Barbara Köpplová, Jan Jirák 4. Medien, Bildung und Soziales Gedächtnis: Nutzung heutiger Fernsehprogramme mit Geschichtsthematik im Unterricht Das historische (soziale, kollektive) Gedächtnis ist ein bedeutendes symbolisches Konstrukt, das eine der Identifikationsquellen für Individuen innerhalb der Gesellschaft darstellt. Die Medien (insbesondere solche mit visuellen Elementen) beteiligen sich am aktuellen Erscheinungsbild und der Veränderung des historischen Gedächtnisses – sie bieten eine Vergangenheitsinterpretation nicht nur in Dokumenten, sondern auch in fiktiven Geschichten, was unsere diesbezüglichen Vorstellungen deutlich beeinflusst. Diese medialen Produkte haben keine primäre Bildungsfunktion, können aber pädagogisch genutzt werden. In tschechischer Umgebung ist besonders die Interpretation der „Geschichte der Tschechoslowakei“ aktuell, also der Zeit von 1918-1992, vor allem die Entwicklung in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts, als die ehemalige Tschechoslowakei zu einem Bestandteil des „Ostblocks“ wurde und drei Jahre nach dessen Ende im Jahre 1989 zerfiel, wobei sich die Tschechische Republik in die „westlichen Strukturen“ integrierte. Ein großer Teil der tschechoslowakischen Geschichte wird von gespielten, vom Tschechischen Fernsehen produzierten, Serien abgedeckt. Den Zeitraum von 1918-1945 behandelt die Serie První republika (Erste Republik), einen Großteil der zweiten Epoche (1964-2005) verarbeitet unter Verwendung zeitgenössischen Materials die gespielte Serie des Tschechischen Fernsehens Vyprávěj (Erzähl). Dieser Beitrag versucht, eine Diskussion über Möglichkeiten und Grenzen der Rolle von Serien im Prozess der Formung des historischen Gedächtnisses – und, allgemeiner ausgedrückt, der pädagogischen Nutzung gespielter Fernsehproduktionen als solche sowie der sich daraus für den Sender ergebenden Verantwortung – anzuregen. Schlüsselwörter: Historisches Gedächtnis, Massenmedien, Fernsehen, Tschechisches Fernsehen, Serie Vyprávěj, Serie První republika, Tschechoslowakei/Tschechische Republik 1918-2005 1 Der Begriff des historischen (auch sozialen oder kollektiven) Gedächtnisses bezieht sich auf die Tatsache, dass die Vergangenheitswahrnehmung ein „lebendiger und gelebter Bestandteil des sozialen, politischen und kulturellen Geschehens“ ist. (Beneš 2002:8). Der Einzelne formt seine Vergangenheitsvorstellung auf Grundlage von Informationen über die Vergangenheit, die ihm sein soziales Umfeld anbieten (Familie oder eine andere Gruppe, aber auch gesellschaftliche Institutionen – z.B. Schule oder Medien). Mit einer derart dargelegten Interpretation der Vergangenheit (Auswahl von Ereignissen und Persönlichkeiten, deren Interpretation und Bewertung, Kausalketten usw.), oft eingebettet in eine kohärente, mythologisierende Erzählung, kann er sich identifizieren und betrachtet sie dann als richtige, wahre und „wirkliche“ Vergangenheit bzw. als konstituierend für seine Identität als Mitglied der Gesellschaft mit eigener Vergangenheit und einem Bewusstsein darüber. Daher ist es notwendig, das zeitgenössische soziale Gedächtnis als eine der Quellen des Geschichtsverständnisses zu untersuchen (zusammen mit der Historiographie – für mehr Informationen dazu siehe z.B. Zdeněk Beneš in der Einleitung zur Publikation über die Geschichte des Zusammenlebens von Tschechen und Deutschen Rozumět Dějinám (Die Geschichte verstehen), 2002), aber auch die Prozesse seiner Formung sowie Faktoren wahrzunehmen, die sich an diesem Prozess beteiligen. Das historische Gedächtnis existiert nicht als abstrakte, verallgemeinerte, Erkenntnissammlung, sondern formt und verändert sich in der sozialen Praxis, wo es in konkreten Erzählungen, auf Bildern, in Objekten und Urteilen auftaucht. Diese konkreten Repräsentationen müssen nicht immer ein untereinander verbundenes, kohärentes Ganzes bilden: Ein Mitglied der Gesellschaft ist, sich parallel formenden, „miteinander konkurrierenden“, Interpretationen der Vergangenheit ausgesetzt: In der Schule, in der Familie, in den Medien usw. Diese Tatsache stellt nicht nur die Bildungssysteme und die Bildungspolitik einzelner Staaten, sondern auch die übrigen Institutionen vor ein grundsätzliches Problem: Welche Haltung soll man gegenüber dem Angebot aktueller Versionen des historischen Gedächtnisses beziehen? Im folgenden Text beleuchten wir zuerst genauer das Verhältnis von historischem und medialem Gedächtnis und konzentrieren uns dann auf die Suche nach Möglichkeiten der Nutzung medialer Produktionen mit Geschichtsthematik (konkret, gespielter Fernsehserien) bei der gezielten Formung des historischen Gedächtnisses in Erziehung und Bildung bzw. in der Diskussion über die Verantwortung, die sich aus der Beteiligung an der Formung des historischen Gedächtnisses für die Medien ergibt – mit Betonung auf das öffentlich-rechtliche Fernsehen. 