Artgerecht Die Erwartungen an ein neues Album könnten wohl größer kaum sein: Wer eine Million Tonträger verkauft, begehrteste Preise wie im Vorbeigehen einsammelt, die größten Hallen des Landes füllt und mit seinem Namen zum Synonym für Coolness und Eleganz avanciert, der legt die Messlatte gleich ganz nach oben. Der Erfolg hat ein mittlerweile überlebensgroßes Porträt von Roger Cicero gezeichnet – das fast vergessen lässt, was die Basis seines raketenhaften Aufstiegs ist: grandiose Musik von hierzulande unerreichter Präzision und Spielfreude. Vielleicht liegt es am Vertrauen in seine Qualitäten, Roger Cicero jedenfalls ist keine Anspannung anzumerken, wenn er von seinem neuen Album spricht. Er selbst ist ohnehin sein schärfster Kritiker, und im Moment spürt man an ihm nur die große Zufriedenheit eines Musikers, der etwas nahezu Perfektes geschaffen hat. Er formuliert das zurückhaltend: „Wir wollten musikalisch einen Schritt weiterkommen. Und das haben wir geschafft.” Weiterentwicklung, nicht um der Gefahr zu entgehen, Epigone seiner selbst zu werden, sondern weil er künstlerisch mehr zu bieten hat als „nur” eine der variantenreichsten deutschen Stimmen: Er ist ein kompletter Musiker mit Fähigkeiten als Komponist, als Arrangeur und mit einem enormen musikalischen Hintergrund. „Artgerecht” ist insofern ein logisches Stück Roger Cicero, auch wenn es deutlich anders ist als seine Vorgänger-Alben „Männersachen” und „beziehungsweise”. Darauf deutet auch der Titel hin, einerseits inspiriert von dem Song „Nicht artgerecht”, genauso aber ein selbstbewusstes Statement zu der großen stilistischen Bandbreite des Albums. Roger Cicero bringt es auf den Punkt: „Mein familiärer Background ist Jazz, ich habe Jazz studiert, bekannt geworden bin ich mit Big-Band-Swing, meine persönlichen Wurzeln aber liegen im Soul und Funk – all das haben wir nun umgesetzt. Das Album wird also meiner Art gerecht, wir hätten keinen besseren Namen finden können.” Artgerecht erscheint am 03.04.2009 Das Album „Artgerecht” hält, was Roger Cicero verspricht: Es gibt Swing à la Cicero, ob uptempo oder entspannt und laid back, doch die Anklänge von tanzbarem Seventies-Soul sind unüberhörbar. Die aus Jazzspezialisten bestehende Band wurde durch Percussion und Gitarre um funky Akzente erweitert, Arrangeur und Band-Leader Lutz Krajenski lässt an vielen Stellen die Hammond-Orgel singen, streut hier und da perlendes Fender Rhodes ein, ohne dabei seinen angestammten Platz am Konzertflügel zu vernachlässigen – und das Experiment gelingt. Ein erster Beleg ist die hymnenhafte Single-Auskopplung „Nicht artgerecht”, die furios von einem schweißtreibenden Motown-Beat vorwärtsgetrieben wird. Sogleich gefolgt von „Spontis zeugen Banker”, das die Band mit gestochen scharfen Bläsersätzen, knarzendem Bariton-Sax und einem derart infizierenden Groove spielt, als habe man es nicht mit einer auf Swing gepolten Big Band zu tun, sondern mit leibhaftigen Wiedergängern der legendären Funk-Formation Tower of Power. Auch stimmlich hat sich etwas verändert. Roger Cicero setzt noch mehr als zuvor Glanzlichter, besticht mit seiner unnachahmlichen Mischung aus Energie, Emotion und Lässigkeit. Doch vor allem greift er effektvoll zu neuen Stilmitteln. „Ich bin auf diesem Album erstmals seit Langem einer alten Leidenschaft nachgegangen und habe viele Chöre arrangiert und eingesungen, mit Gospel-Elementen gearbeitet und mich in jeder Hinsicht ausgetobt. Ich denke, so ist noch mal eine ganz neue Klang-Facette hinzugekommen.” Es ist Cicero hörbar eine Freude, das Spektrum seiner Stimme so zuverlässig wie brillant bis in den hintersten Winkel seines Organes auszuloten. Ein Beispiel par excellence ist „Ohne Worte”, eine 6/8-Reminiszenz an eines seiner größten Idole, und dieses virtuose Falsett beherrschen neben Prince persönlich wohl auch nur wenige. Bisher ungehört in deutscher Sprache. „Wir haben uns ganz einfach sehr viel Zeit und Muße genommen zum Überlegen, Planen, Arrangieren, Aufnehmen”, erzählt Cicero über die Produktion. „Wir haben sogar gemeinsam komponiert – eigentlich ist jeder von uns in dieser Hinsicht eher Eigenbrötler, aber ich habe zum ersten Mal gemeinsam mit meinen Produzenten Frank Ramond und Matthias Hass in einer kreativen Runde an einem Song geschrieben.” Entstanden ist daraus „Tabu”, die einzige klassische Ballade des Albums, in der Ciceros augenzwinkernder Charme nackter Ehrlichkeit und Emotion weichen muss. Auch in anderen Passagen haben die Texte einen eher nachdenklichen Charakter, handeln von vergebenen Chancen, Scheitern und Verlust wie in „Ich bin dabei” oder „Und sonst so”. Schonungslos treffende Beobachtungen, die von einem feinen Gespür für menschliches Gefühlschaos zeugen. Der zum Markenzeichen gewordene Wortwitz treibt ebenfalls seine Blüten, besonders, wenn Cicero sich in „Hinterm