Aglaia Blioumi Poetologie und Sprachlichkeit in Herta Müllers

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Aglaia Blioumi
Poetologie und Sprachlichkeit in Herta Müllers Reisende auf einem Bein
Auf den Vorwurf der Hermetik ihres literarischen Schaffens hat Herta Müller nach der
Veröffentlichung des Barfüßiger Februar mit einer Reihe von Essays reagiert, die das poetologische
Konzept ihrer Werke offenlegen. Im vorliegenden Beitrag werden jene poetologischen Aspekte
diskutiert, die dem Roman Reisende auf einem Bein innewohnen. Da der Roman die Ankunft der
Protagonistin in Deutschland literarisiert, soll insbesondere der von Müller behauptete Aspekt der
Alienation des „Fremden Blicks“ mit jenem der Alterität untersucht werden, zumal die Betrachtung
des Eigenen auf der Folie des Fremden und vice versa basiert. Meine These ist dabei, dass dieses
Wechselverhältnis vor allem in Bezug auf Sprache gesichtet werden muss, da im ganzen Roman die
metalinguale Betrachtung der eigenen Muttersprache ins Visier genommen wird. Darüber hinaus
gelten meine Bemühungen der Trias von ‚Fremde[m] Blick, Sprache und Erfundener
Wahrnehmung‘ als ästhetische Taktik.
Herta Müller Essays sind fundamental für das Verständnis ihrer Werke, zumal darin Beobachtungen,
Erfahrungen, politische und moralische Gesichtspunkte sowie Aussagen zu ihrem Selbstverständnis
als Literatin zu finden sind.1 Welche Handreichung für die Rezeption diese sind, ist z. B. an einer im
Jahre 2001 veröffentlichten Forschungsarbeit zum Motiv des Kindes zu zeigen. Darin wird die
Passage eines Kindes mit seiner Mutter in Reisende auf einem Bein mit dem Bösen Blick in
Zusammenhang gebracht und die Behauptung aufgestellt, dass die Heldin sich selbst im Kind
projiziere.2 Wenn man jedoch den in 2003 publizierten Essay Die rote Blume und der Stock
heranzieht, wird die Interpretation in ganz andere Bahnen gelenkt. Im Essay schildert die Autorin
ihre traumatischen Erfahrungen als Kindergärtnerin in Rumänien, wo die Erziehung, regimegetreu,
dem Eliminieren der freien Meinung diente. Im Essay erklärt sie, dass man Dreijährige im
Gegensatz zu Fünfjährigen noch zu persönlichem Handeln erziehen könnte. Die Zerstörung war bei
Fünfjährigen fertig geschehen. […] Der Missbrauch menschlicher Substanz war verinnerlicht,
[...]”.3 Im Roman heißt es:
Irene wich den Kindern aus. Sie überquerte Straßen an verbotene Stellen, um ihnen
nicht zu begegnen. Die Kinder merkten Irenes Angst. Sie riefen hinter ihr her […] Nutte
sagte der Junge. [...] Lieber eine Nutte als ein Faschist, sagte Irene und erschrak. Der
1 Vgl. Compagne, Roxane: Fleischfressendes Leben. Von der Fremdheit und Aussichtslosigkeit in Herta Müllers
Barfüssiger Februar. Hamburg 2010, S. 17.
2 Doppler, Bernhard: Die Heimat ist das Exil. Eine Entwicklungsgestalt ohne Entwicklung. Zu “Reisende auf einem
Bein”, in: Eke, Norbert Otto (Hg.): Die erfundene Wahrnehmung. Annäherungen an Herta Müller. Hamburg 2001,
S. 87-98, hier S. 96.
3 Müller, Herta: Die rote Blume und der Stock. In: Dies: Der König verneigt sich und tötet. Frankfurt a.M.: 62010, S.
151-159, hier S. 158.
1
Junge war nicht älter als fünf.4
Selbstverständlich ist dieser Hinweis ebenso ein sehr gutes Beispiel, um die Literarisierung der
Realität zu zeigen. Die Autorin selbst bezeichne diese Wechselwirkung zwischen Erlebtem und
Fiktion als “autofiktional”.5 Darauf werde ich später noch eingehen.