2 Historisches und mediales Gedächtnis Das historische Gedächtnis ist zwar eine „lebendige und gelebte“ Vorstellung von der Vergangenheit, dabei aber ganz sicher nicht homogen und homophon. Die Menge und der Einfluss einzelner Vergangenheitsinterpretationen unterscheiden sich in verschiedenen Zeiträumen. Manchmal überwiegt deutlich ein historisches Gedächtnis, sodass alternative Geschichtsauslegungen marginalisiert oder gar unterdrückt werden. Zu einem anderen Zeitpunkt neigt die Gesellschaft zur Tolerierung oder Unterstützung einer größeren Pluralität parallel existierender historischer Gedächtnisse. So stellt beispielsweise ein Zeitraum mit intensiv gelebtem Nationalismus ein stark homogenisierendes Umfeld dar (bezogen auf tschechisches Gebiet war dies z.B. die erste Hälfte des 19. Jahrhunderts, als ein Höhepunkt auf dem Weg zur Emanzipation des tschechischsprachigen Elements als modernes Volk erreicht wurde). Aber auch so fänden wir nur schwerlich einen längeren Zeitraum, in dem in irgendeiner Gesellschaft ausschließlich ein historisches Gedächtnis existierte – in der Dynamik der Veränderung lässt sich die Existenz eines Hauptstroms, von Alternativen dazu sowie von Spannung und Konflikten zwischen beiden, erkennen. Alternativen tauchen nicht nur bei der Interpretation geschichtlicher Ereignisse auf, die als Stützpfeiler der Geschichtsauslegung gelten, sondern zeigen sich auch in der Auswahl der eigentlichen Ereignisse sowie in der Unterdrückung anderer (Die Existenz miteinander konkurrierender Erzählweisen hat der britische Historiker James Curran am Beispiel der Mediengeschichte treffend beschrieben, der die sieben „miteinander konkurrierenden Erzählweisen der Mediengeschichte“/“rival narratives of media history“ folgendermaßen charakterisierte: Fünf, die die Entwicklung als positive Ausrichtung auf eine bessere Zukunft bewerten, also liberal, feministisch, populistisch, libertärisch und anthropologisch, eine kritische, die er als „radikal“ bezeichnet, und dann noch technologischer Determinismus, der nach Currans Meinung ambivalent ist, Curran 2002:3-54). Es geht jedoch nicht nur um den Inhalt und das Erscheinungsbild des historischen Gedächtnisses. Es ändert sich letztlich auch das Verhältnis der Gesellschaft zur Vergangenheit insgesamt: „…Das Schwanken des Historismus zwischen Boom und Ablehnung wiederholte sich auch im 20. Jahrhundert“, erinnerte der tschechische Historiker Jiří Rak in seinen Überlegungen bezüglich der Rolle des Films mit Blick auf die Veränderung des Verhältnisses der tschechischen Gesellschaft zur eigenen Vergangenheit (Rak 2005). Er verweist auf die Tatsache, dass die Gesellschaft ihre Vergangenheit manchmal intensiv durchlebt, sich über deren Wahrnehmung streitet (oft sehr persönlich, verbunden mit dem Ruf nach 3 nationaler Einheit, sehr emotional angespannt bei gleichzeitig schwacher Argumentation) oder, in anderen Fällen, ihre Aufmerksamkeit eher auf Gegenwart und Zukunft richtet. Ganz offensichtlich ist das Phänomen des historischen Gedächtnisses eines der bedeutenden Themen der heutigen Geschichtswissenschaften, sodass dieser Beitrag nicht in der Lage sein wird, die Traditionsvielfalt bezüglich des Nachdenkens darüber auch nur ansatzweise zu erfassen. Beschränken wir uns daher ausschließlich darauf, uns die Grundideen, ihre Repräsentanten sowie einige ausgewählte Autoren in Erinnerung zu rufen, die mit diesem Konzept in tschechischem Umfeld arbeiteten. Überlegungen bezüglich des historischen Gedächtnisses und seiner Rolle gehen auf das Konzept des kollektiven Gedächtnisses bzw. auf das kollektive Bewusstsein zurück, worunter der französische Soziologe Émile Durkheim einen Komplex aus Überzeugungen und Haltungen verstand, die Menschen in der Gesellschaft miteinander teilen (die Prägung des Ausdrucks „Kollektives Gedächtnis“ wird dem österreichischen Romanautor und Essayisten Hugo Van Hofmannsthal zugeschrieben und geht auf das Jahr 1902 zurück, siehe Olick, Robbins: 1998:106). Weiter ausgearbeitet wurde das Konzept beispielsweise von Maurice Halbwasch und Pierre Nora (über das Konzept des kollektiven Gedächtnisses und dem Anteil einzelner Autoren daran siehe Pfeiferová-Šubrt 2010). In tschechischem Umfeld widmete sich dem historischen Gedächtnis zum Beispiel der Semiotiker und Literaturhistoriker Vladimír Macura (z.B. 1998), des Weiteren (neben ihren anderen professionellen Aktivitäten) arbeiteten mit diesem Konzept die Historiker Petr Čornej (1995), Miroslav Hroch (2010) oder Jiří Rak (1994). Aus geschichtsdidaktischer Sicht entwickelte Zdeněk Beneš (2002, 2010) das Konzept des historischen Gedächtnisses weiter und im historisch-soziologischen Kontext widmet sich ihm die Autorengruppe um die Zeitschrift Historická sociologie (Historische Soziologie), beispielsweise Bohuslava Šalanda und Jiří Šubrt (für weitere Informationen bezüglich des Titels siehe http://historicalsociology.cz/ocasopisu). Ausgangspunkt für die Untersuchung des historischen Gedächtnisses und seine Entstehung ist die Akzeptanz der Idee, dass es sich um eine, sich fortwährend weiterentwickelnde, soziale