verpflichtender Individuen in symmetrischen, kommunikativen Prozessen konstituiert.
Pädagogen stehen in besonderer Weise immer wieder vor Entscheidungen, wie sie in einer
bestimmten Situation handeln wollen. Entscheiden hat Bewerten zur Bedingung. Das
bedeutet, sie müssen sich ihrer Bewertungen bewusst sein, wollen sie ihre Entscheidungen
transparent und vermittelbar kommunizieren.
Aus der postmodernen Vorstellung, wie sie von Zygmunt Bauman (1995, S. 57 f.) vertritt,
„Moral aus dem steifen Panzer künstlich konstruierter ethischer Codes herauszulassen“ folgt,
was der modernen Auffassung entspräche, Moral zu repersonalisieren. Moralische
Verantwortung muss wieder dort angesiedelt werden, wo Entscheidungen getroffen werden
und dieser Ort ist das Individuum oder sind vergesellschaftete Individuen. Dieser Anspruch
kann unter moralischen Gesichtspunkten nur befürwortet werden, er ist allerdings
problematisch, wenn damit der Anspruch auf Universalisierung abgelehnt wird.
Universalisierung meint nicht unbedingt wie es Bauman vertritt, dass jeder Mensch dazu
gezwungen sei, eine moralische Regel für unbedingt verpflichtend zu halten, sondern meint,
dass, wer eine moralische Entscheidung trifft, ihre Konsequenzen für potentiell alle Menschen
berücksichtigen müsste. Dies ist aber wohl der Anspruch jedes moralisch denkenden
Menschen.
6 Literatur
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Deutscher Taschenbuch Verlag, 1986
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25
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Zeitschr.
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26
Nachtrag: Überlegungen zu Piagets Theorie des moralischen Urteils
Piaget unterscheidet in seiner Theorie der Entwicklung des moralischen Urteils beim Kinde
zwischen der Anwendung der Regeln und dem Bewusstsein von Regeln. Im ersteren Fall
erkenntPiaget 4, im zweiten Fall 3 Stadien.
Abbildung 1: Anwendung der Regeln
Stadium
1. Rein motorisches und individuelles Stadium
2. Egozentrisches Stadium
3. Stadium der beginnenden Zusammenarbeit
4. Stadium der Kodifizierung der Regeln
Auftreten im Alter
1
2-5
7-8
11 - 12
Abbildung 2: Bewusstsein der Regeln
Stadium
1. keine zwingende Regel
2. Regel heilig und unantastbar
3. Regel als ein auf gegenseitigem
Übereinkommen beruhendes Gesetz
Alter
bis zum Anfangstadium des Egozentrismus
Egozentrismus und erste Hälfte des Stadiums
der Zusammenarbeit
ab der zweiten Hälfte des Stadiums der
Zusammenarbeit
Piagets Deutungen der Entwicklung des moralischen Urteils können anders schlüssiger und
weniger aus einer autoritären Erwachsenensicht, von der sich selbst Piaget offensichtlich nicht
ganz befreien konnte, gefasst werden, wenn man z. B. die kindlichen Äußerungen im
„egozentrische Stadium“ von den Operationen des Kindes her interpretiert, komplexere
Zusammenhänge noch nicht zu durchschauen. Daher braucht es auch für sich die Sicherheit
der Regeln, es muss auch die Regeln einmal gelernt haben, beherrschen und in seiner
Funktion durchschauen, damit es sie überhaupt in Frage stellen kann.
Jean Piaget kommt bezüglich „der Beurteilung von Handlungen nach ihrem materiellen
Ergebnis oder der alleinigen Berücksichtigung der Absichten“ (1979, S. 148) aus seinen
Untersuchungen selbst zu dem Schluss, dass wegen des Tadels und der Sanktionen der
Erwachsenen der „objektive Begriff der Verantwortlichkeit ... ganz zweifellos als Ergebnis
des vom Erwachsenen ausgeübten moralischen Zwanges“ erscheine und dem Beispiel der
Erwachsenen selbst entspringe (ebd.). Außerdem wäre darauf zu achten, ob das Kind nicht zu
anderen Aussagen fähig ist bzw. kommt, wenn es über es selbst stärker betreffende
Geschichten oder besser Sachverhalte befragt wird.
Piaget legt selbst nahe, eine Form der Beziehung des Erwachsenen zum Kind zu finden, in der
das Kind „gewöhnt“ wird, „vom Gesichtspunkt der Nächsten zu handeln und ihnen eher
Freude zu machen sucht als zu gehorchen“, weil es erst dann dazu gelange, „auf Grund der
Absichten zu urteilen“. und Piaget kommt zu dem Schluss: „Die Berücksichtigung der
Absichten setzt daher die Zusammenarbeit und die gegenseitige Achtung voraus.“ (a. a. O., S.
155) Aber auch dieser Prozess ist anders zu sehen, denn das Kind ist so angewiesen auf
Zuwendung, Anerkennung, Achtung, dass es von sich aus selbstverständlich auf jede
Zuwendung eines Erwachsenen mit Lächeln, mit Freude reagiert. Unter diesem Gesichtspunkt
müsste man die Thesen Piagets in der Weise umformulieren, dass man sagt, dass das Kind
erst dann verunsichert ist, wenn die Erwachsenen mit zu wenig Achtung dem Kind begegnen
und es daher nicht eine „objektive Verantwortlichkeit“ entwickelt, denn dafür hat das kleine
Kind noch keinen Begriff, sondern es wird beginnen, seine eigene gefühlsmäßige
Bewertungsgrundlage aufzugeben und sich an die Regeln der Erwachsenen halten, um
Zuwendung zu bekommen.
