Arch_Sch÷nheit

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Neue Zürcher Zeitung, 01.03.1996, S. 65
Planen-Bauen-Wohnen
Ist architektonische Schoenheit messbar?
Zur Quantifizierung ästhetischer Faktoren in der
Baukunst
Die meisten Aspekte des Bauens, etwa Statik oder Bauphysik, sind objektiv
messbar. Dies gilt nicht für die Ästhetik. Die Werte der Schoenheit sind nicht so
einfach quantifizierbar. Hier herrscht die Meinung vor, dass es letztlich eine Frage
des Geschmacks sei, ob ein Gebaeude dem Betrachter gefaellt. Ist ueber
Schoenheit wirklich keine objektive Aussage moeglich?
Von Joerg K. Grütter
Wir nehmen verschiedene "Nachrichten" aus unserer Umwelt auf. Viele
der so wahrgenommenen Impulse koennen wir quantifizieren: Toene,
Temperaturen und Oberflaecheneigenschaften sind messbar, ueber sie
koennen genaue Aussagen gemacht werden. Auch beim Sehen sind
verschiedene Aspekte messbar: die Lichtstaerke, der Reflektionsgrad, die
Lichtfarbe usw. Wie steht es nun aber mit dem Aussehen, mit dem
Erscheinungsbild eines Gebaeudes; sind auch hier objektive Aussagen
moeglich?
Was ist schön?
Der Prozess der optischen Wahrnehmung ist zu vergleichen mit der
Übermittlung einer Nachricht. Das Objekt, in unserem Falle ein Gebaeude,
sendet eine Nachricht, die wir als Empfaenger ueber das Auge aufnehmen.
Die Übermittlung ist beim Auftreten der Nachricht auf der Netzhaut des
Auges noch nicht abgeschlossen. Bei der Verarbeitung im Gehirn wird
nicht nur die soeben aufgenommene Nachricht berücksichtigt, sondern
auch das schon Gespeicherte. Diese gespeicherten Informationen
resultieren aus unseren gemachten Erfahrungen, aus unseren
Charaktereigenschaften und aus unserer Erbmasse. Das "Gesehene" ist
also nicht fuer alle Menschen gleich, auch wenn das von allen gesehene
Objekt ein und dasselbe ist. Die Menge der auf die Netzhaut treffenden
Informationen ist so gross, dass sie zuerst sortiert und ausgewaehlt
werden muss. Schon bei dieser Selektion spielen die internen
Informationen aus Erfahrungen und Charakter eine entscheidende Rolle.
Dies ist eine Erklaerung, warum sich verschiedene Menschen oft uneinig
sind ueber ein ästhetisches Urteil. Wir sagen dann, ueber Geschmack lässt
sich nicht streiten. Doch ist dies wirklich nur Geschmackssache?
Die Frage "Was ist schön?" beschäftigt die Menschheit schon ueber 2000
Jahre. Interessant ist, dass bei aller Verschiedenartigkeit der
Interpretationen zwei Kriteriengruppen wie ein roter Faden durch die
Jahrhunderte fuehren: entweder wird das Problem in erster Linie aus der
Sicht des Betrachters beurteilt, oder sie ist mehrheitlich eine reine Sache
des Objekts, also eine subjektive oder eine eher objektive Betrachtung.
Erst 1860 versuchte Gustav Fechner das Problem sowohl objekt- wie auch
subjektbezogen anzugehen. Er versuchte die Beziehung zwischen einem
Reiz als Nachricht und seiner Verarbeitung durch den Empfaenger
gesetzmaessig zu erfassen. Damit wurde die Wahrnehmung zu einer
wissenschaftlichen Disziplin. Informationstheoretiker begannen den
Informationsfluss zwischen Objekt als Nachrichtensender und dem
menschlichen Subjekt als Nachrichtenempfaenger zu untersuchen.
