Aglaia Blioumi Poetologie und Sprachlichkeit in Herta Müllers Reisende auf einem Bein Auf den Vorwurf der Hermetik ihres literarischen Schaffens hat Herta Müller nach der Veröffentlichung des Barfüßiger Februar mit einer Reihe von Essays reagiert, die das poetologische Konzept ihrer Werke offenlegen. Im vorliegenden Beitrag werden jene poetologischen Aspekte diskutiert, die dem Roman Reisende auf einem Bein innewohnen. Da der Roman die Ankunft der Protagonistin in Deutschland literarisiert, soll insbesondere der von Müller behauptete Aspekt der Alienation des „Fremden Blicks“ mit jenem der Alterität untersucht werden, zumal die Betrachtung des Eigenen auf der Folie des Fremden und vice versa basiert. Meine These ist dabei, dass dieses Wechselverhältnis vor allem in Bezug auf Sprache gesichtet werden muss, da im ganzen Roman die metalinguale Betrachtung der eigenen Muttersprache ins Visier genommen wird. Darüber hinaus gelten meine Bemühungen der Trias von ‚Fremde[m] Blick, Sprache und Erfundener Wahrnehmung‘ als ästhetische Taktik. Herta Müller Essays sind fundamental für das Verständnis ihrer Werke, zumal darin Beobachtungen, Erfahrungen, politische und moralische Gesichtspunkte sowie Aussagen zu ihrem Selbstverständnis als Literatin zu finden sind.1 Welche Handreichung für die Rezeption diese sind, ist z. B. an einer im Jahre 2001 veröffentlichten Forschungsarbeit zum Motiv des Kindes zu zeigen. Darin wird die Passage eines Kindes mit seiner Mutter in Reisende auf einem Bein mit dem Bösen Blick in Zusammenhang gebracht und die Behauptung aufgestellt, dass die Heldin sich selbst im Kind projiziere.2 Wenn man jedoch den in 2003 publizierten Essay Die rote Blume und der Stock heranzieht, wird die Interpretation in ganz andere Bahnen gelenkt. Im Essay schildert die Autorin ihre traumatischen Erfahrungen als Kindergärtnerin in Rumänien, wo die Erziehung, regimegetreu, dem Eliminieren der freien Meinung diente. Im Essay erklärt sie, dass man Dreijährige im Gegensatz zu Fünfjährigen noch zu persönlichem Handeln erziehen könnte. Die Zerstörung war bei Fünfjährigen fertig geschehen. […] Der Missbrauch menschlicher Substanz war verinnerlicht, [...]”.3 Im Roman heißt es: Irene wich den Kindern aus. Sie überquerte Straßen an verbotene Stellen, um ihnen nicht zu begegnen. Die Kinder merkten Irenes Angst. Sie riefen hinter ihr her […] Nutte sagte der Junge. [...] Lieber eine Nutte als ein Faschist, sagte Irene und erschrak. Der 1 Vgl. Compagne, Roxane: Fleischfressendes Leben. Von der Fremdheit und Aussichtslosigkeit in Herta Müllers Barfüssiger Februar. Hamburg 2010, S. 17. 2 Doppler, Bernhard: Die Heimat ist das Exil. Eine Entwicklungsgestalt ohne Entwicklung. Zu “Reisende auf einem Bein”, in: Eke, Norbert Otto (Hg.): Die erfundene Wahrnehmung. Annäherungen an Herta Müller. Hamburg 2001, S. 87-98, hier S. 96. 3 Müller, Herta: Die rote Blume und der Stock. In: Dies: Der König verneigt sich und tötet. Frankfurt a.M.: 62010, S. 151-159, hier S. 158. 