SPEECH/03/203 Romano Prodi Präsident der Europäischen Kommission Die Unterzeichnung Beitrittsvertrags Die Unterzeichnung des Beitrittsvertrags Athen, den 16. April 2003 des Meine Damen und Herren, heute unterzeichnen wir feierlich den Beitrittsvertrag, mit dem unsere Union zehn neue Mitgliedstaaten und 75 Millionen neue Mitbürger aufnimmt. Gleichzeitig ebnen wir den Weg zu dem für 2007 vorgesehenen Beitritt weiterer Länder wie Rumänien und Bulgarien. Heute rufen wir in der Wiege der Demokratie, dem Parthenon, unsere Völker und Parlamente auf, den Beitrittsvertrag zu ratifizieren, mit dem unser Kontinent in Frieden und Demokratie vereint wird. Heute können wir zu Recht stolz sein auf das, was Europa seit Unterzeichnung des ersten Vertrags - der Gemeinschaft für Kohle und Stahl - erreicht hat. Stolz auf Jahrzehnte des Friedens, der Zusammenarbeit und der Freundschaft zwischen unseren Völkern, des gemeinsamen Wohlstands, einer immer engeren Union unserer Staaten und des Primats unserer Werte: Demokratie, Rechtsstaatlichkeit, Minderheitenschutz, Toleranz und Solidarität. Heute müssen wir den Völkern in den zehn Ländern, die jetzt der Europäischen Union beitreten, Dank sagen. Dank dafür, dass sie lange vor dem Fall der Berliner Mauer ihrem Wunsch nach einem Leben in Freiheit und Demokratie mit ihren europäischen Nachbarn Ausdruck gaben. Wir sind ihnen zu Dank verpflichtet für die stille Revolution, die sie in den vergangenen zwölf Jahren bewirkt haben, und für die Art und Weise, in der sie ihre politischen Systeme, ihre Volkswirtschaften, ihre Behörden und ihre Rechtssysteme reformiert haben. Der Beitritt zur Europäischen Union ist ihr Verdienst; sie können ihn mit erhobenem Haupte, voller Stolz über das Erreichte und mit der Begeisterung und Entschlossenheit, die sie ausstrahlen, vollziehen. Heute also öffnen wir unsere Arme, um die 75 Millionen neuen EU-Bürger zu empfangen und ihnen zuzurufen: Hier ist eure neue Heimat. Es liegt an euch, sie zu schätzen, sich darin einzurichten, darin zu träumen, sie weiter auszugestalten und noch zu vergrößern. Und gegebenenfalls wird es eines Tages eure Pflicht sein, ihre Werte und Gründungsprinzipien zu verteidigen. Morgen erwarten uns viele Aufgaben: • Wir haben solide demokratische Institutionen aufgebaut. Diese Institutionen müssen für die neue Ära weiter gefestigt werden, ohne das, was ihre Originalität, ihre Ausgewogenheit und ihre Dynamik ausmacht, zu unterhöhlen. • Wir haben uns eine gemeinsame Währung, den Euro, gegeben, die allerdings bisher noch nicht von allen Mitgliedstaaten eingeführt worden ist. Auch haben wir noch nicht geschafft, unsere Wirtschaftspolitiken hinreichend eng zu koordinieren, um unseren Wachstumsmotor optimal einstellen sowie Arbeitslosigkeit und Armut endlich überwinden zu können. • Wir haben einen großen Binnenmarkt geschaffen, in dem Personen Güter, Dienstleistungen und Kapital frei verkehren. Gleichwohl bleibt noch viel zu tun, bis dieser Binnenmarkt vollendet ist und wir über moderne Infrastrukturnetze verfügen, damit er seine volle Wirksamkeit entfalten kann. • In Lissabon haben wir eine auf Wissen, Solidarität und Umweltschutz gestützte Wachstumsstrategie angenommen, doch bedarf es noch großer Anstrengungen, um das gesamte Potenzial zu mobilisieren, das uns Humanressourcen und Technologie bieten. 