Der Franzose Abraham Moles erforschte hundert Jahre spaeter (1958) die
verschiedenen Elemente der Informationsuebermittlung und versuchte sie
teilweise mathematisch zu quantifizieren. Moles unterschied zwei Arten
von Information: die "aesthetische" und die "semantische" Information.
Die erste spricht eher das Gefuehl an (Farbtoene, Schatten usw.), die
letztere eher den Verstand (wie funktioniert der Gegenstand usw.). Die
beiden Ausdruecke "aesthetisch" und "semantisch" sind hier von Moles
ungluecklich gewaehlt, da sie weder mit Asthetik noch mit Semantik direkt
etwas zu tun haben. Eine Nachricht enthaelt meistens gleichzeitig beide
Arten von Informationen. Moles versuchte diese zu analysieren und zu
quantifizieren. Das Messen von semantischer Information ist problemlos.
Die "aesthetische" Information ist schwerer quantifizierbar. Fuer das
Empfinden von Schoenheit ist aber hauptsaechlich sie zustaendig. Wie
muss nun diese "aesthetische" Information beschaffen sein, damit sie
beim Betrachter ein Schoenheitsempfinden ausloest?
Nach Helmar Frank (1960) wird das Empfinden von Schoenheit vor allem
durch das Bilden von sogenannten Superzeichen gewaehrleistet. Die
Informationsaufnahmekapazitaet des Menschen ist beschraenkt; sie liegt
bei 16 bit pro Sekunde. Damit wir unsere Umwelt kontrollieren koennen,
sind wir gezwungen, aus einer Unmenge uns angebotener Informationen
auszuwaehlen. Mit dem Bilden von Superzeichen werden Informationen im
Kurzzeitgedaechtnis zusammengefasst, geordnet und ausgeschieden.
Nach Frank empfindet ein Betrachter ein Objekt dann als schoen, wenn
die Zuflussgeschwindigkeit der Information gerade so gross ist, dass die
jeweiligen Inhalte des Kurzzeitspeichers noch zu Superzeichen
zusammengefasst werden koennen. Durch dieses Zusammenfassen wird
die Wahrnehmung jeweils auf eine hoehere Ebene verschoben.
Bezeichnenderweise war es ein Mathematiker, der Amerikaner George
David Birkhoff, der versuchte, dieses Problem in den Griff zu bekommen.
Zwischen 1928 und 1932 schrieb Birkhoff vier Abhandlungen ueber
Probleme der Wahrnehmung, in denen er versuchte, die Erscheinung
verschiedener wahrzunehmender Objekte wie etwa Vasen oder einfache
Graphiken, aber auch gesprochene Lyrik und musikalische Kompositionen
unter dem Gesichtspunkt der Ästhetik miteinander zu vergleichen. Birkhoff
ging davon aus, dass wir Objekte als Kombinationen von Zeichen
wahrnehmen. Dazu bedarf es einer Anstrengung seitens des Betrachters,
welche je nach Objekt verschieden ist. Die Groesse der Anstrengung ist
direkt proportional zu bestimmten Eigenschaften des Objekts, die Birkhoff
Komplexitaet (C) nennt und die quantitativ bestimmbar ist. Dieser Wert
quantifiziert die Anstrengung der sinnlichen Wahrnehmung.
Suche nach Ordnungsprinzipien
Um beim Anschauen eines Objektes die Wahrnehmung besser
kontrollieren zu koennen, sucht der Betrachter nach Ordnungsprinzipien.
Das Finden solcher Ordnungsprinzipien ist eine Voraussetzung fuer das
Auftreten eines Gefuehls des Gefallens. Solche Ordnungsprinzipien
koennen zum Beispiel Reihung oder Symmetrie sein. Die Dichte der
Ordnungsprinzipien wird nach Birkhoff mit dem Ordnungsmass gemessen,
welches durch eine numerische Groesse O bestimmbar ist.