Der Fremde Blick auf die Muttersprache
Fremdheit wird von der Protagonistin des Romans in einer äußerst schmerzlichen Form erfahren,
nämlich in der Fremdheit der eigenen Muttersprache. Unübersehbar gibt es im ganzen Roman
zeitgenössische Einsprengsel oder Ausdrücke aus der bundesrepublikanischen Umgangssprache, die
die geschlossene Kleingemeinschaft der Banater Schwaben nicht mit verfolgen konnte. So heißt es
seitens der Sekretärin des Übergangslagers, in dem die Protagonistin nach ihrer Übersiedlung
landete: „Das ich nicht lache./Sie lachte nicht.“6 Im Essay Bei uns in Deutschland versichert die
Autorin, dass sie anfänglich in Deutschland jedes Wort verstand, jedoch nicht die Aussage vieler
Sätze. Als z. B. ein ihr Bekannter den Ausdruck „ist ja lustig“ verwendete, war sie nicht imstande,
zu verstehen, dass es sich um ein beiläufiges Seufzen handelte, und konstatiert: „Ich kannte das
Reden und das Schweigen, das Zwischenspiel von gesprochenem Schweigen ohne Inhalt kannte ich
nicht.“7 Dieser Bruch des Signifikants und des Signifikats wird im wahrsten Sinne des Wortes in
einem wortkargen Bild zum Ausdruck gebracht und markiert den sprachlichen Zwischenraum als
stummen Ort, wo die Kommunikation abbricht. Ausdrücke oder Wörter, die sich in diesem
Zwischenraum bewegen, fungieren jedoch ebenso als Auslöser einer eigendynamischen
Bildersprache: „Die Vorzimmerdame hob den Hörer ab./Senat für Inneres, sagte sie./Wie sie das
Wort
Inneres
aussprach,
das
klang
für
Irene
wie
Magen
und
Gedärm.“8
Oder: Das isn Ei, du wist sehn./Du willst mir eine Kugel zeigen und redest von Eiern./Du bist
akribisch, du hängst dich an jedes Wort. Wieso hängst du dich an jedes Wort. Wie geht es Thomas.9
Auch hier das Abtauchen in die Bresche der unhaltbaren Kommunikation, da die eigene
Muttersprache nicht verstanden wird.
Dieser Bruch sowohl zwischen Wort und Sinn als auch zwischen Sinn und Kontext erinnert
unweigerlich an die gängige Praxis moderner Migrationsliteratur, exemplarisch sei hier an Yoko
4
Ebd., S. 153.
5 Vgl. Compagne, Roxane: Fleischfressendes Leben. Von Fremdheit und Aussichtslosigkeit in Herta Müllers
Barfüssiger Februar. Hamburg 2010, S. 19.
6
Müller, Reisende, S. 97.
7
Müller, Herta: Bei uns in Deutschland, in: Dies., Der König verneigt sich und tötet. Frankfurt a.M. 62010, S. 40-73,
hier S. 177.
8
Müller, Reisende, S. 122.
9
Ebd., S. 149.
2
Tawadas Talisman10 zu erinnern, wobei der Bruch den Plot ironisch untergräbt. Im Sinne Homi
Bhabhas geschehen in beiden Fällen Rekontextualisierungen, da das Geschehen bzw. das
sprachliche Material aus einem anderen Kontext gesichtet wird, der die Selbstverständlichkeit der
ursprünglichen Sinnstrukturen verfremdet. Interessant bei beiden Autorinnen ist die ästhetische
‘Konsequenz’ dieser akribischen Fokussierung des Signifikants: sie mündet im Werk Herta Müllers
entweder ins Verstummen oder in eine eigendynamische bilderreiche Sprache, mit anderen Worten
wird der durch die Fremde evozierte sprachliche Zwischenraum durch die Textstruktur unterbreitet.