Konstruktion der Realität handelt, die alle Attribute aufweist, die ihr von der Wissenssoziologie zugeschrieben werden (mehr zur sozialen Realitätskonstruktion siehe Berger–Luckmann 1999). Das historische Gedächtnis arbeitet mit einer relativ engen Auswahl historischer Fakten und Persönlichkeiten sowie deren Interpretation. Die moderne Gesellschaft entwickelt jedoch Werkzeuge, die, sofern möglich, für ein gemeinsames historisches, also wirklich kollektives, Gedächtnis sorgen: 4 Das wohl effektivste Werkzeug in diesem Bereich ist die Allgemeinbildung bzw. das Schulsystem. Neben dem historischen Gedächtnis, das sich auf didaktisch aufgearbeitete Ergebnisse historischer und historiografischer Forschung stützt, welche die Schule im Rahmen der Allgemeinbildung hervorbringen sollte, werden aber weitere Versionen angeboten – beispielsweise Belletristik-, Film-, Comicsoder mündlich tradierte Versionen. Die wohl einflussreichste davon ist die von den Massenmedien angebotene Vergangenheitsvariante, in der Literatur bezeichnet als „Öffentliches Gedächtnis“ („Public Memory“, Volkmer 2006) oder gleich als „Mediales Gedächtnis“ („Media Memory“, Neiger, Meyers, Zandberg 2011), also „die kollektive, von den Medien erzählte, Vergangenheit“ („Collective pasts that are narrated by the media“, Neiger, Meyers, Zandberg 2011:1). Und gerade die von den Medien präsentierten Informationen über die Vergangenheit sind ein wesentlicher Faktor bei der Bildung des historischen Gedächtnisses. Mediale Kommunikation wird aufgrund ihres gesamtgesellschaftlichen Charakters als Aussage über die Gesellschaft wahrgenommen, weshalb mediale Informationen eine verhältnismäßig stark autoritative Herausforderung zur Identifikation darstellen (in extremer Position kann man die Medien direkt als gesellschaftlichen Konstituierungsfaktor betrachten – so schreibt Benedict Anderson in seiner Publikation Imagined Communities mit dem bezeichnenden Untertitel Reflections on the Origin and Stread of Nationalism, ursprünglich aus dem Jahre 1983, siehe Anderson 2006, den Zeitungen eine nationale Identifikationsrolle im Entstehungsprozess eines modernen Volkes zu). Zugleich wird jedoch der Inhalt und das Erscheinungsbild medialer Informationen mit anderen Motiven als der Bildung eines historischen Gedächtnisses produziert (zu unterhalten, die Aufmerksamkeit auf sich zu lenken, zu überzeugen, für etwas zu gewinnen usw.). Medien arbeiten oft mit einem bereits existierenden historischen Gedächtnis und nutzen dieses zu ihren Zwecken, sei es zu ökonomischen oder politischen. Sie bedienen sich also bestehender, in der Gesellschaft zirkulierender, Geschichtsdarstellungen und bieten sie in medial aufbereiteter Form an. Dadurch können diese an Überzeugungskraft gewinnen, denn mediale Produkte unterstreichen ein wesentliches, schon weiter oben angeführtes, Charakteristikum des historischen Gedächtnisses: Sie sind konkret, haben den Charakter von Erkenntnissen (z.B. Dokumentarfilme) oder Geschichten, deren Konstrukt-Charakter zugunsten einer mimetischen Illusion unterdrückt wird. Eine bedeutende Rolle spielt dabei der eigentliche Prozess der Medialisierung der Geschichtsthematik mit Faktoren, die diesen Prozess beeinflussen, also medialer Logik, ideologischer Voreingenommenheit, unzureichendem Verständnis von Geschichte und 5 Geschichtswissenschaft und letztlich auch dem sozialen Gedächtnis der Medienmitarbeiter (mehr zur Medialisierung siehe z.B. Lundby 2009). Bei der Formung und der Entwicklung des historischen Gedächtnisses als eigenen Typ des sozialen Bewusstseins treffen so zwei bedeutende Faktoren für das Leben heutiger Gesellschaften aufeinander: Die Dynamik der Konstruktion der sozialen Wirklichkeit und die Medialisierung. Das Zusammenwirken und die Komplexität der Verbindungen zwischen diesen beiden Faktoren rückt deutlich in den Vordergrund, wenn wir die Haupteigenschaften des historischen Gedächtnisses (ausgearbeitet laut Neiger, Meyers, Zandberg 2011:5-6) mit der Natur der medialen Produktion ins Verhältnis setzen: 1. Das historische Gedächtnis ist ein soziopolitisches Konstrukt – eine Version der Vergangenheit, die den Vorstellungen der gegebenen Gesellschaft bzw. ihren Schichten und Institutionen, die gegenwärtig die politische, wirtschaftliche und symbolische Macht in den Händen halten oder halten möchten, entspricht. An der Verteilung zumindest der politischen und symbolischen Macht beteiligen sich zweifellos auch Massen- bzw. Onlinemedien. 2. Die Konstruktion des historischen Gedächtnisses ist ein fortlaufender, in verschiedene Richtungen laufender, Prozess – das Erscheinungsbild des historischen Gedächtnisses wird von der Gegenwart beeinflusst („aktuelle Ereignisse und Überzeugungen steuern unsere Vergangenheitsinterpretation“ / „Current events and beliefs guide our reading of the past“, Neiger, Meyers, Zandberg 2011:5), und Medien stellen eine bedeutende Quelle beim Erleben der Gegenwart dar. 3. Das historische Gedächtnis ist funktionstüchtig und hat seine gesellschaftliche Funktion – es dient verschiedenen Zwecken, unter anderem dazu, mittels Vergangenheitsinterpretation den Mitgliedern der Gesellschaft dabei zu helfen, zwischen „wir“ und „sie“ unterscheiden zu können, ein Prozess, an dem die Medien wesentlich beteiligt sind (z.B. durch stereotype Darstellung verschiedener sozialer, ethnischer oder subkultureller Gruppen). 