Den Quotienten aus Ordnung und Komplexitaet definiert Birkhoff als das
aesthetische Mass M=O/C. Die Groesse M ist nicht ein Mass fuer
Schoenheit schlechthin. Sie ist aber ein Mass fuer das Gefuehl des
Gefallens, fuer das Empfinden von Schoenheit. Nach dieser Formel waere
ein Objekt dann am "schoensten", wenn es ein moeglichst grosses
Ordnungsmass bei moeglichst kleiner Komplexitaet besitzt. Birkhoff war
sich der Problematik seiner Formel bewusst. Schon beim Bestimmen der
Werte fuer O und C sind verschiedene Interpretationen moeglich. Je
komplexer die Erscheinungen sind, desto subjektiver wird die Bestimmung
der Werte. - Birkhoff war zuerst der Meinung, dass das Gefallen um so
groesser sei, je hoeher der aesthetische Wert ist: moeglichst kleine
Komplexitaet bei moeglichst grosser Ordnung. Andere Forscher kamen
allerdings zu anderen Ergebnissen. In der Psychologie lassen sich
verschiedene Verhaltensmuster, welche von mehreren Faktoren abhaengig
sind, mit einer Gaussschen Kurve darstellen. So zum Beispiel der
Zusammenhang zwischen Stress und Leistung: ein gewisser Stress wird
die Leistung erhoehen, wenn aber eine bestimmte Grenze ueberschritten
wird, nimmt die Leistung wieder ab. Wahrscheinlich ist die Annahme
richtig, dass auch zwischen dem Wohlgefallen, der Komplexitaet und der
Ordnung keine lineare Abhaengigkeit, sondern eine umgekehrte UFunktion besteht, deren Optimum bei M=1 liegt.
Anwendbarkeit auf die Architektur
Ist nun eine solche Formel auch auf die Architektur anwendbar? Kann
auch fuer Gebaeude ein aesthetisches Mass bestimmt werden? Die
Antwort lautet Nein: Die Erscheinung des architektonischen Raumes ist
viel zu komplex, als dass man sie in einfachen Zahlen festhalten koennte.
Trotzdem sagt die Formel von Birkhoff sehr viel ueber die Erscheinung und
den Ausdruck unserer gebauten Umwelt aus. Obwohl die Schoenheit eines
Hauses wohl nicht direkt messbar ist, laesst sich viel Objektives ueber sie
aussagen. Der Zusammenhang zwischen aesthetischem Ausdruck
einerseits, Ordnung und Komplexitaet anderseits hat auch in der
Architektur seine Gueltigkeit. Die Ordnung wird sichtbar durch
Eigenschaften wie Symmetrie, Hierarchie oder optisches Gleichgewicht.
Kriterien fuer die Komplexitaet der Teile koennen sein:
regelmaessig/unregelmaessig, schwarzweiss/farbig und andere.
Versuchen wir nun die Formel von Birkhoff auf zwei architektonische
Beispiele anzuwenden. Bei einer typischen Hochhausfassade in einer
Grossstadt ist die Komplexitaet der Teile relativ gering, der Ordnungsgrad
aber sehr hoch. Der Wert des aesthetischen Masses ist relativ hoch. Dieser
Anblick erscheint uns eher langweilig, der Ordnungsgrad ist offensichtlich
zu hoch oder die Komplexitaet zu gering. Bei einem dekonstruktivistischen
Bau hingegen ist der erste Eindruck der eines Chaos. Fuer eine so grosse
Komplexitaet der Teile besteht zu wenig Ordnung. Das optimale
aesthetische Mass von 1 kann grundsaetzlich auf zwei Arten erreicht
werden: Im ersten Fall ist sowohl die Komplexitaet der Teile als auch ihr
Ordnungsgrad relativ einfach. Beim zweiten Fall liegt der Sachverhalt
umgekehrt: Bei relativ hoher Komplexitaet der Teile ist auch ihr
Ordnungsgrad vielschichtiger. Es gibt also nicht nur eine Wahrheit
Erscheinungen, die vielleicht auf den ersten Blick eher gegensaetzlich
sind, koennen beide ein Gefuehl von Schoenheit erwecken.