Steuer” selbstironisch auf die Schippe nimmt oder beiläufig mit seinem Image kokettiert und geschickt den ihm einst von der „Emma” verliehenen Titel „Pascha des Monats” in einer Zeile verbaut. Ein Thema jedoch taucht immer wieder auf und hat insbesondere mit dem letzten Song „Für ’nen Kerl“ einen besonders prominenten Platz auf dem Album erhalten – und das nicht ohne Grund: „Einschneidende Erlebnisse muss man verarbeiten, als Musiker tut man das auch auf musikalischer Ebene. Und ich habe nie etwas so Einschneidendes erlebt wie die Geburt meines Sohnes im vergangenen Jahr. Man ist ja auf vieles vorbereitet, aber das Ganze hat mich derartig beeindruckt, dass mir der Song binnen weniger Stunden fast von allein zugefallen ist”, und Cicero ergänzt, mit einem Lächeln auf den Lippen: „Ich hätte mir wirklich nicht träumen lassen, dass ich mal so auf nen Kerl stehen würde!” Roger Cicero „Seit Louis da ist, bestimmt er einfach alles – Tages- und Nachtrhythmus, was geht und was eben nicht geht.” Doch Vaterfreuden und schlaflose Nächte haben Roger Cicero nicht davon abgehalten, ein mehr als ausgeschlafenes drittes Album abzuliefern. Ihn scheint nichts aus der Ruhe, kein Ereignis von seinen Ideen abzubringen. Roger Cicero habe die Lässigkeit gepachtet, schrieb treffenderweise einmal ein Journalist. Ein in sich ruhender Charakter, der früh seinen Platz im Leben gefunden hat, möchte man meinen. „Im Nachhinein sieht das wohl so aus”, lacht Cicero, „aber von einer komfortablen Position aus lässt sich nun mal leicht entspannt über frühere wilde Zeiten urteilen. Wenn ich zurückdenke, erinnere ich mich eher an einen holprigen und mühsamen Weg.” Ciceros Biographie enthält tatsächlich mehr als genug Kerben, Wendepunkte und Wegmarken. Persönliche, wie die frühe Trennung seiner Eltern oder den Tod seines Vaters. Musikalische, wie den Versuch, sich durch das Studium in Holland abzunabeln, um nicht auf ewig nur der Sohn des weltweit berühmten Jazz-Pianisten Eugen Cicero zu bleiben. Existenzielle, als wegen einer Entzündung der Stimmbänder der Verlust seines gesamten Kapitals droht, ihm, der nie einen Alternativ-Plan neben der Musik gehabt hat. Diese Erfahrungen prägen, sie ermöglichen Roger Cicero einen distanzierten Blick, machen ihn zu einem sehr bewusst lebenden Menschen, der nicht zu weit im Voraus plant und niemals Luftschlösser baut. Und geben ihm letztlich genau die Lockerheit, die er sichtbar nach außen trägt. „Ich habe einfach immer weitergemacht, auch in Situationen, in denen es zum Beispiel beruflich ziemlich düster aussah. Niemals verbissen, ich wollte ja niemandem etwas beweisen, aber ich hatte irgendwo in mir ein Urvertrauen, so ein diffuses Gefühl von ‚ich kann was, und irgendwann wird daraus etwas werden.’” Der Erfolg kommt trotzdem unerwartet. Die kühne Hoffnung, sich mit den LiveQualitäten der Big Band langfristig ein Publikum erspielen zu können, wird in kürzester Zeit durch die Realität getoppt. „Interessanterweise sprachen danach einige Medien von einem durchgestylten Konzept mit Erfolgsgarantie, ich wurde sogar mal als eine ‚One-Man-Boygrup’ bezeichnet”, Roger Cicero muss hörbar schmunzeln. „Das Gegenteil war der Fall: Das Risiko, alles auf diese eine Karte zu setzen und alle anderen lebensnotwendigen Jobs aufzugeben – anfangs sogar noch ohne Plattenfirma im Rücken –, hat mir eine nicht besonders ruhige Zeit beschert.” Doch das Debüt-Album „Männersachen” wird zum Dauerbrenner, der Nachfolger „beziehungsweise” bestätigt den Erfolg und steigt in der ersten Woche auf Platz zwei der Charts ein. Mittlerweile werden die Alben von Eugen Cicero neu aufgelegt, versehen mit dem Hinweis „Der Vater von ...”. Die anhaltende öffentliche Wertschätzung gibt Roger Cicero die Möglichkeit, sein künstlerisches Potenzial auch anderweitig auszutesten – im Mai 2008 flattert das Angebot auf den Tisch, im Kinofilm „Hilde” Ricci Blum zu mimen, den musikalischen Entdecker der Knef, an der Seite von Heike Makatsch. „Wenn ich ehrlich bin: Natürlich hatte ich ein wenig Bammel, neben absoluten Profis vor der Kamera zu stehen. Allerdings – diese Künstlermentalität, dieser Schlag von Menschen, das kam mir schon sehr bekannt vor. Auch bei uns zu Hause gingen früher die Schauspieler ein und aus, ich hatte mich also schnell akklimatisiert – und die musikalische Rolle spielte mir ja auch durchaus in die Karten.” Nach dem kurzen Ausflug ins Film-Fach geht es turbulent weiter: AlbumVeröffentlichung, zahlreiche Medientermine und mehr als 50 Shows für die kommende Tournee stehen an – Roger Ciceros Terminkalender dürfte kaum noch weiße Felder haben. Doch auch das nimmt er sehr entspannt: „Viele Konzerte zu spielen, das ist ein Idealzustand für Musiker. Und wenn ich zu Hause bin, dann bin ich Vollzeitpapa – ich bin das von früher selbst nicht anders gewohnt, es ist ganz einfach ... artgerecht.”