Text - Institut für Geographie

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Tilman Rhode-Jüchtern
Garten, Regenwald und Erdbeben –
Mensch-Natur-Verhältnisse in einer dritten Säule
(Vortrag Uni Münster 16.12.14)
1. Einleitung I: Begriffe und Präkonzepte
Die Determination des Menschen durch die Natur und die Domination des Menschen über die Natur
sind seit eh und je der Kern geographischer Betrachtungen. Aber schon hier beginnt die
Unterscheidung: rôle determinant oder rôle dominant – mit der Folge grundverschiedener
Paradigmen zum Mensch-Natur-Verhältnis. Ein weiterer und feinerer Unterschied ist bereits die Wahl
der Begriffspaare Mensch - Natur oder Gesellschaft - Umwelt.
Schon im Alten Testament wird diese Ambivalenz bemüht: Einerseits hat der Mensch den
göttlichen Auftrag, sich die Erde untertan zu machen (Genesis 1,28 – dominium terrae); andererseits
wird der Mensch von Gott verflucht: "Als aber der Herr sah, dass der Menschen Bosheit groß war auf
Erden und alles Dichten und Trachten ihres Herzens nur böse war immerdar, da reute es ihn, dass er
die Menschen gemacht hatte auf Erden. [...] Und er sprach: Ich will die Menschen, die ich geschaffen
habe, vertilgen von der Erde“ (Genesis 6-9; 1. Mose 6,17).
„Zuerst regnet es ohne Unterlass. Dann bricht die Flut los. Das Wasser rauscht und hallt. Es
läuft und rast. Es frisst Hütten, verschlingt Tiere, zerstört Wege und Straßen. Tote treiben auf
dem Schwall, Höfe schwemmen voll. Es rumpelt, wirbelt, schäumt und ertränkt alles. Das
Wasser wütet mit unbändiger Kraft und steigt 15 Ellen hoch an: 6 Meter 90. – Nur einer wird
davon ausgenommen: Noah und seine Familie. Denn er ist ein rechtschaffener Mann. Der
Einzige, der Gottes Wort befolgt. Durch Noahs Gehorsam wird den Menschen Rettung und
Neuanfang ermöglicht. Das ist der moralische Kern der Sintflutlegende: Nur der fromme
Mensch wird überleben. Und die theologische Lehre: Gottes Schöpfung kann der Mensch
selber nie zu Fall bringen.“1
Noahs Handeln richtet sich nicht auf das Untertanmachen der Erde oder die Unterwerfung seiner
selbst, sondern auf ein der Natur oder der Schöpfung gegenüber gerechtes Leben. Das wäre zugleich
der Kern der Kultur: Die Erfahrung der Sintflut und das verantwortliche Ur- und Fruchtbarmachen
der Erde (lat. „cultura“) statt eines ausbeuterischen Untertanmachens. In der Kultur wird der
individuelle Mensch zum gesellschaftlichen Wesen. Damit ist für uns Gesellschaft der Dreh- und
Angelbegriff, sie dreht sich um die Natur als Umwelt.
Damit haben wir drei Bestimmungen möglicher Natur-Mensch-Verhältnisse im Blick: Die
Unterwerfung im Aktiv und im Passiv und die Kultur des Fruchtbarmachens. Und wir sind nun bereits
aufmerksam auf die feinen Unterschiede in den Begriffen: Mensch/ Gesellschaft, Natur/ Umwelt,
Symptom/ Syndrom, Kausalität/ Kontingenz etc. Diese Unterschiede gilt es zu erkennen und in ihrer
jeweiligen Ladung zu dekonstruieren.
Nun ist die Sünde nicht durch die Sintflut abschließend gesühnt, sondern die Menschen
trachten in ihren Gesellschaften und ihren Kulturen weiterhin und ständig nach Überleben und Vorteil.
Daraus ergeben sich zahlreiche Irritationen und Defekte, die man als Syndrome einordnen und
betrachten kann, als typische multifaktoriell bedingte Krankheitsbilder. Diese gilt es zu erkennen, zu
benennen und womöglich zu heilen.
Der Wissenschaftliche Beirat der Bundesregierung für Globale Umweltveränderungen
(WBGU 1996) hat daraus ein Konzept gemacht, das Syndromkonzept. Voraussetzung einer Heilung ist
1
Vgl. Die Mythen der Bibel. National Geographic 1.5.2008
www.nationalgeographic.de/reportagen/topthemen/2008/die-mythen-der-bibel-ii-die-sintflut
1
zunächst das Erkennen und Mitteilen der Krankheiten: Diagnose, Prognose, Bewertung. Man kann die
Krankheitsbilder (Symptome) zunächst der Natursphäre und der Anthroposphäre zuordnen. Zur
Natursphäre könnten gehören der Klimawandel, die Bodendegradation, der Bedrohung der
Biodiversität, Verknappung von Süßwasser, Übernutzung und Verschmutzung der Weltmeere und
anthropogen verursachte (Natur)Katastrophen. Zur Anthroposphäre kann man zählen die
Bevölkerungsentwicklung, Welternährung, Weltgesundheit, Entwicklungsdisparitäten. Die ca. 80 vom
WBGU aufgestellten Symptome werden in neun Sphären gebündelt (Biosphäre, Atmosphäre,
Hydrosphäre, Bevölkerung, Pedosphäre, Wirtschaft, psychosoziale Sphäre, gesellschaftliche
Organisation, Wissenschaft/Technik), in denen fachliche Teillösungen zu erwarten sind. Der WBGU
definierte schließlich 16 Syndrome, die verschiedene Sektoren und Umweltmedien betreffen. Sie
gelten als global relevant, weil sie den Charakter des Systems Erde verändern. Die identifizierten
Syndrome teilte der WBGU in die drei Gruppen „Nutzung“, „Entwicklung“ und „Senken“ ein.2
Schon hier wird deutlich: es geht nicht mehr um einzelne Symptome, auch nicht mehr um
einzelne Krankheiten, sondern um Komplexe von Kausalitäten und systemischen Prozessen bis hin zu
Kontingenzen (etwas könnte auch ganz anders sein), Emergenzen (etwas lässt sich nicht abschließend
klären) und Resilienzen (aus Instabilität kann chaotisch neue Stabilität entstehen). Das alles ist nicht
nur Stoff für fachwissenschaftliche Beobachtung, denn die äußere Realität ist sowieso ungefächert. Es
ist auch Stoff für die geographische Bildung in der Mischung von fachübergreifendem Wissen,
Reflexion, Beurteilungs- und Bewertungskompetenz und wohlbegründetem Handeln.3
Im Folgenden soll nun auf Ausprägungen des Gesellschaft-Umwelt-Verhältnisses an drei
Beispielen eingegangen werden: Garten, Regenwald, Erdbeben. Diese Beispiele sind paradigmatisch
zu nehmen und reflektiert zu transferieren. Dabei ist zu achten auf geklärte Begrifflichkeiten, weil
sonst schon hier – womöglich unbewusst und unbemerkt – Konfusion gestiftet werden kann. Dahinter
stehen zumeist Präkonzepte von etwas. Zum Beispiel beim Begriff „Ordnung“ könnte das concept
sein., dass die Ordnung in der Natur etwas „Gutes“ sei, die es deshalb in die Gesellschaft zu
übernehmen gelte. Es ist aber eine Ordnung im ökologischen Sinne, also eines Kreislaufhaushaltes mit
Fressen und Gefressenwerden. Das Gesetz des Dschungels kann natürlich in eine Gesellschaft
übernommen werden, man müsste es dann aber eher z.B. „Raubtierkapitalismus“ statt „Natürliches
Gleichgewicht“ nennen.
Natur kennt keine Moral. Natur kennt auch keine Katastrophen.