1 Junge war nicht älter als fünf.4 Selbstverständlich ist dieser Hinweis ebenso ein sehr gutes Beispiel, um die Literarisierung der Realität zu zeigen. Die Autorin selbst bezeichne diese Wechselwirkung zwischen Erlebtem und Fiktion als “autofiktional”.5 Darauf werde ich später noch eingehen. Der Fremde Blick auf die Muttersprache Fremdheit wird von der Protagonistin des Romans in einer äußerst schmerzlichen Form erfahren, nämlich in der Fremdheit der eigenen Muttersprache. Unübersehbar gibt es im ganzen Roman zeitgenössische Einsprengsel oder Ausdrücke aus der bundesrepublikanischen Umgangssprache, die die geschlossene Kleingemeinschaft der Banater Schwaben nicht mit verfolgen konnte. So heißt es seitens der Sekretärin des Übergangslagers, in dem die Protagonistin nach ihrer Übersiedlung landete: „Das ich nicht lache./Sie lachte nicht.“6 Im Essay Bei uns in Deutschland versichert die Autorin, dass sie anfänglich in Deutschland jedes Wort verstand, jedoch nicht die Aussage vieler Sätze. Als z. B. ein ihr Bekannter den Ausdruck „ist ja lustig“ verwendete, war sie nicht imstande, zu verstehen, dass es sich um ein beiläufiges Seufzen handelte, und konstatiert: „Ich kannte das Reden und das Schweigen, das Zwischenspiel von gesprochenem Schweigen ohne Inhalt kannte ich nicht.“7 Dieser Bruch des Signifikants und des Signifikats wird im wahrsten Sinne des Wortes in einem wortkargen Bild zum Ausdruck gebracht und markiert den sprachlichen Zwischenraum als stummen Ort, wo die Kommunikation abbricht. Ausdrücke oder Wörter, die sich in diesem Zwischenraum bewegen, fungieren jedoch ebenso als Auslöser einer eigendynamischen Bildersprache: „Die Vorzimmerdame hob den Hörer ab./Senat für Inneres, sagte sie./Wie sie das Wort Inneres aussprach, das klang für Irene wie Magen und Gedärm.“8 Oder: Das isn Ei, du wist sehn./Du willst mir eine Kugel zeigen und redest von Eiern./Du bist akribisch, du hängst dich an jedes Wort. Wieso hängst du dich an jedes Wort. Wie geht es Thomas.9 Auch hier das Abtauchen in die Bresche der unhaltbaren Kommunikation, da die eigene Muttersprache nicht verstanden wird. Dieser Bruch sowohl zwischen Wort und Sinn als auch zwischen Sinn und Kontext erinnert unweigerlich an die gängige Praxis moderner Migrationsliteratur, exemplarisch sei hier an Yoko 4 Ebd., S. 153. 5 Vgl. Compagne, Roxane: Fleischfressendes Leben. Von Fremdheit und Aussichtslosigkeit in Herta Müllers Barfüssiger Februar. Hamburg 2010, S. 19. 6 Müller, Reisende, S. 97. 7 Müller, Herta: Bei uns in Deutschland, in: Dies., Der König verneigt sich und tötet. Frankfurt a.M. 62010, S. 40-73, hier S. 177. 8 Müller, Reisende, S. 122. 9 Ebd., S. 149. 2 Tawadas Talisman10 zu erinnern, wobei der Bruch den Plot ironisch untergräbt. Im Sinne Homi Bhabhas geschehen in beiden Fällen Rekontextualisierungen, da das Geschehen bzw. das sprachliche Material aus einem anderen Kontext gesichtet wird, der die Selbstverständlichkeit der ursprünglichen Sinnstrukturen verfremdet. Interessant bei beiden Autorinnen ist die ästhetische ‘Konsequenz’ dieser akribischen Fokussierung des Signifikants: sie mündet im Werk Herta Müllers entweder ins Verstummen oder in eine eigendynamische bilderreiche Sprache, mit anderen Worten wird der durch die Fremde evozierte sprachliche Zwischenraum durch die Textstruktur unterbreitet. Bei Yoko Tawada ist Folie der Rekontextualisierung die eigene Muttersprache, da die Zuordnung von Bedeutung und Sinn in der Fremdsprache nicht vorhanden ist und Verfremdung im Kontrast zur Muttersprache entsteht. Die Tatsache z. B., dass das ihr bekannte Wort „Enpitsu“ beim Erlernen der Fremdsprache zum ‘Bleistift’ geworden ist, machte der Ich-Erzählerin dermaßen großen Eindruck, dass