27
Piagel bleibt aber diesbezüglich selbst in Schwebe, ob nicht „der Zwang des Erwachsenen,
welcher ihm (dem moralischen Realismus, KG) zugrunde liegt, im Kinde die Erscheinung der
objektiven Verantwortlichkeit erzeugt“ (1979, S. 133) und argumentiert diesbezüglich immer
wieder vom moralischen Realismus her, der erzeugt und nicht ursprünglich ist: „Findet das
Kind dagegen in seinen Geschwistern oder Spielkameraden eine Gesellschaft, welche sein
Bedürfnis nach Zusammenarbeit und gegenseitiger Sympathie entwickelt“ – als wäre dieses
nicht schon ursprünglich gegeben – „so wird es einen neuen Typus von Moral in sich
wachrufen, einer Moral der Gegenseitigkeit und nicht des Gehorsams. Die Moral der Absicht
und der subjektiven Verantwortlichkeit.“ (a. a. O., S. 154) Mit Piaget kann man aber voll
übereinstimmen, wenn es um die Frage geht, wie Moral entwickelt werden kann, wenn die
ursprüngliche Wechselseitigkeit als fundamentales Prädikat moralischen Handelns gebrochen
wurde.
Die Argumentation Piagets spitzt sich bei der Untersuchung der Lüge zu, weil er davon
ausgeht, dass das Lügen beim Kinde aus dem „Problem des Zusammentreffens des
egozentrischen Verhaltens mit dem vom Erwachsenen ausgeübten Zwang“ zu verstehen sei.
Piaget kennt hier wieder drei verschiedene Definitionen der Lüge, die sich
entwicklungsdynamisch überhöhen.
1. Er fand zunächst bei den kleinen Kindern (bis 6 Jahre) eine „rein realistische“ Definition:
„eine Lüge ist «ein häßliches Wort»“ (a. a.O., S. 156) Lüge hat damit die Bedeutung wie
jedes hässliche Wort, wie Schimpfwörter. Als Erklärung für diese Gleichsetzung, bzw.
Form der Assimilation bietet Piaget die Tatsache an, dass beide sprachlich sind. Lügen und
Schimpfwörter gehören beide der linguistischen Sphäre an (a. a. O., S. 158). Piaget meint
in diesem Zusammenhang, dass es für das Kind zunächst keine Lüge gebe, für es sei das
Lügen wie ein Fabulieren und es würde ihm nur zur Lüge, wenn sich die Umwelt darüber
entrüste. Das Bewusstsein der Lüge bleibe dem Kind also zunächst äußerlich (a. a. O., S.
159).
2. Zwischen 6 und 10 Jahren definieren Kinder die Lüge als etwas, „was nicht wahr ist“
(ebd.). Dabei wird zunächst der Irrtum selbst für eine Lüge gehalten. Diese Assimilation
hört mit etwa 8 Jahren auf. Piaget meint gerade zu der Zeit, zu der absichtliches und
unabsichtliches Handeln unterschieden werden. Vorher bestehe ein Animismus,
Artifizialismus und Finalismus. Nun diese Deutungen von kindlichen Weisen des
Weltverstehens ließen sich auch anders vornehmen, indem auf die psychischen
Kompetenzen von Kindern dieses Alters geachtet wird. Solche Deutungen sind außerdem
gefährlich, weil man mit ihnen das kindliche Verstehen zu stark rubriziert und nicht von
seinen Kompetenzen her interpretiert.
3. Die Lüge erhalte nun die „korrekte Definition“: „eine Lüge ist eine absichtliche falsche
Behauptung“ (a. a. O., S. 163). Sie taucht bei den 10 bis 11jährigen auf.
Auch bei diesen Interpretationen ist es wieder sinnvoll, von der Psychodynamik der kleinen
Kinder auszugehen. Sie brauchen die Wertschätzung, Achtung und Sicherheit der
Erwachsenen und werden eher das für „schlimmer“ ansehen, das bei den Erwachsenen
negativere Konsequenzen hat. Kann das Kind aber sich bei den Erwachsenen auch ohne
„Lügen“ sicher fühlen, dann wird es auch nicht „lügen“, vielmehr bei dem bleiben, was es
erlebt hat. Dabei können Übertreibungen aus Angst oder anderen Gründen schon vorkommen.
In der künstlichen Situation des Interviews wird von den Kindern eine Lüge umso schwerer
beurteilt „je unwahrscheinlicher sie ist und je mehr ihr Inhalt von der Wirklichkeit abweicht“
(a. a. O., S. 173). Interessant ist, dass selbst Piaget bemerkt, dass bei den Kindern zwischen 6
und 12 Jahren fest zu stellen ist, dass sie einmal sich nur auf den materiellen Schaden, das
andere Mal sich nur auf die Absicht beziehen. Dies dürfte wohl damit zusammenhängen, was
die Kinder mehr zu befürchten haben.
Wird noch ergänzt!!!!!
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