2. Einleitung II : Natur – Kultur
Beginnen wir mit einer Irritation: „Zwei Gefahren bedrohen unaufhörlich die Welt: die Ordnung und
die Unordnung.“ (Paul Valéry4) – Wie kann denn A wahr sein und zugleich das Gegenteil B? Das ist
nicht nur eine Frage der Logik. Auf jeden Fall aber ist die Frage unbequem. Man müsste nämlich den
Begriff anstrengen. Vielleicht ist aber auch einfach die Frage falsch gestellt?
Man ist im Alltag, also ohne die Anstrengung des Begriffs, leicht geneigt, bestimmte Begriffe
im Rang von Kategorien oder gar Axiomen als – scheinbar – eindeutig zu verstehen.


„Nachhaltigkeit“ ist oftmals ein begrifflicher Indikator für eine bessere Welt (wenn er nicht
inzwischen einfach nervt); „Ganzheitlichkeit“ ist ein Prunkbegriff für Sonntagsreden; und
„Gleichgewicht der Natur“ klingt nach Ökologie.
Aber bei einem Begriff wie „Ordnung“ (bzw. „Unordnung“) hört diese Zuversicht in die
einfache Eindeutigkeit dann schnell wieder auf, und spätestens bei einem zweiten Blick gilt
das auch für die anderen Begriffe.
Mit einem Begriff wie „Gerechtigkeit“ (gerne auch global wie bei „fair trade“) meinte man
früher, einen intersubjektiven, ja universalen Wertmaßstab zu haben; bis relativierende
WBGU: Welt im Wandel – Herausforderungen für die deutsche Wissenschaft. Jahresgutachten 1996. Springer
Verlag, Berlin 1996, Joachim Schindler: Syndromansatz - Ein praktisches Instrument für die
Geographiedidaktik. In: Praxis Neue Kulturgeographie. LIT Verlag, Münster 2005.
3
Vgl. Rhode-Jüchtern, T. (2009): Eckpunkte einer modernen Geographiedidaktik. Seelze-Velber
4
Quelle vermutlich: Cahiers/Hefte in sechs Bänden (thematisch geordnet), herausgegeben von H. Köhler und
J. Schmidt-Radefeldt, S. Fischer, Frankfurt am Main (zit. nach Claude Simon: Der Wind. 1957 (dt. 2001)
2
2


Begriffs-Skeptiker anfingen zu fragen: „Was ist denn daran ungerecht?“ Oder: „Es kommt
doch darauf an …“ oder „Es ist eben ein Dilemma!“
Mit dem Systembegriff (ebenso wie mit dem Begriff Ökologie) wird allein schon in der
Zuordnung zur Domäne der Natur- oder der Sozialwissenschaft die Notwendigkeit deutlich,
sich genauer zu erklären. „Der Mensch ist dem Menschen ein Wolf“ (Plautus, Hobbes) – wenn
dieser Satz stimmt, dann ist mit dem Fressen- und Gefressenwerden zwar ein natürliches, aber
kein gewünschtes gesellschaftliches Gleichgewicht angezeigt.
Aber nicht nur fachlich ist Aufmerksamkeit vonnöten, sondern auch pädagogisch. Beim
Begriff „Kompetenzen“ wollte man sich von Stoffhuberei und Paukschule verabschieden und
die Schüler/ Studenten ausstatten mit etwas unzweifelhaft und allseits Nützlichem; aber wenig
später geriet dieser Begriff in den Verdacht, eine vornehme Umschreibung von
„Humankapital“ und ein „Diktat“ zu sein (in den 1960er Jahren hieß dies „Flexibilität und
Fungibilität der Arbeitskraft“).5
So kann man sich lange und chancenlos zerstreiten. Jedenfalls kann man daraus nicht ohne weitere
Umstände jeweils ein fachdidaktisches Konzept („concept“) machen.
Klären wir also exemplarisch, wie man mit Begriffen umgehen sollte, im Felde des MenschNatur- (oder des Gesellschaft-Umwelt-)Verhältnisses, zunächst mit dem Begriff „Natur“ und dem –
komplementären – Begriff „Kultur“. Und klären wir es so, dass es auch für Nichtphilosophen,
womöglich auch für den Alltag in der Schule, triftig und praktisch wird.
Was „Natur“ ist, definieren wir zunächst einmal so: Natur ist die physische Welt, die nicht vom
Menschen geschaffen wurde. Wenn sie ohne den Menschen gedacht wird, sprechen wir von
außermenschlicher, von biotischer und abiotischer Natur. Wenn sie mit dem Menschen inklusive
gedacht wird, sprechen wir von der „Umwelt“ einer „Gesellschaft“. Eine außermenschliche Natur gibt
es im strengen Sinne nicht mehr, weil die Spuren menschlicher Tätigkeit bis in die letzten Gletscher
und Urwälder der Erde hinein archiviert sind und/oder weit in die Zukunft weisen. Wenn wir uns etwa
die Vegetation noch ohne den Menschen denken wollen, müssen wir dies (re)konstruieren in Karten
der „Potentiellen Natürlichen Vegetation“. Natur hat damit ein Wesen (essentia) , nämlich die
systemische, vernetzte, entropische Ordnung; diese drückt sich aus in der Substanz (substantia) der
äußeren Wirklichkeit. Die natürlichen Prozesse sind Resultat eines ständigen Kampfes um Überleben
und Ausgleich, vulgo: Fressen und Gefressenwerden. Aber dies ist nicht bloße Konsumtion und
Destruktion, sondern ein konstruktiver haushalterischer Kreislauf.
Aus Sicht des Menschen ist diese maximale natürliche Ordnung (Entropie) dagegen eine
maximale Unordnung, die es zu ordnen gilt: Durch einen Gesellschaftsvertrag, durch Planen und
Bauen, durch Produzieren und Wirtschaften, durch Säen und Ernten, durch Heizen und Kühlen, durch
Umverteilen und Kontrolle – kurz: durch Arbeit und durch Kultur. Wenn daraus eine neue äußere
Wirklichkeit entsteht, ein Acker oder ein Haus oder eine Stadt, sprechen wir auch von „Zweiter
Natur“. Man kann auch von Ökosystem sprechen, wenn man damit einen Haushalt meint, der in der
Natur wirksam ist und vom Menschen im Arbeitsprozess genutzt wird – naturgesetzlich vernetzt, aber
offen und kulturabhängig.
„Kultur“ stammt ab vom lateinischen cultura und bedeutet hier zunächst: Ackerbau, Pflegen,
Wohnen. Dieses „künstlich Herstellen“ ist immer gebunden an eine geistige Tätigkeit. Diese ist
zweckmäßig und ethisch bestimmt. Was wir beobachten, was wir gestalten, ist eine kulturelle und
zivilisatorische Entscheidung, moralisch, technisch, sozial und individuell. Von außen wird deskriptiv
festgestellt, was ist; normativ wird festgestellt , was sein soll. Beides zusammen führt zu einem
Verständnis von Sinn – Sinn in dem, was wir zweckmäßig tun, und Sinn in dem, was wir für wertvoll
halten. Entropie, Fressen und Gefressenwerden werden in gesellschaftlichen Werten und Normen
reguliert. Deshalb sind Natur und Kultur in ihrer Essenz nicht identisch. Es ist nicht sinnvoll, das
Gleichgewicht der Natur für ein Gleichgewicht in der Gesellschaft zu empfehlen. Es ist nur sinnvoll,
im gesellschaftlichen Handeln nicht gegen Naturgesetze anzukämpfen, sondern diese im gemeinsamen
Ökosystem zu nutzen.
5
Vgl. z.B. die Debatte in GW-Unterricht (Kanwischer, Dickel, Rhode-Jüchtern, Pichler u.a.) 2012 f
3
Ein Ideal dieses Mensch-Natur- oder Gesellschaft-Umwelt-Verhältnisses ist der Garten.
„Ein Garten ist nicht Kunst und nicht Natur.
Nie weiß der Gärtner, ob er es ist,
der seinen Flecken Erde beherrscht.