sie glaubte, sie habe nun einen neuen Gegenstand. Dies hat einen kreativen Umgang mit der deutschen Sprache zur Folge, da in vielen Fällen ein neues Wort in der Fremdsprache hervorgebracht wird, wie z.B. wenn die ‘Schreibmaschine’ zur ‘Sprachmutter’ wird.11 Noch einprägsamer dient bei Emine Sevgi Özdamar die Muttersprache als Folie für Wortschöpfungen in der Muttersprache. Der im Krieg beschädigte ‘Anhalter Bahnhof’ wird in Die Brücke vom Goldenen Horn zum ‘beleidigten Bahnhof’, „weil im Türkischen das Wort ‘zerbrochen’ das Gleiche bedeutet wie ‘beleidigt’“12. Auf literarisch-ästhetischer Ebene treten neue Bedeutungszuschreibungen zu Tage, die im Sinne eines Aneignungsprozesses der fremden Umgebung gesehen werden können. Dagegen fehlt bei Herta Müller das sprachliche Surrogat, da sich die Fremde in die eigene Muttersprache einnistet. Eine tiefgreifendere Alienation, die in die Sprachlosigkeit mündet, erscheint somit als Konsequenz. Durchaus treffend bezeichnet Herta Müller diesen Zustand im Essay Der Fisch in der Turnhalle als „das Verdrehen der entfernten Nähe in nahe Distanz.“13 Die Technik des Schweigens oder der Auslassungen bezieht sich nicht nur auf die Entfremdung von der Muttersprache, sondern umfasst alle Lebensbereiche und wird poetologisch als „Poesie der Welt“ auf den Punkt gebracht. Im Essay Heimat ist das, was gesprochen wird wird bekundet: „Die Stärke der Bauern aus meiner Umgebung von damals war das große Schweigen, […]. Es war eine Lebensweise, zu der das Reden gar nicht gepasst hätte. Diese Art des Schweigens ist keine Pause zwischen dem Reden, sondern eine Sache für sich. […] Je mehr jemand zu schweigen imstande 10 Tawada, Yoko: Talisman. Tübingen 31996. Vgl. Krauß, Andrea: ‘Talisman‘ –‘Tawadische Sprachtheorie’, in: Blioumi, Aglaia (Hrsg.): Migration und Interkulturalität in neueren literarischen Texten. München S. 55-77, hier S. 69. 12 Vgl. Blioumi, Aglaia: Subjektkonstitution und hybride Subjektivität im Roman Die Brücke vom Goldenen Horn von Emine Sevgi Özdamar, in: Studia Germanica 10 (2009), S. 15-29, hier S. 21. 13 Müller, Herta: Der Fisch in der Turnhalle, in: Dies.: Eine warme Kartoffel ist ein warmes Bett. Hamburg: 1992, S. 5255, hier S. 55. 11 3 war, umso stärker war seine Präsenz.“14 Im Roman „Reisende auf einem Bein“ drängt der italienische Gastarbeiter der Protagonistin sein Angebot auf Geschlechtsverkehr dadurch auf, indem er ihr abrupt eine Bejahung oder eine Verneinung abverlangt, der restliche Kontext wird suggeriert: „Sie wollte an nichts mehr denken, was diesen Mann betraf: Gleich wird er fragen, woran ich denk. Ich werde sagen: An nichts. Der Mann fragte das nicht. Ja oder nein, fragte er. Er hatte viele Sätze gesagt. Irene wusste nicht, worum es ging. Sie sah, dass sein Gesicht verquollen war.“15 Andererseits wird im Zuge des erzählerischen Verfahrens Schweigen auch vom Perzeptionsmodus der Protagonistin abhängig, da sie die vielen Sätze und demzufolge das Reden ihres Gegenübers nicht aufnimmt. Höchstwahrscheinlich kennt sie nicht die kulturellen Konnotationen der Aufforderung. Die ästhetische Handhabung der sprachlichen, aber nicht kommunikativen Leere malt plastisch die Entfremdung und Vereinsamung der Subjekte, zumal im weiteren Dialog der Arbeiter auf die Erwiderung der Protagonistin „Sie haben Recht“16 konstatiert: „Das sagen alle Frauen, nachher bin ich allein.