Das Tier in mir

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Das Tier in mir
Die Mensch-Tier-Verwandtschaft in der zeitgenössischen Kunst
26. Januar - 1. April 2002
Teil 3 der Trilogie: Du sollst Dir ein Bild machen.
Die fremden Ebenbilder des Menschen in der Kunst
Bruce Nauman
Ästhetisch zwingende Lösungen, ästhetische Gewalt hat Bruce Nauman (geboren
1941 in Fort Wayne, Indiana) in seinen Arbeiten nie von sozialer und politischer
Gewalt getrennt. Seit seinen Körperabgüssen, klaustrophobischen
Korridorinstallationen und Performances der sechziger Jahre bis zu den späteren
Videoarbeiten, Metallskulpturen und installativen Versuchsanordungen (etwa
»Learned Helplessness in Rats [Rock and Roll Drummer]«, 1988) kreuzen sich bei
der Frage nach Gewalt immer wieder Mensch- und Tierkörper. Wenn die
menschliche Kommunikation, wie von Samuel Beckett dargestellt (und von Nauman
intensiv rezipiert), nicht soziales Miteinander garantiert, sondern zu absurd
unverbundenem Vegetieren führen kann, existiert der Mensch mit offensichtlicher
Sicherheit nur als Leib, nähert sich insofern dem Tier an.
Ende der achtziger Jahre befaßte sich Nauman mit vorgefertigten Tiermodellen für
Tierpräparatoren, die als Untervolumen für den Fellbezug gehäutetem Schlachtvieh
ähneln. Die Trägerkonstruktion von »Carousel« (1988) läßt nicht nur an die Galgen
vormoderner Justiz denken, sondern als Karussell mit Motorbetrieb auch an
Rummelplatz und Zirkus. Darin mischen sich auf für Nauman typische Weise
existentielle
Irritation und grotesker Humor. In der Videoarbeit »Clown Torture« (1987) arbeitet
sich ein Clown nicht am Lacherfolg beim Publikum ab, sondern auf einer öffentlichen
Toilette an seiner Verstopfung – in karussellartiger Endlosschleife. Zirkus und Clown
können dabei durchaus als Metapher für Ausstellungsbetrieb und Künstler
verstanden werden. Nauman: »Betrachtet man Zeiten, in denen die Arbeit
schwerfällt, als Zeiten geistiger Verstopfung, kann das Bild eines scheißenden
Clowns (...) als brauchbare Parallele dienen.« Daß der Titel die Verstopfung des
Clowns als »Torture« bezeichnet, ist gleichzeitig witzige Übertreibung und ernsthafter Hinweis: Gewalt erleidet das Individuum,
auch das Tierindividuum,
immer dann, wenn es durch Zwang auf die Grenzen seines Leibes zurückgeworfen
wird. Insofern stehen die rudimentären Tierkörper von »Carousel« nicht nur für
Zirkus, Dressur und die Gewalt des bezwungenen Willens.
Naumans Werkgruppe mit Tierkörpern folgt auf eine Werkgruppe ebenfalls
hängender Metallkonstruktionen, die die politische Folter in Südafrika und
Südamerika thematisiert. Indem Nauman Tier- und Menschenkörper parallel
thematisiert, zielt seine Kunst auf die existentielle Ebene von Schmerz, Gewalt und
Vergänglichkeit. »Es heißt, in der Kunst geht es um Leben und Tod; das mag
melodramatisch sein, aber es stimmt auch« (Nauman 1978). MW
Joseph Beuys
»Tiere sind an und für sich auch Engelwesen. Das spricht von einem Reich oberhalb
des Menschen, von einer geistigen Dimension, die im Menschen selbst enthalten
ist.« In der Vorstellung von Joseph Beuys ist das Tier Verbindungsglied und Zugang
zu anderen
geistigen Ebenen. »Wie man dem toten Hasen die Bilder erklärt« (1965) und
»Coyote, I like America and America likes Me« (1974) sind zwei der berühmtesten
Aktionen des Künstlers, in denen deutlich wird, welche wesentliche Rolle das Tier für
sein künstlerisches Schaffen spielt. Bereits früh beschäftigt sich Beuys (geboren
1921 in Krefeld, gestorben 1986 in Düsseldorf) intensiv mit naturwissenschaftlichen
Studien. Sein Interesse für Zoologie vertieft sich in der Freundschaft mit dem
Naturforscher und Tierfilmer Heinz Sielmann, in der späteren Auseinandersetzung
mit dem Akademielehrer und Tierbildhauer Ewald Mataré und der Bekanntschaft mit
Konrad Lorenz.
Beuys geht es um Wesensqualitäten des Tieres in einem tieferen Sinne. Er versteht
es als ein erweiterndes Organ des Menschen, als Transmitter und
Katalysator zwischen organischer und intellektueller Existenz. Seine
Tierdarstellungen und Mischwesen aus Tier und Mensch mögen an Höhlenmalereien
wie in Lascaux, Altamira oder Chauvet erinnern, sie transformieren die archaischen
Bilder ins 20. Jahrhundert und konfrontieren sie mit sozialen, ökonomischen und
ökologischen Problematiken. Biene und Hase haben einen Sonderstatus im Werk:
Der Hase, mit direkter Verbindung zur Erde, in die er sich immer wieder eingräbt,
steht für Geburt und Reinkarnation; am Beispiel der Bienen entwickelt Beuys seine
»plastische Theorie« und deren erweiterten Kunstbegriff. Die planetarische
Bedeutung der Biene als Sonnentier, der Bienenstaat als Energiemodell und der
Wärmecharakter der Substanzen Wachs und Honig bieten den entscheidenden
Anstoß dazu. Frühe Zeichnungen der fünfziger Jahre verschmelzen das Motiv der
Bienenkönigin und der Frau zum Bild der Tierfrauen. In der Documenta-Installation
»Honigpumpe am Arbeitsplatz« von 1977 zirkuliert der energietragende Blütennektar
im Raum und bringt darin Beuys’ alternativen
Begriff von Wissenschaft und die weitreichende politisch-gesellschaftliche
Bedeutung von Kunst als kreatives
Potential zur Anschauung. DE
Volker Harlan: Was ist Kunst? Werkstattgespräch mit Beuys. Stuttgart 1986
Theodora Vischer: Joseph Beuys –
Die Einheit des Werkes. Köln 1991
Franz Marc
»Ich sehe kein glücklicheres Mittel zur Animalisierung der Kunst als das Tierbild.«
Für Franz Marc (geboren 1880 in München, gestorben 1916 vor Verdun) ist die
Darstellung insbesondere des Pferdes unerschöpfliches Thema und mythisches
Leitmotiv der Entwicklung seiner Vorstellungen von der utopischen Kraft der Malerei.
Beeindruckt vom Impressionismus sowie von van Gogh und in freundschaftlichem
Kontakt mit Kandinsky, Macke und Münter sucht Marc im Symbolgehalt der Farbe
höhere, spirituelle Seinsebenen zu
erkennen. Auf seiner pantheistischkosmologischen Suche wird ihm das Auge des Tieres zum Gewährsort ganz anderen
Sehens. »Gibt es für Künstler eine geheimnisvollere Idee als die, wie sich wohl die
Natur in dem Auge eines Tieres spiegelt? Wie sieht ein Pferd die Welt oder ein Adler,
ein Reh oder ein Hund? Wie armselig, seelenlos ist
unsere Konvention, Tiere in eine Landschaft zu setzen, die unsren Augen zugehört,
statt uns in die Seele des Tieres zu versenken.« Ein empfindungsreicher Glaube an
die sensitiven, den Menschen beinahe übertreffenden spirituellen Fähigkeiten der
Tiere sind der Weg, »ihr absolutes Wesen, das hinter dem Schein lebt«, zu
erkennen. »Die Kunst ist metaphysisch, wird es sein; sie kann es erst heute sein. Die
Kunst wird sich von Menschenzwecken und Menschenwollen befreien«, glaubt Marc.
Strukturierte Naturnähe in empfindsam gesehener, kraftvoller Plastizität zeigt sich in
der skulpturalen Gruppe »Zwei Pferde« (1908). Zugleich ist die Suche nach der
Autarkie der animalischen Natur getragen von den Gesetzlichkeiten der Farbe und
der Form.
Insofern erscheinen in »Blaue Fohlen« die Pferde ornamental in die Fläche
gebannt. Im Bildaufbau den Grundfarben vertrauend, wird die natürliche Energie der
Tiere in ein konstruktives Miteinander gesetzt. Die Fohlen erscheinen in typisierter
Vitalität und
signalisieren in der blauen Färbung
zugleich Ferne, Spiritualität. Das Bild entsteht 1913, im Jahr des »Turms der Blauen
Pferde«, der seit dem Zweiten Weltkrieg angeblich verschollenen Ikone des
Expressionismus. 1913 deutet sich nochmals das »Ziel« an, zu dem sich Marc 1911
als einer der »Wilden Maler Deutschlands« bekannt hat: »Durch ihre Arbeit ihrer Zeit
›Symbole‹ zu schaffen, die auf die Altäre der kommenden geistigen Religion gehören
und hinter denen der technische Erzeuger verschwindet.« DT
Christian von Holst (Hg.): Franz Marc – Pferde. Kat. Staatsgalerie Stuttgart 2000
Sandra Munzel
In den Plastiken von Sandra Munzel (geboren 1968 in Peine) begegnet man kleinen
Kreaturen zwischen Mensch und Tier, nahen fremden Wesen. Unterschiedliche
Körper gehen ineinander über, scheinbar Gegensätzliches wird kombiniert –
Tiergesichter wachsen
aus einem Menschenleib (»Bärmutter«, 1997), eine Vielzahl weiblicher Brüste sitzt
auf einem männlichen Vogelrumpf (»Die Ganterin«, 1997), ein Bärenkörper trägt ein
Kindergesicht (»Tier mit Zunge«, 1996). In ihren zierlichen
Werken exerziert die Künstlerin unheimliche Körperexperimente. Stofftiere bildeten
zunächst den Kern der plastischen Arbeiten, sie wurden mit Wachs überzogen und
verfremdet. Wie bei Jeff Koons oder Mike Kelley sind diese Stofftiere, als emotionale
Speicher und puppenhafte Gegenüber für
Kinder, das besetzte Ausgangsmaterial für ein psychologisch-bildhauerisches Spiel.
Auch die später entstehenden Tonfigürchen überzieht Munzel mit jener
Wachsschicht, die den Körpern eine durchscheinende Weichheit verleiht. Eingefärbt
und bemalt wirken ihre Oberflächen wie gerötete, verletzliche und verletzte Haut.
En miniature werden so gewaltige Themen verhandelt wie Geburt, Fruchtbarkeit,
Sexualität und Tod. Mit ihrer konzentrierten Körperlichkeit, ihrer Vielbrüstigkeit etwa
oder den zur Schau getragenen Geschlechtsteilen, haben die kleinformatigen
Plastiken die Ausdruckskraft archaischer Idolfigürchen.