Bei Yoko Tawada ist Folie der Rekontextualisierung die eigene Muttersprache, da die Zuordnung
von Bedeutung und Sinn in der Fremdsprache nicht vorhanden ist und Verfremdung im Kontrast zur
Muttersprache entsteht. Die Tatsache z. B., dass das ihr bekannte Wort „Enpitsu“ beim Erlernen der
Fremdsprache zum ‘Bleistift’ geworden ist, machte der Ich-Erzählerin dermaßen großen Eindruck,
dass sie glaubte, sie habe nun einen neuen Gegenstand. Dies hat einen kreativen Umgang mit der
deutschen Sprache zur Folge, da in vielen Fällen ein neues Wort in der Fremdsprache
hervorgebracht wird, wie z.B. wenn die ‘Schreibmaschine’ zur ‘Sprachmutter’ wird.11 Noch
einprägsamer dient bei Emine Sevgi Özdamar die Muttersprache als Folie für Wortschöpfungen in
der Muttersprache. Der im Krieg beschädigte ‘Anhalter Bahnhof’ wird in Die Brücke vom Goldenen
Horn zum ‘beleidigten Bahnhof’, „weil im Türkischen das Wort ‘zerbrochen’ das Gleiche bedeutet
wie ‘beleidigt’“12. Auf literarisch-ästhetischer Ebene treten neue Bedeutungszuschreibungen zu
Tage, die im Sinne eines Aneignungsprozesses der fremden Umgebung gesehen werden können.
Dagegen fehlt bei Herta Müller das sprachliche Surrogat, da sich die Fremde in die eigene
Muttersprache einnistet. Eine tiefgreifendere Alienation, die in die Sprachlosigkeit mündet,
erscheint somit als Konsequenz. Durchaus treffend bezeichnet Herta Müller diesen Zustand im
Essay Der Fisch in der Turnhalle als „das Verdrehen der entfernten Nähe in nahe Distanz.“13
Die Technik des Schweigens oder der Auslassungen bezieht sich nicht nur auf die Entfremdung von
der Muttersprache, sondern umfasst alle Lebensbereiche und wird poetologisch als „Poesie der
Welt“ auf den Punkt gebracht. Im Essay Heimat ist das, was gesprochen wird wird bekundet: „Die
Stärke der Bauern aus meiner Umgebung von damals war das große Schweigen, […]. Es war eine
Lebensweise, zu der das Reden gar nicht gepasst hätte. Diese Art des Schweigens ist keine Pause
zwischen dem Reden, sondern eine Sache für sich. […] Je mehr jemand zu schweigen imstande
10
Tawada, Yoko: Talisman. Tübingen 31996.
Vgl. Krauß, Andrea: ‘Talisman‘ –‘Tawadische Sprachtheorie’, in: Blioumi, Aglaia (Hrsg.): Migration und
Interkulturalität in neueren literarischen Texten. München S. 55-77, hier S. 69.
12
Vgl. Blioumi, Aglaia: Subjektkonstitution und hybride Subjektivität im Roman Die Brücke vom Goldenen Horn von
Emine Sevgi Özdamar, in: Studia Germanica 10 (2009), S. 15-29, hier S. 21.
13
Müller, Herta: Der Fisch in der Turnhalle, in: Dies.: Eine warme Kartoffel ist ein warmes Bett. Hamburg: 1992, S. 5255, hier S. 55.
11
3
war, umso stärker war seine Präsenz.“14 Im Roman „Reisende auf einem Bein“ drängt der
italienische Gastarbeiter der Protagonistin sein Angebot auf Geschlechtsverkehr dadurch auf, indem
er ihr abrupt eine Bejahung oder eine Verneinung abverlangt, der restliche Kontext wird suggeriert:
„Sie wollte an nichts mehr denken, was diesen Mann betraf: Gleich wird er fragen, woran ich denk.