4. Das historische Gedächtnis muss eine konkrete Form annehmen – es handelt sich dabei nämlich, wie wir schon vorher konstatiert haben, um ein veränderliches System abstrakter Vorstellungen, das, um funktionieren zu können, die konkrete Form von Kulturgut annehmen muss, angefangen von Denkmälern, Feiertagen und Namen für den öffentlichen Raum, über geschichtliche Museen oder Ausstellungen, bis hin zu (medialisiertem) Lehrstoff über die Vergangenheit (beispielsweise in Form von Dokumentarfilmen und -serien, Lehrbüchern, didaktischen Hilfsmitteln usw.). 6 5. Das historische Gedächtnis hat Erzählcharakter – es ist notwendig, dass das vergangenheitsbezogene Unterbewusstsein in bekannte Kulturformen strukturiert ist, vor allem in Geschichten mit möglichst klarer Rollenverteilung für positive und negative „Figuren“, in Kampf zwischen Gut und Böse usw. Medien sind eine sehr effektive Quelle historischer Erzählungen: Sie bieten sie in konkreter Form von „Heldengeschichten“, Spielfilmen, Serien usw. an. Es ist also klar, dass Massen- und Onlinemedien bei der Formung des historischen Gedächtnisses eine bedeutende Aufgabe übernehmen: unter anderem dadurch, dass sie historischen Persönlichkeiten ein Gesicht verleihen, dass sie vergangenen Ereignissen, insbesondere schwer unterscheidbaren, eine über die Sinne wahrnehmbare Form verleihen oder diese als, für Zeitgenossen verständliche, Geschichte darstellen. Dabei schenkt man zumindest in tschechischem Umfeld der Beziehung zwischen Medien und historischem Gedächtnis keine allzu systematische Aufmerksamkeit – mit Ausnahme von Arbeiten, die von der Gemeinde der Filmhistoriker und ihnen nahestehenden Experten für tschechische Geschichte stammen, die sich in den Jahren 2002-2004 im Dunstkreis des Seminars Film a dějiny (Film und Geschichte) geformt hat (Details dazu unter www.filmadejiny.cz) und welche mit dem Begriff „Filmgeschichte“ arbeitet und sich für die Beziehung zwischen Film bzw. Kinematographie und Geschichte interessiert (siehe Kopal 2004, 2009 und Feigelson, Kopal 2012). Von besonderer Bedeutung ist der Formungsprozess des historischen Gedächtnisses sowie der Anteil der Medien daran im Falle der jüngeren Geschichte, die zudem Inhalt des gelebten Gedächtnisses zumindest eines Teils der Gesellschaft ist, ggf. durch Erzählungen von Generation zu Generation weitergegeben wird (oft in Form internalisierter stereotyper Vereinfachung). Bei der Wahrnehmung der jüngeren Geschichte treffen (und geraten häufig) historiografische Erkenntnisse, der Logik der medialen Produktion unterworfene mediale Interpretation, Gruppengedächtnis und ggf. weitere Faktoren, wie beispielsweise die politische Instrumentalisierung der Vergangenheit, auf- bzw. aneinander. Das historische Gedächtnis ist nämlich eine intensiv erlebte und lebendige Vorstellung von der Vergangenheit und reicht mit gleicher Intensität bis in die Gegenwart – was sich nicht nur auf die Haltungen Einzelner, sondern, sofern es sich um ein kollektives Gedächtnis auf gesamtgesellschaftlicher bzw. nationaler Ebene handelt, auch auf politische Entscheidungen auswirkt. Das historische Gedächtnis ist per se ein Politikum: Streitigkeiten um die Auslegung der Vergangenheit werden zum Thema aktueller Machtkämpfe (Orwells Beobachtung „Wer die Gegenwart beherrscht, beherrscht Vergangenheit und Zukunft“ ist nur die in ein elegantes Bonmot 7 verpackte Erkenntnis, wie wichtig eine akzeptierte und internalisierte Vorstellung von der Vergangenheit für das politische Leben einer Gesellschaft ist). Ein bedeutendes Spielfeld, auf dem es zu derartigen Treffen und Auseinandersetzungen kommt, ist die mediale Fiktion (beispielsweise das Fernsehen), die Vergangenheitsvorstellungen in Geschichten konkretisiert und ihnen dank ihres mimetischen Charakters die Form konkreter Bilder verleiht. Serien des Tschechischen Fernsehens mit Geschichtsthematik: Vyprávěj und První republika In tschechischer Umgebung spielt im vergangenen Vierteljahrhundert bei der Formung des historischen Gedächtnisses eine bedeutende Rolle die Tatsache, dass hier nach 1989 eine gesellschaftliche und politische Transformation stattfand, die sich auch auf die Einstellung der tschechischen Gesellschaft zur eigenen Vergangenheit auswirkte. Allgemein formuliert, dies ermöglichte den Übergang von einer autoritativ definierten, von der Kommunistischen Partei der Tschechoslowakei als politischer Macht durchgesetzten, Geschichtsauslegung zu einer Interpretationspluralität, wo parallel zueinander mehrere geschichtliche Erzählweisen existierten. Diese Wandlung der