Oder doch umgekehrt.“6
Im idealen Garten wiederum „sind alle Menschen gleich, gleichberechtigt und also frei. Das ist der
eigentliche Sinn hinter Rousseaus epochalem Schlagwort ‚Zurück zur Natur‘: zurück zum einfachen
Leben, fort von der Verlogenheit der Pariser Salons, der Falschheit, Doppelmoral und Egozentrik der
sogenannten Zivilisation, hin zur Souveränität des Volkes als Gemeinschaft.“7
Mit dem oben zitierten Satz französischen Philosophen Paul Valery („Zwei Gefahren
bedrohen unaufhörlich die Welt: die Ordnung und die Unordnung.“) ist sicher nicht das jeweilige
Prinzip gemeint, weil darauf die gesamte Evolution der Menschheit beruht und ihre Emanzipation
durch eine kulturelle Ordnung gegen die „Rohheit“ der Natur. (Deshalb war die Frage „Wie kann A
gelten und zugleich B?“ falsch gestellt.) Gemeint ist eher die Gefahr durch Verabsolutierung und
Essentialisierung sowie durch fehlende „strukturelle Kopplung“ dieser beiden Dimensionen.
Der französische Dichter Paul Claudel8 differenziert dieses Begriffspaar Ordnung/ Unordnung
ganz anders:
“L’ordre est le plaisir de la raison,
mais le desordre est le délice de l’imagination”9
Hier geht es um die zwei Seiten des menschlichen Charakters: Form, Ordnung und Vernunft vs.
Phantasie, Schöpferkraft und Rauschhaftigkeit10 .
Der amerikanische Ethnologe Clifford Geertz definiert diese Ambivalenz von Tatsachen/
Gesetzen und Kreation/ Interpretation so: „Ich meine mit Max Weber11, dass der Mensch ein Wesen
ist, das im selbstgesponnenen Bedeutungsgewebe verstrickt ist, wobei ich Kultur als dieses Gewebe
ansehe. Ihre Untersuchung ist daher keine experimentelle Wissenschaft, die nach Gesetzen sucht,
sondern eine interpretierende, die nach Bedeutungen sucht.“12
Der amerikanische Physiker Charles Percy Snow hatte es in seinem Leben mit zwei Gruppen
zu tun, mit Naturwissenschaftlern und mit Schriftstellern. „Dieser Verkehr mit beiden Gruppen (…)
war schuld daran, dass mich ein Problem nicht mehr losließ; ich hatte es (…) die ‚zwei Kulturen‘
getauft. Ich hatte nämlich ständig das Gefühl, mich da in zwei Gruppen zu bewegen, die von gleicher
Rasse und gleicher Intelligenz waren, (…) sich aber so gut wie gar nichts mehr zu sagen hatten, und
deren intellektuelle, moralische und psychologische Atmosphäre dermaßen verschieden war, dass
Burlington House oder South Kensington [„Imperial College of Science, Technology and Medicine“,
TRJ] von Chelsea [Wohngegend von Künstlern wie Virginia Wolf und William Turner, TRJ] durch
einen Ozean getrennt schien“13. Zwischen Natur- und Technikwissenschaften hier und Kunst und
Kunstschaffenden dort lag also für Snow „ein Ozean“, und er musste täglich darüber hinweg pendeln.
6
Hanno Rauterberg: Das Glück ist grün. In: Die Zeit 22/2012, 43f
Christian Schüle: Der edle Wilde. Ganz nach den Vorstellungen von Jean-Jaques Rousseau entstand ein Park
im Norden Frankreichs: Ermenonville. Die Zeit 14.Juni 2012, 63
8
Le Soulier de Satin et le Public. In: Theatre. La Pléiade, Gallimard, t II, 1965, S. 1477
9
Übersetzt etwa: „Die Ordnung ist das Vergnügen der Vernunft, aber die Unordnung ist die Köstlichkeit der
Vorstellungskraft.“
10
Vgl. das Begriffspaar apollinisch – dionysisch, es wurde von F.W.J. Schelling eingeführt und von F.
Nietzsche erstmals 1872 in „Die Geburt der Tragödie aus dem Geiste der Musik“ popularisiert.
11
„‘Kultur‘ ist ein vom Standpunkt des Menschen aus mit Sinn und Bedeutung bedachter endlicher Ausschnitt
aus der sinnlosen Unendlichkeit des Weltgeschehens.“ Max Weber (1968) : Die „Objektivität“
sozialwissenschaftlicher und sozialpolitischer Erkenntnis. in: Gesammelte Aufsätze und Wissenschaftslehre.
Tübingen, S. 180.
12
Clifford Geertz (1983): Dichte Beschreibung: Beiträge zum Verstehen kultureller Systeme. Frankfurt/M., 9
13
Charles Percy Snow (1967): Die zwei Kulturen. Literarische und naturwissenschaftliche Intelligenz. Stuttgart
7
4
Wenn man auch die Geographie in diese Rolle versetzen mag, ist der Begriff vom
„Brückenfach“14 vertretbar. Die Geographie ist dann aber nicht zugleich auch noch eines der Ufer oder
gar beide Ufer. Sie wäre die Verbindung zwischen zwei Ufern, sie macht den Übergang viabel, sie
hilft beim Versuch des Zusammendenkens. Dies ist eine spezifische Rolle und Notwendigkeit, die zur
Definition komplexer und fachübergreifender Probleme führt und deren Reduktion und
Bearbeitbarkeit organisiert. Es wäre aber konsequenterweise zugleich der Verzicht auf das Primat
spezialisierter Einzelforschung, auch wenn einige dann die wissenschaftliche Dignität bestreiten
möchten. Wenn man aber die zwei Kulturen nicht nur verstehen und verbinden, sondern selbst
vertreten will, womöglich auch noch alle beide, verliert man diese Glaubwürdigkeit umso mehr. Das
gilt auch für den Geographieunterricht, der nicht zugleich ernsthaft und immanent Geophysik und
Stadtsoziologie und globale Ökonomie etc. unterrichten kann, wenn es um das Verstehen von
Syndromen in Unbestimmtheit und Komplexität geht.
M 1 Zusammendenken von Natur und Kultur. Einerseits:
Masern sind nicht mehr lebensbedrohend, und kaum ein Säugling stirbt hierzulande während der
Geburt. Wir erkennen Behinderungen im Mutterleib, und einen Tumor, bevor er groß wird. Wir
können sanft und schmerzlos sterben. Wetter, Jahreszeiten und Schädlinge haben kaum Einfluss auf
das Angebot in unseren Supermärkten, wir haben unsere Flüsse durch Deiche gezähmt und die Wälder
gepflanzt, die wir brauchen. Unsere Versorgung mit Strom, Wasser und sauberes Wasser ist gesichert.
All das verdanken wir dem Fortschritt, der Technik und der Forschung. 15
M 2 Zusammendenken von Natur und Kultur. Andererseits:
Doch statt Dankbarkeit herrscht Skepsis und Angst, Ablehnung und Protest. Gentechnik und
Massentierhaltung, Atomkraft und Tagebau, Startbahnen und Riesenbahnhöfe, Impfpflicht und
Kreißsäle sind Feindbilder. Gegen die wehren wir uns, indem wir uns zurückziehen. Mit den
Papiertüten des Biomarktes ins Niedrigenergiehaus oder mit den nicht geimpften Kindern in die
Landhausküche. Wir ziehen uns zurück in die Natur, deren Verunstaltung durch Windräder wir
genauso fürchten wie die Rückkehr der Wölfe nach Brandenburg. In die Natur? In das, was wir dafür
halten …16
M 3 Reflektieren. Einerseits – anderseits, aber außerdem:
……………………………………………………………………………………………………………
……………………………………………………………………………………………………………
……………………………………………………………………
……..