In seiner Publikation »Das biotechnische Zeitalter« (1998) spricht Jeremy Rifkin vom
künstlichen Menschen als der »zweiten Schöpfung« und beschwört neue
Möglichkeiten einer technoiden Wesenskombinatorik: »Vielleicht werden wir Zeugen
der Erschaffung zahlloser neuer Tierchimären, unter anderem auch von MenschTier-Hybriden (...) Die künstliche Erschaffung von
klonierten, chimären und transgenen Tieren könnte (...) den Beginn einer
bioindustriell gestalteten Welt einläuten.« Ganz entgegen der Faszination Rifkins
haben Munzels Chimären mit verborgenen Stimmungen und Kräften zu tun, mit
emotionalen Zuständen, nicht mit biotechnischer Optimierung des Körpers. Chimären
haben die Kunst als Erfahrungs- und Experimentierraum fremder Selbstbilder immer
belebt und darin dem Menschen Äußerliches wie Innerliches zugänglich gemacht.
Munzels Skulpturen sind Anschlüsse an Urbilder, unbewußte Identitäten und
Empfindungen, eine unheimliche und kraftvolle Miniaturwelt, in der
Körper aufbrechen, sich verformen und darin auf die fremden Dimensionen
unseres eigenen Leibes und unseres
Bewußtseins deuten. DE
(e.) Twin Gabriel
Häufig in ihren Skulpturen, Klanginstallationen, dezentralen Projekten und
vielgestaltigen Recherchearbeiten haben (e.) Twin Gabriel, d.h. Else
Gabriel (geb. 1962 in Halberstadt) und Ulf Wrede (geb. 1968 in Potsdam),
Tierverhalten in architektonischen Zusammenhängen thematisiert, um letztlich
Menschenverhalten ebenso illusionslos wie humorvoll in den Blick zu rücken. Im
Berliner Haus am Waldsee setzten sie gemeinsam mit Georg Herold 1996/97
Tausende von Schnekken aus. Die Ausstellungsbesucher schritten behutsam durch
die Räume, um kein Kriechtier zu zertreten – und nahmen erstmals den Kunstort
selbst als architektonische Gegebenheit wahr, was Ziel der Schneckeninvasion
gewesen war.
Für das Institut Technische Informatik der Universität Mannheim, an dem in der
Chipentwicklung und Optoelektronik spektakuläre Forschungsergebnisse erreicht
worden sind, entwarfen (e.) Twin Gabriel im Rahmen eines Kunst-am-BauWettbewerbs einen Beitrag in Gestalt einer Sitzlandschaft. Aus farbigem Beton wird
das Modell eines Längsschnitts durch das Hirn eines Affen nachgebaut. Besonders
hervorgehoben werden die Bereiche, die teilweise zum limbischen System gehören
und in denen das Belohnungszentrum vermutet wird. In der Mitte steht ein
Frischobstautomat, an dem Bananen (alternativ Glückskekse) gekauft werden
können. Wenn hochentwickelte Superchips und optoelektronische
Identitätskontrollen irgendwann einmal an Automaten zum Einsatz kommen,
funktionieren diese für den Benutzer emotional nicht immer noch so schlicht wie die
Staude, von der der Urwaldprimat die Banane klaubt? Freut sich der auf Kreditkarte
konditionierte Bankkunde über die gelungene Geldentnahme nicht wie der Affe über
die Banane? Es gibt Theorien, die ordnen die Affektlogik ein zwischen qualitativer
Gefühlswelt und quantifizierender, sachorientierter Wahrnehmung. Schon Pawlows
Versuche mit Hunden ließen manchen Menschenerzieher und Soziotechnokraten
erkennen: Belohnung stimuliert Leistung. Das Belohnungszentrum ist Quelle des
Forschritts dank Lust an der Entspannung durch Erkenntnis. Nie allerdings streift die
stets auf das Verhalten und das Bewußtsein des Menschen zielende Hirnforschung
an Tieren die unfreiwillige Komik ab, mit der – bildlich gesprochen – Menschen ihr
Gehirn anstrengen, um in ihr eigenes Gehirn zu gucken. Sie ähneln darin Hunden,
die kreisend versuchen, ihren Schwanz zu schnappen. DT
(e.) Twin Gabriel: floating-floccinaucinihilipilification. Kat. South London Gallery,
London 1997
Kirsten Geisler
Kirsten Geisler (geboren 1949 in Berlin) befaßt sich seit den frühen neunziger Jahren
in ihren Videos, Installationen und computeranimierten Bildern mit
Verfügungsfantasien des Menschen über Maschinen und Tiere. Einem größeren
Publikum wurde sie Mitte der neunziger Jahre durch ihre Darstellung eines
überlebensgroßen, Schönheitsstandards perfekt umsetzenden Frauengesichts
bekannt, das sie in verschiedenen, auch interaktiv »reaktionsfähigen« Varianten
ausführte. Der Werkgruppe der »Beauty« folgte Ende der neunziger Jahre die
»Fliege«, ebenfalls auf unterschiedlich untersuchende Weise umgesetzt.
Die in Holland tätige Künstlerin
operiert auf der ästhetischen Grenze von real und fiktiv: Sie spielt maximale
technische Perfektion gegen das schleichende Glaubwürdigkeitsdefizit solcher
Perfektion aus. Je glamouröser uns die überlebensgroße »Beauty«, interaktiv
gereizt, zuzwinkert, je naturgetreuer
die virtuelle Fliege ihre vielgliedrigen Beine bewegt, desto irrealer, desto jenseitiger
erscheinen sie. Beide, das schöne Frauengesicht und die Fliege, Mensch und Natur,
sind digitale Kreaturen der Künstlerin, womit sie, durchaus ironisch gebrochen, den
Schöpfergottmythos als Künstlerselbstverständnis reaktiviert. So glatt und technoid
sich die Videoarbeiten und interaktiven Bildschirme Geislers präsentieren, so tief sind
sie in die alte theologische Hierarchiedebatte um Tier, Mensch und Gott und, in
der rationalisierten Erbschaft dieser
Debatte, um die Maschine und den Menschen als ihren Schöpfergott verstrickt. In
Geislers Arbeiten scheint die digitale Rechenmaschine dem menschlichen Willen
Verfügungsmacht über so etwas Flüchtiges wie physiognomische Schönheit oder –
wörtlich flüchtig – stets
davonfliegende Insekten zu geben.
Am Rande, fast abgründig beiläufig, wird dadurch die Dressur des Publikums durch
sogenannte interaktive Medien thematisiert. Je nachdem, wo die Besucher den
Bildschirm berühren, »reagiert« die virtuelle Fliege mit einer
Bewegung. Die kausale Schlaufe zwischen Bildschirmberührung und dadurch
ausgelöster, vorprogrammierter Bildschirmreaktion ist eng und vorhersagbar,
allerdings suggeriert sie den Übertritt aus dem Realen ins Fiktive, einen kategorialen
Realitätensprung. Insgeheim ist diese Überschreitung eine elektronische
Nachinszenierung metaphysischen Einwirkens auf konkret-banales Alltagsleben,
Gottes Fingerzeig in den Wirrnissen von Natur und Kultur, vom interaktiv gebannten
Besucher immer wieder nachgespielt mit Daumen oder Zeigefinger auf dem Touch
Screen. Fliegen sind da eigensinniger. MW
Louise Bourgeois
»Die Gewalt im Werk resultiert aus der Frustration. Jede Art von Frustration macht
ein Tier gewalttätig. Wir sind
alle in gewisser Weise frustriert, und Frustration und Gewalt sind wie ein Pendel, das
hin und her schwingt, hin und her.« (Louise Bourgeois, 1990)
Im Jahr 1994 beginnt Louise
Bourgeois (geboren 1911 in Paris)
mit einer Serie von großformatigen
Spinnen-Plastiken aus Stahl, die mit ihrer beunruhigenden Größe in den Raum
greifen und in ihren beängstigenden Ausmaßen bedrohlichen Kindheitserfahrungen
gleichkommen.
Eines der ersten Exemplare, »Spider« von 1994, ist eine Aneinanderfügung
abstrakter Formen, die zum surrealistischen Insekt werden. Vom kleinen, massiv
runden Leib ragen die Beine dünn und spitz herab. Unter dem
dunklen Torso zeigt sich ein Glas mit blauer Flüssigkeit, die sich ebenso als das
kühle Blut des Insekts, als das Substrat seiner ausgesaugten Opfer, oder als giftig
schillerndes, symbolisches
Destillat von Ängsten lesen läßt.
Als persönliche Metapher für die Mutter von Bourgeois knüpft das Motiv der Spinne
zugleich an archaische
Bilder an. Robert Pincus-Witten betont die Bedeutung des französischen
Wortes »tordre« (weben oder drehen) für die Skulptur von Bourgeois, und Marina
Warner stellt die Verbindung zur mythologischen Figur der Arachne her. Die
mythologische Weberin, die kunstvolle Teppiche anfertigte, wird, weil sie
Geschichten der Olympier ausplaudert, von Minerva zur Strafe in eine Spinne
verwandelt – Arachne ist ebenso eine Bildproduzentin wie die Künstlerin Bourgeois,
deren Eltern in Paris eine Werkstatt für Teppichrestauration betrieben. Dort hatte die
junge Louise bald die Aufgabe, in Zeichnungen die fehlenden Stellen für die Weber
zu
ergänzen. Im Restaurieren der Teppiche, in der sorgsamen und kunstvollen
Ergänzung ihrer Fehlstellen, erkennt sie auch eine Metapher für die
Auseinandersetzung mit persönlicher und kollektiver Geschichte. DE
Louise Bourgeois – Skulpturen und
Installationen. Kat. Kestner-Gesellschaft Hannover 1994
Louise Bourgeois. Kat. Tate Modern,
London 2000
Katharina Fritsch
Als Katharina Fritsch (geboren 1956 in Essen) Ende der achtziger Jahre zur
Vorbereitung einer Ausstellung von der Dia Art Foundation nach New York
eingeladen wurde, war ihr erster Eindruck: »New York ist ja gar nicht so eine
moderne Stadt, sondern eher eine aus den 20er Jahren (...) Metropolis, Dämon
der Großtadt (...) Also dieser Eindruck war für mich in den ersten Tagen die erste
Erfahrung, und die führt bei mir meistens zu einer Vision, die absolut momentan
intuitiv kommt (...) Dann sind wir durch ein Türchen hinten aus dem
Ausstellungsraum herausgegangen, in einen ganz kleinen, engen Gang zwischen
zwei Hochhäusern. Und das war ein richtiges Rattenloch. Und dann war die
Vorstellung sofort da. Und das verband sich mit der Idee, einen ›Rattenkönig‹ zu
bauen (...) Eine Ratte ist für mich überhaupt kein Ekeltier. Aber als ich (...) über mein
Projekt für das Dia Center nachgedacht habe, wurde mir klar, daß die Symbolik der
Ratte – Überlebenswille, Aggressivität, eine gewisse Ruchlosigkeit – gut zu New
York paßt.«
Waren die historischen Wappentiere und Stadtallegorien aus dem kollektiven
Bilderfundus des mittelalterlichen Rittertums und später der Bistümer und
Herzogtümer hervorgegangen, so setzte
Katharina Fritsch New York 1993 ein heraldisches Zeichen aus individueller Intuition:
den »Rattenkönig«, bestehend aus sechzehn 2,80 m hohen Tierskulpturen, in einem
Kreis von 13 m Durchmesser aufgestellt und im Kreisinneren an den Schwänzen zu
einem stilisierten Knoten verbunden. Immerhin geht diese Verknotung auf kollektive
Erzählungen zurück. Nach alten europäischen Volkssagen bildet sich ein
sogenannter Rattenkönig, wenn sich junge Ratten im Nest an ihren Schwänzen
unentwirrbar miteinander verheddern.
