MATERIALIEN FÜR DEN UNTERRICHT Materialien für den Unterricht «DAS SCHLOSS» NACH FRANZ KAFKA LIEBE LEHRPERSONEN Die rätselhafte Geschichte des Landesvermessers K., der spät abends in ein trostlos verschneites Dorf kommt, um seinen Dienst im Schloss des Grafen anzutreten – „Das Schloss“ blieb nach Kafkas Tod als Fragment zurück und wurde seit seiner Veröffentlichung 1926 vielfältig erforscht und interpretiert. Es soll also auch als Zuschauer nicht das Ziel sein, alles durchschauen zu wollen, sondern vielmehr die Inszenierung und die Stimmung, die von den Figuren und der Ausstattung ausgehen, zu erleben und nach Parallelen zur eigenen Lebenswelt oder nach relevanten Fragen zu suchen. Um die Klasse auf diese Reise etwas einzustimmen, haben wir hier einige Unterlagen zur Inszenierung am Theater Orchester Biel Solothurn zusammengestellt. Wir haben dabei bewusst auf Inhalte verzichtet, welche im Internet oder in Sekundärliteratur leicht zugänglich sind (wie beispielsweise eine Zusammenfassung oder Kafkas Biografie) und dafür Materialien zusammengestellt, die sich direkt auf die Inszenierung beziehen und deren Einsatz im Unterricht möglichst unkompliziert und gewinnbringend sein soll. Gerne unterstützen wir Sie auch mit einem vorbereitenden Workshop oder einer Nachbesprechung im Schulhaus. Folgende Angebote sind vorgesehen: A) Workshop zur Vorbereitung, 90 Minuten Spielerisch nähern wir uns Themen und Stimmungen des Stückes an. Geleitet durch einen Theaterpädagogen. B) Vorbesprechung, 45 Minuten Es gibt Infos zum Stoff und der Inszenierung sowie die Möglichkeit Fragen zu stellen und Fragen des Stückes selbst zu erforschen. Nach Möglichkeit mit Adrian Flückiger, Dramaturg des Stückes C) Nachbesprechung, 45-90 Minuten Fragen stellen, Rückmeldungen geben, eigene Interpretationen besprechen und dazu auch Einblick in die Arbeit einer Schauspielerin/eines Schauspielers bekommen. Mit einem Mitglied der Schauspiel-Ensembles Bei einem Vorstellungsbesuch sind Vor- und Nachbereitung kostenlos. Wenn Sie Interesse an einem der obenstehenden Angebote oder einen anderen Wunsch an uns haben, freuen wir uns auf Ihre Kontaktaufnahme. Wir wünschen viel Spass bei der Vorbereitung und vor allem beim Besuch der Inszenierung am Theater Orchester Biel Solothurn! THEATER ORCHESTER BIEL SOLOTHURN JUNGES THEATER SOLOTHURN Theater und Schule Christof Oser-Meier Gibelinstrasse 20 | 4500 Solothurn T ++41 (0) 32 626 20 68 www.tobs.ch 2013, Junges Theater Solothurn Seite 1 Materialien für den Unterricht «DAS SCHLOSS» NACH FRANZ KAFKA INHALT S. 3 Interview mit Daniel Pfluger Der Regisseur und Autor der Stückfassung über die Entstehung der Theaterfassung, Relevanz des Stückes und Erarbeitung der Inszenierung. S. 6 Vor dem Gesetz – Kurzgeschichte Gut lesbare Kurzgeschichte von Franz Kafka, die viele Elemente seines Fragmentes „Das Schloss“ beinhaltet. Gut geeignet für eine Einstimmung auf den Theaterbesuch. S. 7 Zur Diskussion Sätze, die als Gesprächsimpulse für die Vorbereitung (und allenfalls Nachbereitung) des Theaterbesuches dienen können, inkl. Erläuterungen zur Inszenierung S. 9 Beobachtungsaufgaben Sammlung von Fragen, die beim Schauen des Stückes als Orientierungspunkte dienen sollen. S. 10 Figurenkonstellation Kurze Erläuterung dazu, wie die Figuren in der Stückfassung aufgeteilt sind, tabellarische Übersicht dazu. Grafische Übersicht zu den Figuren in der Inszenierung. S. 14 Mögliche Ansätze für eine Nachbesprechung