M 1 – M 3: Irritation und Reflexion. Eine Übung für Schüler/ Studenten
Man kann schon hier vermuten, dass es hier um schwerwiegende philosophische und begriffliche
Verhältnisse geht; diese wollen wir bedenken und für unser Fach Geographie verfügbar machen. Dies
soll, wie oben bereits angekündigt, an drei Beispielen und einem Konzept geschehen. Die Beispiele
sind: (I) Der Garten, (II) der Regenwald, (III) das (vorhersehbare) Naturereignis mit katastrophalen
Folgen. Das Konzept heißt am Ende „Dritte Säule“.
Vgl. „geographische revue“ 1/2008 Themenheft „Brückenfach Geographie?“
Rezension „Generation Landlust“ von Barbara Weitzel zu: Andreas Möller: Das grüne Gewissen. Hanser
2013. In: Frankfurter Rundschau vom 28.9.2013, S. 12
16
ebd
14
15
5
3.
Der Garten
Jakob Augstein (2012) hat ein Buch geschrieben mit dem Titel „Die Tage des Gärtners – Vom Glück,
im Freien zu sein“. In der gärtnerischen Existenz wird die ständige fließende Grenze zwischen Natur
und Kultur ausgelotet:
„Als der Mensch sesshaft wurde, hat er als erstes einen Garten angelegt. Und als er das tat, hat
er eine Grenze gezogen. Der Zaun bedeutet Kultur. Er grenzt eine Fläche ab und schafft einen
Raum der Verantwortung, der Gestaltung. Einen Raum der Ordnung. (…) Der Garten ist der
Gegenort, ohne den alles nichts ist. Und der Garten ist der Ort der selbstbestimmten Arbeit.
Also der Arbeit, die den Menschen zum Menschen macht. Damit ist der Garten ein politischer
Ort.“17
In dieser kurzen Skizze werden also die zwei Kulturen erkennbar, in denen wir uns wissenschaftlich
und bildungspraktisch bewegen: Der Garten ist ein Raum der Natur, mit allen Gesetzen und
Wechselwirkungen, ein System. Und der Garten ist ein Ort der Kultur, mit der menschengemachten
Ordnung in der und gegen die Natur; und damit ist der Garten zugleich ein politischer Ort, in dem
menschliche Arbeit geleistet und gesellschaftliche Werte und Normen ausgehandelt werden.
Der Garten ist keine pure Idylle, keine reine Entspannung, sondern harte Arbeit im Jäten,
Gießen, Beschneiden und Pflanzen. Der Boden ist womöglich nicht geeignet; und wenn er geeignet
ist, dann ist es der Schatten nicht oder nicht die Sonne; oder es ist zu trocken oder zu feucht; die
Pflanzen stehen in mörderischer Konkurrenz, wie auch die Tiere; sie wehren sich gegen Hacken und
Grenzen; die Menschen kämpfen auch mit tödlicher Chemie um die neue Ordnung. Der Garten ist
gelebter Darwinismus, ein Kampfplatz. „Es handelt sich um eine Herausforderung, die
Glücksmomente kennt, aber keinen Frieden.“18 Kurz: Der Garten ist ein konkreter Ort der
Auseinandersetzung im Verhältnis Mensch-Natur.
Das Mensch-Natur-Verhältnis beim Gärtnern wird zum Gesellschaft-Umwelt-Verhältnis,
indem der Garten ein politischer Ort ist oder wird. „Welche Bedeutung haben Gärten? Welche Ideale
schlagen dort Wurzeln?“ fragt der Kunsthistoriker Horst Bredekamp in einer Titelgeschichte der
Wochenzeitung „Die Zeit“: „Die neue Gartenlust“19. Hier geht es nicht mehr um die Geofaktoren
Boden, Wasser, Luft, nicht mehr um die Kulturtechniken des Grabens und Gießens. Hier geht es um
die gesellschaftliche Bedeutung über die internen Regularitäten hinaus. Wir verlassen damit die
Fragen zur Natur und zur Kultur und kommen zur gesellschaftlichen Frage. Diese lässt sich
vermutlich weder eindeutig definieren noch beantworten, sie ist offenkundig polyvalent, so dass auch
zu fragen ist: Wer spricht?
Bredekamp vergleicht den englischen mit dem französischen Garten. Einerseits ist danach der
Englische Garten eine „große Erfolgsgeschichte der Moderne. Dieser Garten hat tief in die Zellstruktur
unseres politischen Denkens gebohrt: Die Natur ist demnach republikanisch. Und im
Landschaftsgarten verbünden sich Natur und Demokratie.“ Andererseits ist es ein hartnäckiger
Mythos, dass der Englische Garten eine neue Freiheit symbolisiert, einen Einklang mit der Natur.
Dieser Mythos ist „schon in sozialer Hinsicht fragwürdig. Zwar wurden Angestellte und Bauern ab
und zu an den Banketten im Garten beteiligt, ansonsten aber war er hermetisch abgeriegelt; es gab
drakonische Strafen für Eindringlinge. Individuelle Freiheit im Garten jenseits aller Klassen blieb eine
Utopie. (…) Der Barockgarten war von Anfang an öffentlich für alle Stände, im Unterschied zu den
englischen Gärten: Versailles konnte Tag und Nacht von jedem betreten werden, der ordentlich
gekleidet war – eigentlich unvorstellbar.“ Form und Inhalt können auch hier in einem dialektischen
Verhältnis stehen. „Ausgerechnet Versailles ein Paradies der Freiheit?“. „Der Barockgarten ist
mitnichten eine Vergewaltigung der Natur, sondern der Ort einer höchst aufwändigen Pflege von
Pflanzen, auch exotischen, und keineswegs ein Monstrum für die Untertanen zur Einübung von
17
Jakob Augstein: Beim Graben kommen einem die besten Ideen. Auch der politisch denkende Mensch gehört
in den Garten. In: Die Zeit 22/2012, 45
18
Jens Jessen: Der Terror der Pflanzen. In: Die Zeit 22/2012, 45
19
Interview von Alexander Cammann mit Horst Bredekamp: Der Hort des Philosophen. In: Die Zeit 22/2012,
45. Bredekamp ist Autor des Buches „Leibniz und die Revolution der Gartenkunst. Herrenhausen, Versailles und
die Philosophie der Blätter. Wagenbach 2012
6
Ordnung. Der englische Garten dagegen träumte die Utopie von der Harmonie mit der Natur in
splendid isolation.“20 Aber man kann das auch anders interpretieren: Der Landschaftsgarten ist eine
„bewusste Täuschung, eine herrliche Lüge zugunsten der Philosophie, denn das scheinbar Wilde ist
höchst artifiziell. Was urwüchsig aussieht, ist bis ins kleinste Detail gewollt. Dass die Natürlichkeit
des Landschaftsparks völlig unnatürlich ist, muss der Besucher wissen …“21
Englischer Garten (18. Jh., 2. Stilphase: Der Garten als Bild)
(www.garten-ffb.de/pdf/landschaftsgarten-s.pdf)
Plan de Versailles. Gesamtplan von Delagrife 1746
(de.geschichte-petrinum.wikia.com)
Die letzten Sätze sind eine soziologische Interpretation. Die Befunde ergeben sich nicht von selbst aus
der Sache, etwa: „Barocksymmetrie ist Freiheit, freie Landschaft ist Exklusion“. Das heißt: Nach
einer kulturwissenschaftlichen Beschreibung und Analyse folgt eine gesellschaftswissenschaftliche
Deutung; diese kann so oder auch ganz anders lauten. Da ist die kulturwissenschaftliche Beschreibung
noch vergleichsweise einfach. Zum Beispiel:
„Hinterm Fenster des Speisesaals stehend, hatten die absolutistischen Herrscher ihre Gärten
mit bloßem Auge überblicken wollen, vermessen und kontrollieren können – von
süßlicher Flötenmusik bezuckerte Parkgehege, vor Akkuratesse strotzend; sinnlich
20
21
Ebd.
