Stellungnahme SGIM: Ausführliche Version

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Stellungnahme der SGIM – Langfassung
Herausforderungen bei der Versorgung Jugendlicher in der Schweiz: ein auf die
Gesundheitsförderung gestützter Ansatz für eine gesunde Entwicklung
Anne Meynard, Dagmar M Haller-Hester, Françoise Narring, Jean-Michel Gaspoz
Dr. Anne Meynard
Oberärztin, Unité Santé Jeunes, Département de l’Enfant et de l’Adolescent et
Département de Médecine Communautaire, de Premier Recours et des Urgences, Hôpitaux
Universitaires de Genève Vizepräsidentin (Region Europa), International Association for Adolescent
Health (IAAH)
Dr. Dagmar Haller
Dozentin, Unité de Médecine de Premier Recours, Faculté de Médecine, Université de Genève
Oberärztin, Unité Santé Jeunes, Département de Médecine Communautaire, de Premier Recours et
des Urgences, Hôpitaux Universitaires de Genève
Vizepräsidentin, Schweizerische Gesellschaft für die Gesundheit Adoleszenter (SGGA-ASSA)
Dr. Françoise Narring
Oberärztin, Dozentin und Abteilungsleiterin, Unité Santé Jeunes, Département de l’Enfant et de
l’Adolescent et Département de Médecine Communautaire, de Premier Recours et des Urgences,
Hôpitaux Universitaires de Genève
Prof. Jean-Michel Gaspoz
Chefarzt, Service de Médecine de Premier Recours, Département de Médecine Communautaire, de
Premier Recours et des Urgences, Hôpitaux Universitaires de Genève
Präsident, Schweizerische Gesellschaft für Innere Medizin
Die Schweizerische Gesellschaft für die Gesundheit Adoleszenter (zu Deutsch: SGGA-ASSA) hat am
8. Juli 2014 eine Stellungnahme hinsichtlich der Altersgrenze für kinder- und jugendmedizinische
Dienste veröffentlicht, welche auf der Website der SGGA (www.sgga-assa.ch) eingesehen werden
kann.
Dieser Artikel fasst die darin aufgeführten Argumente zusammen und bringt umfassendere
Überlegungen bezüglich der Betreuung Jugendlicher und der Herausforderungen des Übergangs von
der kinderärztlichen Versorgung zur Gesundheitsversorgung Erwachsener in der Schweiz auf Basis
der aktuellen Forschung auf dem Gebiet der jugendlichen Entwicklung ein.
Ausgewählte Fallbeispiele:
Ein sechzehneinhalb Jahre altes Mädchen, welches notfallmässig in eine Abteilung für Innere Medizin
eingeliefert wurde benötigt dringend eine Behandlung: hat es das Recht, der Behandlung allein
zuzustimmen und wie kann man sich vergewissern, dass es die Prozedur auch richtig versteht?
Ein fünfzehn Jahre alter Junge leidet an schwerem Asthma. Dies bereitet seinen Eltern wesentlich
grössere Sorgen als ihm: wann wäre ein guter Zeitpunkt, um ihn an ein pneumologisches Zentrum für
Erwachsene zu überweisen?
Ein siebzehnjähriges Mädchen erkrankt am systemischen Lupus erythematodes und wird von einer
immunologischen Abteilung für Erwachsene betreut. Sie nimmt ihre Medikamente nur sehr
unregelmässig ein, verpasst Termine und der Assistenzarzt bekommt einen Anruf von der
Krankenschwester ihrer Schule, da sie oft fehlt und möglicherweise nicht versetzt wird. Wie können
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diese Probleme mit ihr besprochen werden und welche Rolle spielt das Behandlungsteam bei Fragen
bezüglich der Berufsausbildung junger Menschen mit chronischen Krankheiten?