Katharina Fritsch, zu deren Werk Großskulpturen eines Elefanten (1987), einer Maus
(1991/92) oder von Pudeln (1995/96) gehören, erhielt 1993 in
New York zwar gemischte Reaktionen zu ihrer persönlich intuitiven Allegorie der Stadt, dafür aber die Zustimmung
einzelner: »Die direktesten Reaktionen sind von einer New Yorker Schulklasse
gekommen, die mit ihrer Lehrerin im Dia Center war (...) Was mich wirklich fasziniert
hat, war, daß einige aus der Gruppe dann meinten, die Häßlichkeit und das
Abstoßende an Ratten wären doch nur Projektionen, Ratten könnte man doch auch
süß finden. Ein Mädchen sagte, der ›Rattenkönig‹ müßte auf das Empire State
Building, damit man ihn von Queens aus sehen könnte, als Zeichen von New York.«
Katharina Fritsch. Kat. Museum of
Modern Art San Fransciso / Museum
für Gegenwartskunst Basel 1997
Diana Thater
In Diana Thaters Film »Electric Mind« (1996) gelingt es einem Neurologen, das
Gehirn seiner toten Tochter als elektrische Kopie einem Schimpansen einzupflanzen.
Der besondere Fall des schließlich als Person akzeptierten Schimpansen läßt uns
allgemeine Sichtweisen hinterfragen: die holzschnitthafte Dualität von Mensch/Tier,
Geist/
Körper, Vernunft/Instinkt, mit der wir uns von unseren animalischen Ursprüngen
abgrenzen. Immer wieder konfrontiert uns die 1962 in San Francisco geborene, in
Los Angeles lebende Künstlerin in ihren Installationen mit Tieren, die scheinbar
menschliche Eigenschaften besitzen bzw. annehmen.
In Thaters Menagerie sind die Tiere allesamt dressiert. Sie zeigt ein Zebra, das sich
auf einen Zirkushocker quält, einen weißen Hengst, der nach der Peitsche tanzt. Ist
es in »Electric Mind« ein Affe, den ein Filmteam sorgsam
dirigiert, so wird in »A Confusion of Prints« ein Wolf zum Hollywood-Darsteller
abgerichtet. In kurzen, gegeneinander geschnittenen Sequenzen sehen wir den
tierischen Protagonisten in einem eingezäunten Übungsgelände. Wir beobachten,
wie der ›wilde‹, weiße Wolf gezähmt und von Trainern – hat er sie als ranghöhere
Rudelmitglieder anerkannt? – angeleitet wird. Die mediale Produktion, deren Zeugen
wir werden, offenbart die Konstruiertheit unserer mentalen Bilder. Was wir alltäglich
auf Tiere projizieren, wird hier professionell umgesetzt. Das Tier verwandelt sich in
ein Bild unserer Vorstellungen von ihm. In der Installation jedoch wendet sich
unversehens das Blatt, und die Tiere scheinen uns anzusehen.
»Mich interessiert die Überlagerung und der Austausch von Identitäten (...) Wenn ich
diese Tiere mittels Video in den Kunstraum einführe, erhebt sich die Frage des
Austauschs zwischen betrachtenden Subjekten und betrachteten Objekten.« (Thater
1998) Es gibt keinen festen Standpunkt, von dem
aus der Betrachter sich passiv vom Bildgeschehen distanzieren könnte. Von
Monitoren und/oder Projektionen umgeben, bewegt er sich in der Arbeit, wechselt
Perspektiven und nähert sich so dem Eigenen im Anderen an. Die
Auseinandersetzung mit der Ähnlichkeit und Andersartigkeit der Tiere ermöglicht
eine Relativierung des eigenen Ich: »Ich wäre lieber ein Delphin als ein Mensch.«
(Thater 1999) FE
Diana Thater: Electric Mind. Gent 1996; Diana Thater – Selected works 1992–96.
Kat. Kunsthalle Basel 1996; Parkett,
Nr. 60, 2000, 76–117
Eadweard Muybridge
1873 erhielt Eadweard Muybridge
(Kingston-upon-Thames, 1830–1904) seinen wohl wichtigsten Auftrag von
Leland Stanford. Der ehemalige Gouverneur von Kalifornien wollte beweisen, daß
Pferde in einer Phase des Galopps mit allen vier Beinen in der Luft schweben. Bei
Experimenten mit kürzester Belichtungszeit gelang Muybridge,
der als Landschaftsfotograf Karriere
gemacht hatte, ein Foto, das tatsächlich ein Pferd in voller Bewegung zeigt.
Später erhielt er eine ganze Serie von Negativen, indem er das Pferd über
verspannte Fäden mehrere Kameraverschlüsse auslösen ließ. Muybridge (»The
Horse in Motion«, 1878) zerlegte den Bewegungsablauf in eine Folge von
Einzelmomenten, was als Wahrnehmungssensation wirkte. Die Aufnahmen waren
unglaublich, da sie den
gewohnten Kunst-Posen, in denen Bewegung zum Bild synthetisiert wurde,
widersprachen und auch die eigene
Anschauung verunsicherten. (Um die Einzelbilder wieder zur Illusion eines
Pferdegalopps zu verschmelzen, projizierte er sie schließlich auf eine Leinwand –
»die Bilder hatten Laufen gelernt«, Beaumont Newhall, 1937).
Eine vergleichbare Irritation erfuhr auch das Menschenbild durch die Fotografie:
Stereoskopische Ansichten bevölkerter New Yorker Straßen zeigten um 1860
Passanten in erstaunlichen Schrittstellungen. Als Muybridge 1879 erstmals den
Menschen zu seinem
Studienobjekt machte, war der Kontext wiederum der Sport. Stanford hatte mit
seinem Fotoprojekt geplant, eine Theorie der Tierdressur und ein (später im
Pferdesport sehr erfolgreiches) Trainingssystem zu entwickeln, das auf einer
allgemeinen Theorie der Bewegung basieren sollte. Nun untersuchte Muybridge mit
mehreren durch Uhrwerke gesteuerten Kameras zunächst Athleten. Bald
fotografierte er Menschen bei allen möglichen Tätigkeiten sowie Tiere des Zoos. Als
eine Art visueller Atlas der Bewegungsformen erschienen die Ergebnisse 1887:
»Animal Locomotion«. Wie der Titel Menschliches und Tierisches eigentümlich
vermischt, so gleicht der auf den körperlichen
Bewegungsapparat und dessen Aktionen fokussierte Kamerablick die weitgehend
nackt auftretenden Menschen den Tieren an. Die neue, Raum und Zeit exakt
korrelierende Sicht zeigt,
was jenseits der Grenzen menschlicher Wahrnehmung liegt, und wird künstlerische
Darstellungsweisen im 20. Jahrhundert – die Futuristen ebenso wie Francis Bacon –
nachhaltig beeinflussen. FE
Eadweard Muybridge. Kat. Stuttgart/ Zürich/ Bochum/ Basel/ Graz, Stuttgart, 1976
Katharina Büche
Katharina Büche (geboren 1963 in
Karlsruhe, lebt in Davos/Graubünden) konfrontiert gegerbte Felle mit künstlichen und
organischen Objekten in
rätselhaften Zusammenstellungen. Trotz des – unter politisch korrekten Vorzeichen –
brisanten Tier-Materials, von dessen sinnlicher Ausstrahlung und haptischer Qualität
auch die Arbeit »dicker Brocken« (1999) lebt, hat die Künstlerin das Placet der
Tierschutzvereine gewonnen. Ihre Arbeit fordert eine Überprüfung unserer
Beziehungen zu Tieren.
Den Nerz kennen wir zu Pelz verarbeitet oder präpariert im (Naturkunde-) Museum.
In beiden Fällen ist er aus
seinem natürlichen Umfeld buchstäblich herausgelöst: getötet und gehäutet. Anstatt
den Naturkontext zu rekonstruieren, verfremdet Büche ihn. Das Raubtier, das sich
eigentlich von Fischen und kleinen Säugetieren ernähren sollte, scheint einen Kürbis
im Ganzen fressen zu wollen. Der gewaltige Kürbis steht senkrecht auf der Erde, von
der sich der Nerz stemmt, um die Frucht zu verschlingen. Durch die Erde sind beide
verbunden, und man ist an das alte Bild der sich in den Schwanz beißenden, den
Kreislauf der Natur symbolisierenden Schlange erinnert. Im gespannten Bogen eines
Dreiviertelkreises, den sie mit ihren gelängten Körpern beschreiben, scheinen Nerz
und Kürbis jedoch eher wie Jäger und Beute miteinander zu ringen. Die formal
vermittelte Dynamik der Szene läßt vermuten, daß im nächsten Moment einer der
beiden Gegner in die Luft gehoben oder zu Boden geworfen wird. Der Kampf aber ist
ein ungleicher, in dem sich das Opfer nicht gegen den Zugriff des Räubers wehren
kann – eine Konstellation, die uns nur allzu bekannt ist, da sie unser beherrschendes
Verhältnis gegenüber der Natur beschreibt. Daß der vorgeführte Aggressor, der
Nerz,
in Europa vor allem aufgrund intensiver Bejagung weitestgehend ausgestorben ist,
leitet zusätzlich auf diese metaphorische Ebene über. Der Nager, der sich wider
seine Natur einen Kürbis einverleibt, gleicht darin dem Menschen, der ihn ausgerottet
hat, ohne sein natürlicher Feind zu sein. Er bezeichnet eine Welt, die aus den Fugen
geraten ist.
Der Brocken, den er sich vorgenommen hat, ist nicht für den Nerz bestimmt und
offensichtlich zu »dick«. FE
Katharina Büche – Alles für die Katz. Kat. Mannheim/Davos 1999; Katharina Büche –
Ach Leute. Kat. Gesellschaft der Freunde junger Kunst Baden-Baden 2001
Paul McCarthy
Bevor Michael Jackson als früh gealterte Diva, von kosmetischer Chirurgie und
chemischer Hautbleichung gezeichnet, Pressespekulationen über seinen Niedergang
auslöste, hatte er in den achtziger Jahren als weißer Schwarzer, als animalische
Tanzmaschine, als weiblicher Mann, als Liebhaber von Kindern und Tieren alle
möglichen Fantasieerwartungen des amerikanischen Publikums gereizt. Sensationell
konnte die differenzlose Imagebildung nur wirken, weil sie auf eine scharf
differenzierende öffentliche Moral stieß. Amerikanische Kinokritiker preisen im
Fernsehen
familientaugliche Filme als »clean fun«, eine verklemmte Kategorisierung von Spaß,
die nicht ohne ihr ekstatisch
gefürchtetes Pendant schrankenloser Obszönität auskommt. Das offiziöse
Meinungsklima rigider, dabei unsicherer Leibpolitik stattete die Zuneigung des
Popstars zu seinem Hausaffen rasch mit skandalös erotischen Untertönen aus.