“17. Da die erlebte Zeit die Basis für jegliche Lebenserfahrungen ist, die durch den Trichter der Sprache in poetische Sätze eingeordnet werden, meint Herta Müller „Ich glaube, die Poesie ist in der Welt, nicht in der Sprache. Die Poesie der Sprache ist ein Nonsens, es gibt die Poesie der Welt.“18 Markanterweise erwähnt sie im Essay: Wenn wir schweigen, werden wir unangenehm – wenn wir reden, werden wir lächerlich: „Das Gelebte als Vorgang pfeift aufs Schreiben, ist mit Worten nicht kompatibel. Wirklich Geschehenes lässt sich niemals eins zu eins mit Worten fangen. Um es zu beschreiben, muss es auf Worte zugeschnitten und gänzlich neu erfunden werden.“19 Um auf den Zusammenhang zwischen Fremdheit und Sprache weiter einzugehen, ist darauf hinzuweisen, dass im Werk Müllers Diglossie durch ins Deutsche übersetzte rumänische Einsprengsel provoziert wird, was selbstverständlich an den literarischen Usus moderner Migrationsliteratur erinnert. Im Essay Heimat ist das, was gesprochen wird heißt es: „Es wurde immer öfter so, dass die rumänische Sprache die sinnlicheren, auf mein Empfinden besser zugeschnittenen Wörter hatte, als meine Muttersprache.“20 Ähnlich wie bei den Migrationsautoren fungiert Bilingualität als ästhetisches Werkzeug, das aufgrund seiner vielfältigen sprachlichkulturellen Konsistenz befruchtend im literarischen Schaffensprozess eingesetzt wird. Charakteristisch ist Müllers Aussage im Essay In jeder Sprache sitzen andere Augen: “Ich habe in 14 Müller, Herta: Heimat ist das was gesprochen wird. Merzig, S. 29f. Müller, Reisende, S. 61f. 16 Ebd. S. 62 17 Ebd. 18 Zitiert nach Apel, Friedmar: Wahrheit und Eigensinn. Herta Müllers Poetik der einen Welt, in: Arnold, Heinz L. (Hg.): TEXT+KRITIK 155. München 2002, S. 39-48, hier S. 41. 19 Müller, Herta: Wenn wir schweigen, werden wir unangenehm – wenn wir reden, werden wir lächerlich, in: Dies.: Der König verneigt sich und tötet. Frankfurt a.M.: 62010, S. 74-105, S. 86. 20 Müller, Heimat ist das, was gesprochen wird, S. 20. 15 4 meinen Büchern noch keinen Satz auf Rumänisch geschrieben. Aber selbstverständlich schreibt das Rumänische immer mit, weil es mir in den Blick hineingewachsen ist.”21 In Bezug auf den Zusammenhang zwischen Bilingualität und literarischer Sprache ist also Herta Müller der Auffassung, dass sich zwischen allen Sprachen Bilder auftun. „Jede Sprache sieht die Welt anders an, hat ihr gesamtes Vokabular durch diese andere Sicht anders gefunden – ja sogar anders eingefädelt ins Netz seiner Grammatik. In jeder Sprache sitzen andere Augen in den Wörtern.22 Dieses hypersensible Sprachsensorium führt zum verschärften Blick, somit führt Sprache zur Beobachtung. Nach Paola Bozzi sei dies der Grund, warum Herta Müllers Schreibweise so oft von Bildern ausgehe, sie nutze ihre Zweisprachigkeit positiv als Möglichkeit produktiver Sprach- und Bildimpulse. Es gehe jedoch nicht nur um sprachliche Übernahmen, sondern um Hybridisierungen zwischen Sprachen. Deutlicher könnte in dieser Hinsicht die Aussage Herta Müllers im oben erwähnten Essay nicht sein: „Von einer Sprache zur anderen passieren bei ein- und demselben Gegenstand jedesmal Verwandlungen“23 Die metasprachliche Reflexion über die verwendete Polyglossie, die sich nicht nur in den Essays, sondern auch im ganzen Roman durchzieht, kann durchaus mit dem