Die aktuelle Situation in der Schweiz:
Momentan ist der Zugang junger Menschen zu Gesundheitsdiensten in Spitälern (ambulant oder
stationär) meist nach Alter geregelt: Notfallbehandlungen und die spezialisierte
Gesundheitsversorgung von Kindern und Jugendlichen unter sechzehn Jahren erfolgen im Rahmen
der kinderärztlichen Versorgung, die von Jugendlichen über sechzehn Jahren im Rahmen der
Versorgung Erwachsener. Es gibt jedoch Ausnahmen. So kann die Versorgung chronisch kranker
Jugendlicher oder bei bestimmten, in der Kinder- und Jugendmedizin seltenen Erkrankungen bis zum
achtzehnten Lebensjahr oder darüber verlängert werden, ebenso wie die psychiatrische Betreuung
Jugendlicher, auch wenn hierzu keine formellen Empfehlungen zur Verfügung stehen.
Niedergelassene Ärzte haben bezüglich der ambulanten Versorgung mehr Spielraum.
Wie sind diese Altersgrenzen definiert?
Seit ihrer Deklaration im Jahr 1989 gilt in der Charta der Rechte des Kindes ein Alter von achtzehn
Jahren als die maximale Altersgrenze bei der Definition des Begriffs „Kind“. Aus rechtlicher Sicht
besteht kein Grund, eine Altersgrenze von sechzehn Jahren für die kinder- und jugendmedizinische
Betreuung festzulegen (persönliche Korrespondenz, Prof. Valérie Junod, Rechtswissenschaftliche
Fakultät, Universität Genf). Es sei darauf hingewiesen, dass die Altersgrenzen für den Zugang zu
bestimmten medizinischen Diensten in der Schweiz und in anderen Ländern stark variieren (diese
betreffen unter anderem den Zugang zum Gesundheitswesen, die sexuelle Mündigkeit, die
Einwilligungsfähigkeit und das Urteilsvermögen), und dass diesbezüglich kein Konsens besteht.
Einwilligungsfähigkeit und Urteilsvermögen basieren auf einer umfassenden Bewertung des
individuellen Reifegrades und Gesundheitsverständnisses der Jugendlichen (einschließlich der Art der
vorzunehmenden Behandlung) [1, 2].
Bei minderjährigen aber urteilsfähigen Patienten sind Ärzte und Pflegepersonal in der Schweiz dazu
verpflichtet, die ärztliche Schweigepflicht zu wahren, unabhängig vom Alter des Patienten. Im
Allgemeinen ist eine Entbindung von der ärztlichen Schweigepflicht lediglich bei einer
schwerwiegenden Gefährdung des Lebens der Minderjährigen oder anderer möglich. Dies stellt Ärzte
und Pflegepersonal manchmal vor schwierige Entscheidungen. Dagegen können Minderjährige,
welche vollständige Vertraulichkeit wünschen Schwierigkeiten bei der Übernahme der Pflegekosten
durch ihre Versicherung bekommen, da diese Informationen an ihre Eltern weiterleiten könnte [3].
Wir gehen davon aus, dass diese auf die Krankenhausversorgung bezogenen Altersgrenzen zu einer
Zeit festgelegt wurden, in der die Adoleszenz mit dem Auftreten der sekundären
Geschlechtsmerkmale, was in der Regel auch dem Alter der sexuellen Mündigkeit und dem Ende der
Schulpflicht entspricht, als beendet angesehen wurde. Aufgrund aktueller Forschungsergebnisse
bezüglich der jugendlichen Entwicklung und der Schwierigkeiten, denen viele chronisch kranke
Jugendliche und ihre Familien in der Übergangsphase begegnen, empfiehlt die American Academy of
Pediatrics in den USA, gemäss der Stellungnahme der SGGA, den Verantwortungsbereich der Kinderund Jugendmedizin bis zum 21. Lebensjahr auszuweiten.
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Warum ist es nötig, diese Altersgrenzen zu hinterfragen?
