Stellungnahme der BAG SELBSTHILFE zum wissenschaftlichen Gutachten für die Auswahl von 50 bis 80 Krankheiten zur Berücksichtigung im morbiditätsorientieren Risikostrukturausgleich des Wissenschaftlichen Beirats zur Weiterentwicklung des Risikostrukturausgleichs 1. Allgemeine Einschätzung a) Aus Sicht der BAG SELBSTHILFE ist es von essentieller Bedeutung, dass mit den für den morbiditätsorientierten Risikostrukturausgleich (RSA) relevanten Krankheiten das bei den GKV-Versicherten in Deutschland existierende Vorkommen chronischer Erkrankungen repräsentativ abgebildet wird. Anderenfalls wird es unter Kostengesichtspunkten künftig zu Versicherten 1. und 2. Klasse kommen, da die beim RSA nicht berücksichtigungsfähigen Krankheiten bei den Krankenkassen zum Kostenrisiko würden, was zwangsläufig auf das Leistungsgeschehen und auf die Versorgungsangebote der Kassen negative Auswirkungen hätte. Eine solche Ausrichtung wäre mit dem Solidargedanken des 5. Sozialgesetzbuches nicht zu vereinbaren. b) Aus Sicht der BAG SELBSTHILFE ist die in § 31 RSAV vorgenommene Begrenzung der maßgeblichen Krankheiten auf 50 – 80 nicht sachgerecht, da für eine repräsentative Abbildung des Krankheitsgeschehens zumindest 200 – 300 Erkrankungen erforderlich wären. Die BAG SELBSTHILFE vermißt in dem nun vorliegenden Gutachten eine wissenschaftliche Stellungnahme zu dieser Frage. Unter rechtlichen Gesichtspunkten ist jedenfalls zu konstatieren, dass das skizzierte Prinzip des Solidarausgleichs zumindest eine weite Definition des Begriffs „Krankheit“ i.S.d. § 31 RSAV notwendig macht. Aus Sicht der BAG SELBSTHILFE wurde auch dieser Punkt im vorliegenden Gutachten nicht hinreichend beachtet. c) Schon im Grundsatz nicht akzeptabel ist au Sicht der BAG SELBSTHILFE die den Erwägungen des Beirats zugrunde liegende Datenquelle, die sich auf das Jahr 2005 und teilweise auf das Jahr 2006 bezieht. Berücksichtigt man, das die Auswahlentscheidung des Beirats für den RSA ab dem Jahr 2009 relevant sein wird, dann wird deutlich, dass die Kostenentwicklung in den dazwischen liegenden Jahren nicht hinreichend berücksichtigt wird, was in den Indikationsbereichen mit Innovationsschüben in diesem Zeitraum zwangsläufig zu Fehleinschätzungen führt. 1 Aus Sicht der BAG SELBSTHILFE ist es daher dringend erforderlich, das genutzte Datenmaterial um stichprobenartig gewonnene aktuelle Daten zu ergänzen. d) Der allgemeine Rückgriff auf die genannten Daten aus den Jahren 2005 und 2006 impliziert im Übrigen, dass es gerade im Bereich der Versorgung chronisch kranker und behinderter Menschen keinerlei Über-, Unter- und Fehlversorgung gebe. Dass dem nicht so ist, darf als Allgemeingut der Versorgungsforschung vorausgesetzt werden. Exemplarisch sei nur auf das Gutachten der Sachverständigenkommission für die konzertierte Aktion im Gesundheitswesen aus dem Jahr 2000 zu Bedarfsgerechtigkeit und Wirtschaftlichkeit“ verwiesen. Unser Mitgliedsverband der „Deutsche Psoriasis Bund“ weist für die Psoriasis insoweit bspw. auf Folgendes hin: “Die kurzfristige Kostenanalyse der ausgewählten „Krankheiten“ (analysiert werden Daten nur der Jahre 2005 und 2006) und deren modellhafte Einbindung für die Anwendung eines Rechenalgorithmusses für den amerikanischen Markt zur Berechnung von Zuschlägen bei Versicherungen (?!) „nach Zielsetzungen des Beirates“ (S. 13), vernachlässigt die Prävalenz und Inzidenz der Volkskrankheit Schuppenflechte. Diese Analyse blendet auch die Unterversorgung mittel bis schwer an Psoriasis Erkrankter aus. Das Klassifikationsmodell berücksichtigt bei einer hohen Dropout-Rate nicht berücksichtigungsfähiger Pseudonyme (ca. 