Anlässlich des Interviews mit Daniel Pfluger wurden verschiedene Fragen aufgeworfen, für die er und das Ensemble teilweise (noch) keine Antwort gefunden haben. S. 15 Interview mit Jan-Philip Walter Heinzel, Mitglied des Schauspiel-Ensembles Der Schauspieler gibt Auskunft über seinen Zugang zu Kafkas „Schloss“ und die Arbeit an der Inszenierung. S. 17 Literaturhinweise S. 18 Besetzung 2013, Junges Theater Solothurn Seite 2 Materialien für den Unterricht «DAS SCHLOSS» NACH FRANZ KAFKA INTERVIEW MIT DANIEL PFLUGER, REGISSEUR UND AUTOR DER STÜCKFASSUNG Weshalb gerade „Das Schloss“ von Franz Kafka? Was hat dich an diesem Stoff besonders fasziniert? Weshalb sollte es heute auf die Bühne gebracht werden? Zum einen, weil Kafka Welten erschafft, die jenseits unserer Logik und unseres Alltags sind und die uns zum Nachdenken und zum Umdenken anregen, die Welt anders wahrzunehmen und vor allen Dingen die Systeme in der Welt zu hinterfragen. Dazu gehört beispielsweise der Wunsch des Menschen nach Definition von etwas. Beim „Schloss“ bleiben so viele Sachen wahnsinnig undefiniert: Das Schloss selber ist unerreichbar und man weiss nie, ob dieses Schloss wirklich existiert, ob es wirklich eine Macht hat oder ob es nur in den Köpfen der Dorfbewohner ist. K. selber ist undefiniert, ist nur ein Buchstabe, der endlich wo ankommen und eine Bestätigung bekommen möchte. « Das Schloss selber ist unerreichbar und man weiss nie, ob dieses Schloss wirklich existiert.» Auch alle Dorfbewohner definieren sich eigentlich die ganze Zeit nur über ihr Verhältnis zum Schloss und das immer wieder in einem Dauerloop. Und in dieser Sucht nach Definition spielt ja das Thema vom Tod und vom Leben nach dem Tod (wenn es das denn gibt) mit eine Rolle. Dass wir den Tod nicht ertragen können, diese Vorstellung von „was kommt da?“. Jede Kultur gibt dem eine Definition, es gibt, glaub ich, kaum eine Kultur oder Glauben, der irgendwie sagt „Ja, das war’s dann“. 2013, Junges Theater Solothurn In deiner Fassung gibt’s ja neben K. noch fünf weitere Figuren, die in sich mehrere Dorfbewohner zusammenfassen. So tritt die „ältere Frau“ beispielsweise als Schankwirtin, Lehrerin und Mutter Barnabas auf. Was verbindet diese Einzelcharaktere, die in einem Menschen zusammengefasst sind? Ich habe zuerst gekuckt, wie denn überhaupt eine Dorfgemeinschaft funktioniert, wer welche Funktionen in einer Gemeinschaft übernehmen kann. Und da habe ich mich für diese Gemeinschaft von fünfen entschieden, wo es ganz klare hierarchische Trennungen gibt: Da ist die ältere Frau, die scheinbar das Matriarchat hat, dann gibt es die jüngere Frau, die eigentlich den Traum vom Weggehen hat und dennoch Gift streut innerhalb der Gemeinschaft, es gibt den ganz jungen Mitläufer (der junge Mann), der alles richtig machen will, es gibt den älteren Mann, der sich am liebsten raushalten möchte und glücklich ist, solange keiner seine Kreise stört, und es gibt die junge gefährliche Dumme (die junge Frau), die versucht, überall mit dabei zu sein und für sich das Beste rauszuholen. Und als ich diese fünf Archetypen hatte, da war mir relativ schnell klar, welche Figuren aus dem „Schloss“ ich dafür brauche. Seite 3 Materialien für den Unterricht «DAS SCHLOSS» NACH FRANZ KAFKA Dann sind die Zuschauenden auch gefordert, ihre Verbindung, ihre Gemeinsamkeiten oder Unterschiede zu den Dorfbewohnern zu suchen? Ja! Es gibt, glaub ich, bei allen Dorfbewohnern, denen man