Schüle aaO
7
überparfümierte Terrains mit nagelscherenkorrektem Busch-, Strauch- und GräserSnobismus.“22
Man sieht jetzt: Begriff und Konzept des Englischen Landschaftsgartens oder des Französischen
Barockgartens sind nicht unbedingt identisch mit den gesellschaftlichen Normen und Praktiken, es
gibt keine eindeutige Passung. Wir müssen also tiefer einsteigen als nur in die Betrachtung eines
Konzeptes.
Schon hier kann man also festhalten: Neben Natur(wissenschaft) und Kultur(wissenschaft)
gibt es eine dritte Dimension, die Gesellschaft(swissenschaft). Das ist aber noch nicht die
angekündigte Dritte Säule, sondern nur erst eine wissenslogische Erweiterung der bisherigen
traditionellen Dualität von Natur/ Kultur in der äußeren Realität.
4. Ein Anwendungsbeispiel für den Geographieunterricht: Tropischer Regenwald
Eine sozialwissenschaftliche Betrachtung des Tropischen Regenwaldes verbindet
naturwissenschaftliche und kulturwissenschaftliche Befunde. Dafür muss sie aber zuvor aufdecken,
unter welchem Aspekt sie diese Verbindung herstellen will, was sie also aus dem Fundus von
Naturkunde und Kulturkunde verwenden will und wozu.
Dies ist nun der nächste Schritt. Die Sache selbst hat vielerlei (Sach)Aspekte; diese werden
vom Beobachter – teilweise – wahrgenommen und ausgewählt für eine bestimmte Problemstellung.
Man braucht also z.B. nicht für jedes Problem zu wissen, was Ferrasole oder Latosole sind – für
manche Probleme aber doch, zum Beispiel, wenn man verstehen will, warum tiefgründige und
verwitterte Böden relativ unfruchtbar sein können und warum ein gerodeter Regenwald als solcher
nicht einfach nachwächst.
Das folgende Strukturschema zeigt die Verschränkung von Sach-Aspekten und BeobachtungsPerspektiven. In einer Vielzahl von möglichen Fokussierungen wird bewusst und reflektiert der
jeweils eigene Fokus bestimmt und vereinbart. Das Thema heißt nicht z.B. mehr einfach „Tropischer
Regenwald“, sondern nimmt bestimmte Aspekte und Perspektiven ins Visier. Damit ist „Tropischer
Regenwald“ kein einfacher Begriff mehr, sondern eine jeweilige Kreuzung von Aspekten und
Perspektiven.
Strukturschema:
Wie wird beobachtet Was wird beobachtet? Wer beobachtet und wozu?
(eig. Entwurf)
22
aaO
8
Der Tropische Regenwald als Klassiker ist jedem Schüler begegnet, meist schon in einem frühen
Schuljahrgang. Es werden Bilder gezeigt, es werden Begriffe kennen gelernt (z.B. Stockwerkbau,
Brettwurzeln, Laterit), es werden auch lebensweltliche Kontexte (z.B. Baumfällung, Transamazônica,
Indianer) eingebaut. Es wird sicher auch gelernt, dass der Tropische Regenwald ein Ökosystem ist und
darüber hinaus wichtig z.B. für das Klima und den Artenreichtum incl. Heilpflanzen. Das ist sicher
einer der attraktiven Schulfach-Themenkreise, aber natürlich noch kein Problem und kein
bearbeitbarer Fall.
Didaktisch gesprochen: Es gibt die Idee von einem Situierten Lernen; sie benennt
verschiedene Ansätze des Lernens mit Fällen und authentischen Problemen. Für unser Feld des
Geographieunterrichts kommt davon das (zirkuläre) problembasierte Lernen (problem based/ closedLoop bzw. Reiterative Problem-Based Learning) in Frage (Zumbach/Haider/ Mandl 2007, 8f). Dabei
werden die Fälle zunächst ohne theoretischen Rahmen und Lösungsansätze präsentiert, in
Kleingruppen erörtert, mit prototypischen bekannten Lösungen abgeglichen; das Hintergrundwissen
kann selbstständig oder mit Hilfe von Experten, Vorträgen, empfohlener Literatur, Internet erhoben
werden. Dieses Verfahren wird im Folgenden idealtypisch konkretisiert (vgl. Rhode-Jüchtern/
Schneider 2012).
Ausgangsfeststellung: „Tropischer Regenwald“ ist kein Thema/ kein Problem/ kein Fall, es ist
nur ein Begriffsfeld/ ein Rahmen für alle möglichen Themen. Es muss erstens geklärt werden, in
welcher Beobachter-Perspektive dieser Aspekt identifiziert wurde und nun behandelt werden soll:
„Das Problem betrachtet aus der Perspektive von …“. Der Tropische Regenwald gerät in ein
Fadenkreuz von Wer/ Wie/ Wozu und Was (vgl. Strukturschema). Es muss zweitens gesagt werden,
unter welchem sachlich-fachlichen Aspekt der Tropische Regenwald nun beobachtet werden soll:
„Tropischer Regenwald als …“.23
Angesichts der Fülle möglicher Problem- und Themenstellungen bieten sich für den
Geographieunterricht die Fallarbeit und das Exemplarische Prinzip an. Hier wird – idealerweise – im
Einzelnen „das Ganze“ entdeckt.
Beispiel Tropischer Regenwald –
Mögliche Perspektiven (Akteure) – Wer beobachtet, wie und wozu?
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Internationale/ nationale/ regionale/ lokale Politik
Großfarmer
Kleinbauern
Naturschützer
Erdölkonzerne
Völkerrechtler
Ökologen
Filmemacher
Naturschutzpaten (NGOs, Firmen)
Soja- und Orangensaft-Ex-/Importeure
Baumärkte (Tropenholz)
Mafia/ Biopiraten
…
Mögliche Sach-Aspekte: Was wird beobachtet? Der Tropenwald kann betrachtet werden als
 Lebensraum für indigene Ethnien
 Sauerstoffproduzent
 Heilpflanzenressource
 Flächenreserve für Großfarmen (Soja, Rindfleisch etc.)
 Flächenreserve für Agrarsprit
Vgl. die DVD „Tropischer Regenwald. Ein Top-Thema der Geographie – multiperspektivisch entfaltet“ von
Tilman Rhode-Jüchtern. Wochenschau Verlag. Schwalbach 2014
23
9

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
Tropenholz
Erdöllagerstätte
Naturschutz
Tourismus-Attraktion
Klischees
…
Dies sind allesamt Stichworte, die sich nicht selbst erklären (wie es bestimmte Begriffe wie
„Stockwerkbau“ oder „Tropen“ tun); allesamt verweisen sie auf spezifische Problemkreise mit einer
„unbefriedigenden Struktur“, einer Irritation: Was ist denn nun zu beschreiben, zu analysieren, zu
verstehen, zu diskutieren, zu tun?
Die Irritation als Lernanlass und -legitimation bezieht sich darauf, dass keine einfachen und
eindeutigen Lösungen existieren, sondern zunächst nur Sichtweisen von Akteuren auf einzelne
Aspekte. (In einzelnen Lehrplänen ist in dieser Hinsicht auch in früheren Jahren schon vom
Kontroversitäts-Prinzip die Rede.)
Ein Thema wird gefunden und als Problem definiert; darauf bezogen wird Fachwissen und
Methodenkompetenz aktiviert und ein Kommunikationsprozess über die Beurteilungen und
Bewertungen in Gang gesetzt.
Das ist situiertes Lernen, in Ungewissheit und Komplexität, in Welt- und Lebensnähe und in
kognitiver und diskursiver Herausforderung.