Verhältnisse projizierte sich auf die Auslegung und Bewertung wohl aller Schlüsselereignisse und epochen, die das Fundament der vom prosowjetischen Regime durchgesetzten „tschechischen Geschichte“ bildeten, sei es die ältere Geschichte (Hussiten, Gegenreformation, Existenz im Rahmen der österreichischen Monarchie usw.), oder die jüngere Geschichte (Tschechoslowakei in der Zwischenkriegszeit, Verhältnis zu Minderheiten mit Betonung auf die deutsche Bevölkerung der Tschechoslowakei und deren Nachkriegstransfer und, begreiflicherweise, die besondere Zeit der Regierung der Kommunistischen Partei in den Jahren 1948-1989). Die Änderung des Interpretations- und Bewertungsrahmens der Formung des historischen Gedächtnisses wirkte sich auf den Inhalt der Allgemeinbildung aus – nach der Lehrplanreform, zu der es zum Ende der ersten Dekade des 21. Jahrhunderts kam (die aber schon seit Ende der 90er Jahre des 20. Jahrhunderts vorbereitet wurde), wurde der Bildungsbereich Geschichte zu einem Bestandteil des Bildungsbereichs Mensch und Gesellschaft, wobei „…dessen Hauptmission die Kultivierung des historischen Bewusstseins jedes Einzelnen und die Erhaltung der Kontinuität des historischen Gedächtnisses ist, vor allem im Sinne der Weitergabe historischer Erfahrungen. Wichtig ist insbesondere das Kennenlernen der Geschichte, von Taten und Erscheinungen, die die Entwicklung der Gesellschaft wesentlich beeinflussten und sich in unserem Gegenwartsbild widerspiegeln. /…/ Schüler 8 werden zur Erkenntnis geführt, dass Geschichte weder eine abgeschlossene Vergangenheit noch ein Haufen von Fakten und definitiven Schlussfolgerungen ist, sondern Fragen aufwirft, in denen die Gegenwart mithilfe der Vergangenheit nach ihrem eigenen Charakter und der eigenen möglichen Zukunft fragt.“ (Rahmenlehrplan für die Grundschulbildung 2013:43). Die Betonung des historischen Bewusstseins, der Kontinuität des historischen Gedächtnisses und des Gegenwartsbildes zeugen davon, dass die Thematik der aktuellen Vergangenheitskonstruktion zu einem bedeutenden Bestandteil des Nachdenkens über die Gesellschaft geworden ist. Die veränderte Herangehensweise bei der Vergangenheitsinterpretation bzw. der Formung des historischen Gedächtnisses betraf nicht nur das Erziehungs- und Bildungssystem. Bestandteil der Transformation der tschechischen Gesellschaft war auch eine Veränderung der Massenmedien und der öffentlichen Kommunikation überhaupt. Zu einem Bestandteil der konstituierenden Anordnung der Tschechoslowakei und letztlich der Tschechischen Republik wurde die Charta der Menschenrechte und Freiheiten, von der sich die Grundprinzipien des Funktionierens der Medien ableiten: Meinungsfreiheit und Zensurverbot. Die Sphäre der medialen Kommunikation wurde zu einem wichtigen Wirtschaftszweig und gleichzeitig zu einem bedeutenden Forum für öffentliche und politische Debatten sowie zu einem Raum für Unterhaltung und Entspannung mit Attributen, die in der westeuropäischen, liberaldemokratischen, Tradition üblich sind: Print- und Rundfunkmedien als privatunternehmerische Sphäre mit entwickeltem Werbemarkt, Boulevardisierung und Entertainisierung, Schwächung sozial bedeutsamer, nicht ökonomischer, Medienfunktionen (aufklärerisch, erzieherisch-bildend, ästhetisch und kulturell), Existenz eines dualen Systems im Rundfunksektor usw. Gerade der Aufbau eines dualen Rundfunkmedien-Systems, also der parallelen Existenz privater (i.d.R. kommerzieller) Sendeanstalten und öffentlichrechtlicher Medien – in der Tschechischen Republik konkret gesteuert von zwei Institutionen, Česká televize (Tschechisches Fernsehen) und Český rozhlas (Tschechischer Rundfunk) –, lässt sich als Beleg für die Bemühungen um eine Förderung der nicht ökonomischen Funktionen der Medien verstehen: z.B. die erzieherisch-bildende bzw. aufklärerische Funktion. Das Gesetz über das Tschechische Fernsehen Nr. 483/1991 Sb. (Slg.), in gültiger Fassung, sagt im § 2 klar aus, dass eine der Hauptaufgaben des Tschechischen Fernsehens die „Weiterentwicklung der kulturellen Identität der tschechischen Bevölkerung“ ist (Gesetz über das Tschechische Fernsehen 1991:1). Der rechtliche Rahmen der Existenz des Tschechischen Rundfunks ist im gleichen Geist formuliert. 9 Wie trägt Česká televize zur Weiterentwicklung der nationalen Identität im Bereich der Formung der Beziehung zwischen Zuschauer und der Vergangenheit seiner Gesellschaft bei? Am Beispiel zweier, eben von Česká televize produzierten und ausgestrahlten, Fernsehsendungen versuchen wir, die Frage zu beantworten, inwieweit derartige Medienprodukte Ergebnis oder Bestandteil des Formungsprozesses des aktuellen historischen Gedächtnisses sind und inwieweit die Existenz dieses Gedächtnisses ein, die Mediale Produktion bestimmender oder einschränkender, Faktor ist – angesichts der gesellschaftlichen Verantwortung der öffentlich-rechtlichen Medien und ihrer gesellschaftlichen (also auch erzieherischen) Funktion, wie diese auf allgemeiner Ebene