20 Prozent der gelieferten Daten wurden nicht einbezogen) nur tatsächliche Kosten aus zwei Kalenderjahren (S. 4). Die Kosten, einer Behebung der Unterversorgung von schwer kranken Menschen mit Psoriasis (nach der medizinischen Definition der Krankheitsschwere) werden im Modell nicht berücksichtigt. Auch wenn das System lernend sein soll, ist eine solche Schnittstelle für die Einbeziehung der Kosten zur Beendigung der Unterversorgung nicht ersichtlich“. Entsprechend führt unser Mitgliedsverband, die Deutsche Alzheimer Gesellschaft bspw. aus: “Nach Studien liegen nur bei etwa 30 % der Demenzkranken eine Diagnose vor, nur 15 % (Studie MuG III des BMFSFJ) erhalten antidementiv wirkende Medikamente. Ärzte sind sehr unsicher, ob die existierenden Medikamente wirken und unterliegen dazu einem starken Budgetdruck. Wir haben im Jahr 2000 einmal eine Mitgliederbefragung (sicher nicht repräsentativ) gemacht, bei der jeder 8. mitteilte, Antidementiva mit der Begründung des Budgets nicht mehr verschrieben zu bekommen. Es ist bekannt, dass die Medikamente nicht bei jedem gleich wirken und auch nur für einen begrenzten Zeitraum eine krankheitsaufschiebende Wirkung (und damit längere Selbständigkeit, spätere Pflegebedürftigkeit) haben, aber selbst das IQWiG hat zumindest der Gruppe der Acetylcholinesterasehemmer einen Nutzen bestätigt. Die anderen Gruppen befinden sich noch in der Nutzenbewertung. Wir befürchten, dass mit dieser Liste die bestehende Unterversorgung zementiert wird. Die meisten Kosten fallen bei Demenzen im Bereich der Pflegeversicherung und bei den Familien an. Hier wird wieder nur auf einen Zweig der Sozialversicherung gesehen.“ Aus Sicht der BAG SELBSTHILFE ist es nicht verständlich, warum nicht zumindest der Abschnitt „Anpassung aufgrund medizinischer Aspekte und spezifischer Anreizwir2 kungen“ die Problematik bestehender Über-, Unter- und Fehlversorgungen diskutiert wurde. Im Ergebnis hat auch dieser Mangel aus Sicht der BAG SELBSTHILFE zu Fehleinschätzungen des Wissenschaftlichen Beirats geführt. e) Ebenfalls unberücksichtige bleibt in dem Gutachten die Problematik, dass mit sehr vielen chronischen Erkrankungen Ko-Morbiditäten verbunden sind, die unter Kostengesichtspunkten zu berücksichtigen sind. Eine Fixierung auf den ICD-10 wird dieser Problematik nicht gerecht. 2. Einzelne Kritikpunkte Im Einzelnen ist zu dem Gutachten Folgendes auszuführen: a) Datengrundlage Problematisch ist, dass auf Daten der Jahr 2005 und 2006 zurückgegriffen wurde, die in manchen Indikationsbereichen nicht mehr à jour sind. In der Tendenz führt die Datenauswahl ferner dazu, dass Indikationen, bei denen stationäre Aufnahmen nicht erforderlich sind und bei denen die Arzneimitteltherapie nur eine untergeordnete Rolle spielt, nicht hinreichend berücksichtigt werden. Ein weiteres Defizit besteht darin, dass Kosten der GKV für Rehabilitationsmaßnahmen nicht umfassend erfasst sind. Umgekehrt zeigt der Umstand, dass eine „Diagnose“ wie „Rehabilitation“ auftaucht (Nr. 772), dass die Sinnhaftigkeit des Klassifikationssystem ernstlich in Zweifel zu ziehen ist. b) Methodik und Krankheitenauswahl Zutreffend wird auf Seite 11 des Gutachtens festgestellt, dass der Begriff Krankheit im Sozialversicherungsrecht grundsätzlich weit definiert wird. Unberücksichtigt bleibt allerdings, dass schon das Solidarprinzip der gesetzlichen Krankenversicherung rechtlich einen breit anzulegenden Morbiditätsfilter nach § 31 RSAV gebietet. Auf Seite 11 des Gutachtens wird ferner verkannt, dass sich die „enge Abgrenzbarkeit“ in § 31 Abs. 1 Satz 4 RSAV auf die Klarheit und Handhabbarkeit des Krankheitsbegriffs