Heidi Witzig Care-Arbeit gestern - heute - morgen Alle Menschen sind auf die Fürsorge durch andere angewiesen – nicht nur am Anfang und am Ende des Lebens. Historische Entwicklung Grundlegend für unsere europäische Kultur und Gesellschaft war das Ideal der geschlechtsspezifisch getrennten Arbeit. In der jahrhundertelangen Propaganda der Herren Pfarrer wie später der Herren Ärzte galt die strikte Unterscheidung zwischen männlicher und weiblicher Arbeit als fundamental. Arbeit galt einerseits als heldenhaftes Streben und Konkurrenzieren von männlichen Individuen, dominiert von ihrer spezifischen Rationalität. Diese Tätigkeiten sollten definiert, und je nach ihrer Leistung hierarchisch entlohnt werden. Andererseits wurde Arbeit gedeutet als kollektives Tun von Frauen. Deren Arbeiten sollten den angeblich typisch weiblichen Dispositionen wie Hingabe und Irrationalität entsprechen, sie sollten die Bejahung des weiblichen Daseins für Ehemann und Familie ausdrücken. Diese Arbeiten galten als unqualifizierbar, unschätzbar und somit nicht entlohnbar. Entgegen dieser Propaganda lebten und arbeiteten Menschen jahrhundertelang im Rahmen des „Ganzen Hauses“, wo gemeinsam produziert und gelebt wurde und wo die Erfahrung dominierte, dass alle auch ökonomisch existentiell aufeinander angewiesen waren. Erst im 19. Jhdt. setzte sich das Ideal der geschlechtsspezifischen Arbeitsteilung in der Realität langsam durch, zuerst in der Mittel- und Oberschicht. Der erfolgreiche Ehemann verdiente nun auf dem männlich konnotierten Arbeitsmarkt genug Geld für die ganze Familie. Die Arbeiten der Ehefrau, Hausfrau und Mutter galten nun als „Arbeit aus Liebe“, mit den erwähnten Merkmalen. Das Aufziehen von Kindern und die Pflege alter und gebrechlicher Menschen, also Care, gehörten zu den Pflichten aller Familien, mit Unterstützung durch die Verwandtschaft. Diese bildeten das so genannte Erste Soziale Netz. Die Betreuung alter Verwandter fiel weniger ins Gewicht, betrug doch die mittlere Lebenserwartung noch um 1900 53 Jahre für Männer und 59 Jahre für Frauen. Doch auf Grund der harten Lebensbedingungen waren viele „Alte“ so gebrechlich, dass sie in den letzten Jahren auf die Unterstützung der Familie angewiesen waren. Das Aufziehen kleiner Kinder hingegen beanspruchte hauptsächlich in wohlhabenden Familien immer mehr Zeit: Die Erziehung als Formung der Kinder zu „richtigen“ jungen Frauen und Männern wurde zentral. Die gemeinnützige Arbeit ausser Haus basierte auf dem freiwilligen Engagement begüterter Töchter vor der Heirat einerseits, und dem freiwilligen Engagement von Frauen und Männern innerhalb der Kirchgemeinden oder der gemeinnützigen Gesellschaften anderseits. Das so genannte Zweite Soziale Netz war in der Schweiz stark ausgebildet; Freiwilligenarbeit galt für Frauen und 1 Männer wohlhabender Kreise als gesellschaftliches „Muss“. Die Schweizerische Gemeinnützige Gesellschaft SGG, bestehend aus Vertretern des engagierten Bürgertums und einer Tochtergesellschaft, welche die entsprechenden Frauen organisierte (SGF), war eine der ältesten und einflussreichsten Organisationen in diesem Bereich. Das Spektrum der bezahlten Frauenberufe wurde dem Ideal der „Liebesarbeit“ möglichst klar zugeordnet: Mädchen-, Tochter- Gotten- und Fräuleinberufe (Haushalt, Gastgewerbe, Krankenpflege, Schule, Büro usw.) wiesen auf den familiengebundenen und provisorischen Charakter dieser Berufe hin, die mit minimaler Ausbildung und entsprechendem Lohn die Zeit überbrücken sollten bis zum natürlichen Ziel jeder Frau, nämlich Heirat und Familiengründung. Die entstehenden Care-Berufe in Pflege und Betreuung gehörten ebenfalls zum abgewerteten