gesetzlich festgelegt ist. Es handelt sich um die gespielten Serien – Vyprávěj und První republika. Die Handlung der „Retro-Serie“ Vyprávěj (ausgestrahlt in den Jahren 20092013, insgesamt 106 Folgen in fünf Staffeln) konzentriert sich auf das Schicksal der Familie Dvořák und fällt in den Zeitraum 1964-2005. Die Handlung betont die Reflexion zeitgenössischer politischer Ereignisse, des Alltagsgeschehens und der Populärkultur und verwendet dafür eine ganze Reihe von Ausdrucksmitteln, von zeitgenössischer Presse, Fernseh- und Filmnachrichten bis hin zu Requisiten, die auf einen konkreten Zeitraum verweisen. Einzelne Teile haben eine feste Struktur – vor dem Vorspann gibt es eine Einführung in die entsprechende Geschichtsetappe der Familie, nach dem Vorspann einen Zusammenschnitt zeitgenössischen Materials, mittels dessen die Familiengeschichte in einen, auf die Welt bzw. die Tschechoslowakei bezogenen, politischen und kulturellen Kontext gebracht wird. Die Einarbeitung authentischen Filmmaterials erfolgt dann auch im Laufe einzelner Teile, um den zeitlichen Kontext der Handlung in Erinnerung zu rufen – während die im Vorspann gezeigten Bilder vor allem politische (heimische und in eingeschränktem Umfang auch internationale) Dimension haben, sind im Laufe des Geschehens gezeigte Bilder eher auf den zeitgenössischen Alltag ausgerichtet. An der Herangehensweise an einen auf diese Weise genau bestimmten Kontext (für den Zuschauer klar identifizierbar anhand zeitgenössischer Fakten, gesellschaftlicher Ereignisse und konsequenter, auch durch Untertitel mit Jahreszahl unterstützter, zeitlicher Einordnung) ist die Spannung zwischen der Authentizität des zeitgenössischen Materials und Fokussierung der Handlung erkennbar. Während das zeitgenössische Material den Eindruck fördert, dass es sich um ein Zeitzeugnis handelt, distanziert sich die Serie mittels der Hauptfigur des Erzählers von einer geschichtsgetreuen Darstellung und akzentuiert die Subjektivität der Erzählung: „… Aber erwarten Sie keine genaue Geschichtsdarstellung. Es sind nur meine Erinnerungen. So, als blätterten Sie in einem Fotoalbum“, sagt der 10 Erzähler außerhalb des Bildes am Anfang des ersten Teils (Staffel I, Folge 1, 2:09-2:16). Das Bemühen, die Verbindung der Ebene des historischen Kontextes und des Lebens der Serienfiguren hervorzuheben, ist jedoch trotz dieser eher formellen Abgrenzung auch aus anderen Regiepraktiken ersichtlich: Nach Ende des Zusammenschnitts zeitgenössischen Materials erscheint ein Fernsehgerät im Bild, dessen letzte Bilder (Vorspann des Sandmännchens) eine der Serienfiguren verfolgt (Staffel I, Folge 2, 39:0939:12). Zudem kommentieren die Figuren innerhalb der Handlung den zeitgenössischen Kontext: z.B. in der Folge, die zeitlich mit dem Prager Frühling korrespondiert, bemerkt der (zu der Zeit innerhalb der Handlung dreijährige) Erzähler „Der Frühling des Jahres 1968 war berauschend frei“ (Staffel I, Folge 3, 5:32-5:35) und in einer weiteren Folge führt er den Zuschauer mit folgendem Satz in die Handlung ein: „…Im Jahre 1968 begann der studentische Majáles (Maifeier) dank des Prager Frühlings später als gewöhnlich. Trotzdem war es aber ein großes Fest der Jungend und der Freiheit“ (Staffel I, Folge 4, 0:01-0:28). Die Annahme, dass die Serie nicht die Einzelschicksale einer Familie präsentiert, sondern ein Zeitzeugnis ablegt, wird auch durch die Namen einiger Folgen belegt (andere wieder haben völlig privaten Charakter und verweisen ausschließlich auf die Schicksale der Familie Dvořák): z.B. Charta 77 (Staffel II, Folge 15), Smrt Brežněva (Brežněvs Tod) (Staffel III, Folge 17), Černobyl (Tschernobyl) (Staffel III, Folge 22), Palachův týden (Palachs Woche) (Staffel III, Folge 26), Jakešův projev (Jakešs Rede) (Staffel IV, Folge 5), Sametová revoluce (Samtene Revolution) (Staffel IV, Folge 8) usw. Die angeführten Beispiele sind charakteristisch für alle Staffeln der Serie: Trotz der anfänglichen Bemerkung, dass es sich um keine „genaue Geschichtsdarstellung“ handelt, hat die Serie die Tendenz, die Schicksale der Familie Dvořák als Individualisierung darzustellen, die historische Fakten so repräsentiert, wie sie im historischen Bewusstsein der aktuellen Gesellschaft verankert sind (oben angeführte Namen der Folgen spiegeln Schlüsselereignisse der tschechoslowakischen Gesellschaft in den 70er und 80er Jahren des 20. Jahrhunderts bis 1989 wider). Offenbar liegt der Akzent auf einer möglichst konsequenten Eingliederung der Schicksale der Familie Dvořák in den zeitlichen, durch Verweis auf Ereignisse, Verwendung zeitgenössischer Fakten, Kommentare usw. konstruierten, Kontext. Diese authentisierenden Elemente verstärken die Illusion einer realen Handlung in der Vergangenheit, eine Art Rekonstruktion, und unterdrücken den Konstrukt-Charakter der Serie bzw. der Figuren und der Handlung. Das Vermarktungsattribut „Retro“, das das Tschechische Fernsehen zur Einführung der Serie benutzte, spielt dieser Illusion in die