Fortschritte in der Medizin ermöglichen eine ständige Verbesserung der Gesundheit von Kindern und
Jugendlichen (z.B. durch die Verbesserung der Gesundheit von Mutter und Kind während der
Schwangerschaft, verbesserte Impfprogramme, Ernährung, Prävention, etc.) und junge Menschen mit
seltenen oder chronischen Krankheiten erreichen dank ihnen das Erwachsenenalter. Aktuelle
Untersuchungen von Morbidität und Mortalität unter Jugendlichen und jungen Erwachsenen zeigen,
dass die Altersgruppe der 15- bis 24-Jährigen trotz der deutlichen Verbesserung der Gesundheit von
Kindern und Jugendlichen im Laufe des letzten Jahrhunderts (in Ländern mit hohem Einkommen)
aufgrund ihrer im Vergleich zu Kindern und jüngeren Jugendlichen deutlich erhöhten Mortalität und
Morbidität weiterhin besonders gefährdet ist.[4, 5] Gesundheitsschädliche Verhaltensweisen und
Angewohnheiten beginnen häufig in diesem Alter. Jugendliche und junge Erwachsene gehören zu den
ersten Opfern ungünstiger sozioökonomischer Bedingungen und Gewalt, welche, besonders bei den
Schwächsten, die Gesundheit kurz-, mittel- und langfristig beeinträchtigen. Misshandlungen, prekäre
Verhältnisse, körperliche oder geistige Behinderungen, chronische körperliche oder psychische
Krankheiten und gesundheitliche Probleme der Eltern haben erhebliche Auswirkungen auf die
Kindesentwicklung.
Um diesen Problemen begegnen zu können, benötigen die medizinischen Gesellschaften einen
fundierten konzeptuellen Rahmen - eine unverzichtbare Voraussetzung für die Gewährleistung einer
gerechten Gesundheitspolitik auch für die jungen Menschen unserer hauptsächlich mit dem
demographischen Wandel und der Versorgung chronisch kranker Erwachsener beschäftigten
Gesellschaft. Dies betrifft sowohl den Übergang zwischen den verschiedenen Arten der Versorgung in
unseren Spitälern als auch den Zugang zu einer hochwertigen Versorgung durch in diesem Bereich
gut ausgebildete Gesundheitsfachkräfte und aufeinander abgestimmte Präventionsmassnahmen
(schulische, kommunale und öffentliche Gesundheitsdienste) für Jugendliche und deren Familien[6].
Ein neuer Ansatz zur Förderung der Gesundheit und gesunden Entwicklung Jugendlicher und
junger Erwachsener:
Die Weltgesundheitsorganisation (WHO) schlägt aus den im Folgenden aufgeführten Gründen vor, die
Adoleszenz als den Zeitraum zwischen dem 10. und dem 19. Lebensjahr zu definieren. Menschen im
Alter von 20 bis 24 Jahren gelten nach dieser Klassifikation als junge Erwachsene.
Wie oben bereits erwähnt sind Morbidität und Mortalität in diesen beiden Altersgruppen hauptsächlich
auf vermeidbaren Ursachen zurückführen, z.B. Unfälle, Suizid, Infektionskrankheiten, Fehlernährung
(Mangel- oder Überernährung) oder Probleme im Zusammenhang mit der sexuellen und reproduktiven
sowie der psychischen Gesundheit. Aktuelle Forschungsergebnisse der Entwicklungsphysiologie und psychologie zeigen, dass es sich bei dem Zeitraum zwischen 16 und ungefähr 25 Jahren um einen
entscheidenden Lebensabschnitt handelt, nicht nur hinsichtlich der sexuellen und körperlichen
Reifung, sondern auch in Bezug auf Veränderungen des Gehirns sowie der kognitiven, emotionalen
und sozialen Entwicklung.
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Die WHO legt Berichte über die gegenwärtige Situation und erforderliche Verbesserungen bei der
medizinischen Versorgung dieser Altersgruppe vor, sowohl in Bezug auf die Gesundheitspolitik als
auch auf die Ausbildung von Gesundheitsfachkräften[7].
Es muss jedoch darauf hingewiesen werden, dass jeder Mensch anders ist und die Entwicklung nicht
einheitlich verläuft. Die Begleitung in die Selbstständigkeit seitens der Eltern ist individuell und nicht
vom Alter abhängig. Ein körperlich sehr reifer und älter aussehender junger Mensch kann sich in
seiner emotionalen und sozialen Entwicklung als weniger reif erweisen und umgekehrt. Im Alter
zwischen 10 und 25 Jahren unterläuft das Gehirn einen schrittweisen Umgestaltungsprozess. Die
Fähigkeit zur Mentalisierung und Planung sowie die Fähigkeit, Emotionen zu kontrollieren werden
nach und nach erworben. Die Möglichkeiten zur Förderung der gesunden Entwicklung Jugendlicher
(z.B. vertrauensvolle Beziehungen etablieren oder zum Lernen anregen) sind daher umso wichtiger,
wenn in der Kindheit Defizite vorlagen, da bei diesen Altersgruppen ein erhebliches therapeutisches
Potential besteht.