McCarthys Doppelskulptur »Michael Jackson White«, »Michael Jackson Black«
(1997–1999) treibt die Verklemmung bewußt auf die Spitze. McCarthy (geboren
1945) buchstabiert die Gleichsetzung von vermenschlichtem Affen und
maskottchenhaftem Sängeridol unter dem vereinheitlichenden Vorzeichen einer
Comicfigurenidentität aus. »Weiß« und »schwarz« als Skulpturenfarben
codieren einen Rassismus, der den Typus des dunkelhäutigen, erotischanimalischen Entertainers anziehend und zugleich, weil so affengleich, abstoßend
erscheinen läßt. Daß Michael Jackson vor dem inneren Widerspruch dieses
Rassismus in die chemisch-chirurgische Körpermanipulation flüchtete, machte –
böse Pointe – den realen
Körper dieses Superstars der Öffentlichkeit so verfügbar wie es sonst in der
westlichen Gesellschaft nur Tierkörper im Medizinexperiment oder der
Nahrungsmittelindustrie sind.
Anders als Jeff Koons, der Jackson und den Affen Bubbles bereits 1988 porträtierte
und der sich den Perversionen veröffentlichter Moral durch Angleichung nähert, stellt
sich der Kalifornier
McCarthy dem hysterisierten Spektakel lüsterner Empörung konfrontativ entgegen.
McCarthys Performances der sechziger und siebziger Jahre knüpften entfernt an das
Ethos der West-Coast-Hippies an, das sich gegen Heuchelei und Körperfeindlichkeit
richtete: Gehe gezielt auf deine Alpträume zu, und du wirst sehen, auf welch banal
repressive Weise Massenmedien und öffentliche Moral dein Körperselbst (und deine
– wie auch immer erotische – Freude an Tieren) unterwandern. Diese Haltung gibt
McCarthys thematisch stets sex- und gewaltträchtigen Arbeiten ihre
verblüffende Leichtigkeit: Befreiung durch klares Denken. MW
William Wegman
William Wegmans Zusammenarbeit mit Weimaranern begann 1970 mit ersten
Videos. Seit 1978 fotografiert Wegman (geboren in Holyoke, Massachusetts, lebt in
New York) die Hunde in sorgsam arrangierten, theatralischen Szenen. In
bedingungsloser Loyalität halten sie in allen möglichen und unmöglichen Posen still –
wie von Marionettenfäden geführt. Wegman kennt seine Hunde (»every dog is an
individual«), er weiß, wie weit er gehen kann (»don't tell anyone how easy this is«),
und man wundert sich über die verkehrte Welt seiner Bilder: Er bemalt die Hunde,
verdeckt sie unter Fellen, maskiert und verwandelt sie chamäleonartig – mal zum
Frosch mit Kulleraugen und Schwimmflossen, mal zum Elefanten mit Stoßzähnen
und gestricktem Rüssel.
Die Camouflage, das Spiel mit Identitäten, führt immer wieder über das Tierreich
hinaus. Wegman wirft die Vierbeiner in Robe und stellt sie entsprechend gekleideten
Menschen als Partner zur Seite. Die Ähnlichkeit – zentrale Idee seiner Arbeiten – ist
durch die Verkleidung pointiert, das Verschiedene fügt sich zu befremdenden
Einheiten (»I like things that fluctuate«). Auf kaschiertem Hocker sitzend, scheint die
Hündin in den aufrechten Gang erhoben: »That made the power of that image, the
anthropomorphic image, more ascertive and less
silly.« Grundsätzlich bemüht, jede Lächerlichkeit zu vermeiden, nähert Wegman
Haltung und Ausdruck im Rollenspiel so weit an, daß die in »Becoming« (1990)
gezeigte Metamorphose nur konsequent erscheint. In einem Dreischritt sehen wir
eine Frau im Abendkleid neben einem Hund, die dann fotografisch übereinander
geblendet und schließlich vollends zu einem Zwitter verschmolzen werden. Am Ende
des pseudonarrativen Prozesses posiert die synthetische Hundefrau als elegantes
Mischwesen. Die Glaubwürdigkeit der Fotografie als Medium der
Wirklichkeitserfahrung wird damit vollends fraglich. Die Realität verschwimmt, erweist
sich als undurchdringliche Oberfläche, der wir unsere Erwartungen durch
Dressurakte und Projektionen auferlegen. FE
Martin Kunz (Hg.): William Wegman – Malerei, Zeichnung, Fotografie, Video. Kat.
Luzern/ London/ Amsterdam/ Frankfurt a.M./ Paris/ New York/ Boston/ Florida, Köln
1990
Paul Klee
In seinem ersten größeren Radierzyklus »Inventionen«, der zwischen 1903 und 1905
entsteht, entfaltet Paul Klee (1879–1940) eine künstlerische Programmatik im Klima
von Jugendstil, Naturalismus und Symbolismus. Mit Blick auf Francisco Goya, Alfred
Kubin und James Ensor schließt diese Werkphase zynisch-skeptische Distanz ein:
»Große Ratlosigkeit. Deshalb bin ich ganz Satire (...) Vorläufig ist sie mein einziger
Glaube. Vielleicht werde ich nie positiv.« (Klee) Es geht Klee darum, sich
künstlerisch zu seiner Zeit ins Verhältnis zu setzen, wozu er sich mit den Bildwelten
des Jugendstil und seinen zahllosen erotisierenden Frauendarstellungen
auseinandersetzt. Im Oktober 1904 nimmt Paul Klee die Arbeit an der Radierung
»Weib und Tier« (Inv. 1,
II. Fassung) auf. Die wie aus der Erde aufwachsende athletische Frau, halbnackt mit
herabgleitendem Gewand, wendet sich einem mageren, lüstern schnüffelnden Hund
zu und scheint ihm eine Blüte herablassend willig zu reichen, eine psychologisch
komplex angelegte Verführungsszene. »Das Tier ist das Tier im Menschen (im
Manne). Es belästigt ein Weib vorläufig durch unanständiges Beriechen. Moral für
Schwachbegabte: Das Weib, das edel sein soll, aber in effektvolle Beziehungen zum
Tier gebracht ist, stellt etwas ebenso durchaus Wahres vor. Zweck: Läuterung zum
Menschlichen«, schreibt Klee an Lily Stumpf. Die satirische Deutung scheint auf
mehrschichtige, nicht eindimensional erotische Wirkung bedacht. Zu sehen ist »eine
Dame, welche sich nicht ganz unempfänglich zeigt. Die Damenpsyche wird leicht
entschleiert.« Die in den «Inventionen« gesuchte künstlerische Orientierung erreicht
im März/April 1905 einen emotionalen Tiefpunkt: »O Satire, Du Leid der
Intellektuellen.« (Paul Klee)
»Eben druckten wir ›Das drohende Haupt‹. (...) Der Abschluß ist düster genug.
Irgendein vernichtender Gedanke, ein scharf negierender kleiner Dämon über einem
hoffnungslos resignierten Antlitz.« (Paul Klee) Der frontal gesehene Kopf mit
aufgerissenen Augen und zusammengepreßtem Mund zeigt sich als betont
antiklassische Kopfgeburt, Variation über Zeus, aus dessen Haupt nicht Athena als
Göttin lichter Weisheit hervorbricht. Vielmehr wird ein mürrisch und zornig
dreinblickender Orientale dargestellt, dem ein
Kobold mit Dornengeweih und dürren Armen, einer Ratte oder einem unheimlichen
Wesen aus der Unterwelt nicht unähnlich, zu entwachsen scheint. DT
Armin Zweite (Hg.): Paul Klee – Das Frühwerk 1883–1922. Kat. Städtische
Galerie im Lenbachhaus München 1979
Jochen Lempert
Jochen Lempert (geboren 1958, lebt in Hamburg) ist ausgebildeter Biologe. Seine
Fotokunst-Arbeiten wie die »Physiognomischen Versuche I« bewegen sich zwischen
Wissenschaft und Kunst. Der Titel deutet einen offenen Prozeß an, eine erste
Versuchsreihe mit Gesichtern uns mehr oder weniger bekannter Tiere. Der Fotograf
greift hier die Methoden des Forschers auf – das vergleichende Betrachten, die
Inszenierung naturhistorischer Kabinette. Aus dem reichen Fundus der Biodiversität
nimmt er einige Exemplare, um
sie aus der Nähe zu besehen. Zugleich aber entzieht er diese dem ordnenden Zugriff
des Naturforschers. Die unkonventionelle Gruppierung folgt nicht tierphysiologischen
Kriterien. Vielmehr zielt die Recherche auf die menschliche Wahrnehmung des
Tieres, die Physiognomie, so wie wir sie ›lesen‹.
Fische, Vögel, Affen und immer
wieder Hunde, Schafe und Schlangen, heimische und exotische, Haus-, Nutz- und
wilde Tiere blicken uns aus den Fotos heraus an. Unweigerlich fühlen wir uns als ihr
Gegenüber angesprochen. Die ›malerische‹ Bearbeitung des Fotomaterials,
Unschärfe-Effekte und gewölbtes Papier vermitteln subjektive Nähe und
Porträthaftes. Wir fühlen
uns dabei ertappt, Tiere nicht nur als Gattungswesen, sondern als Individuen
anzusehen: Wie beim Blick in ein Menschengesicht reagieren wir mit Sympathie oder
Antipathie, wenn nicht sogar mit konkreten Charakterurteilen. Nach einer Art
»natürlicher Physiognomik« (Hegel) schließen wir mit unserem Alltagsverstand von
der äußeren Erscheinung auf ein »Inneres«. Wie spekulativ diese Lektüre des
Gesichts als Spiegel der Seele ist, offenbart Lemperts Zusammenstellung. Die Fülle
unterschiedlicher Gesichter läßt uns zögern. Vorrationale Zugänge – vermittelt etwa
durch das Kindchenschema, das hier ein Rüssel, dort ein zu großer Mund stört –
werden irritiert. Der zweite Blick offenbart das Ausmaß an menschlicher Projektion,
das unsere alltäglichen Tierbilder prägt.
Diese anthropozentrische Deutung des Tiers weist auf eine lange Tradition der
Physiognomik als moralisierender Charakterkunde. Seit ihrer Frühzeit war die
Fotografie hierfür bevorzugtes – in Kriminologie und Rassentheorie mißbrauchtes –
Instrument. Giambattista Della Porta, einer der ersten Physiognomen, erfand Ende
des 16. Jahrhunderts die Camera Obscura. FE
Jochen Lempert – 365 Tafeln zur Naturgeschichte. Kat. Bonn/Freiburg 1997;
Claudia Schmölders: Das Vorurteil im Leibe – Eine Einführung in die Physiognomik.