Ich werde sagen: An nichts. Der Mann fragte das nicht. Ja oder nein, fragte er. Er hatte viele Sätze
gesagt. Irene wusste nicht, worum es ging. Sie sah, dass sein Gesicht verquollen war.“15
Andererseits wird im Zuge des erzählerischen Verfahrens Schweigen auch vom Perzeptionsmodus
der Protagonistin abhängig, da sie die vielen Sätze und demzufolge das Reden ihres Gegenübers
nicht aufnimmt. Höchstwahrscheinlich kennt sie nicht die kulturellen Konnotationen der
Aufforderung. Die ästhetische Handhabung der sprachlichen, aber nicht kommunikativen Leere
malt plastisch die Entfremdung und Vereinsamung der Subjekte, zumal im weiteren Dialog der
Arbeiter auf die Erwiderung der Protagonistin „Sie haben Recht“16 konstatiert: „Das sagen alle
Frauen, nachher bin ich allein.“17. Da die erlebte Zeit die Basis für jegliche Lebenserfahrungen ist,
die durch den Trichter der Sprache in poetische Sätze eingeordnet werden, meint Herta Müller „Ich
glaube, die Poesie ist in der Welt, nicht in der Sprache. Die Poesie der Sprache ist ein Nonsens, es
gibt die Poesie der Welt.“18 Markanterweise erwähnt sie im Essay: Wenn wir schweigen, werden wir
unangenehm – wenn wir reden, werden wir lächerlich: „Das Gelebte als Vorgang pfeift aufs
Schreiben, ist mit Worten nicht kompatibel. Wirklich Geschehenes lässt sich niemals eins zu eins
mit Worten fangen. Um es zu beschreiben, muss es auf Worte zugeschnitten und gänzlich neu
erfunden werden.“19
Um auf den Zusammenhang zwischen Fremdheit und Sprache weiter einzugehen, ist darauf
hinzuweisen, dass im Werk Müllers Diglossie durch ins Deutsche übersetzte rumänische
Einsprengsel provoziert wird, was selbstverständlich an den literarischen Usus moderner
Migrationsliteratur erinnert. Im Essay Heimat ist das, was gesprochen wird heißt es: „Es wurde
immer öfter so, dass die rumänische Sprache die sinnlicheren, auf mein Empfinden besser
zugeschnittenen Wörter hatte, als meine Muttersprache.“20 Ähnlich wie bei den Migrationsautoren
fungiert Bilingualität als ästhetisches Werkzeug, das aufgrund seiner vielfältigen sprachlichkulturellen
Konsistenz
befruchtend
im
literarischen
Schaffensprozess
eingesetzt
wird.
Charakteristisch ist Müllers Aussage im Essay In jeder Sprache sitzen andere Augen: “Ich habe in
14
Müller, Herta: Heimat ist das was gesprochen wird. Merzig, S. 29f.
Müller, Reisende, S. 61f.
16
Ebd. S. 62
17
Ebd.
18
Zitiert nach Apel, Friedmar: Wahrheit und Eigensinn. Herta Müllers Poetik der einen Welt, in: Arnold, Heinz L. (Hg.):
TEXT+KRITIK 155. München 2002, S. 39-48, hier S. 41.
19
Müller, Herta: Wenn wir schweigen, werden wir unangenehm – wenn wir reden, werden wir lächerlich, in: Dies.: Der
König verneigt sich und tötet. Frankfurt a.M.: 62010, S. 74-105, S. 86.
20
Müller, Heimat ist das, was gesprochen wird, S. 20.
15
4
meinen Büchern noch keinen Satz auf Rumänisch geschrieben. Aber selbstverständlich schreibt das
Rumänische immer mit, weil es mir in den Blick hineingewachsen ist.”21
In Bezug auf den Zusammenhang zwischen Bilingualität und literarischer Sprache ist also Herta
Müller der Auffassung, dass sich zwischen allen Sprachen Bilder auftun. „Jede Sprache sieht die
Welt anders an, hat ihr gesamtes Vokabular durch diese andere Sicht anders gefunden – ja sogar
anders eingefädelt ins Netz seiner Grammatik. In jeder Sprache sitzen andere Augen in den
Wörtern.22