Begriff des „Metamultilingualismus“ bezeichnet werden, den Trigonakis-Sturm für die moderne europäische Literatur bzw. „Neue Weltliteratur“ geprägt hat. Laut TrigonakisSturm meint der Begriff das Sprechen über Sprachen im weitesten Sinn, das deswegen von großer Bedeutung ist, weil die fiktive fremde Welt nicht einfach mimetisch durch eine Interferenz erzeugt wird.24 Bei manchen Autoren wie Emine Sevgi Özdamar, Yoko Tawada oder Assia Djebar durchzieht die metamultilinguale Auseinandersetzung das gesamt Werk.25 Es ist offensichtlich, dass Herta Müllers Werk neben diesen Autoren zu erwähnen ist. Der Unterschied jedoch ist, dass sich die metalinguale Dimension bei Müller auf zwei Bahnen bewegt. Einerseits gibt es die Interaktion zwischen Deutscher und Rumänischer Sprache, also zwischen Mutter- und Fremdsprache, andererseits gibt es eine metasprachliche intralinguale Dimension, zwischen Banater Dialekt und in Deutschland gesprochenem Deutsch, da der Fremde Blick metasprachlich die eigene Sprache seziert, was wie bereits erwähnt, eine bilderreiche poetische Sprache hervorbringt aber zugleich die profunde Alienation im neuen Land zum Ausdruck bringt. Um die Beobachtung, die sich dem differenten Sprachempfinden verdankt, mit dem Fremden Blick zu verbinden, sei hier auf die ideologiekritische Dimension des Fremden Blicks hingewiesen. Herta Müller erklärt: 21 Müller, In jeder Sprache sitzen andere Augen, S. 27. Müller, Heimat ist das, was gesprochen wird, S. 15. 23 Ebd. S. 17. 24 Vgl. Strum-Trigonakis, Elke: Global playing in der Literatur. Ein Versuch über die neue Weltliteratur. Würzburg: Königshausen &Neumann 2007, S. 133. 25 Ebd., 139. 22 5 Der Fremde Blick ist alt, fertig mitgebracht aus dem Bekannten. Er hat mit dem Einwandern nach Deutschland nichts zu tun. Fremd ist für mich nicht das Gegenteil von bekannt, sondern das Gegenteil von vertraut. Unbekanntes muss nicht fremd sein, aber Bekanntes kann fremd werden.26 […] Den Fremden Blick als Folge einer fremden Umgebung zu sehen ist deshalb so absurd, weil das Gegenteil wahr ist: Er kommt aus den vertrauten Dingen, deren Selbstverständlichkeit einem genommen wird.27 In Bezug auf Sprache wird deutlich, dass in Deutschland der Protagonistin des Romans die Selbstverständlichkeit der Muttersprache genommen wurde. Der Wahrnehmungsmodus des Fremden Blicks aber sollte nicht nur als ästhetische Taktik im Zuge eines postmodernen Schreibens interpretiert werden. Auslöser ist die reale Erfahrung der Diktatur, das konzentrierte Hinschauen auf alle Details, da dahinter ein Verfolgungsapparat vermutet wird. Dieser schonungslose Blick, der zum zerstörenden Akt wird, lässt gelegentlich literarische Bilder als Momentaufnahmen erscheinen. Auf der metafiktionalen Ebene des Romans werden diese Momentaufnahmen als einzelne Details dargestellt, die wie durch ein Vergrößerungsglas fokussiert werden. So schreibt die Protagonistin auf einer Postkarte „Seit ich hier lebe, ist das Detail größer als das Ganze. Das macht mir nichts aus. Nur den Dingen, die zeigen das nicht gern.