Alle Sach-Aspekte des Tropischen Regenwaldes sind auch im natürlichen System vernetzt, sie
werden aber selektiv beobachtet. Die Medien werden in diesem Problemfeld regelmäßig über einzelne
Themen berichten. Im Juni 2012 war es etwa die Konferenz „Rio plus 20“; im Oktober 2013 ist es der
5. Weltklimabericht des Klimarates IPCC (International Panel of Climate Change – www.climatechange2013.org), im November 2013 ist es die UN-Klimakonferenz in Warschau 2013 (United
Nations Framework Convention on Climate Change, 19th Conference of the Parties, kurz COP 19)
usw.
Wenn wir z.B. beim Fall des neuen Waldgesetzes für Brasilien einsteigen, das die Präsidentin
Dilma Rousseff novellieren will, werden wir es mit Fragen der Bodenkunde, des Landrechtes, der
globalen und nationalen Agrarlobby, des Naturschutzes, der Wissenschaftsorganisation etc. zu tun
haben. Dies sind die Aspekte im Fokus eines/ dieses Falles, teils Tatsachen, teils politische oder
wirtschaftliche Urteile und Bewertungen; aber sie sind trotz der Selektivität gleichwohl weiter
vernetzt, unsichtbar oder erkennbar. Wir drehen nun die sichtbaren Aspekte in die Perspektiven der
vielfältigen Beobachter (Strukturschema). Dadurch entsteht zunächst vor den Augen der Schüler (und
Lehrer) eine Anschauung von Komplexität; und dann wird Schritt für Schritt die Reduktion von
Komplexität möglich, indem wir fragen: Was wird beobachtet, von wem und wozu?
Hier deutet sich schon die Idee von der Dritten Säule nach Peter Weichhart an.
5. Naturereignisse, katastrophale Folgen, Prognosen und Vorsorge
Natur kennt keine Katastrophen. In der Natur wirken Kräfte, Natur ist ein System. Wenn sich
Menschen diesen Kräften, dieser Gewalt aussetzen, stehen sie im Risiko, dass dies Folgen für sie hat.
Entweder sie haben keine Alternative, aus Not oder aus äußeren Gründen, oder sie haben sich bewusst
und sehenden Auges, aber vielleicht auch mit Verdrängung so entschieden. Wenn es große Folgen
sind, spricht man von Katastrophen; wichtig zu verstehen ist, dass Katastrophen eine Folge von
Naturgewalten sind, sofern diese in der Kultur und Technik einer Gesellschaft nicht beherrscht
werden können. Naturgewalt ist nicht per se eine Katastrophe.
Diese Henne-Ei-Klärung ist wichtig, damit nicht die Natur als Akteur und die Menschen als
unbeteiligte Opfer erscheinen. Sprachregelungen wie „Die Natur rächt sich“ oder der „Der Berg
schlägt zurück“ lassen auf einen vulgären Naturbegriff schließen. Auch wenn einzelne Menschen
Opfer werden, ist es doch ihre Gesellschaft, die sich in der natürlichen Umwelt unzureichend
eingerichtet hat bzw. einrichten konnte. Wenn etwa an einem Berghang in den feuchten Tropen
10
gesiedelt wird, geschieht dies gerade deshalb, weil man hier eigentlich nicht siedeln dürfte und
deshalb die Armen Platz finden.
(Der Kuriosität halber sei aber die Sprachregelung im Solidaritätsfonds der Europäischen Union
zitiert; in der der Verordnung (EG) Nr. 2012/2002 Art. 2(2) werden als „Katastrophe größeren
Ausmaßes“ bzw. als „außergewöhnliche Katastrophe hauptsächlich natürlicher Art“ wie folgt definiert
„Eine Katastrophe, die in zumindest einem der betroffenen Staaten Schäden verursacht, die auf über
3 Mrd. EUR […] oder mehr als 0,6 % seines BIP geschätzt werden.“ Dies ist freilich die Sprache von
Rückversicherungen und Bürokraten, nicht von Geographen. Der Untergang einer Inselgruppe im
Pazifik durch den Anstieg des Meeresspiegels wäre in dieser Denkweise also keine Katastrophe, wenn
die Menschen bettelarm sind und es nicht um 0,6% ihres BIP, sondern um 100% ihrer gesamten
Existenz geht. Immerhin wird zusätzlich für einen solchen Fall als Katastrophe in natürliches Ereignis
in einer Region benannt, „welche[s] den größten Teil der Bevölkerung in Mitleidenschaft zieht und
schwere und dauerhafte Auswirkungen auf die Lebensbedingungen und die wirtschaftliche Stabilität
der Region hat.“)
Wenn wir nun zum Beispiel einen Presseartikel in die Hand bekommen mit der Überschrift:
Die angekündigte Katastrophe.
Der 16-Millionen-Metropole Istanbul droht ein schweres Erdbeben.
Zehntausende Gebäude werden ihm nicht standhalten können24
dann haben wir es mit einem geographischen Problem im Schnittbereich von Natur und Kultur (bzw.
Umwelt und Gesellschaft) zu tun und müssen dieses sozialwissenschaftlich deuten. Das Erdbeben
selbst wäre ein Naturereignis; es ist eine Gefahr, also kontingent, d.h. es kann eintreten, muss es aber
nicht; es kann Folgen für die Menschen haben oder auch nicht. Die Kontingenz schneidet sich in den
Prognosen von Geologen zur Erdbebendynamik der anatolischen Platte und den Maßnahmen von
Regierung und Bevölkerung zur Vorsorge und ggf. Nachsorge. Wäre es ein berechenbares
Naturgesetz, dass das Erdbeben zu einem bestimmten Zeitpunkt genau in Istanbul auftritt, könnte/
müsste man zu diesem Zeitpunkt die Stadt geräumt haben. Aber es kann ja auch entfernt von der Stadt
eintreten oder später, oder nur in Vierteln mit erdbebengefährdeten Häusern wirken, oder es kommt
eben, wenn Allah es will – all dies sind keine Fragen an die Geophysiker mehr, sondern an die
Menschen und ihre Gesellschaft in ihrer Umwelt. Wenn man sagt „Inshallah“, ist dies bereits eine
Spur in die Kultur, die ein Naturereignis in einer bestimmten Weise betrachtet, vorher, nachher und
überhaupt.
Für eine Problemanalyse in einem Brückenfach Geographie braucht man nun bestimmte
Fachinformationen, die das Handeln der Menschen, ihr Geographie-Machen beurteilbar und
bewertbar machen. (i.F. jeweils mit einem Schlüsselzitat belegt, insgesamt sind dafür nur vier Zitate
nötig; diese bilden zusammen einen Leittext, der die Betrachter zum Verstehen anleitet).