Dieses hypersensible Sprachsensorium führt zum verschärften Blick, somit führt Sprache zur
Beobachtung. Nach Paola Bozzi sei dies der Grund, warum Herta Müllers Schreibweise so oft von
Bildern ausgehe, sie nutze ihre Zweisprachigkeit positiv als Möglichkeit produktiver Sprach- und
Bildimpulse. Es gehe jedoch nicht nur um sprachliche Übernahmen, sondern um Hybridisierungen
zwischen Sprachen. Deutlicher könnte in dieser Hinsicht die Aussage Herta Müllers im oben
erwähnten Essay nicht sein: „Von einer Sprache zur anderen passieren bei ein- und demselben
Gegenstand jedesmal Verwandlungen“23 Die metasprachliche Reflexion über die verwendete
Polyglossie, die sich nicht nur in den Essays, sondern auch im ganzen Roman durchzieht, kann
durchaus mit dem Begriff des „Metamultilingualismus“ bezeichnet werden, den Trigonakis-Sturm
für die moderne europäische Literatur bzw. „Neue Weltliteratur“ geprägt hat. Laut TrigonakisSturm meint der Begriff das Sprechen über Sprachen im weitesten Sinn, das deswegen von großer
Bedeutung ist, weil die fiktive fremde Welt nicht einfach mimetisch durch eine Interferenz erzeugt
wird.24 Bei manchen Autoren wie Emine Sevgi Özdamar, Yoko Tawada oder Assia Djebar
durchzieht die metamultilinguale Auseinandersetzung das gesamt Werk.25 Es ist offensichtlich, dass
Herta Müllers Werk neben diesen Autoren zu erwähnen ist. Der Unterschied jedoch ist, dass sich
die metalinguale Dimension bei Müller auf zwei Bahnen bewegt. Einerseits gibt es die Interaktion
zwischen Deutscher und Rumänischer Sprache, also zwischen Mutter- und Fremdsprache,
andererseits gibt es eine metasprachliche intralinguale Dimension, zwischen Banater Dialekt und in
Deutschland gesprochenem Deutsch, da der Fremde Blick metasprachlich die eigene Sprache
seziert, was wie bereits erwähnt, eine bilderreiche poetische Sprache hervorbringt aber zugleich die
profunde Alienation im neuen Land zum Ausdruck bringt.
Um die Beobachtung, die sich dem differenten Sprachempfinden verdankt, mit dem Fremden Blick
zu verbinden, sei hier auf die ideologiekritische Dimension des Fremden Blicks hingewiesen. Herta
Müller erklärt:
21
Müller, In jeder Sprache sitzen andere Augen, S. 27.
Müller, Heimat ist das, was gesprochen wird, S. 15.
23
Ebd. S. 17.
24
Vgl. Strum-Trigonakis, Elke: Global playing in der Literatur. Ein Versuch über die neue Weltliteratur. Würzburg:
Königshausen &Neumann 2007, S. 133.
25
Ebd., 139.
22
5
Der Fremde Blick ist alt, fertig mitgebracht aus dem Bekannten. Er hat mit dem
Einwandern nach Deutschland nichts zu tun. Fremd ist für mich nicht das Gegenteil von
bekannt, sondern das Gegenteil von vertraut. Unbekanntes muss nicht fremd sein, aber
Bekanntes kann fremd werden.26
[…] Den Fremden Blick als Folge einer fremden Umgebung zu sehen ist deshalb so
absurd, weil das Gegenteil wahr ist: Er kommt aus den vertrauten Dingen, deren
Selbstverständlichkeit einem genommen wird.27
In Bezug auf Sprache wird deutlich, dass in Deutschland der Protagonistin des Romans die
Selbstverständlichkeit der Muttersprache genommen wurde.
Der Wahrnehmungsmodus des Fremden Blicks aber sollte nicht nur als ästhetische Taktik im Zuge
eines postmodernen Schreibens interpretiert werden. Auslöser ist die reale Erfahrung der Diktatur,
das konzentrierte Hinschauen auf alle Details, da dahinter ein Verfolgungsapparat vermutet wird.
