Handelsblatt Nr. 002 vom 05.01.04, Seite 9 Meinung und Analyse AUSSENANSICHT Amerika benötigt ein starkes Europa Amerika braucht Europa. Schadenfreude zum Beispiel über das Scheitern des Brüsseler Gipfels sollte Washington deshalb nicht zeigen. Für Amerika ist das Misslingen des Verfassungsgipfels nämlich ein Schnitt ins eigene Fleisch. Altes Europa hin, neues Europa her - ein Europa, das klein, schwach, verschlossen und isoliert ist, schadet den USA. Ein starkes Europa jedoch, das offen und engagiert ist, entspricht einer Idee, die auch in George W. Bushs Amerika tief verwurzelt ist. Nur eine Minderheit der US-Regierung sieht Europa als einen Konkurrenten, der schwach zu halten ist. Die Vereinigten Staaten von Europa bleiben deshalb für die meisten Amerikaner weiterhin Ausdruck der Idee einer demokratischen Weltordnung. Ein mächtiges Europa bietet für Amerika Partnerschaft - so tief und breit wie keine andere. Zwar wird das Weiße Haus diese Partnerschaft nie "um jeden Preis" haben wollen, ihr Wert wird aber dennoch sehr hoch eingeschätzt. Ein großes Europa im Sinne der Erweiterung der Europäischen Union und der Nato steht deshalb schon lange auf der amerikanischen Prioritätenliste. In den neunziger Jahren sprach so mancher Beobachter von einer Clinton-Doktrin der Erweiterung der Demokratie (statt der Eindämmung des Kommunismus). Präsident George W. Bush wird eine noch größere (aber weniger kontroverse) Nato-Osterweiterung auf seine Fahne schreiben können. Auch die Türkei gehört - trotz jüngster Querelen - zu diesem großen Europa, so Washingtons Denkmuster. Ein größeres Europa ist aber nicht nur eine Frage der einzelnen Mitgliedschaften. Die europäische Peripherie ist weiterhin instabil. Als Fortschreiten der Europäisierung oder als Ausdehnung der Freiheit wird die Politik von EU und Nato deshalb im Weißen Haus wechselseitig sowohl aus moralischen als auch aus geostrategischen Gründen befürwortet. Ein starkes Europa birgt darüber hinaus weitere Vorteile für Amerika: Ein starker Euro stärkt den amerikanischen Export, ein starkes Eurokorps setzt amerikanische Truppen frei. Ein starkes europäisches Ja zur amerikanischen Außenpolitik hilft dem Weißen Haus, so die seit Jahren eindeutige Botschaft der Meinungsumfragen. Ein offenes Europa, fest in die Weltwirtschaft integriert, passt mit dem amerikanischen Weltbild und den US-Wirtschaftsinteressen zusammen. Offen soll Europa sein für den Austausch von Ideen und Investitionen, von Dienstleistungen und Waren, von Geschäftsleuten, Wissenschaftlern, Studenten, Touristen und Politikern. Ein solches Europa würde Amerika gut bekommen. Nach Ansicht des amerikanischen Experten Joseph P. Quinlan hat sich der transatlantische Wirtschaftsraum im letzten Jahrzehnt radikal verdichtet. Dieser atlantische Markt ist Motor der Globalisierung und steht weit vor den Beziehungen der beiden Partner mit anderen Teilen der Welt. Stahlzölle mögen ihren innenpolitischen Wert haben. Doch werden diese für das Gesamtverhältnis schädlich, kann ein Präsident sein Kalkül ändern. Ein weltweit engagiertes Europa dient ebenfalls amerikanischen Interessen. Ob mit Blick nach China und Taiwan, Nord- und Südkorea, Indien und Pakistan oder Israel und Palästina, ob mit Blick nach Moskau, Minsk und Kiew, ob beim Thema Bagdad, Teheran oder Kabul - Amerika hofft bei all diesen Streitfragen auf Europas Stimme. Engagieren soll sich Europa aber nicht nur in der Sicherheitspolitik, sondern auch bei der Entwicklungshilfe (oder bei der Öffnung des EU-Agrarmarkts), der Weltwirtschaftspolitik und der globalen Umweltpolitik - und dies trotz der bekannten Differenzen über die richtigen Wege zum Ziel. Ein engagiertes Europa trägt nicht nur einen Teil der Kosten, sondern hat auch einen wichtigen Anteil an der Legitimation für Amerikas eigenes Engagement. George W. Bush wusste, wie wichtig es war, eine Mehrheit der europäischen Regierungen hinter seinen Kriegsplänen zu haben. Europäische Truppen im Irak sind willkommen, ob unter nationaler, Nato- oder EUFlagge. Weltpolizisten möchten nur wenige Amerikaner sein - der Begriff gewählter Sheriff passt eher in die Tradition. Eine "Pax Americana" ist für viele Amerikaner zu arrogant und auch zu kostspielig. Eine "Pax Atlantica" klingt da schon besser. Ein starkes Europa heißt aber nicht, dass Amerika nicht auch gelegentlich europäischen Einfluss einzudämmen versucht, indem Washington eine europäische Hauptstadt gegen eine andere ausspielt. Die neuen Konstellationen der Zusammenarbeit in den Monaten vor und nach dem Angriff auf den Irak waren ein Beispiel dafür. Dies aber als Leitmotiv der amerikanischen Europapolitik von Bush zu beschreiben wäre ein Irrtum. Taktik sollte nicht mit Strategie verwechselt werden. Manche Streitfrage ist in den letzten Monaten offen und eindeutig auf den Tisch gekommen - schließlich stand viel auf dem Spiel. Der Sprung in die kalten Gewässer der neuen Weltpolitik war aber für beiden Seiten positiv. Die Amerikaner haben eingesehen, dass ihre gewaltige Macht nicht gegen Zusammenarbeit spricht, sondern eng damit zusammenhängt. Und die Europäer haben erkannt, wie schwer es ist, eine eigene Außenpolitik zu betreiben. So schwierig die neuen Herausforderungen auch sind, so sehr ist die Zusammenarbeit trotzdem notwendig. Amerika ohne Partner in der verwundbaren Welt von morgen ist weder erstrebenswert noch nachhaltig. Europa wird sein Stolpern in Brüssel aufarbeiten; Amerika wird von seinem Höhenflug wieder herunterkommen. Aber unter den möglichen Partnern für Amerika bei der Bewältigung der neuen Gefahren gibt es weiterhin keinen, der so stark und so ähnlich gesinnt ist wie das zusammenwachsende Europa. Andrew Denison ist Direktor von Transatlantic Networks.