Sektor des „typisch weiblichen“ Arbeitens aus Liebe, insbesondere bei Krankenschwestern und Kindergartengotten. Die Professionalisierung der Care-Berufe und ihre Gleichstellung mit „Männerberufen“ bezüglich Ausbildung, Prestige und Entlohnung war ein jahrzehntelanger Prozess. Die Integration in die Fachhochschulen und die Anerkennung durch das BWA (früher: Biga) wurde auch gegen den erbitterten Widerstand der betroffenen privaten und halbprivaten Frauenschulen erst in den letzten 10-20 Jahren durchgesetzt. Auf Grund der starken Verankerung des Zweiten Sozialen Netzes wurden gesetzlich garantierte Sozialrechte relativ spät eingeführt; sie bilden das so genannte Dritte Soziale Netz. Die 1947 in Kraft getretene AHV war gebunden an das Ernährermodell, das heisst, der klassische männliche Arbeitnehmer erarbeitete sich eine Altersrente, und seine Ehefrau war ihm „angehängt“. Die 2. Säule wurde erst 1985 obligarorisch. Obligatorien weiterer staatlicher Versicherungen gegen Risiken wie Krankheit, Unfall oder Arbeitslosigkeit liessen ebenfalls lange auf sich warten. (IV 1960, Arbeitslosenversicherung 1977, UVG 1984, KVG 1996). Care im Neoliberalismus Im Neoliberalismus ab den 1990er Jahren galt die Devise, der Staat habe lediglich die Aufgabe, der Wirtschaft optimale Bedingungen zu garantieren, und zwar im globalen Rahmen. Gesellschaftliche und soziale Rahmenbedingungen würden sich dann automatisch einpendeln. Das ökonomische Denken stiess in sämtliche Bereiche menschlichen Handelns vor. Es wurde und wird bis heute systematischer Raubbau betrieben an unseren materialen und soziallebensweltlichen Grundlagen. Auch der Rückzug des Sozialstaats war und ist ein Aspekt der neoliberalen Regierungspraxis. Es findet eine regelrechte Ausblutung statt: Die Kosten der staatlichen Angebote in Pflege und Betreuung gerieten und geraten unter Druck: verschlechterte Bedingungen in der Pflege, Zeitdruck in den Spitälern und Krankenheimen, Diskussionen um die Finanzierbarkeit des hohen Alters prägen die heutigen Auseinandersetzungen. Parallel zu den transnationalen Wertschöpfungsketten der globalisierten Industrie (z.B. Billigproduktion in asiatischen Ländern) entstanden transnationale Sorgeketten (Care-Chain, Care-Drain), wo hauptsächlich Frauen aus armen Ländern zu ausbeuterischen Bedingungen in reichen Ländern private Care-Arbeit 2 verrichten. Parallel zu diesem globalen Nord-Süd-Gefälle etablierte und etabliert sich innerhalb der reichen Länder ein Reich-Arm-Gefälle: Care-Markets und Care-Industries bieten ein ausdifferenziertes Angebot für Wohlhabende. Die Situation heute Seit den Erschütterungen der Weltwirtschaft durch die Bankenkrisen erhebt sich der zivilgesellschaftliche Protest; der Widerstand gegen die neoliberale Wirtschafts- und Gesellschaftsordnung hat sich global formiert. Der Vorrang der Ökonomie gegenüber allen anderen Kriterien des politischen Handelns und des sozialen Zusammenlebens wird vehement bestritten. In dieser Auseinandersetzung setzt sich „Care“ als zentrale Kategorie durch. Die Diskussionen um Care – in seinen vielfältigsten Bedeutungen und Erscheinungsformen – werden heute hauptsächlich von engagierten Frauen, teilweise auch Männern, an Universitäten, Fachhochschulen, Berufsinstitutionen und auf allen politischen Ebenen geführt. Die Diskussionen um Care umfassen heute verschiedene gesellschaftliche Ebenen mit verschiedenen Perspektiven: Verankerung von Care als BürgerInnen- und Menschenrecht auf verschiedenen Ebenen des Rechts (skandinavisches Modell): Care erhalten und Care geben soll grundlegendes Kriterium sein bei Diskussionen, wie Mitwirkungsrechte von Bürgerinnen und Bürgern