Dieser schonungslose Blick, der zum zerstörenden Akt wird, lässt gelegentlich literarische Bilder
als Momentaufnahmen erscheinen. Auf der metafiktionalen Ebene des Romans werden diese
Momentaufnahmen als einzelne Details dargestellt, die wie durch ein Vergrößerungsglas fokussiert
werden. So schreibt die Protagonistin auf einer Postkarte „Seit ich hier lebe, ist das Detail größer als
das Ganze. Das macht mir nichts aus. Nur den Dingen, die zeigen das nicht gern.“28 Sprachlich wird
die Aneinanderreihung dieser stark bildhaften Einzelszenen durch die Dominanz des parataktischen
Stils zum Ausdruck gebracht29, was wiederum die Zeitlosigkeit der Handlung bewirkt. Durch den
parataktischen Stil wird demzufolge der Fremde Blick performiert, das Detail wird wichtiger als das
Ganze,
widersetzt
Entwicklungsetappen,
sich
somit
totalitären
Weltauffassungen,
die
fehlenden
zeitlichen
perpetuieren einen verlangsamten Handlungsverlauf, der aus
der
Froschperspektive den sezierenden Akt des genauen Hinsehens, Nachdenkens, Kritisierens eben des
Fremden Blicks praktiziert. Es ist kein Zufall, dass relativ am Ende des Romans eine knappe
Zusammenfassung gegeben wird, die für den Leser, jenseits von Momentaufnahmen, die
wesentlichen Handlungssegmente in Erinnerung ruft: „Eine Frau am Meer lernt einen Studenten
kennen. Der Student hat eine Schwester. Die ist vor Jahren die Freundin eines Soziologen gewesen,
den sie manchmal trifft. Eine Tages ruft sie an und schickt ihn im Namen ihres Bruders zum
Flughafen. Sie sagt: die Frau vom Meer kommt an.“30
Im entsprechenden Essay zum Fremden Blick hebt Müller ebenso die Reziprozität dieses
Perzeptionsmodus hervor. So heißt es: “Der Bedrohte seinerseits beobachtet den Verfolger, um sich
26
Müller, Der Fremde Blick, S. 136.
Ebd. S. 147.
28
Müller, Reisende, S. 162
29
Johannsen, Anja K.: Kisten, Krypten, Labyrinthe. Raumfigurationen in der Gegenwartsliteratur: W.G..Sebald, Anne
Duden, Herta Müller. Bielefeld 2008, S. 172.
30
Müller, Reisende, S. 150.
27
6
vor ihm zu schützen. Der Verfolger praktiziert Angriff, der Bedrohte Verteidigung”.31 Auf die
Demokratie übertragen ist dagegen die Rede von Fremden und Intakten.
Dass der Fremde Blick seine Wirkung auf Intakte mitverursacht, ist nur eine Seite. Auch
Intakte gehen auf Verteidigung, die gar nicht nötig ist. Auch sie projizieren in den
Fremden Blick jene Gründe, die sie fürs Fliehen aus dem Hauch der Beschädigung
brauchen. Es sind beim Knistern zwischen Hiesigen und Fremden zwei Seiten im Spiel.
Aber was man unter Fremden Blick zu verstehen hat, der Inhalt des Begriffs wurde nur
von den Hiesigen, Intakten geprägt. Es ist ihre Gegend, ihre Sprache. Sie haben ihre
Sicht zu einem Konsens gemacht, an dem wohl nicht mehr zu rütteln ist: Fremdes Auge
reizt sich am fremden Land. […] Im Konsens: Fremdes Auge reizt sich am fremden
Land sitzt die Hoffnung, dass dieser Blick vergeht, wenn er sich an das neü Land
gewöhnt hat.32
Die Tatsache, dass Fremdheit von der Majorität produziert und Sprache
als
Ausschlussmechanismus des Fremden funktionalisiert wird, ist an mehreren Stellen des Romans zu
konstatieren. Z. B. in einem Dialog mit Thomas, einem Freund der Protagonistin, heißt es:
Ihre Stimme war unsicher:
In dem anderen Land gibt es zwei verschiedene Wörter für Blätter. Ein Wort für Laub
und ein Wort für Papier. Dort muss man sich entscheiden, was man meint.
[…]
Ja, dort spricht man eine andere Sprache. Wieso vergleichst du immer. Es ist doch nicht
deine Muttersprache.
Das hast du schon so oft gesagt.33
Die letzten Sätze werden nicht nur an dieser Stelle der Handlung, sondern auch an anderen Stellen
wiedergegeben. Der Vorwurf des Vergleichs der Sprachen fungiert im Grunde genommen als
Assimilationsmechanismus, da die deutsche Protagonistin die Muttersprache, demzufolge den in
Deutschland üblichen Sprachgebrauch, vorziehen müsse. Die für die Protagonistin geltende
Gleichwertigkeit zweier Sprachen und folglich zweier kultureller Kontexte wird aufgrund der
Ethnisierung der Muttersprache eliminiert. Wie im oben zitierten Absatz aus dem Essay bekundet
die Mehrheit dadurch ihre Dominanz, indem sie ihre Sprache prägt bzw. einfordert und nicht nur
die Hoffnung auf Gewöhnung bzw. Anpassung an das neue Land hegt, sondern für die
Protagonistin des Romans auch voraussetzt.