“28 Sprachlich wird die Aneinanderreihung dieser stark bildhaften Einzelszenen durch die Dominanz des parataktischen Stils zum Ausdruck gebracht29, was wiederum die Zeitlosigkeit der Handlung bewirkt. Durch den parataktischen Stil wird demzufolge der Fremde Blick performiert, das Detail wird wichtiger als das Ganze, widersetzt Entwicklungsetappen, sich somit totalitären Weltauffassungen, die fehlenden zeitlichen perpetuieren einen verlangsamten Handlungsverlauf, der aus der Froschperspektive den sezierenden Akt des genauen Hinsehens, Nachdenkens, Kritisierens eben des Fremden Blicks praktiziert. Es ist kein Zufall, dass relativ am Ende des Romans eine knappe Zusammenfassung gegeben wird, die für den Leser, jenseits von Momentaufnahmen, die wesentlichen Handlungssegmente in Erinnerung ruft: „Eine Frau am Meer lernt einen Studenten kennen. Der Student hat eine Schwester. Die ist vor Jahren die Freundin eines Soziologen gewesen, den sie manchmal trifft. Eine Tages ruft sie an und schickt ihn im Namen ihres Bruders zum Flughafen. Sie sagt: die Frau vom Meer kommt an.“30 Im entsprechenden Essay zum Fremden Blick hebt Müller ebenso die Reziprozität dieses Perzeptionsmodus hervor. So heißt es: “Der Bedrohte seinerseits beobachtet den Verfolger, um sich 26 Müller, Der Fremde Blick, S. 136. Ebd. S. 147. 28 Müller, Reisende, S. 162 29 Johannsen, Anja K.: Kisten, Krypten, Labyrinthe. Raumfigurationen in der Gegenwartsliteratur: W.G..Sebald, Anne Duden, Herta Müller. Bielefeld 2008, S. 172. 30 Müller, Reisende, S. 150. 27 6 vor ihm zu schützen. Der Verfolger praktiziert Angriff, der Bedrohte Verteidigung”.31 Auf die Demokratie übertragen ist dagegen die Rede von Fremden und Intakten. Dass der Fremde Blick seine Wirkung auf Intakte mitverursacht, ist nur eine Seite. Auch Intakte gehen auf Verteidigung, die gar nicht nötig ist. Auch sie projizieren in den Fremden Blick jene Gründe, die sie fürs Fliehen aus dem Hauch der Beschädigung brauchen. Es sind beim Knistern zwischen Hiesigen und Fremden zwei Seiten im Spiel. Aber was man unter Fremden Blick zu verstehen hat, der Inhalt des Begriffs wurde nur von den Hiesigen, Intakten geprägt. Es ist ihre Gegend, ihre Sprache. Sie haben ihre Sicht zu einem Konsens gemacht, an dem wohl nicht mehr zu rütteln ist: Fremdes Auge reizt sich am fremden Land. […] Im Konsens: Fremdes Auge reizt sich am fremden Land sitzt die Hoffnung, dass dieser Blick vergeht, wenn er sich an das neü Land gewöhnt hat.32 Die Tatsache, dass Fremdheit von der Majorität produziert und Sprache als Ausschlussmechanismus des Fremden funktionalisiert wird, ist an mehreren Stellen des Romans zu konstatieren. Z. B. in einem Dialog mit Thomas, einem Freund der Protagonistin, heißt es: Ihre Stimme war unsicher: In dem anderen Land gibt es zwei verschiedene Wörter für Blätter. Ein Wort für Laub und ein Wort für Papier. Dort muss man sich entscheiden, was man meint. […] Ja, dort spricht man eine andere Sprache. Wieso vergleichst du immer. Es ist doch nicht deine Muttersprache. Das hast du schon so oft gesagt.33 Die letzten Sätze werden nicht nur an dieser Stelle der Handlung, sondern auch an anderen Stellen wiedergegeben. Der Vorwurf des Vergleichs der Sprachen fungiert im Grunde genommen als Assimilationsmechanismus, da die deutsche Protagonistin die Muttersprache, demzufolge den in Deutschland üblichen Sprachgebrauch, vorziehen müsse. Die für die Protagonistin geltende Gleichwertigkeit zweier Sprachen und folglich zweier kultureller Kontexte wird aufgrund der Ethnisierung der Muttersprache eliminiert. Wie im oben zitierten Absatz aus dem Essay bekundet die Mehrheit dadurch ihre Dominanz, indem