Berlin 1995
Marcus Weber
Die Affen von Marcus Weber (geboren 1965 in Stuttgart) beobachten uns nicht von
Bäumen aus, sondern von Balkonen. Mit der inszenatorischen Verschiebung aus
dem Dschungel in die städtische Zivilisation geht eine Reihe von Widersprüchen
einher. Mag das Fell der Tierfiguren haptisch anziehend wirken, so distanziert uns ihr
starrer Blick. Was erfaßt dieser beobachtende Blick? Kann er überhaupt etwas
erkennen? Wenn nicht, ist dann der Fellüberzug nur Maske? Aber was wird
maskiert? Sind diese Gestalten eher dem Spielzeug ähnlich, oder dem Tierpräparat
(was immerhin die Tötung des Tieres voraussetzt)?
Wie barocke Emblemata scheinen Webers skulpturale Denkbilder Sinn zu
verkapseln, allerdings nicht den sprichwortartig auflösbaren der historischen
Sinnbilder mit Motto, Bild und ausdeutendem Kommentar. Marcus Weber bringt es
fertig, seine hängenden Tierskulpturen in die lange Tradition der Tierfabeln,
Emblemata und physiognomischen Charakterkunden von Mensch und Tier zu
stellen, ohne ins Narrative, Anekdotische oder Urteilende zu geraten. Übrig bleibt,
daß uns Affen und Kunstwerk anstarren – und unserer Realität einen von subjektiver
Absicht und Deutungsverfügung unabhängigen Ort entgegensetzen, wie ihn Adorno
beschrieb:
»Der Ausdruck der Kunstwerke ist das nicht Subjektive am Subjekt, dessen eigener
Ausdruck weniger als sein Abdruck; nichts [ist] so ausdrucksvoll wie die Augen von
Tieren – Menschenaffen –, die objektiv darüber zu trauern scheinen, daß sie keine Menschen sind.«
Adorno, der sich die permanente zivilisatorische Unterwerfung von äußerer und
innerer Natur durch den Vernunftmenschen keineswegs idyllisch vorstellte, erkannte
im Unverfügbaren des Ausdrucks, mit dem Kunstwerke oder Tiererscheinungen uns
unwillkürlich anspringen, eine überraschende Nähe des spätmodernen Menschen
zum Tier: »Im clownischen Element erinnert Kunst tröstlich sich der Vorgeschichte in
der tierischen
Vorwelt. Menschenaffen im Zoo vollführen gemeinsam, was den Clownsakten
gleicht. (...) Nicht so durchaus ist der Gattung Mensch die Verdrängung ihrer
Tierähnlichkeit gelungen, daß sie diese nicht jäh wiedererkennen könnte und dabei
von Glück überflutet wird; die Sprache der kleinen Kinder und der Tiere scheint eine.
In der Tierähnlichkeit der Clowns zündet die Menschenähnlichkeit der Affen; die
Konstellation Tier/Narr/Clown ist eine von den Grundschichten der Kunst.« MW
Elisabeth Hautmann
In »Herr und Hund«, einem kleinen Prosastück von 1919, beschreibt Thomas Mann
in anrührend persönlicher
Sprache das private Leben mit seinem Hund Bauschan. Es sind feinsinnige
Beobachtungen der Wahrnehmung und des Verhaltens des Tieres, aber auch des
Einflusses auf das Herrchen selbst. Gerade das Gegenteil unternimmt der
australische Soundpoet Chris Mann in seinem Radioprojekt »Hundegeschichten«,
realisiert 1989 für die »Ars electronica«. In lokalen Radiostationen
wurden Zuhörer aufgefordert, ihre Hundegeschichten zu erzählen. Chris Mann war
am Immergleichen solcher Geschichten interessiert: »Die Hundegeschichten sind
eine Untersuchung von Versionen eines Themas. Es geht um die Ähnlichkeiten, um
Muster. Hundegeschichten sind ähnlich wie Couplets oder einfache Gedichtformen
oder Schulstundenpläne.«
Irgendwo dazwischen verortet sich die Situation, die Elisabeth Hautmann (geboren
1960 in Neustadt) mit ihrer Installation »Ohne Titel« von 1995 entstehen läßt: Vor
einem Tisch mit zwei Stühlen sitzt ein Rauhaardackel mit
erhobenen Vorderpfoten und bettelt. Ein Projektionsraum, der sowohl bekannte
Muster in Erinnerung ruft, als auch für subjektive Erzählungen und Stimmungen offen
bleibt. Der Dackel, der vor dem Tisch bettelt, bettelt ins Leere. Niemand sitzt auf dem
Stuhl, nichts liegt auf dem Tisch – der künstliche Ort bleibt frei für jede mögliche
zwischenmenschlich/tierische Beziehung. Sowohl in der professionellen wie in der
Alltagspsychologie steht der Hund für Triebe und Triebzügelung,
für Gefühle und Abhängigkeitsverhältnisse zwischen Zuneigung und Gehorsam. Ein
ausgestopfter Dackel dient Hautmann dazu, über Menschen zu sprechen.
Elisabeth Hautmann läßt häufig
Innenraumsituationen entstehen, die eigentlich psychologische Räume sind und
persönliche Verfassungen, Familien- und Generationsgeschichten spiegeln. In
»Passion and the Interest« von 1996 etwa ist ein Detail das »Jagdzimmer«: Ein
schwerer Schreibtisch, mit Chefsessel, hinterlegt von einer eindrucksvollen Galerie
von Geweihen; ein Gewehr lehnt an einem halbhohen Schrank, Reh- und
Wildschweinfelle rings auf dem Boden; ein zweiter Stuhl steht vor dem Schreibtisch
und läßt die Situation eines Verhörs assoziieren. Mit wenigen prägnanten Objekten
rekonstruiert die Künstlerin »private« Orte, deren Psychologie, Soziologie und
Symbolik. Tierisches verweist auf Menschliches, die Beziehungen zueinander sind in
beider Überresten eingefroren. DE
Christiane Möbus
Christiane Möbus (geboren 1947 in Celle, lebt in Hannover und Berlin) arbeitet mit
präparierten Tieren. Mit Flügeln aus Flugentenfedern greift sie 1972 den alten
Menschheitstraum vom Fliegen auf. Mit Krähen läßt sie 1982/83 an die animalische
Bedrohung in Hitchcocks »Die Vögel« denken. Mit einem Schiff »Auf dem Rücken
der Tiere« (1994) verkehrt sie die im Bild der Arche Noah gefaßte
Schicksalsgemeinschaft von Mensch und Tier zu einer Konfrontation auf Kosten der
Natur, von der wir abhängig sind. Das Tier erweist sich als die andere Seite des
Menschen, der »janusartig Aug in Auge mit sich selbst konfrontiert wird«. Möbus
setzt unerwartete Beziehungen. Spannungsreiche Gegensätze von Formen und
Ideen regen eine Fülle von Assoziationen an. So trifft in der Arbeit mit den beiden
Eisbären das Körperliche, Organische auf kühle Geometrie, der extreme Realismus
ausgestopfter Tiere auf abstrakte, perfekt geformte Holzkegel.
Die Tiere liegen auf dem Rücken und balancieren mit allen vieren weiße Hütchen. In
diesem Balanceakt scheinen die Widersprüche formal zunächst merkwürdig
aufgehoben. Unweigerlich aber stellt sich das Bild von der Spitze des Eisbergs ein
und mahnt vor nicht beachteten Gefahren. Wie bei der auf Tierrücken lastenden
Arche erweist sich die Konstellation als labil. Das Gleichgewicht ist nicht dauerhaft
eingefroren. Vielmehr läßt uns die spielerische Leichtigkeit, mit der es hergestellt
wird, seine Kurzlebigkeit erahnen – die Stille vor der Katastrophe. Die Eisbären
vermitteln den Eindruck, sich gleich weiterzubewegen, und »tödlich«, so der
poetische Titel, kann der Ausgang ihres Spiels sein. Das erhabene Thema der
Selbsterhaltung vor übermächtigen Ereignissen führt die Betrachtung auf eine
existentielle Ebene: Was ist unsere Rolle in dem komplexen, schwer einsehbaren
Wechselspiel von Natur und Kultur: Opfer oder Täter? Wir geben dem reflexhaften
Bedürfnis, das Fell der Raubtiere zu streicheln, nicht nach, um den scheinbar
glücklichen Moment nicht zu gefährden. FE
Christiane Möbus – Auf dem Rücken der Tiere. Kat. Kunstverein Braunschweig 1994
Christiane Möbus – laute und leise Stücke. Kat. Kunstverein Hannover 1997
Valie Export/Peter Weibel
Mit einem Seitenhieb gegen Wiener Künstlerkollegen, die um 1965/1970 mit
orgiastischen Inszenierungen für Aufregung sorgten, erläutert Peter
Weibel 1984: »Der bloße Einsatz des Tieres als Fleisch scheint den symbolischen
Reichtum des Tieres zu verengen. Ich habe es daher vorgezogen, nur partielle
Eigenschaften von Tieren zu verwenden, oder selbst als Tier zu sprechen, wie in
meiner Fotosequenz ›Porträt des Künstlers als junger Hund‹ (1967) oder in der
Aktion, gemeinsam mit Valie Export, ›Aus der Mappe der Hundigkeit‹ (1968), wo ich
als Hund auf allen Vieren über die Straße marschierte.« An der Leine läßt Weibel
(geboren 1945 in Odessa) sich von
Valie Export (geboren 1940 in Linz) ins belebteste ›Gassi‹ Wiens, die Kärntner
Straße, führen, wo die beiden öffentliches Aufsehen, Irritation und Wut
erregen. In scheinbar absurder Verkehrung tradierter Beziehungsmuster von Mensch
und Tier (sowie von Mann und Frau) führen sie ein Rollenspiel auf, das in
Abwendung vom archaischen Pathos des Wiener Aktionismus auf eine
Medienreflexion überleitet. Im Visier sind die konventionellen Informations- und
Unterhaltungsstrategien der Massenmedien, die – so die Kritik der Künstler – durch
ihre »Identifikationsstrukturen« Bild und Wirklichkeit gleichsetzten und das
Bewußtsein betäubten (Weibel 1971). Wenn Weibel mit ›Frauchen‹ durch
die Stadt kriecht, führen die beiden
hingegen eine Art erweiterten Film (»expanded cinema«) vor, der unmittelbar in die
Wirklichkeit hineinreicht
und die Zuschauer mit realen Personen konfrontiert.