Hände. Unterdrückt wird letztlich auch die Subjektivität der Auswahl und der Zusammenstellung des zeitgenössischen Materials. Schauen wir uns als 11 charakteristisches Beispiel einmal den Zusammenschnitt zeitgenössischen Materials zu einer Folge an, deren Handlung im Jahre 1985 spielt und die den Namen Spartakiáda (Spartakiade) trägt. Es handelt sich um einen Rückblick auf diese Ereignisse, eingeführt mittels eines Fragments aus der Eröffnungssequenz der Nachrichtensendung des damaligen Československá televize (Tschechosowakisches Fernsehen) mit der Bezeichnung Televizní noviny (Fernsehzeitung): 1. Tragödie im Fußballstadion von Brüssel 2. Information darüber, dass Angehörige der Staatssicherheit unter Mitwirkung von Bürgern einen Schwerverbrecher in Prag festgenommen haben 3. Treffen von M. Gorbačov und R. Reagan in Genf 4. Modell des Žižkover Fernsehturms in Prag und des Sendemastes, der auf diesem installiert wird. (Staffel III, Folge 21, 2:32-4:30) Die ersten beiden Nachrichten beziehen sich direkt auf das Hauptthema der Folge – also auf das Thema Sport und Spartakiaden. Diese Vorgehensweise, die dazu führt, dass authentisches Material in Form zeitgenössischer Zitate praktisch zum Handlungsrahmen der betreffenden Folge wird, ist eines der Grundprinzipien der Dramaturgie der Serie. Die Serie Vyprávěj arbeitet also faktisch mit der aktuellen Form des historischen Bewusstseins aus der ersten Dekade des 21. Jahrhunderts, als handelte es sich – wenn auch mit einer, durch die Ausdrucksmittel des Fernsehens vorgegebenen, Kreativ-Lizenz – um eine faktische Rekonstruktion der Vergangenheit. Schon deshalb lässt sich die Serie nur schwer als Beitrag zum besseren Kennenlernen der Vergangenheit verstehen, sondern ist eher Gegenstand kritischen Interesses der Medienerziehung: Sie kann als Beleg der Stereotypisierung, als Beispiel für die Überzeugungskraft von Konkretisierung und Visualisierung als Authentisierungsverfahren oder zur Analyse der Logik von TVProduktionen dienen. Bei Einführung der Serie kam es zu einem Konflikt wegen der Autorenrechte zwischen Česká televize (bzw. der Produktionsfirma Dramedy Production, die die Serie fürs ČT drehte) und der spanischen Firma Grupo Ganga, die eine ähnliche Serie unter dem Namen Cuéntame cómo pasó (übersetzt Erzähl, wie es war) ausstrahlte, da beide Serien unverkennbare Ähnlichkeiten aufwiesen (siehe Nekola 2009). Auch wenn das Problem – trotz der beachtlichen Aufmerksamkeit, die beide Werke erregten – ohne rechtliche Folgen beigelegt wurde, war die Verbindung zwischen der tschechischen und der spanischen Serie für unsere Auslegung wichtig: Es zeigte die Vergleichbarkeit der Reflexion dieser Fernsehproduktionen in der Tschechischen Republik und in Spanien 12 bezüglich ihres pädagogischen Potenzials auf. Die Serie Cuéntame cómo pasó zählt Neus Claverol, Mitglied des Zentrums für Kommunikation und Pädagogik an der Universität Barcelona, zu den Fernsehproduktionen, die im Unterricht verwendet werden können, da sie „einen spezifischen Mikrokosmos in einem längeren Zeitraum visualisieren“ (ohne Daten verfügbar unter http://www.centrocp.com/las-series-televisivas-comomaterial-didactico/ [zit. 16. 7. 2013]. Das Problem des kritischen Herangehens an die Stärkung der medial dominierten Vergangenheitskonstruktion mit Authentisierungsmitteln thematisiert er nicht. Die erzählende Serie První republika (ausgestrahlt im Frühjahr 2014, 22 Folgen) behandelt in ihrer Handlung den Zeitraum von der Entstehung des tschechoslowakischen Staates im Jahre 1918 bis zum Ende des Zweiten Weltkrieges im Jahre 1945 und dreht sich, ähnlich wie Vyprávěj, um das Schicksal einer Familie – in diesem Falle der Familie Valenta. Parallel mit dem Schicksal dieser Familie wird das Seriengeschehen vom Bemühen begleitet, den Verursacher des tragischen Schicksals der Familie Lébl bloßzustellen, die durch eine Ehe mit den Valentas verbunden ist. Die Lébls, von denen man annahm, dass sie vor dem Krieg in die USA emigrierten, um der Strafverfolgung zu entgehen, wurden in Wirklichkeit ermordet. Eine der Hauptfiguren der Serie, Vladimír Valenta, will um jeden Preis herausfinden, wie das tatsächliche Schicksal der Lébls aussah (er wird für einige Zeit selbst verdächtigt). Die Schicksale einzelner Figuren, vor allem der Mitglieder der Familie Valenta, beschränken sich einerseits auf Liebesbeziehungen und die Beschäftigung mit den Folgen früherer Liebesbeziehungen und andererseits mit dem Bemühen, in der neu entstandenen Tschechoslowakischen Republik (nicht immer auf ehrliche Art) seinen Lebensunterhalt zu verdienen, und zwar vor allem als kleiner und mittlerer Unternehmer. In das Schicksal der Figuren werden zeitgenössische Fakten (Nachkriegsarmut, Folgen des Wuchers einer der Figuren, Epidemie der Spanischen Grippe 1918-1919, Währungsreform usw.), und Erinnerungen an den zeitgenössischen Kontext projiziert, ganz zu schweigen von ihrem Potenzial Geschichte zu schreiben, aber sie werden allmählich