sie ihre Sprache prägt bzw. einfordert und nicht nur die Hoffnung auf Gewöhnung bzw. Anpassung an das neue Land hegt, sondern für die Protagonistin des Romans auch voraussetzt. Zusammenfassend kann festgestellt werden, dass die eigene Muttersprache die Exklusion aus der neuen Umgebung bewirkt, da die angenommene Selbstverständlichkeit im neuen kulturellen Ambiente den sezierenden Fremden Blick auf die Muttersprache lenkt, zugleich aber Assimilationstendenzen hervorruft, da sich für die Majorität Nation und Sprache überlappen. 31 Müller, Der Fremde Blick, S. 138. Ebd., S. 144. 33 Müller, Reisende, S. 103. 32 7 Der Fremde Blick als Auslöser der Erfundenen Wahrnehmung Herta Müller bestreitet vehement, dass der Fremde Blick eine Eigenart der Kunst sei, dass es sich um eine Art Handwerk handle, die den Schreibenden vom Nichtschreibenden unterscheide34. Ob sie dabei auf die Fetischisierung der Autonomie der Kunst rekurriert, kann hier nur, aufgrund fehlender Hinweise, als Impulsgeber erwähnt werden. Wichtig ist für Herta Müller, dass man den Fremden Blick nicht „als Tugend“ verkaufen kann, denn er habe nichts mit dem Schreiben zu tun, sondern mit der Biographie.35 Unverkennbar ist der literarisierte Fremde Blick an erster Stelle mit dem poetologischen Aspekt der ‘Poesie der Welt’, der bereits erwähnt worden ist, zu knüpfen. Mit anderen Worten bildet die erlebte Wirklichkeit eine Art Erfahrungsreservoir, aus dem literarisches Schaffen geschöpft wird, der ästhetische Prozess stellt eine Transformation der realen Beobachtungen auf der Ebene der Textstruktur dar. Der eigensinnige Blick wird infolgedessen Voraussetzung der Erfundenen Wahrnehmung36, also der Fiktion, die im Zuge des Schreibprozesses über ihre Ausgangansbasis hinaus ihr Eigenleben entwickelt. Beim Entgegennehmen des Fünften Würth-Preises für Europäische Literatur erklärte Herta Müller, dass gerade beim Schreiben, Worte etwas anderes werden.37 In einer früheren Schrift in Der Teufel sitzt im Spiegel erklärte sie in Hinsicht auf den Blick und die Wahrnehmung: „Unmerklich rutscht uns der Blick aus dem Sehen in die Wahrnehmung. Aus der Wahrnehmung in die erfundene Wahrnehmung“38. Erfahrene Wahrnehmung wird aber niemals höher geschätzt als die „Poesie der Welt“. „Das Schreiben macht aus dem Gelebten Sätze, aber nie ein Gespräch. Die Tatsachen hätten, als sie geschahen, die Wörter, mit denen man sie später aufschreibt, gar nicht ertragen.“39 Letzteres erweist sich als ein tragendes poetologisches Konzept, da in Reisende auf einem Bein kaum Gespräche zustande kommen, Dialoge erscheinen vielmehr als angehäufte Monologe. Literarische Sprache performiert diesen poetologischen Aspekt. Abschließend ist von großem Interesse der fließende Übergang zwischen Immanenz und Transzendenz. „Ich schreibe immer mit dem Nebengedanken, dass die, die mir viel bedeuten, mitlesen, auch wenn sie schon tot sind, besonders wenn sie tot sind. Ich möchte ihnen mit Wörtern beikommen.“40 Die Koexistenz der Lebendigen mit den Toten, erinnert an Emine Sevgi Özdamars Erzählung Der Hof im Spiegel. In der Erzählung konstatiert die Protagonistin: „Ich hatte große Sehnsucht nach ihren [ihre Mütter] Wörtern. Sie hatte gesagt: Die Welt ist die Welt der Toten, wenn 34 Ebd. Ebd. 36 Vgl. Bozzi, Paola: Der Fremde Blick. Zum Werk Herta Müllers. Würzburg 2005, 134. 