Zusammenfassend kann festgestellt werden, dass die eigene Muttersprache die Exklusion aus der
neuen Umgebung bewirkt, da die angenommene Selbstverständlichkeit im neuen kulturellen
Ambiente den sezierenden Fremden Blick auf die Muttersprache lenkt, zugleich aber
Assimilationstendenzen hervorruft, da sich für die Majorität Nation und Sprache überlappen.
31
Müller, Der Fremde Blick, S. 138.
Ebd., S. 144.
33
Müller, Reisende, S. 103.
32
7
Der Fremde Blick als Auslöser der Erfundenen Wahrnehmung
Herta Müller bestreitet vehement, dass der Fremde Blick eine Eigenart der Kunst sei, dass es sich
um eine Art Handwerk handle, die den Schreibenden vom Nichtschreibenden unterscheide34. Ob sie
dabei auf die Fetischisierung der Autonomie der Kunst rekurriert, kann hier nur, aufgrund fehlender
Hinweise, als Impulsgeber erwähnt werden. Wichtig ist für Herta Müller, dass man den Fremden
Blick nicht „als Tugend“ verkaufen kann, denn er habe nichts mit dem Schreiben zu tun, sondern
mit der Biographie.35 Unverkennbar ist der literarisierte Fremde Blick an erster Stelle mit dem
poetologischen Aspekt der ‘Poesie der Welt’, der bereits erwähnt worden ist, zu knüpfen. Mit
anderen Worten bildet die erlebte Wirklichkeit eine Art Erfahrungsreservoir, aus dem literarisches
Schaffen geschöpft wird, der ästhetische Prozess stellt eine Transformation der realen
Beobachtungen auf der Ebene der Textstruktur dar. Der eigensinnige Blick wird infolgedessen
Voraussetzung der Erfundenen Wahrnehmung36, also der Fiktion, die im Zuge des Schreibprozesses
über ihre Ausgangansbasis hinaus ihr Eigenleben entwickelt. Beim Entgegennehmen des Fünften
Würth-Preises für Europäische Literatur erklärte Herta Müller, dass gerade beim Schreiben, Worte
etwas anderes werden.37 In einer früheren Schrift in Der Teufel sitzt im Spiegel erklärte sie in
Hinsicht auf den Blick und die Wahrnehmung: „Unmerklich rutscht uns der Blick aus dem Sehen in
die Wahrnehmung. Aus der Wahrnehmung in die erfundene Wahrnehmung“38. Erfahrene
Wahrnehmung wird aber niemals höher geschätzt als die „Poesie der Welt“. „Das Schreiben macht
aus dem Gelebten Sätze, aber nie ein Gespräch. Die Tatsachen hätten, als sie geschahen, die Wörter,
mit denen man sie später aufschreibt, gar nicht ertragen.“39 Letzteres erweist sich als ein tragendes
poetologisches Konzept, da in Reisende auf einem Bein kaum Gespräche zustande kommen,
Dialoge erscheinen vielmehr als angehäufte Monologe. Literarische Sprache performiert diesen
poetologischen Aspekt.
Abschließend ist von großem Interesse der fließende Übergang zwischen Immanenz und
Transzendenz. „Ich schreibe immer mit dem Nebengedanken, dass die, die mir viel bedeuten,
mitlesen, auch wenn sie schon tot sind, besonders wenn sie tot sind. Ich möchte ihnen mit Wörtern
beikommen.“40 Die Koexistenz der Lebendigen mit den Toten, erinnert an Emine Sevgi Özdamars
Erzählung Der Hof im Spiegel. In der Erzählung konstatiert die Protagonistin: „Ich hatte große
Sehnsucht nach ihren [ihre Mütter] Wörtern. Sie hatte gesagt: Die Welt ist die Welt der Toten, wenn
34
Ebd.
Ebd.
36
Vgl. Bozzi, Paola: Der Fremde Blick. Zum Werk Herta Müllers. Würzburg 2005, 134.