Die anscheinend perverse Handlung dieses »aktionsfilms« liefert die schonungslose
Analyse einer Gesellschaft, die längst selbst pervertiert ist, diese Perversion aber
nicht wahrnehmen will oder – aufgrund der verschleiernden Praktiken der Medien –
nicht wahrnehmen kann. Die Rolle des Hundes offenbart den wahren Status des
Menschen, der von seinesgleichen erniedrigt wird. Unter dem Slogan »Aus der
Mappe der Menschlichkeit« beklagte eine humanitäre Vereinigung solche Mißstände
– Export und Weibel wenden den Titel dialektisch: »hündisch zu gehen bedeutet,
sich dem gang der zeit zu
beugen, den gang der zeit zu zeigen! bedeutet, die utopie des aufrechten ganges in
unserer tierischen gemeinschaft als uneingelöstes versprechen
zu proklamieren.« (1970) FE
Symbol Tier. Kat. Galerie Krinzinger/ Forum für Aktuelle Kunst Innsbruck 1984;
Exhibition. Kat. Museum Moderner Kunst Stiftung Ludwig Wien 1994
Francis Bacon
Francis Bacon (geboren 1909 in Dublin, gestorben 1992 in Madrid) gehört zu den
bedeutenden und legendären Persönlichkeiten der Malerei des 20. Jahrhunderts. Die
Darstellung des Menschen als in unbändiger Vitalität wie in seelischer und
metaphysischer Verlorenheit befangenes Wesen bestimmt sein Werk. Seine Bilder
vereinen hohe Intensität mit künstlerischer Distanz. »Ich versuche lediglich Bilder zu
machen, die so akkurat wie möglich meinem Nervensystem entnommen sind.«
Betrachtet man Körperhaltung und Anatomie, so scheint das Bild einen Affen im
Käfig zu zeigen. Der eine Arm hängt herab. Die linke Hand umklammert die Stange,
während der rechte Arm die Balance des unsicheren Sitzens auszugleichen sucht
und doch ins Leere greift. Der Kopf ist zurückgeworfen, das Maul mit gebleckten
Zähnen wie zum wahnsinnigen Schrei geöffnet. Der Körper erscheint nahezu
durchsichtig. Die Gitterstäbe entmaterialisieren sich zur diagonal strukturierten
Fläche, ein diffuser Außenraum hebt sich von der düster kalten Atmosphäre des
Käfigs ab. Suggeriert der Titel die Darstellung eines Schimpansen, so blickt
unverwandt ein dem Menschen nahestehendes Wesen den beunruhigten Betrachter
an. Zudem zeigt sich der aufgerissene Mund zwischen aggressivem Schmerz,
verzweifeltem Aufschrei und tiefem Atemholen als ergreifendes Bild körperlicher
Geworfenheit, dem der gerichtete Blick Bewußtsein vom Selbst unterlegt.
Hier hat keine großmächtige Seelenempfindung mehr Platz, sondern gerade im Tier
findet sich diesseits allen vernünftigen menschlichen Bewußtseins das Menschliche
als in Leiblichkeit begründet. So schafft Bacon ein Zwischenreich der vitalen
Existenz, skizziert den Raum zwischen Mensch und Tier in labiler Ambivalenz. Dabei
geht es nie um Illustration, sondern um den Prozeß der Malerei, für Bacon
»Austoben des Kopfes und der Hand« (Michel Leiris 1983). Er steht hier Georges
Batailles Kritik an der fortwährenden »idealistischen Selbsttäuschung« nahe, die der
Mensch an sich verübte. Das Menschliche im Tierischen oder Fast-Tierischen
offenbart sich, wo Bacon sich als Maler und Künstler von seiner menschlichsten,
existentiell betroffenen Seite zeigt. Sinn entsteht in der Abwesenheit von Sinn: »Ich
halte das Leben für bedeutungslos, aber so lange wir leben, geben wir ihm
Bedeutung.« DT
Peter Beye, Dieter Honisch (Hg.): Francis Bacon. Kat. Staatsgalerie Stuttgart,
London 1985
Salvador Dalí
»Meine Liebe geht durch die Seele, meine Erotik durch das Auge.« Altmeisterlich
gezeichnet und gestochen reiht sich Kopf an Genital in lustvollem Reigen um die
nackt mit gesenktem Haupt erscheinende Frau. Die Säfte der Lust strömen, es trieft
allenthalben, doch mit eigentümlicher Distanz. Das Buch »Les métamorphoses
érotiques« (1969) von Salvador Dalí (geboren 1904 in Figueras, gestorben 1989
ebenda) ist weniger ein Lehrbuch sexueller Animation als ein Orbis pictus der
erotischen Metamorphose einer in belehrenden Bildern systematisierten Welt. Die
Bilder sind zwei Übermalungen einer altertümlichen Lehrbuchillustration,
die Dalí seiner paranoisch-kritischen Methode unterzogen hat. Hier die
Fantasie sodomitisch sündiger Lust, dort die Transformation eines sinnlich brutal sich
aufdrängenden Gesichts.
In mehr als sechzig Seiten entfaltet sich eine erotisierte Welt aus Lichtdrucken,
reproduzierten Zeichnungen, Gemälden und eksaltierten Überarbeitungen. Der
metamorphotische Blick amalgamiert alles: von Gegenständen des alltäglichen
Gebrauchs über Früchte bis zu Löwe und Schaf und den zahllosen nahen und fernen
Verwandten des homo sapiens. All dies kann die Sinne als libidinöse Sensation
affizieren. Den Einsichten, die Sigmund Freud in das Unbewußte des Menschen
eröffnet hat, gibt Dalí bildliche Anschaulichkeit.
Sexuelle Lust zeigt Dalí als Tierähnlichkeit des Menschen, nur um letztlich
tierischen und menschlichen Trieb scharf zu trennen. Das Buch ist nur für die Gier
des Auges gemacht, als Ort sinnlicher Imagination, denn, so schreibt Salvador Dalí,
»(...) die erhabene Perversion und die schärfste Lust, die, die meine Lippen verzerrt
und von den Zähnen zieht, ist die jähe Vereitelung des Begehrens, der unerwartete
Stillstand, die Niederlage. (...) Ich meine heute, daß meine Erotik nicht ohne
Verbindung zu dem alten Einfluß der Katarer ist, zur Mystik der Troubadoure und der
höfischen Liebe, zu den Genüssen des Nichtvollzugs, den Vergeistigungen des Akts
durch Entzug, dem Wiederaufsteigen der Kräfte des Orgasmus zum Gehirn, der
Umkehrung des Stroms und der dadurch hervorgerufenen Erleuchtung des Gehirns.
(...) Große intellektuelle Orgasmen, die von einem greifbaren Fast-Nichts ausgehen.
Die Begierde als verwandelter Wert: der Koitus, verinnerlicht, der auf die Spitze des
Pinsels zurückstrahlt.« DT
Karin von Maur (Hg).: Salvador Dalí 1904–1989. Kat. Staatsgalerie Stuttgart 1989
Rudolf Schwarzkogler
Bereits in der ersten Aktion von Rudolf Schwarzkogler (1940 in Wien geboren, 1966
in Wien gestorben), die den Titel »Hochzeit« trägt und 1965 in der Wohnung von
Heinz Cibulka stattfindet, gehören Tiere zum »Material« des Stückes. Die Aktion ist
fotografisch dokumentiert, ihre Partitur listet Werkzeuge und Objekte auf. Auf einem
weiß gedeckten Tisch befinden sich u.a.
»ein schwarzer Spiegel mit Heringen, Messer und Scheren, (...) Gläser mit blauer
Farbe, (...) Eier, ein Huhn, ein Hirn, (...) Mullbinden«. Die Handlungen, die
Schwarzkogler mit diesen
Objekten und am Leib der Akteure
vollzieht, müssen auf das Publikum
der sechziger Jahre befremdlich und schockierend wirken: »S. umwickelt einen Fisch
mit einer Mullbinde und legt ihn auf den schwarzen Spiegel. Mit einem Glas wird
blaue Farbe auf den Tisch gegossen. Ein Fisch wird mit dem Messer aufgestochen,
mit der Schere aufgeschnitten. Gelbe Kristalle werden hineingeschüttet. Das Huhn,
das in ein weißes Tuch gehüllt ist, wird mit blauer Farbe übergossen (...) Zwei
aufgeschnittene Fische werden mit rosa Blüten gefüllt, mit blauer bzw. roter Folie
umwickelt und an die Wand genagelt.«
Die körperbezogene Dramatik steigert sich in späteren Aktionen und berührt tiefe
gesellschaftliche Tabus: »Der Körper Cibulkas und besonders sein Penis werden vor
einer weißen Wand oder auf einem weiß gedeckten Tisch mit Mullbinden umwickelt;
aufgeklaffte Fische werden über den Penis gestülpt, und umherliegende
Rasierklingen und Blutspuren evozieren die Vorstellung von Verletzung und
Kastration« (Dieter Schwarz). In seinen Stücken kombiniert Schwarzkogler Elemente
aus den spektakulären Aktionen von Nitsch, Mühl und Brus, die sich 1965
gemeinsam mit Schilling, Frohner und Schwarzkogler zur »Wiener Aktionsgruppe«
erklären. Automatismus, Ekstase, dichtes sinnliches Erleben in symbolischen
Handlungen sind die künstlerischen Mittel, um im bedrohend engen,
geschichtsverdrängenden Klima der österreichischen Nachkriegsgesellschaft in der
extremen Selbsterfahrung eine Befreiung von psychologischen, sozialen und
moralischen Zwängen zu erreichen.
Im Zentrum steht der Körper, als Basis unseres Wahrnehmens, Denkens und
Handelns. Er ist das eigentliche Material der Aktion, für den das Tier, an
dessen totem Leib das Verdrängte stellvertretend ausgelebt wird, eintritt. DE
Von der Aktionsmalerei zum Aktionismus. Wien 1960–1965. Klagenfurth 1988
Piero Steinle
Wer 1969 in der Galleria l’Attico in Rom die Ausstellung von Jannis Kounellis
besuchte, fand in der weiß getünchten ehemaligen Garage zwölf lebende Pferde.
Ihre dampfenden Leiber belebten für die Dauer der Kunstschau den Raum. Kounellis
verstand diese Aktion als eine Dramatisierung der Malerei und damit der Kunst
überhaupt.
»Dodici Cavalli Vivi / Zwölf lebende Pferde« – so der Untertitel – ließ im White Cube
des Galerieraumes eine dichte sinnliche Erfahrung entstehen.
Gute zwanzig Jahre später zeigt Piero Steinle (geboren 1959 in München) seine
Installation »Tierkörper«. Auch
er liefert eine schockierend andere Erfahrung im Kunstraum: In den raumfüllenden
Diaprojektionen seiner hochperfekten Schwarzweißfotografien sieht man ebenso
Tiere in der vollen Präsenz ihrer Körperlichkeit – sie alle aber sind tot.
Seine Installation versuche, sagt Steinle, »eine Reise in die fremde animalische, uns
ernährende und umgebende Körperwelt, sie sucht den Kontakt mit einem nahen
fernen Universum: mit uns selbst«. Ausgehend von der Architektur als
Ausdrucksträger, geht Steinle aus dieser Perspektive auf Räume fotografisch zu,
untersucht deren praktischen Gebrauch wie ihre inhaltliche Besetzung. Der
»exotische« Raum, in den er den Betrachter mit
der Serie »Tierkörper« führt, sind die modernen Verarbeitungsanlagen von
überflüssigen Tierkörpern in einer industriellen Gesellschaft.