auszugestalten sind. Politische Initiativen zur Formulierung von Sozialrechten unter Einbezug von Care auf nationaler und transnationaler Ebene finden wieder Akzeptanz. Sie sind formuliert, beispielsweise in der EU, und teilweise in den nationalen Sozialgesetzgebungen verankert. Diese Auseinandersetzungen sind noch immer im Gang; bei der ILO z.B. ist Care als Erwerbsarbeit anderen Tätigkeiten noch nicht gleichgestellt. Zumindest tritt das Übereinkommen 189 „Menschenwürdige Arbeit für Hausangestellte“ im November dieses Jahres in Kraft. Die Umsetzung wird von verschiedenen Organisationen genau beobachtet. Die Frage nach der Professionalisierung von Care-Arbeiten und der Garantie von Mindeststandards für alle Arbeitenden kann nur durch verschiedene Strategien an den diversen „Baustellen“ gelöst werden (Ute Gerhard). Die grossmütterRevolution (www.grossmuetter.ch) hat in der 2015 erschienenen Studie „Care-Arbeit unter Druck – Ein gutes Leben für Hochaltrige braucht Raum“ – die Argumente für die Würdigung von Care-Arbeit für das hohe Alter zusammengefasst und setzt als zivilgesellschaftliche Lobby in der Schweiz politisch Druck auf. Sie verlangt: Zurücknahme der Trennung von Pflege und Betreuung in der Pflegefinanzierung; Sicherung der Ergänzungsleistungen in der Revision von 2015; in der Ambulanten Pflege soll die soziale und hauswirtschaftliche Unterstützung finanziert werden; Schaffung von Anreizsystemen für die professionelle Langzeitpflege; Regularisierung der ausländischen Care-Arbeiterinnen. Perspektiven Care als revolutionäre gesellschaftliche Utopie: Der in unserer Kultur fundamentale Dualismus zwischen produktiver gleich männlicher und reproduktiver gleich weiblicher 3 Arbeit wird aufgehoben. Als Gegenentwurf zu jedem dualistischen Modell wird das Lebenssorge-Regime propagiert. Das Menschenbild ist reziprok, das heisst, dass die Anerkennung der existenziellen gegenseitigen Abhängigkeit nicht nur die Phasen von Kindheit und Alter umfasst, sondern das gesamte Leben aller Frauen und Männer von Geburt bis zum Tod. Es kann also nicht mehr klar unterschieden werden zwischen aktivem Subjekt und passivem Objekt, wir sind stets beides; wir können ohne zwischenmenschliche Beziehungen, ohne permanentes Geben und Empfangen, schlicht nicht überleben. In der so genannten Vorsorge-Gesellschaft werden auch Ökonomie, Ökologie und Soziales zusammengedacht: Auch das Verhältnis Mensch-Natur beruht auf Anerkennung der gegenseitigen Abhängigkeit. Das Zeitverständnis ist zyklisch, das heisst die Endlichkeit und Ungewissheit jedes Lebens wird anerkannt (Cornelia Klinger, Ina Praetorius). Prof. Annegret Wigger formuliert in ihren Schlussbetrachtungen folgende „Herausforderungen“ durch die neoliberale Ökonomisierung unserer Lebenswelten: Aus individueller Sicht: Anzustreben sind faire Anstellungsbedingungen im privaten Sektor und gesellschaftliche Kontrollen; einkommensabhängige finanzielle Unterstützungen nicht nur für Pflege- sondern auch für Betreuungsleistungen; Diskussion unter den professionell Arbeitenden über mögliche Zusammenarbeiten mit freiwilligen Engagierten. Zu diskutieren: ist der hochpersönliche Anspruch auf individuelle, passgenaue Lösungen nicht auch Teil des neoliberalen Denkmusters? Auf gesellschaftlicher Ebene: Rein ökonomisch stimmt die Vollkostenrechnung nicht: wenn die unbezahlt erbrachten Leistungen angemessen vergütet würden, würde die Geldwirtschaft zusammenbrechen. Diskussion um den Stellenwert von Reproduktion und Produktion: dient unsere gesellschaftliche Reproduktion, also die Care-Arbeit, ausschliesslich der Geldwirtschaft, d.h. der Ökonomie, oder ist es umgekehrt: dient die