37 Vgl. Müller, Herta: Die Verleihung des Fünften Würth-Preises für Europäische Literatur. Künzelsau 2006, S. 35. 38 Müller, Herta: Der Teufel sitzt im Spiegel. Wie Wahrnehmung sich erfindet. Berlin 1995, S. 78. 39 Müller, Wenn wir schweigen, S. 87. 40 Ebd. S. 86. 35 8 man die Anzahl der Lebenden und der Toten bedenkt.“41 Und im Küchenspiegel der Protagonistin wiederspiegeln sich, neben den Lebendigen die erinnerten Toten42. Trotz der gattungsspezifischen Unterschiede beider Texte ist die Überwindung des dualen Denkens von Belang. In Herta Müllers essayistischem und literarischem Werk werden Dualismen auf mehreren Ebenen gesprengt. In Reisende auf einem Bein werden in Bezug auf Fremdheit und Sprache in dem Sinne Dualismen gesprengt, als dass sich die Fremdheit nicht aus dem Spannungsfeld zwischen Fremd- und Muttersprache ergibt, sondern die Protagonistin aufgrund der eigenen Muttersprache sowohl von der Majorität des neuen Landes exkludiert sowie assimiliert wird. Diese absurde Funktion mündet schließlich im Auflösen der oppositionellen Struktur Identität versus Alterität. Schematisch könnte der Schreibvorgang von der wahrgenommenen Realität bis zur Erfundenen Wahrnehmung folgend skizziert werden: Realität Fremde Blick Detail = fragmentarisiert & vergrößert Momentaufnahmen Erfundene Wahrnehmung Konkret bedeutet dies, dass Ausgangspunkt jeglichen Schreibens die wahrgenommene Realität ist, diese wiederum bewirkt den Fremden Blick, der das Detail fragmentarisiert und vergrößert. Das Detail führt zu bildhaften Momentaufnahmen und in der Schreibweise des parataktischen Stils. Endprodukt dieser Schreibstrategie ist die Erfundene Wahrnehmung, die die Realität transformiert, etliche Übergänge zum Ausdruck bringt aber Übergänge auch im Perzeptionsmodus evoziert. „Die Hälfte von dem, was der Satz beim Lesen verursacht, ist nicht formuliert. Diese nichtformulierte Hälfte macht den Irrlauf im Kopf möglich, sie öffnet den poetischen Schock, den man ohne Worte gelten lassen muss.“43 Die ästhetische Taktik der Trias zwischen ‚Fremden Blick, Sprache bzw. Muttersprache und Erfundener Wahrnehmung‘ mündet letztlich im Aufheben jeglicher Dualismen und der Sinngebung aus der fragmentarisch erlebten Wirklichkeit, denn nicht nur das neue Land mit den neuen sprachlich-kulturellen Kontexten, sondern auch die Diktatur wird fragmentarisch erlebt. Die Tatsache, dass die Diktatur fragmentarisch erlebt wurde, führte m. E. zum postmodernen Özdamar Emine Sevgi: Der Hof im Spiegel“, in: Dies: Der Hof im Spiegel. Erzählungen, Köln 2001, S. 31. Ebd. 43 Müller, Wenn wir schweigen, S. 87f. 41 4242 9 Schreiben, denn die Realität ist für Herta Müller, wie mehrfach betont, Ausgangspunkt jeglichen Schreibens. „Der Verfolger muss nicht körperlich da sein, um zu bedrohen. Als Schatten sitzt er sowieso in den Dingen, er hat das Fürchten hineingetan ins Fahrrad, ins Haarebleichen, ins Parfum, in den Kühlschrank und gewöhnliche, tote Gegenstände zu drohenden gemacht. […] An so einem Tag der körperlichen Präsenz ist er für das Auge des Bedrohten ein fliegendes Durcheinander von Auf- und Abtauchen: Er steht vor der Wohnung als Zeitungsleser, dann in der Straßenbahn, obwohl er an der Haltestelle nicht zu sehen war. Er verschwindet beim Aussteigen. […] Man hat sich den Glauben an das, was man sieht, abzugewöhnen.“44 44 Müller, Der Fremde Blick, S. 138f. 10