Die Formel von Birkhoff ist auf Bauwerke nicht direkt anwendbar.
Geleichwohl ist sie der wichtigste Versuch, das Problem des Gefallens
mathematisch zu erfassen. Im Gegensatz zu den erwaehnten Beitraegen
von Moles und Frank ist Birkhoffs Betrachtungsweise aber eine rein
objektive; ihn interessiert das Objekt als Nachrichtensender und nicht der
Mensch als Nachrichtenempfaenger.
Was koennen nun subjektive, also vom Betrachter abhaengende Aspekte
sein, die unser Schoenheitsempfinden beeinflussen? Einmal kann das
Wissen um einen historischen Hintergrund auf unser
Schoenheitsempfinden einen Einfluss haben. Dann wirken viele aeltere
Gebaeude, die vom Formalen her bestenfalls eine mittelmaessige
Qualitaet aufweisen und auch keinen historischen Bezugspunkt haben, auf
uns schoen. Denn alte Bauten repraesentieren eine Tradition. Ein weiterer
subjektiver Aspekt des Schoenheitsempfindens ist das jeweils
vorherrschende kulturelle Modell: die Mode oder der zur Zeit akzeptierte
Stil. Aber auch die Persoenlichkeit und der Charakter des Betrachters
spielen, wie bereits erwaehnt, bei der subjektiven Bewertung einer
Information eine wesentliche Rolle. So ist zum Beispiel erwiesen, dass ein
introvertierter Mensch seine Gefuehle eher durch den Verstand kontrolliert
als ein extravertierter. Der erste nimmt Komplexitaet eher wahr als der
zweite und ist deshalb auch schneller uebersaettigt. Er bevorzugt eine
Architektur, bei der eine gewisse Ordnung und Ausgeglichenheit
vorherrscht. Schliesslich kann auch der momentane Gefuehlszustand des
Betrachters einen Einfluss auf seine Wahrnehmung und somit auf sein
Schoenheitsempfinden haben.
Warum Schönheit?
Warum ist uns eigentlich Schoenheit so wichtig? Zur Beantwortung dieser
Frage bestehen mindestens zwei Ansaetze. Einmal der psychologische: So
versteht etwa Sigmund Freud den Genuss von Kunstwerken als eine
Ersatzbefriedigung. Dann der informationstheoretische: Dieser Ansatz zur
Begruendung des Schoenen liegt bei der Bildung von Superzeichen. Wie
Helmar Frank festgestellt hat, wird das Empfinden von Schoenheit vor
allem durch diesen Vorgang gewaehrleistet. Das Bilden von Superzeichen
schafft Ordnung, welche wiederum Sicherheit schafft; und dieses Gefuehl
der Sicherheit verschafft Befriedigung.
Ist Asthetik messbar? - Diese Frage ist weder mit Ja noch mit Nein zu
beantworten. Wie wir sahen, kann kein objektiv bestimmbarer absoluter
Wert fuer das Empfinden von Schoenheit festgelegt werden. Andererseits
sind viele Aspekte der Wahrnehmung, und damit auch der Wertung dieser
Wahrnehmung, heute objektiv quantifizierbar. Ob etwas schoen ist oder
nicht, ist also nicht nur eine Frage des Geschmacks.
Joerg K. Gruetter, Architekt ETH und Dozent fuer Architektur in Bern, ist der
Verfasser von "Asthetik der Architektur. Grundlagen der ArchitekturWahrnehmung" (Stuttgart 1987). Eine ausfuehrliche Studie zum Thema erscheint
am 4. April in der Zeitschrift "Schweizer Ingenieur und Architekt" (Nr. 15), dem
offiziellen Publikationsorgan des SIA.
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