37
Vgl. Müller, Herta: Die Verleihung des Fünften Würth-Preises für Europäische Literatur. Künzelsau 2006, S. 35.
38
Müller, Herta: Der Teufel sitzt im Spiegel. Wie Wahrnehmung sich erfindet. Berlin 1995, S. 78.
39
Müller, Wenn wir schweigen, S. 87.
40
Ebd. S. 86.
35
8
man die Anzahl der Lebenden und der Toten bedenkt.“41 Und im Küchenspiegel der Protagonistin
wiederspiegeln sich, neben den Lebendigen die erinnerten Toten42. Trotz der gattungsspezifischen
Unterschiede beider Texte ist die Überwindung des dualen Denkens von Belang. In Herta Müllers
essayistischem und literarischem Werk werden Dualismen auf mehreren Ebenen gesprengt. In
Reisende auf einem Bein werden in Bezug auf Fremdheit und Sprache in dem Sinne Dualismen
gesprengt, als dass sich die Fremdheit nicht aus dem Spannungsfeld zwischen Fremd- und
Muttersprache ergibt, sondern die Protagonistin aufgrund der eigenen Muttersprache sowohl von
der Majorität des neuen Landes exkludiert sowie assimiliert wird. Diese absurde Funktion mündet
schließlich im Auflösen der oppositionellen Struktur Identität versus Alterität. Schematisch könnte
der Schreibvorgang von der wahrgenommenen Realität bis zur Erfundenen Wahrnehmung folgend
skizziert werden:
Realität
Fremde Blick
Detail = fragmentarisiert & vergrößert
Momentaufnahmen
Erfundene Wahrnehmung
Konkret bedeutet dies, dass Ausgangspunkt jeglichen Schreibens die wahrgenommene Realität ist,
diese wiederum bewirkt den Fremden Blick, der das Detail fragmentarisiert und vergrößert. Das
Detail führt zu bildhaften Momentaufnahmen und in der Schreibweise des parataktischen Stils.
Endprodukt dieser Schreibstrategie ist die Erfundene Wahrnehmung, die die Realität transformiert,
etliche Übergänge zum Ausdruck bringt aber Übergänge auch im Perzeptionsmodus evoziert. „Die
Hälfte von dem, was der Satz beim Lesen verursacht, ist nicht formuliert. Diese nichtformulierte
Hälfte macht den Irrlauf im Kopf möglich, sie öffnet den poetischen Schock, den man ohne Worte
gelten lassen muss.“43 Die ästhetische Taktik der Trias zwischen ‚Fremden Blick, Sprache bzw.
Muttersprache und Erfundener Wahrnehmung‘ mündet letztlich im Aufheben jeglicher Dualismen
und der Sinngebung aus der fragmentarisch erlebten Wirklichkeit, denn nicht nur das neue Land mit
den neuen sprachlich-kulturellen Kontexten, sondern auch die Diktatur wird fragmentarisch erlebt.
Die Tatsache, dass die Diktatur fragmentarisch erlebt wurde, führte m. E. zum postmodernen
Özdamar Emine Sevgi: Der Hof im Spiegel“, in: Dies: Der Hof im Spiegel. Erzählungen, Köln 2001, S. 31.
Ebd.
43
Müller, Wenn wir schweigen, S. 87f.
41
4242
9
Schreiben, denn die Realität ist für Herta Müller, wie mehrfach betont, Ausgangspunkt jeglichen
Schreibens. „Der Verfolger muss nicht körperlich da sein, um zu bedrohen. Als Schatten sitzt er
sowieso in den Dingen, er hat das Fürchten hineingetan ins Fahrrad, ins Haarebleichen, ins Parfum,
in den Kühlschrank und gewöhnliche, tote Gegenstände zu drohenden gemacht. […] An so einem
Tag der körperlichen Präsenz ist er für das Auge des Bedrohten ein fliegendes Durcheinander von
Auf- und Abtauchen: Er steht vor der Wohnung als Zeitungsleser, dann in der Straßenbahn, obwohl
er an der Haltestelle nicht zu sehen war. Er verschwindet beim Aussteigen. […] Man hat sich den
Glauben an das, was man sieht, abzugewöhnen.“44
44
Müller, Der Fremde Blick, S. 138f.
10
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