Ökonomie unserer gesellschaftlichen Reproduktion? Diskussion der Forderung, dass öffentlich erbrachte Betreuungsleistungen weitgehend vor dem Druck der Ökonomisierung geschützt werden sollen. Frage nach den Verantwortlichkeiten – zwischen Staat, Markt, Zivilgesellschaft und Privaten: Ist die Frage des Zusammenlebens regional, national, international Privatsache, Sache des Staates, des Marktes oder der Gesellschaft? o Je mehr Markt im Betreuungsbereich zugelassen wird, umso mehr werden Menschen, die weniger Kaufkraft haben oder denen die Geschäftsfähigkeit (aus verschiedenen Gründen) nicht zugestanden wird, benachteiligt …Wenn existenzielle Güter zur Ware werden, die sich einzelne leisten können und andere nicht … oder mit denen einzelne Gewinne machen dürfen … wird soziale Gerechtigkeit in hohem Masse gefährdet. 4 o Die Massnahmen eines sich demokratisch verstehenden Staates müssten darauf hin befragt werden, ob sie ausreichend sind, um die Grundrechte von Kindern, älteren Menschen, Arbeitnehmerinnen etc. zu gewährleisten. Hier geht es darum unmittelbar politisch aktiv zu sein und sich im Rahmen demokratischer Spielregeln an dieser Aushandlung zu beteiligen. o Was würde ich von der Zivilgesellschaft (Verbände, Parteien, Organisationen etc.) erwarten? Eine gesellschaftspolitische Auseinandersetzung über die Frage zu führen: für was fühlen wir uns als Gesellschaft verantwortlich, welche Art von Zusammenleben, Zusammenhalt wollen wir, wie wichtig ist uns ein würdevolles Leben, das auch dann ermöglicht wird, wenn keine Leistung erbracht wird, die in Geldwerten bemessen werden kann. Die Initiative zum bedingungslosen Grundeinkommen thematisiert solche Fragen. o Interessant ist, dass die Themen der Reproduktion unter den Stichworten Vereinbarkeit von Familie und Beruf, Demographie bzw. Generationenvertrag politisch schon lange diskutiert werden - allerdings fast immer mit Blick auf die Geldwirtschaft und weniger im Sinn von was wären gute Lebensmodelle sondern was sind bezahlbare Modelle. Literatur Die beiden ersten Publikationen enthalten die gesamte Spannbreite der Diskussionen inklusive der einschlägigen Literaturhinweise und Links. Care-Arbeit, hg. Eidgenössisches Büro für die Gleichstellung von Frau und Mann EBG, Bern 2010. Sorgeverhältnisse, hg. Ute Gerhard und Cornelia Klinger. (Feministische Studien 31. Jahrgang, Nov. 2013). Bock, Gisela, Barbara Duden. Arbeit aus Liebe – Liebe als Arbeit. München 1976. Paetorius, Ina. Eine Care-Bewegung entsteht. in: Neue Wege, Beiträge zu Religion und Sozialismus 5, 2014, S. 141-146. Praetorius, Ina: Wirtschaft ist Care, oder: Die Wiederentdeckung des Selbstverständlichen (Heinrich Böll Stiftung, Schriften zu Wirtschaft und Soziales, Band 16), Berlin 2015. Ryter, Elisabeth und Barben, Marie-Louise. Care-Arbeit unter Druck. Ein gutes Leben für Hochaltrige braucht Raum. Hg. von der Manifestgruppe der GrossmütterRevolution, Bern 2015. Hintergrundliteratur zu den Empfehlungen: Annegret Wigger, Nadia Baghdadi, Bettina Brüschweiler (2013) Care-Trends in Privathaushalten: Umverteilen oder Auslagern. In: Schweizerisches Rotes Kreuz (Hrsg.) Who Cares? Pflege und Solidarität in der alternden Gesellschaft. Zürich, Seismoverlag S.82 103 Annegret Wigger, Bettina Brüschweiler (2014) Die Ökonomisierung der Haushaltsarbeit – Mechanismen der Geschlechter(de-)konstruktion und Prekaritätserzeugung. In: Schweizerische Zeitschrift für Soziologie. Vol. 24, Nr. 3 November 2014 (S.429 – 449) Annegret Wigger, Bettina Brüschweiler (2015) Care-Arbeit machen Arme – macht Care-Arbeit arm? In: Caritas Schweiz Sozialalmanach: Lassen wir Familien nicht im Regen stehen 5 www.nfp60.ch 6