begegnet, auch Ansatzpunkte, wo man selber merkt, „Oh mein Gott, genauso ticke ich ja leider in manchen Situationen auch“ oder „Das kenn ich so gut von einem Bekannten oder Freund von mir“. Oder Situationen, wo man selber das Gefühl hat, man dreht sich im Kreis und entwickelt sich nicht weiter, wo man merkt, dass einen ein System zwar stützt und trägt, aber dass man es halt vollkommen akzeptiert hat, aus Faulheit heraus oder aus Angst vor dem Fremden, das danach kommen könnte. Diese Dorfgemeinschaft ist ja recht eingespielt und funktioniert in sich. Was verändert da das Eindringen von K.? Oh, ne ganze Menge! Das Wichtige ist, dass K. in allen etwas auslöst, und zwar sehr unterschiedliche Dinge. Wenn man sagen kann, die Dorfbewohner sind wie ein starkes hierarchisches System, eine in sich geschlossene Diktatur, dann erscheint K. am Anfang wie die Anarchie zu sein, unglaublich freiheitsliebend, seine Rechte einfordernd, frech und einfach über bisherige Ordnungen weg trampelnd. Wenn jemand ins Leben tritt, der anders und faszinierend ist, der einem eine andere Welt eröffnet, dann gibt’s eigentlich nur Faszination oder Ablehnung. Und genau auf diese zwei Reaktionen trifft er bei den Dorfbewohnern. Und es braucht das ganze Stück durch, bis am Schluss vielleicht – ich weiss selber noch nicht, wie der Schluss sein wird – wieder alle zur Ruhe gekommen sind. Oft sind ja bei Kafka die Grenzen zwischen (Alb)Traum und Realität nicht klar. Wie wird das szenisch umgesetzt? 2013, Junges Theater Solothurn Wir tun das am Anfang noch relativ bewusst, indem wir Bühnenzeichen dafür einsetzen, wie z.B. Musik, Licht oder Schnee, so dass man vermeintlich reale Szenen von Traumsequenzen trennen kann. Aber mit der Zeit verfliesst das immer mehr, schalten sich diese Mittel in vermeintlich reale Szenen mehr und mehr ein und die Grenzen verschwimmen. Irgendwann weißt du einfach nicht mehr: Bist du jetzt noch im Traum, ist das jetzt in der Realität, war die Realität jemals eine Realität, war es immer schon ein Traum... Man weiss es nicht! Es ist genau wie im Albtraum, wo man fällt und fällt und fällt und man einfach nicht auf dem Boden auftrifft. Du hast mal so in etwa gesagt, man müsse Kafka (bzw. seine Werke) „aushalten“. Was meinst Du damit und was bedeutet das für uns Zuschauer? Also ich hoffe ja mal nicht, dass man in diesem Stück sitzt und denkt: „Was machen die da eigentlich?!“ Aber aushalten heisst vor allem, dass bei Kafka einfach nicht alle Fragen beantwortet werden. «Kafka selber hat es irgendwie geschafft zu verhindern, dass sämtliche kluge Köpfe der Welt, die sich mit ihm beschäftigt haben, ihn beantworten können.» Kafka macht viele, viele, viele Sachen auf und manchmal fühlt es sich sehr unangenehm an, dass die nicht zu Ende gebracht werden. Aber gerade dieses Unangenehme, diese Unerträglichkeit setzt die Auseinandersetzung damit erst frei. Ich glaube, oder ich hoffe, dass das Stück, ähnlich wie das Buch, nachhallen wird. Und Kafka selber hat es irgendwie geschafft zu verhindern, dass sämtliche kluge Köpfe der Welt, die sich mit ihm beschäftigt haben, ihn beantworten können. Seite 4 Materialien für den Unterricht «DAS SCHLOSS» NACH FRANZ KAFKA Hast Du das Gefühl, es wird eine Inszenierung, die Jugendliche anspricht? Ja! Es ist natürlich viel Sprache drin, die auch eine Herausforderung ist. Trotzdem kreieren wir im Moment sehr viel Sinnlichkeit auf der Bühne und ich hoffe auch genügend Leichtigkeit und Humor, denn Kafka ist oft so absurd, dass man die ganze Zeit darüber lachen muss. Das Wichtigste ist zu vermitteln: „Passt auf, es ist nicht realistisch. Versucht es eher als einen Traum zu verstehen.