Die geophysikalische Situation und Prognose:
(1) „In der Beobachtungs- und Forschungsstation von Kandilli hoch über dem Bosporus sitzt
Mustafa Erdik vor einer Kollektion von Bildschirmen, die laufend Daten über
Erdbewegungen auswerfen. Im Marmarameer vor Istanbul, sagt er, gebe es drei
Erdplattensegmente, die sich seit 250 Jahren nicht mehr bewegten. Wenn sie es tun,
erwarten die Forscher ein Beben mit einer Stärke von 7,4 auf der Richterskala. Die
Wahrscheinlichkeit eines schweren Erdbebens in Istanbul liege bei [wachse um, TRJ]
zwei Prozent im Jahr, sagt Erdik. Das sei hoch, vergleichbar mit Tokio oder San
Francisco. Bei 60% liege die Wahrscheinlichkeit, dass Istanbul in den nächsten 30 Jahren
stark erschüttert werde.“
24
Michael Thumann (2012): Die angekündigte Katastrophe. In: Die Zeit vom 26.April 2012 (Zeitonline/Umwelt)
11
Um diese Informationen für die betroffenen Menschen und die Handlungsentscheidungen
auszuwerten, brauchen wir weitere sachlich-fachliche Informationen:
(2) „Jeder, der neu in die Stadt kommt, fragt sich: ‚Wo soll ich in Istanbul leben, um sicher zu
sein?‘. Auf Hügeln oder in flachen Flusstälern? Auf Felsen oder Sand. Im Hochhaus oder
im Flachbau? In der Bosporusvilla oder im Mehrfamilienbunker? Abgesehen davon, dass
nur wenige Istanbuler wirklich die Wahl haben: Einen eindeutigen Tipp geben weder
Erdik noch Zschau [vom Geoforschungszentrum Potsdam, GFZ]. Wichtig sei, dass die
Eigenfrequenz eines Hauses der Konstruktion gefährlich werden könne, wenn sie mit der
des Untergrundes übereinstimme. ‚Je höher das Gebäude, desto niedriger die
Eigenfrequenz – je dünner die Sedimentdecke, desto höher die Untergrundfrequenz‘, sagt
Jochen Zschau. Deshalb sei ein Hochhaus auf Felsen in der Regel weniger gefährdet als
andere Wohnformen. Tatsächlich entstehen solche Klötze in den vergangenen Jahren
überall in Istanbul. Nicht schön, aber – auf Fels gebaut – immerhin etwas sicherer.“
Die technischen Informationen werden politisch umgesetzt oder ignoriert und im alltäglichen
Geographiemachen realisiert:
(3) Die Stadtverwaltung hütet sich, bestimmte Gebiete als ‚unsicher‘ zu brandmarken. Aber
alles wissen, dass man in der Nähe des Marmarameeres, unter dem die anatolische
Verwerfung verläuft, riskanter lebt als weiter im Norden. Hier am Marmarameer liegt
Zeytinburnu, ein Arbeiterstadtteil mit 300.000 Einwohnern an der antiken Stadtmauer
Konstantinopels, eine unkontrollierte Anhäufung von Beton und Teer, früher ein Zentrum
für die Herstellung von Leder- und Textilwaren. (…) Zafer Alsac, stellvertretender
Bürgermeister von Zeytinburnu und studierter Bauingenieur, klagt nicht über den weichen
Boden seines Stadtteils oder über dessen Nähe zum Meer. Nein, ‚das Problem sind unsere
Häuser!‘. Bis 1980 hätten die Menschen in Zeytinburnu selbst gebaut, oft nur einstöckige
Häuser. Gecekondus nennt man diese über Nacht entstandenen Bruchbauten aus sandigem
Mörtel, Holz und Eisen. Von Mitte der achtziger Jahre an, als die Textilindustrie boomte,
bauten die Menschen dann in die Höhe. ‚Gegen alle Vorschriften!‘, stöhnt Alsac. Weder
Architekten noch Statiker seien beteiligt gewesen. Der Onkel, der Bruder, der Vetter
standen auf der Baustelle. (…) Das Gebiet liegt in der Erdbebenzone der höchsten
Gefährdungsstufe. “
Anzunehmende Folgen im Fall des Falles sind kein Geheimnis, aber ein Erdbebengesetz liegt seit
Jahren noch immer im türkischen Parlament. Immerhin kann ein Hazardforscher im Hinblick auf das
10-Sekunden-Zeitfenster feststellen:
(4) Wenn das Beben kommt, sind nicht nur Häuser in Gefahr. Sondern auch Autobahnen, die
Brücken über den Bosporus und das Goldene Horn, Flughäfen, Kraftwerke, Fabriken.
Deshalb seien die ersten zehn Sekunden nach dem Beben entscheidend, sagt Mustafa
Erdik von der Erdbebenwarte Kandilli. Zehn Sekunden – in dieser kurzen Zeit müsse die
Stadt blitzschnell handeln und eine ganze Reihe von Maßnahmen ergreifen. Das steht auf
Erdiks Liste: die Gasleitungen an den rund 800 Verteilerstellen unterbrechen, damit es
nicht zu wilden Feuern kommt. Fabriken, vor allem die der chemischen und
ölverarbeitenden Industrie, herunterfahren. Den Verkehr auf den Autobahnen und vor den
großen Brücken zum Stehen bringen. Die Stromversorgung der Stadt unterbrechen. (…)
Doch was können die Einwohner selbst tun? (…) Was würde er selbst tun, wenn sein
Institut einzustürzen drohte? Erdik zeigt aufs Fenster. Sein Büro liegt im ersten Stock,
davor erstreckt sich eine Grünfläche. ‚Ich würde einfach aus dem Fenster springen.‘“
Diese vier Abschnitte erzählen die angekündigte Katastrophe unter dem Aspekt (1) der Geophysik, (2)
der technischen Beurteilung der Gefahr und der Risiken, (3) der Baukultur und gesellschaftlichen
Mentalität, (4) der absehbaren Folgen und Handlungsoptionen. „Das Problem sind nicht der weiche
Boden oder die Nähe zum Meer, sondern die Häuser!“, sagt der fach- und sachkundige Bürgermeister.
12
Das heißt: Nicht der Boden ist das Problem, sondern Standort und Bauweise der Häuser auf diesem
Boden. – Sind die Häuser nun ein Gegenstand der Physischen oder der Humangeographie? Eine
offenbar unsinnige Unterscheidung.
Im Geographieunterricht sind nun diese vier Sätze als Leittext zu einer Erzählung zu verbinden. (1)
Was geschieht im System der Natur, wenn ein Erdbeben droht oder ausbricht? (2) Wie haben sich die
Menschen in der absehbaren Naturgefahr eingerichtet? (3) Welche Gefahren sehen sie heute und
welche Risiken gehen sie ein? (4)
Welche Handlungsoptionen gibt es, welche davon
werden gewählt? – Nach der Erzählung entlang dieser vier Fragen schließen sich die sachlichfachliche Beurteilung und die begründete Bewertung von außen an, in der beobachtenden
Wissenschaft oder im Unterricht zum Zwecke einer allgemeinen Bildung.
6. Probleme für die Kommunikation ausdifferenzieren
Selbstverständlich gibt es hier keine einfachen und eindeutigen Antworten, sondern die Befunde
können sich ausdifferenzieren






nach jeweiligem räumlichem Maßstab,
nach den Zeithorizonten,
nach den möglichen oder ausgewählten Sachaspekten,
nach fachlichen oder subjektiven Schwerpunkten,
nach der Kommunikation über das Problem,
nach Blinden Flecken
Nachdem wir einer Sache eine Struktur gegeben haben (Strukturschema: Wer beobachtet was?) und
darin einen verborgenen „Transdisciplinarity Process“ entdeckt haben, sollten wir die hier genannten
sechs Differenzierungen für die Kommunikation über die Sache ausleuchten (die 6 Seiten des Jenaer
Würfels).
Strukturschema: Wer beobachtet was?
13
Wer beobachtet? Transdisziplinärer multi-stakeholder-Prozess25
Jenaer Würfel: Wie wird beobachtet?26
Wenn wir diese Fragen von innen betrachten würden, wären wir im Medium, als Mitglieder der Kultur
und Akteure im Verhältnis Umwelt-Gesellschaft. Wenn wir diese Fragen im Blick von außen
behandeln, als Objekt, können wir damit fachlich-distanziert umgehen. Wir verschaffen uns nützliche
fachliche Informationen; die Analyse oder der Unterricht bestehen dann im Zusammendenken dieser
Informationen. Dies, also die wissenschaftliche oder wissenschaftspropädeutische oder pädagogische
Tätigkeit, geschieht in einer dritten Kultur. Hier wird in gesellschaftlicher Kommunikation ein
Problem erkannt und definiert (oder eben nicht). Ein Erdbeben ist nicht per se eine Störung des
natürlichen Gleichgewichts (beforscht z.B. in der Physiogeographie) oder der gesellschaftlichen
Ordnung (beforscht in der Humangeographie).
25
Roland W. Scholz: (2011): Environmental literacy in science and society: From knowledge to decisions.