bezieht, nicht aber auf den Umfang der Sachverhalte, die jeweils per Definition als „Krankheit“ an zu sehen sind. Es ist daher verfehlt, zu unterstellen, dass der Begriff „Krankheit“ in § 31 RSAV „eng“, .d.h. bezogen auf Einzeldiagnosen zu bestimmen sei. Diesen Weg hat aber der Wissenschaftliche Beirat gewählt, in dem er versucht, Krankheiten über Diagnose-Gruppen zu definieren (S. 13 des Gutachtens) und dabei in Kauf nimmt, „dass einige der in diesem Gutachten ausgewählten Krankheiten nicht exakt das umfassen, was aus klinischer Sicht als vollständige ‚Krankheitsentität’ zu bezeichnen wäre“ (S. 33 des Gutachtens). Damit aber hat der Beirat die Ebene der Empirie verlassen und der Beliebigkeit Tür und Tor geöffnet. Im Ergebnis finden sich im Gutachten dann auf den Seiten 57, 58 aus klinischer Sicht betrachtet „Krankheiten“, Klassifikationen von Krankheiten (‚Typen’), 3 Folgeerkrankungen von mehreren Krankheiten (Niereninsuffizienz) und Behinderungen (z.B. Lippen-Kiefer-Gaumenspalte), ohne das die unterschiedlichen Kategorien als solche benannt werden. Dies ist aus Sicht der BAG SELBSTHILFE auch in rechtlicher Hinsicht problematisch, da aufgrund dieser unklaren Begriffsbildung auch die Zahl der maximalen berücksichtigungsfähigen Krankheiten unangemessen verkürzt wird. Mit Unverständnis ist in diesem Sinne aus Sicht der BAG SELBSTHILFE auch die Definition der Chronizität auf Seite 27 des Gutachtens aufzunehmen. Die Ratio des § 31 RSAV impliziert nämlich, dass nur langfristige Kostenbelastungen der Krankenkassen auszugleichen sind. Es ist ein unzulässiger Schluss des wissenschaftlichen Beirats, wenn auf S. 22 des Gutachtens ausgeführt wird, dass die meisten typischen Akutdiagnosen bereits im zweiten Quartal abgeschlossen seien, während alle anderen Fälle als „chronisch“ anzusehen seien. Neben den Akutdiagnosen, die in einem Quartal abgeschlossen sind, gibt es eben auch Akutdiagnosen, die sich über mehrere Quartale erstrecken. Unser Mitgliedsverband, der „Deutsche Rheuma Liga – Bundesverband“, führt hierzu zutreffend aus: „So ist die „Normale Betreuung während der Schwangerschaft Nr. 611“ zu 55,4 % chronisch, während der Lupus/Riesenzellarthritis/Bindegewebeserkrankungen Nr. 187 nur zu 45,9 % die 2-Quartalsgrenze übertrifft. Das sind schon bizarre Blüten des Gutachtens“. Unter dem Gesichtspunkt der langfristigen Kostenbelastung muss aus Sicht der BAG SELBSTHILFE zumindest der Zeitraum von einem Jahr (= Bescheinigungszeitraum i.S. d. § 62 SGB V) angesetzt werden, um die Chonizität zu bejahen. Daher kann bspw. die „Blutung in der Schwangerschaft“ nie und nimmer als chronische Krankheit angesehen werden (vgl. S. 59 des Gutachtens). Wie bereits ausgeführt wurde, fehlt im Gutachten eine Prüfung von Über-, Unter- und Fehlversorgung im Bereich der chronischen Erkrankungen. Einseitig ist in diesem Zusammenhang der Hinweis auf S. 33 des Gutachtens, dass bei Erkrankungen, die der Primär- oder Sekundarprävention zugänglich sind, die Setzung von Fehlanreizen vermieden werden müsse. Umgekehrt kann gerade die Stigmatisierung von Indikationsbereichen unter Kostengesichtspunkten um Wegbrechen der noch vorhandenen Präventionsprogramme führen. Kritisch ist aus Sicht der BAG SELBSTHILFE schließlich zu sehen, dass die Einstufung einer Krankheit als „schwerwiegend“ u.a. von der Hospitalisierungsquote abhängig gemacht wird (vgl. bspw. S. 35 des Gutachtens). Zum einen kann diese Festlegung im Sinne der Setzung von Fehlanreizen die Umsetzung des Grundsatzes „ambulant vor stationäre“ behindern. Zum anderen führt die Festlegung der Hospitalisierungsquote zu einer unangemessenen Nichtberücksichtigung