2 • Wir verfolgen das ehrgeizige Vorhaben, im Bereich Justiz und Inneres einen gemeinsamen Raum der Sicherheit zu schaffen; allerdings stehen wir erst am Anfang eines langen Weges. • Der Krieg in Irak schließlich hat gezeigt, dass wir noch aktiver zusammenarbeiten müssen, wenn wir die Weltpolitik mitgestalten, unserer Stimme Gehör verschaffen und unsere Grundsätze verteidigen wollen. Dazu müssen wir eine auf gemeinsamen Konzepten basierende gemeinsame Außenpolitik entwickeln und uns die Instrumente an die Hand geben, die wir für unsere kollektive Sicherheit und Verteidigung benötigen. • Die Geschichte, insbesondere die jüngste Entwicklung auf dem Balkan, im Nahen Osten und in Afrika, hat uns vor Augen geführt, dass die Welt nach wie vor voller gefährlicher Spannungen ist. Innerhalb unserer nunmehr erweiterten Grenzen haben wir Frieden schaffen können. Was wir jedoch auch brauchen, ist ein Ring befreundeter Nationen, der sich von Marokko über die Mittelmeeranrainerstaaten bis hin zu den östlichen Grenzen der Union nach Russland spannt. Gemeinsam mit diesen Nachbarstaaten und befreundeten Ländern wollen wir einmal alle Vorteile der Union nutzen, die zu Stabilität und Wohlstand beitragen, ich betone: alle, außer unseren Institutionen. • Im Namen Europas möchte ich dem isolierten, marginalisierten, durch so viele Konflikte und Plagen gezeichneten afrikanischen Kontinent eine Botschaft der Solidarität und der Freundschaft senden. Die Zusammenarbeit mit Afrika war im Vertrag von Rom festgeschrieben worden. Wir betrachten sie auch künftig als Priorität. • Im Namen Europas grüße ich Lateinamerika, das trotz einer nicht enden wollenden Wirtschaftskrise daran arbeitet, seinen Kontinent zu einigen. Mein Gruß geht auch nach Asien, das unsere Forschritte auf dem Weg zur Einheit über Jahrzehnte hinweg mit Interesse und Sympathie verfolgt hat. Unser nunmehr geeinter Kontinent ist bereit, mit den Ländern Asiens Regeln für eine kontrollierte Globalisierung aufzustellen, die allen Völkern zugute kommt. • Unseren amerikanischen Freunden und Verbündeten schließlich möchte ich sagen: Niemand hier in Europa hat vergessen, wem wir unsere Freiheit verdanken. Es ist nun an der Zeit, unsere jüngsten Differenzen zu überwinden und gestützt auf die jahrhundertelange Freundschaft zwischen unseren Völkern eine neue Zusammenarbeit als Fundament eines dauerhaften Friedens in der Welt zu etablieren. Meine Damen und Herren, Heute, da wir feierlich die friedliche Einigung unseres Kontinents begehen, gilt es auch, die herausragende Vision unserer Gründerväter zu würdigen. Die Geschichte hat ihre Weitsicht bestätigt: Aus einem Zusammenschluss von sechs Nationen, die sich kaum erst von den Folgen des Krieges erholt hatten, hat sich heute eine Union aus 25 freien, starken Nationen entwickelt. Und wahrscheinlich werden in Zukunft noch mehr Staaten dieser Union freier friedliebender Staaten und Völker beitreten. Wie unsere Gründerväter berufen auch wir uns auf die aus der Zeit der Aufklärung übernommenen Prinzipien: Freiheit, Demokratie, Rechtsstaatlichkeit, Gerechtigkeit, Toleranz und friedliche Beilegung von Streitigkeiten. Im Zeitalter der Globalisierung können diese Grundsätze nur dann sinnstiftend sein, wenn sie zum universellen Maßstab werden. Europa ist unsere Heimat, eine gerechte Welt ist unser Ziel. 3