Cambridge University Press: Cambridge
26
Schneider, A. (2011): Erkenntnisfiguren – Werkzeuge geographischer Reflexion. www.geographie.unijena.de/Schneider.html
14
7. Eine Dritte Säule in der Geographie
In der Fachgeschichte der Geographie gibt es eine Vielzahl von komplementären – oder dichotomen –
Paradigmen: Allgemeine Geographie (Geofaktorenlehre) – Regionale Geographie; Idiographische
Geographie (Länderkunde) – Nomothetische Geographie (Landschaftskunde); Physische Geographie
(naturwissenschaftliche Grundperspektive) – Anthropogeographie (sozialwissenschaftliche
Grundperspektive); Landschaftsökologie – Sozialgeographie; abiotische/ biotische Kausalität –
geistbestimmte Kausalität. Aus heutiger Sicht ein erkenntnistheoretischer Extremfall wäre das sog.
Hettnersche Schema, in dem Schichten aufeinandergelegt werden: Oberflächenformen, Klima,
Gewässer, Boden, Vegetation/ Tierwelt, Bevölkerung, Stadt, Wirtschaft/ Verkehr, Politik – mit der
Idee, dass diese Folien gemeinsam durchleuchtet so etwas wie eine länderkundliche Synopse erlauben.
Diese Dichotomien sind oft weniger konzeptionell als fachpolitisch oder einfach traditionell
legitimiert; sie werden so zur Divergenz, zumindest aber zu einem bloßen Nebeneinander. Charles P.
Snow hatte von dem Gefühl gesprochen, sich in „zwei Gruppen zu bewegen, die von gleicher Rasse
und gleicher Intelligenz waren, (…) sich aber so gut wie gar nichts mehr zu sagen hatten“ (sh. das
Zitat zu den „Zwei Kulturen“ in Abschnitt 2.)
„In der Tat haben sich Physische Geographie und Humangeographie in ihren Kernfeldern
weit auseinander entwickelt und stellen gewissermaßen Vertreter zweier unterschiedlicher
Wissenschaftskulturen dar. Viele aktuelle Themen und Fragestellungen der Physischen
Geographie wie auch fast alle der Humangeographie (z.B. im Bereich der „New Economic
Geography“, der Sozialgeographie und geographischen Bildungs- und Wissensforschung, der
Politischen Geographie, der neuen Kulturgeographie etc.) lassen sich durch ‚keinen Trick oder
Kunstgriff‘ (Weichhart 2003, 2005)27 mehr auf das klassische Thema der Mensch-UmweltInteraktion rückbinden. Auch in Zukunft wird der größere Teil geographischer Forschung
sich im Bereich der ersten und zweiten ‚Säule‘ abspielen.“ 28
Wenn man nun ein Problem im Gesellschaft-Umwelt-Verhältnis entdeckt hat, das der Beobachtung,
Definition und Lösung bedarf, bewegt man sich in einer Dritten Säule zwischen den beiden
Fachsäulen. Das Problem ist zunächst immer ungefächert; es kann und wird aber mit Hilfe von
Fächern behandelt. Im Fall des Syndromkonzepts sind dies die Sphären (bzw. „Kompartimente“)
einzelfachlicher Teillösungen (vgl Abschnitt 1.). Wie am Klinikbett treffen sich die Fachleute zu
einem Konsilium und stellen ihre Teillösung zur Debatte. Wenn es gut geht, verstehen sich diese
Fachleute so weit, dass sie sich mit den anderen vernetzen können. Niemand wird aber in dieser
Situation ein Monopol aus dem Fach heraus anmelden (es sein denn über Geld und Macht). Bewähren
wird man sich in der Kommunikation und in der Triftigkeit der einzelnen Beiträge.
Weichhart, P. (2003): Physische Geographie und Humangeographie – eine schwierige Beziehung: Skeptische
Anmerkungen zu einer Grundfrage der Geographie und zum Münchner Projekt einer „Integration
Umweltwissenschaft“. In: Heinritz, G. (Hrsg.): Integrative Ansätze in der Geographie – Vorbild oder Trugbild?
Münchener Geographische Hefte, 85: 17-34. Ders. (2005): Auf der Suche nach der „dritten Säule“. Gibt es Wege
von der Rhetorik zur Pragmatik? In: Müller-Mahn, D./ Wardenga, u. (Hrsg.): Möglichkeikten und Grenzen
integrativer Forschungsansätze in Physischer Geogrpahie und Humangeographie. Leipzig, ifl-Forum 2, 109-136
28
Gebhardt, H./ Glaser, R./ Radtke, U./ Reuber, P. (Hrsg) (2007): Geographie. Spektrum Akademischer Verlag
München. 65-76
27
15
Konzeptionelles Forschen in der Geographie:
Mensch-Umwelt-Interaktion – Die „Dritte Säule“29
Nochmals für die Geographie formuliert: Die Idee einer „Dritten Säule“ von Peter Weichhart (Wien)
wäre in diesem Sinne fruchtbar zu machen. Die Säule der Physiogeographie und die Säule der
Humangeographie schneiden sich nicht miteinander, sondern mit einer dritten Säule. Diese ist nicht
etwa eine Schnittmenge, also ein kleiner gemeinsamer Kern des Faches; sie ist vielmehr zu nutzen als
das eigene Feld der Probleme, die – auch – mit Hilfe der ersten und zweiten Säule in einer
„Gesellschaft-Umwelt-Forschung“ zu bearbeiten wären. Wie in dieser Dritten Säule nun die Probleme
identifiziert und definiert werden, ist eine ganz eigene Aufgabe in einer „dritten Kultur“, nämlich der
sozialwissenschaftlichen bzw. wissenssoziologischen Betrachtung. Physiogeographie und
Humangeographie können danach zu Hilfe geholt werden und man wird sehen, ob und wie sie
hilfreich sind.
●
Für die Schule und den Geographieunterricht formuliert: Problemorientierung und fachübergreifendes
Arbeiten geben die Organisation der Forschung und des Unterrichts vor. Die Geographie schafft dafür
eine Gelegenheit, derartiges zu erproben und zu üben. Keinen Schüler würde dabei interessieren, was
„Geographie an sich“ sei. Viele Schüler wird aber interessieren, welche Probleme wie gelöst werden
könnten. Ist etwa die „Angekündigte Katastrophe“ für Istanbul (Abschnitt 5.) interessant, weil
„Erdbeben/ Plattentektonik“ auf dem Lehrplan stehen, oder ist sie interessant, weil hier ein ungelöstes
Problem (medial) auftaucht, in dem etwas irritiert und in dem etwas lösungsbedürftig ist?
Das Kamel als didaktische Metapher
(und das Nadelöhr als Unterrichtsstunde/ Seminarsitzung)
29
Gebhardt u.a., 2007 Geographie. 69
16
Wir dürfen das Fach Geographie – weder im Schulfach-Unterricht noch in der fachwissenschaftlichen Ausbildung oder in der Anwendung in der Praxis – nicht überfordern in seinem
Anspruch auf Weltklärung und –rettung. Vielmehr müssen wir in aller konzeptionellen und reflexiven
Bescheidenheit dafür sorgen, dass in der minimalen Zeitressource von 45- oder 90-Minuten-Portionen
– i.e. das Nadelöhr im metaphorischen Kamel – die diffuse Komplexität am Anfang rekonstruiert wird
in eine triftige Erkenntnis-Gestalt am Ende. Oder auf englisch formuliert: „Environmental Literacy in
Science and Society”30
„Die Erkenntnis beginnt nicht mit Wahrnehmungen oder Beobachtungen
oder der Sammlung von Daten oder von Tatsachen,
sondern sie beginnt mit Problemen. [...]
Denn jedes Problem entsteht durch die Entdeckung,
dass etwas in unserem vermeintlichen Wissen
nicht in Ordnung ist.“ 31
30
31
vgl. Fußnote 15
Popper, Karl R. (1962). Die Logik der Sozialwissenschaften. Kölner Zeitschrift für Soziologie und SozialPsychologie, Jg. 14, S. 233-248, hier: 234
17
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