In den Stilleben des Barock ist das tote Tier ein Memento mori und damit immer auch
Spiegel unserer eigenen existentiellen Bedingungen als sterbliche Kreaturen. Wie
schonungslos ein solches Memento mori am Anfang des 21. Jahrhunderts aussehen
kann, zeigt Steinle mit der schockierenden Intensität seines dunklen
Projektionsraumes und mit bewußtem Aufwand ästhetisierender Mittel. Das
60minütige Bildprogramm der Fotoinstallation wird durch ein akustisches Programm
aus Originaltönen und elektronischen Tönen verdichtet.
Steinles Schwarzweißfotografien
zeigen Rinder, Hühner, Schweine, Schafe. Er inszeniert die Körper isoliert vor
schwarzem Grund, drapiert das
tote Fleisch der Tierleiber zu eindringlichen Skulpturen und zeigt die leblosen Körper
im Kontext des sachlich maschinalen Ambientes des industriellen
Verwertungsbetriebes. Im Unort der Tierkörperverwertung prallen die Idealisierung
und Sentimentalisierung des Tieres und die Bürokratisierung und Mechanisierung
des Todes und dessen gleichzeitige Tabuisierung in unserer Gesellschaft
aufeinander. DE
Albert Oehlen
Im Klima der Jungen Wilden Malerei der achtziger Jahre desavouiert Albert Oehlen
(geb.1954 in Krefeld) Malerei durch Malerei in postsurrealistischen Imaginationen.
Abgenutzter symbolischer Konsens, etwa die Taube als
Emblem des Friedens, wird aufgekündigt. Die fette Friedenstaube, mit strahlend
glotzenden Augen grob skizziert, segelt behäbig lustlos über eine linear strukturierte
Welt. Ihr fehlt die charmant naive Leichtigkeit der Versöhnung und Frieden
suggerierenden Vogelikone, wie sie als elegante Graphikertaube mit Ölzweig in den
vorausgegangenen Jahrzehnten populär geworden war. Der Flügel verwandelt sich
in eine Hand, die eine Pistole umgreift. Emotional gut transportierbaren Slogans der
Friedensbewegung – »Frieden schaffen ohne Waffen!« – antwortet sie realistischer
und zugleich abstruser: »Frieden schaffen mit immer mehr Waffen.«
Die wie von einer Düse vorwärtsgetriebene Friedenstaube entsteht in einem Jahr, in
dem die Raumfähre Challenger explodiert, der Supergau von Tschernobyl die Welt
erschüttert, der »Hamburger Kessel« der Polizei 800 Atomkraftgegner einschließt,
Tripolis durch die USA bombardiert wird und sich die Attentate auf den schwedischen
Reformpolitiker Olov Palme, den Atomphysiker Kurt Beckurts und dessen Fahrer
sowie den Diplomaten Gerold von Braunmühl ereignen. Der Reigen von Gewalt, Tod
und Vernichtung ist stets begleitet von der trügerischen Hoffnung auf eine bessere,
fortschrittlichere, alle Menschen
beglückende Gegenwart und Zukunft. Vielleicht zynische, jedenfalls bleibende
Aktualität offenbart Oehlens unfriedliche Taube heute angesichts des Kriegs gegen
den Terrorismus, der Zerreißproben von Parteien und Regierungen am Rande der
Krise.
Bei Oehlen behauptet sich der
»Hunger nach Bildern« (Max G. Faust) als bissiges Experiment. »Er rekapituliert
nicht das Gewesene, sondern
erfindet das Kommende«. (Carsten
Ahrens) Zugleich geht es um den Ge- und Verbrauch von Kunst. »Der Anspruch an
ein Kunstwerk ist so hoch, daß man gerade deswegen nicht will, daß es sich
manifestiert. (...) Dann müßte man ja glücklich sein, (...) und das wäre dann der
Endpunkt. (...) Man will das natürlich auch in gewissem Grade abnutzen durch
Draufgucken.« (Albert Oehlen) Diesem Abnutzungsprozeß von Kunst setzt Oehlen
Destruktion als konstruktiven Vorschlag entgegen. DT
Carl Haenlein, Carsten Ahrens (Hg.):
Albert Oehlen – Terminale Erfrischung. Kat. Kestner Gesellschaft Hannover 2001
Sarah Lucas
Zwei berühmte Kreationen amerikanischer Spaßkultur sind die Comicfigur Bugs
Bunny und das Playboy-Häschen. Der schlacksige Comic-Hase Bugs Bunny mit
seinem New Yorker Vorstadtakzent und seiner smarten Unverschämtheit bedient im
Zeichentrick brutalisierte Vergnügungsfantasien. Hugh Hefners Playboy Bunny
dagegen ist die weibliche Variante des vermenschlichten Tieres bzw. des
animalisierten Menschen. Liefert es die gewünschten Maße an Busen und Po, wird
es für den männlichen Lustgebrauch verziert mit weißen Häschenohren und einem
niedlichen Stümmelschwänzchen.
Sarah Lucas‘ (geboren 1962 in
London) Arbeit »Häschen gerät in eine schwierige Lage« läßt unmittelbar weder
Hase noch Blondine erkennen. Der Titel, die Accessoires und ihre Anordnung aber
konstruieren ein animalisches Bedeutungsspiel voll boshaften Humors, in dem
sowohl die Projektionen des männlich brutalen Alltagshelden wie die des
unterdrückten weiblichen
Opfers aufscheinen.
Zu Lucas’ Installation gehören neben einem blauen Bürostuhl, Füllwatte und Draht
vier Paar Nylonstrümpfe. Die
Anzahl der Nylons – seit ihrer Erfindung reizsteigernder Fetisch – und ihre Inszenierung lassen kaum Zweifel am
sexistischen Abgrund hinter dem Spielerischen von Titel und Machart dieser Arbeit.
Mit Watte gefüllt, ist eine der beigen Nylonstrumpfhosen so über
die Rückenlehne gestülpt, daß sie mit gespreizten Beinen auf der Sitzfläche des
Bürostuhles zu liegen kommt. Über die langen dünnen Schenkel dieses
Wesens ohne Oberleib sind zwei weiße Strapse gestreift, die verdunkelte Naht im
Schritt wird zum künstlichen Schamdreieck. Schlapp wie zwei Hasenohren hängt
darüber eine weitere Strumpfhose rechts und links die Rückenlehne hinab, eine
dritte, mit Watte gefüllt, knickt nach vorne ab. In der Alltagsikonographie ist der
Bürostuhl ebenso Chefsessel (und damit Zeichen der Macht) wie Opferaltar des
Bürohäschens. Auf ihm wird nicht nur der Fetisch Strumpfhose, sondern auch
dessen
Trägerin zum Objekt der Begierde und – mit aggressiv verniedlichendem Tiernamen
versehen – zum entindividualisierten Sex-animal.
Letztlich aber ist es der Betrachter selbst, der in dieser hintersinnigen
Inszenierung von Sarah Lucas in eine schwierige Lage geraten kann: Sei es, daß er
seine eigenen »Häschen«-Anteile wiedererkennt oder aber seine Lust an der
fetischisierten Wahrnehmung ausgestellt sieht. DE
Stephan Balkenhol
Der 1957 in Fritzlar geborene Bildhauer Stephan Balkenhol arbeitet seit den
achtziger Jahren an eigentümlich nahen und zugleich fernen menschlichen
Gestalten. Auch tummeln sich Löwen, Stiere, Nashörner, Giraffen, Hühner, Pinguine
und Seehunde in seiner (Kunst-)Welt, die Ende der siebziger Jahre nach den
Desillusionen und
Reflexionen von Minimal Art und Concept Art kaum noch möglich schien.
Aus einem Stamm mit suchend formgebenden Beilhieben geschlagen, erscheint auf
mittelhohem Sockel ein zweiköpfiges Wesen mit festem Stand. Aus dem Körper
eines Löwen wachsen zwei Hälse, die in hundeartigen Häuptern enden. Der eine
fletscht die Zähne, der andere scheint gespannt und still zu lauern. Flügel an den
Seiten vollenden das Mischwesen aus dem Jahr 1992, das seine Ahnen unter den
mittelalterlichen Grotesken gotischer Kirchen
findet. Fest in der gestalterischen Struktur, doch eher Skizze als klassisch
durchgeformt, zeigen sich die Arbeiten werkgerecht gegenüber dem Material und
dem Herstellungsprozeß – entfernter Nachhall der minimalistischen Analyse seines Lehrers Ulrich Rückriem.
Balkenhol: »Ich will alles auf einmal: Sinnlichkeit, Ausdruck, aber nicht zuviel,
Lebendigkeit, aber keine oberflächliche Geschwätzigkeit, Momentanität, aber keine
Anekdote, Witz, aber keinen Kalauer, Selbstironie, aber keinen
Zynismus. Und in erster Linie eine schöne, stille, bewegte, viel- und nichts-sagende
Figur.« Zwischen materialer Konkretion und erzählend realistischer Illusion wird die
im Konzeptualismus der sechziger und siebziger Jahre scheinbar verloren
gegangene Magie des Bildwerks erprobt, die nach der Kraft des statuarischen
Bildwerks fragt, ohne
illustrierende Antworten zu versuchen. Funktioniert im spätmodernen Zeitalter von
High-Tech-Rakete, Klimakatastrophe und Atomkraft-GAU ein Drache noch als
Skulptur? Dabei geht es Balkenhol nicht um die Darstellung des Schrecken
erregenden Grauens, sondern um die metaphorisch zeichenhafte Umdeutung einer
mittelalterlichen Bildfindung.
Das Mischwesen, das über die Evolution hinausgeht, könnte unversehens als
aktueller Beitrag zur Genmanipulation erscheinen, als monströse Vervielfältigung, als
Produkt der Fantasie, als Ausdruck von gegenwärtiger und kommender Angst. »Die
Figur soll über sich hinauswachsen, über sich und über andere Dinge erzählen, ohne
sich zu verrenken und Grimassen zu schneiden. Vielleicht ist das ja das religiöse
Element.« (Balkenhol) DT
Stephan Balkenhol: Über Menschen
und Skulpturen. Kat. Witte de With
Rotterdam, Ostfildern 1993
Wols
Mit Fotografien, Zeichnungen, Gemälden und Radierungen eröffnet Wols (Alfred Otto
Wolfgang Schulze, geboren 1913 in Berlin, gestorben 1951 in Paris) eine
sarkastische Sicht auf die menschliche Existenz als Spielball nicht beherrschbarer
Mächte. Natürliche Formen zeigt Wols nicht als Urordnung, eher als Urschleim der
Schöpfung. In der Zeit um den Zweiten Weltkrieg, in der täglich durchlittenen
Zerrüttung jeglicher Entwürfe und Selbstbestimmung, wird ihm Kunst zum Medium
der Suche. Man kann »L´Arche de Noe« (1940) kaum als Bild hoffnungsfrohen
Überlebens der Menschheit in göttlicher Bereitschaft zur Versöhnung auffassen,
angesichts der menschlich verursachten Sintflut des gerade ausgebrochenen
Weltkriegs. Ein Schiff mit skurriler
Takelage beherbergt Tiere, die der Wiederbelebung der Erde dienen sollen. Gazelle,
Antilope, Elefant, Kamel,
Giraffe und Fuchs sind zu erkennen, aber auch Urtierchen, Amöben. Das
Menschenpaar karikiert Wols als zwei Nachtschwärmer, armlos und
handlungsunfähig, dem Unbill der Natur – und der Geschichte – ausgeliefert, er mit
kess zurückgeschobenem roten Hut, zur Unkenntlichkeit zerschlagener
Physiognomie und zipfeliger Hemdbrust, die kleinere Gestalt – eine Frau? – mit
tiefschwarz geränderten Augen, lasziv geschürzten Lippen und organisch
verquollenem Körper. Gleich schemenhaften Segeln an gebrochenem Mast wachsen
beide aus einem Gefährt auf, dessen papierdünne Wände an die Umzäunung eines
Lagers erinnern.