schwächer, und die Handlung konzentriert sich letztlich vor allem auf die Fahndung nach dem Mörder der Lébls. Es handelt sich um eine erzählende Kostümserie, die auf eine Typisierung der Figuren und ihrer Schicksale abzielt. Die Handlung der Serie ist in ein konkretes Umfeld eingefügt (Prager Villenviertel Podolí), in ihr werden Zitate aus der zeitgenössischen Presse verwendet. Im Unterschied zur „Retroserie“ Vyprávěj ist První republika reine Fiktion, die ausschließlich einige ausgewählte Fakten aus damaliger Zeit für eine größere Wirklichkeitsnähe der Handlung verwendet, jedoch in jeder 13 Hinsicht den Geist einer traditionellen, realistischen Erzählung mit fiktiven Charakteren aufweist und dem Genre „Beziehungsserie“ nahesteht. Dies wird auch durch die sehr unterschiedliche Art der Benennung einzelner Folgen belegt: Zeitgenössische Fakten tauchen darin nur ausnahmsweise auf (4. Folge Španělská chřipka (Spanische Grippe), in gewissem Maße die 8. Folge Andělíčkář, die mit den Folgen der Tatsache arbeitet, dass in der Tschechoslowakei der Zwischenkriegszeit Abtreibungen verboten waren), die Betonung liegt auf dem Schicksal der Hauptfiguren (1. Folge, Ztracený syn (Verlorener Sohn), 2. Folge Lhář prolhaná (Verlogener Lügner), 6. Folge Láska je utrpením (Liebe ist Leiden) usw.). Die Serie ist also faktisch Ausdruck des Zustands des derzeitigen historischen Bewusstseins und lässt sich als Quelle für das Kennenlernen des historischen Bewusstseins begreifen (ohne Rücksicht darauf, ob es sich um ein künstlerisch gelungenes Werk handelt – was im Falle der Serie První republika ganz sicher nicht der Fall ist). Aleš Haman merkt in seiner Auslegung tschechischer historischer Prosa in ähnlicher Weise an: „Ein historischer Roman muss also den Leser auch dahin führen, dass er sich verdeutlicht, wie der Zustand des historischen Bewusstseins und der damit zusammenhängenden Werte ist, die den gesellschaftlichen Kulturhorizont in verschiedenen historischen Situationen bilden. Die Stellung dieses Genres im aktuellen Literaturmodell sagt deshalb nicht nur etwas über künstlerische Werte aus, sondern auch über die gesamte kulturell-axiologische Situation der Gesellschaft, die sich aus dem Zustand ihres historischen Bewusstseins ergibt.“ (Haman 2007). Die Serie První republika ließe sich dazu verwenden, den aktuellen Zustand des historischen Bewusstseins über die Tschechoslowakei der Jahre 1918-1945 so kennenzulernen, wie es zum Ende der ersten Dekade des 21. Jahrhunderts aussah. Schlussfolgerung Retroserie und erzählende Familiensaga sind zwei unterschiedliche Typen medialer Produkte. Sie werden durch das historische Geschehen verbunden, das es ermöglicht, in ihnen mythologisierende Darstellungen zu suchen, die das soziale Gedächtnis stimulieren, und durch Überschneidungen des dargestellten historischen Geschehens, was die Identifikation von Interpretationsstereotypen ermöglicht. Die mediale Vergangenheitsinterpretation, insbesondere durchs Fernsehen ist (vor allem kraft der Erzählung und Bilder bzw. Konkretisierung und Visualisierung) ein sehr bedeutender Konstituierungsfaktor des historischen Gedächtnisses: Medien bieten eine autoritative und zugleich visuell und erzählerisch konkretisierte Version des Blicks auf die Vergangenheit. Konkurrierende Vergangenheitsinterpretationen 14 (Historiografie und ihre didaktisch aufgearbeitete Form im Geschichtsunterricht, aber auch innerhalb der Familie tradierte Erinnerungen) werden von dieser „medialen Geschichte“ unweigerlich beeinflusst. In Wirklichkeit sind beide Serien vor allem eine Quelle zum Kennenlernen des Zustands des historischen Bewusstseins zu der Zeit, als sie ihre Produktion vorbereitet und sie gedreht wurden. In diesem Sinne sind gibt es mehr Aussagen über die Zeit ihrer Entstehung als über die Zeit, in die ihre Handlung gesetzt ist – diese Tatsache heben sie in keiner Weise hervor und die Serie Vyprávěj unterdrückt sie sogar durch Betonung authentisierender Ausdrucksmittel. Historisierende Serien sollten daher vor allem Gegenstand des Interesses medialer Erziehung und zugleich Illustrationsmaterial sein, das belegt, wie sich an medialen Produktionen charakteristische Merkmale ihrer Entstehungszeit entdecken lassen, einschließlich des Zustands des historischen Bewusstseins. Literaturverzeichnis: ANDRESON, Benedict (2006): Imagined Communities. Reflections on the Origin and Stread of Nationalism. NewYork: Verso BENEŠ, Z. (2010): Mezi dějinami, dějepisectvím a pamětí. In: ŠUBRT, Jiří (ed.): Historické vědomí jako předmět badatelského zájmu: teorie a výzkum, s. 11-20. BENEŠ, Z., KURAL, V. a kol. (2002): Rozumět dějinám. Vývoj česko-německých vztahů na našem území v letech 1848-1948. Praha: Gallery. BERGER, P. L., LUCKMANN, T. (1999): Sociální konstrukce reality. Brno: CDK ČORNEJ, P. (1995): Lipanské ozvěny. Jinočany: H & H. CURRAN, James (2002): Media and Power. London. New York: Routledge HROCH, M. 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