Bezüglich der am Anfang dieses Artikels aufgeführten Beispiele wollen wir auf folgende Fragen näher
eingehen:
Vielleicht hätte es sich herausgestellt, dass der fünfzehn Jahre alte Junge, welcher gemäss seiner
Entwicklungsstufe in einer pneumologischen Abteilung für Kinder und Jugendliche behandelt wurde
besser in der Lage ist, mit seiner Krankheit umzugehen als das emotional noch sehr unreife siebzehn
Jahre alte Mädchen, das im Rahmen der Versorgung Erwachsener betreut wurde, welche auf
Situationen dieser Art nicht vorbereitet ist. Beide könnten sich auch über die Behandlung ihrer
chronischen Krankheit im Klaren sein und trotzdem aufgrund ihres Entwicklungsstadiums oder ihrer
familiären Situation auf Schwierigkeiten stoßen, welche von Ärzten und Pflegepersonal nicht
berücksichtigt werden (psychische Verfassung, Essstörungen, Identitätsfragen, erste sexuelle
Erfahrungen, Suchtmittel...) aber dennoch einen erheblichen Einfluss auf ihre Krankheit oder
Behandlung haben können.
Eine Schulverweigerung seitens junger chronisch Kranker ist nicht immer ausschliesslich
krankheitsbedingt. Sie zeigen oft das gleiche Verhalten wie gesunde Jugendliche und es ist
unerlässlich, dass alles daran gesetzt wird, dass die Jugendlichen und jungen Erwachsenen ihr
Potential voll ausschöpfen können.
Implikationen für die Praxis
Der Zusammenschluss der Fachgesellschaften der Allgemeinmediziner, der Internisten und der
Pädiater zum Berufsverband der Haus- und Kinderärztinnen Schweiz und die Förderung einer
besseren Zusammenarbeit mit Angehörigen anderer Gesundheitsberufe sind eine vielversprechende
Grundlage, um die Kontinuität einer flexiblen Versorgung von Kindern und Erwachsenen zu
gewährleisten:
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
Spitäler oder medizinische Dienste für Kinder und Jugendliche und Erwachsene mit
geeigneten Übergangsprogrammen und einer auf Jugendliche und junge Erwachsene
abgestimmten medizinischen Betreuung, welche nicht nur die Krankheit, sondern auch die
Entwicklung und die Bedürfnisse der Jugendlichen und ihrer Familien berücksichtigt [8]

Spitäler oder medizinische Dienste, deren Strukturen den hospitalisierten Jugendlichen die
Weiterführung ihrer Schulbildung ermöglichen (Kontakt zu schulischen Gesundheitsdiensten
und Lehrern, Arbeitsplätze, Kontakt mit der Klasse oder dem beruflichen und sozialen
Umfeld...)

Notfall- und ambulante Dienste: Koordinierung zwischen den verschiedenen Fachleuten und
vernetztes Arbeiten

Investitionen in eine kohärente Ausbildung (Aus-, Weiter- und Fortbildung) von
Gesundheitspersonal

in diesem Fachgebiet [9]
Bibliographie:
1.
2.
3.
4.
5.
6.
7.
8.
9.
Michaud, P.A., et al., Assessing an Adolescent's Capacity for Autonomous Decision-Making in
Clinical Care? J Adolesc Health, 2015.57(4):p. 361-366
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capacity? A sensitive issue for the doctor]. Rev Med Suisse, 2013. 9(374): p. 415-6, 418-9.
Junod, V., Les adolescents ont droit au secret médical. Bulletin des médecins suisses, 2015.
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Patton, G.C., et al., Global patterns of mortality in young people: a systematic analysis of
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Meynard A, H.D., Rôle du médecin de famille dans la promotion de la santé des adolescents:
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Meynard, A., et al., The health of Swiss adolescents and its implications for training of health
professionals in Switzerland. Int J Adolesc Med Health, 2015. 2015 Jun 30. doi:
10.1515/ijamh-2016-5019. [Epub ahead of print]
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