von Erkrankungen wie „Asthma bronchiale“, die kostenrelevant sind, aber in der Regel nur einer ambulanten Behandlung bedür4 fen. Überhaupt nicht in die Berechnungen eingegangen ist die Frage, über welche Zeiträume bestimmte Kosten entstehen. Ein bspw. Rheumapatienten wird die Arzneimittelkosten meist dauerhaft verursachen, bei anderen Erkrankungen entstehen die Arzneimittelkosten vermutlich eher punktuell. c) Auswahl der Krankheiten Aus Sicht der BAG SELBSTHILFE ist es unverständlich, dass Erkrankungen wie Demenz, rheumatoide Arthritis, Psoriasis oder Asthma bronchiale nicht zu den nach § 31 RSAV relevanten Krankheiten zählen sollen. Ursache dürfte unter anderem die nicht mehr aktuelle Datengrundlage des Gutachtens sowie die Nichtberücksichtigung von Untersorgungen sein. Im Einzelnen ist zu den vom wissenschaftlichen Beirat erarbeiteten Ergebnissen folgenden auszuführen: Die Aufspaltung der Erkrankung „Krebs“ in eine Vielzahl von Detaildiagnosen ist unsachgemäß und wird der Vorgabe einer weiten Definition des Krankheitsbegriffs in § 31 RSA nicht gerecht. Die Unterteilung der Erkrankung „Diabetes mellitus“ in verschiedenen Typen ist unter Kostengesichtspunkten unsachgemäß und angesichts der zahlenmäßigen Beschränkung der für den RSA maßgeblichen Erkrankungen rechtlich bedenklich. Entsprechendes gilt für die Unterteilung „terminale Lebererkrankungen“ und „Leberzirrhose“. „Herzstillstand und Schock“ ist keine Erkrankung. Die Unterteilung von „Schlaganfall“ und „Aphasie“ in zwei unterschiedliche Krankheiten ist nicht nachvollziehbar. „Niereninsuffizienz“ ist eine Folge unterschiedlicher Erkrankungen. Die Systematik „Krankheit“ und „Krankheitsfolge“ wird hier durchbrochen. „Blutungen in der Frühschwangerschaft“ ist ebenso wenig eine chronische Krankheit wie „schwerwiegende Probleme während der Perinatalperiode“. Für derartige kostenintensive Behandlungen muss eine Lösung außerhalb des Morbiditätsfilters gefunden. Die Nichtberücksichtigung des Aufmerksamkeitsdefizit-Syndroms beruht auf dem Umstand, dass aktuelle Versorgungsdaten bzw. deren Kostenkonsequenz nicht berücksichtigt wurden. 5 3) Seltene Erkrankungen Abschließend sei noch auf die Problematik der 4000 – 5000 seltenen Erkrankungen hingewiesen, die im Gutachten des Wissenschaftlichen Beirats keine Berücksichtigung finden, obwohl teilweise sehr kostenintensive Behandlungen bei Vorliegen dieser Erkrankungen notwendig sind (z.B. Morbus Gaucher). Ergänzend verweisen wir exemplarisch auf die Ausführungen unseres Mitgliedsverbandes, der „Deutsche Dystonie Gesellschaft“: „Die Arzneimittelkosten für die Behandlung der Dystonie mit Botulinumtoxin belaufen sich – je nach Schweregrad – bzw. Lokalisation der betroffenen Muskel auf ca. 2000, - bis 5000,- € pro Jahr. Hinzu kommen die Kosten für Physiotherapie/Rehabilitation. In manchen Fällen ist die operative Versorgung mittels tiefer Hirnstimulation (Hirnschrittmacher) einschließlich kontinuierlicher Nachsorge erforderlich. Die Behandlungskosten für einen von Dystonie betroffenen Patienten befinden sich nach Einschätzung der DDG e.V. im oberen Bereich der Kostenintensität und rechtfertigen eine Aufnahme in die Liste der 50 – 80 Krankheiten zur Berücksichtigung im morbiditätsorientierten Risikostrukturausgleich.“ Nach den Vorgaben des vorliegenden Gutachtens werden Versicherte, die an diesen Erkrankungen leiden, künftig Versicherte 2. Klasse werden. Dies ist aus Sicht der BAG SELBSTHILFE nicht hinnehmbar. Es ist daher die Aufnahme einer Generalsindikation „schwerwiegende kostenintensive seltene Erkrankungen“ in den Morbiditätsfilter zu fordern. Düsseldorf, 29.01.2008 *** 6