Wols erlebt zwischen September 1939 und Oktober 1940 eine Odyssee durch fünf
Internierungslager. Mit Wols sind u.a. Hans Bellmer, Max Ernst, Lion Feuchtwanger,
Heinrich Davringhausen, Anton Räderscheidt und der Kunsthistoriker Max Raphael
interniert. Wols’ späterer Frau Gréty gelingt es, Papier, Tusche, Aquarellfarben in die
Lager zu schmuggeln. So stabilisiert sich inneres Überleben trotz beginnender
Alkoholexzesse unter menschenunwürdigen Lebensbedingungen. Wols
arbeitet besessen an seinen Zeichnungen, vom Surrealismus und den Notaten Yves
Tanguys angeregt, doch mit
eigenem, bizarr abgründigem Humor. Befreit durch die Hochzeit mit Gréty, zieht er
sich nach Dieulefit zurück. Hier entsteht »La Reine des Grenouilles« (1942). Halb
durchlichtete Zellakkumulation, halb anthropomorphes Sumpfgespenst, scheint die
»Königin der
Frösche« den Betrachter zu fixieren mit fernem Ernst, unendlichem Wissen und
unendlicher Macht. DT
Claus Mewes: Wols. Aquarelle, Zeichnungen, Notizblätter. Kat. Kunsthaus Hamburg
2000
Max Ernst
»1906 Der Vogelobre Hornebom. Ein Freund namens Hornebom, ein kluger
buntgescheckter treuer Vogel stirbt in der Nacht; ein Kind, das sechste in der Reihe,
kommt in selbiger Nacht zum Leben. Wirrwarr im Hirn des sonst sehr gesunden
Jünglings. Eine Art Ausdeutungswahn, als ob die eben geborene Unschuld,
Schwester Loni, sich in ihrer Lebensgier des lieben Vogels Lebenssäfte angeeignet
hätte.« So beschreibt Max Ernst (geboren 1891 in Brühl,
gestorben 1976 in Paris) in seiner Autobiographie frühe Erinnerungen an die
Vermengung zwischen Mensch und Vogel. Mischwesen bevölkern geradezu
obsessiv das Werk bis in die späten Jahre. Für seinen Roman »Une semaine de
bonté« (1934) benutzt Ernst Illustrationen aus Zeitschriften des 19. Jahrhunderts. Die
halluzinatorische Kraft vorgefundenen Bildmaterials führt
Max Ernst seit Dezember 1919 zu einer Erkundung des »Inventars«. Durch
systematischen »Widerspruch« analysiert er Standards reproduzierter visueller
Wahrnehmung im Bezug auf die menschliche Psyche. Nach surrealistischer Methode
sucht er »Annäherung von zwei (oder mehr) scheinbar wesensfremden Elementen
auf einem ihnen wesensfremden Plan, die die stärksten poetischen Zündungen
provoziert«. Hier erscheint der Mann löwenköpfig, dort wandelt er sich zum Reptil,
dann wieder wird er zu einem Mischwesen, halb Mensch halb Vogel. Er steht für die
tierische, über die menschliche
Vernunft hinausgehende unheimliche Macht in Politik und Sexualität. Gleichzeitig
entfaltet sich der Werkzyklus
»Loplop présente«. Hauptthema der teils als Collage, Gemälde oder auch als Grafik
ausgeführten Arbeiten ist ein Vogelwesen, das im Bild Bilder darbietet. Es ist eine
eigene Form des Selbstporträts, »der Künstler in der dritten Person« (Werner Spies),
sein Alter Ego. Loplop zeigt »Muschelblumen«, die »schöne Jahreszeit«, auch
»Leichtigkeit«, »Vipern« oder »Eiche«. Er ist manchmal schlecht gelaunt, wandelt
sich, einem apokalyptischen Wesen gleich, zum »Hausengel«. Er steht
als Mutation von »fluguntüchtigem Archaeopterix und Elefant Celebes« (Spies)
programmatisch für die surrealistische Malerei. Loplop ist »L’Intérieur de la vue«, das
Innere Gesicht, das Innere des Sehens der aus dem Unterbewußten
hervorbrechenden Bilder.
Er ist die Repräsentationsfigur
zum Bildprozeß, öffnet sich hier doch der unendliche Raum »jenseits der
Malerei«. DT
Werner Spies, Max Ernst: Collagen –
Inventar und Widerspruch. Köln 1974
Pablo Picasso
Ab 1933 dringt der Minotaurus, das stierköpfige Ungeheuer aus der kretischen
Mythologie, in die Bildwelt Pablo Picassos (geboren 1881 in Malaga, gestorben 1973
in Mougins) ein. Ein menschlich-tierisches, zugleich göttliches Instinktbündel ist aus
dem Labyrinth des Hephaistos ausgebrochen, unberechenbar widernatürlich, voller
chaotisch destruktivem, hybrid sinnlichem Vermögen. Es wird Symbol der
surrealistischen Bewegung und der von André Breton redigierten gleichnamigen
Zeitschrift, für die Picasso zahlreiche Darstellungen schuf. An die innere und äußere
Wildheit erinnert in der Radierung »Minotaurus, Trinker und Frauen« (1933) der
gehörnte, faltig struppige Kopf, der bedächtig auf die Hand gestützt ist und eher
zweifelnd an seinem männlichen Gegenüber vorbeischaut. Ihnen zur Seite ruhen
selig ermattete Mädchen, die klassisch offenen Gesichtszüge spätarchaischen Koren
entlehnt. Picassos Bilder vom Minotaurus erzählen von Rausch und Erotik, Gewalt,
Leiden und Genuß an den triebhaft wollüstigen Empfindungen für das andere
Geschlecht, ein orgiastischer Angriff auf Welt und Leben, hilflos ängstlich auch,
besinnlich, voller Sucht und Zärtlichkeit, Kampf und Zuneigung, voller tödlicher
Gewalt und brünstig liebender Vereinigungssucht. Das Spiel listiger Vernunft mit den
Kräften der Natur inszeniert sich theatralisch in der Corrida, der Picasso 1959 eine
Serie von Farblinolschnitten widmet. Das Töten des Stiers nach festgelegten Regeln
als Demonstration einer seit den kretischen Stiertänzern im mediterranen Raum
verwurzelten Tradition ist ein komplexes, menschlich-tierisches, männlich-weibliches
Ritual um Liebe, Sexualität, Herrschen und Unterwerfen, um rationales Todeskalkül
und instinktiv gelenkte Aggression. Picasso gestaltet dies als Zyklus in Formen voll
zärtlicher Leichtigkeit und spröder Härte.
Weniger das graphische Bemühen um lineare Eleganz scheint ihn zu bewegen, als
das energetische Umgreifen zerfasernd ruppiger Flächenkonturen. Ihnen gewinnt er
eine direkte, scheinbar unkünstlerische Form ab, die den Bewegungen der
Protagonisten archaische Unmittelbarkeit voller existenzieller Emotion zu verleihen
scheint. Die formale Abstraktion steht durchaus Felszeichnungen eiszeitlicher
Höhlenmalereien nahe und verleiht, fern von Blut, schmerzhafter Verletzung und
grausamer Mißachtung der lebenden Kreatur, der Corrida eine mythische Dimension.
DT
René Hirner, Wendelin Renn: Picassos Toros. Kat. Heidenheim 1996
Sigmar Polke
Bei der experimentellen Entwicklung immer neuer Bildformen spielte die
Fotografie für Sigmar Polke (geboren 1941 in Oels/Schlesien, lebt in Köln) eine
entscheidende Rolle. Die 14 Aufnahmen der Arbeit »Bärenkampf« von 1974
belichtete er auf dünnem Umkopierpapier, das er zusammengefaltet ins
Entwicklerbad tauchte.
Symmetrische Gebilde erstarrter Entwicklungsflüssigkeit, Schleier von Fließspuren,
Verwischungen und Knicken legten sich auf die Oberfläche der Fotografien. Polke
hat seinen eigenen
Worten nach »alle Fehler, die beim Entwickeln und Vergrößern geschehen können,
eingesetzt, aber so, daß sie das Bild zugleich interpretieren« (1990). „Chimärenartig»
schleichen sich die
fotochemischen Zufallsformen in die gegenständliche Welt ein und »produzieren
Konnotationen« (Martin
Hentschel, 1997), angesichts des grausamen Spektakels etwa Gedanken an
verschmiertes Blut. Wie die Punkte in seinen Rasterbildern oder die Muster der
Stoffe, auf die Polke gemalt hat,
wirken diese Effekte transformierend. Sie verunklären nicht nur das Motiv und
verleihen dem Foto Aura, sie
deuten und vermitteln die beunruhigende Dramatik des im Negativ festgehaltenen
Geschehens.
Polke fotografierte auf einer Reise, die ihn auch in die Opiumhöhlen
Pakistans führte, ein allmonatlich stattfindendes Schauspiel. Zwei trainierte
Kampfhunde, Afghanen, wurden vor zahlendem Publikum auf einen Bären
losgelassen. Der brutale Kampf war
Ritual, ein unmißverständliches Symbol für den damaligen Konflikt mit der UdSSR,
der hier stellvertretend durch die Tiere ausgetragen wird: Zwei
wendige, bissige Hunde treten gegen den gewaltigen, aber behäbigen und zudem
festgebundenen Bären »Rußland« an. Mit aller Drastik schlägt uns die
Archaik des seit alters in Arenen simulierten Krieges entgegen. Gleichzeitig werfen
die Bilder ihren Schatten auf spätere, unweigerlich auch auf jüngste kriegerische
Auseinandersetzungen voraus, die uns vor den Bildschirmen bannen und auf deren
Verlauf nun die Börse wettet. Über naheliegende politische Assoziationen hinaus
kann die Bildserie als allgemeine Metapher für menschliche Konflikte gelesen
werden. Vor allzu naiver Parteilichkeit bewahrt uns Polkes nachträglich aufgelegter
Schleier. Dieser unterscheidet das
Seherlebnis des Bildbetrachters von der blanken Schaulust, durch welche sich die
Zuschauer im Bild der Blutrunst
der Kampftiere angleichen. FE
Sigmar Polke: Die drei Lügen der Malerei. Kat. Bonn/Berlin 1997/98
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