“ Ein Traum hat auch seine eigene Logik und eins folgt nach dem anderen. Es ist dabei nicht schlimm oder es ist noch nicht mal erforderlich, das Gefühl zu haben, alles verstanden zu haben. Sondern es geht eher darum, was man erlebt. Und das ist jedem sein individuelles Erlebnis, was einem da geschenkt wird. «Passt auf, es ist nicht realistisch. Versucht es eher als einen Traum zu verstehen.» Wenn nur ein einziger Moment des Abends für dich etwas bedeutet, dann ist das schon mal toll. Daniel Pfluger (*1980) wuchs in Mannheim auf und absolvierte an der Zürcher Hochschule der Künste das Regiestudium. Am Theater Orchester Biel Solothurn war von ihm 2010 Don Quijote zu sehen. Das Interview führte Regula Schelling gegen Ende der 3. Probewoche am 26.September 2013. 2013, Junges Theater Solothurn Seite 5 Materialien für den Unterricht «DAS SCHLOSS» NACH FRANZ KAFKA VOR DEM GESETZ Franz Kafka, 1915 Vor dem Gesetz steht ein Türhüter. Zu diesem Türhüter kommt ein Mann vom Lande und bittet um Eintritt in das Gesetz. Aber der Türhüter sagt, dass er ihm jetzt den Eintritt nicht gewähren könne. Der Mann überlegt und fragt dann, ob er also später werde eintreten dürfen. «Es ist möglich», sagt der Türhüter, «jetzt aber nicht.» Da das Tor zum Gesetz offensteht wie immer und der Türhüter beiseite tritt, bückt sich der Mann, um durch das Tor in das Innere zu sehn. Als der Türhüter das merkt, lacht er und sagt: «Wenn es dich so lockt, versuche es doch, trotz meines Verbotes hineinzugehn. Merke aber: Ich bin mächtig. Und ich bin nur der unterste Türhüter. Von Saal zu Saal stehn aber Türhüter, einer mächtiger als der andere. Schon den Anblick des dritten kam nicht einmal ich mehr ertragen.» Solche Schwierigkeiten hat der Mann vom Lande nicht erwartet; das Gesetz soll doch jedem und immer zugänglich sein, denkt er, aber als er jetzt den Türhüter in seinem Pelzmantel genauer ansieht, seine grosse Spitznase, den langen, dünnen, schwarzen tatarischen Bart, entschliesst er sich, doch lieber zu warten, bis er die Erlaubnis zum Eintritt bekommt. Der Türhüter gibt ihm einen Schemel und lässt ihn seitwärts von der Tür sich niedersetzen. Dort sitzt er Tage und Jahre. Er macht viele Versuche, eingelassen zu werden, und ermüdet den Türhüter durch seine Bitten. Der Türhüter stellt öfters kleine Verhöre mit ihm an, fragt ihn über seine Heimat aus und nach vielem andern, es sind aber teilnahmslose Fragen, wie sie grosse Herren stellen, und zum Schlusse sagt er ihm immer wieder, dass er ihn noch nicht einlassen könne. Der Mann, der sich für seine Reise mit vielem ausgerüstet hat, verwendet alles, und sei es noch so wertvoll, um den Türhüter zu bestechen. Dieser nimmt zwar alles an, aber sagt dabei: «Ich nehme es nur an, damit du nicht glaubst, etwas versäumt zu haben.» Während der vielen Jahre beobachtet der Mann den Türhüter fast ununterbrochen. Er vergisst die andern Türhüter, und dieser erste scheint ihm das einzige Hindernis für den Eintritt in das Gesetz. Er verflucht den unglücklichen Zufall, in den ersten Jahren rücksichtslos und laut, später, als er alt wird, brummt er nur noch vor sich hin. Er wird kindisch, und, da er in dem jahrelangen Studium des Türhüters auch die Flöhe in seinem Pelzkragen erkannt hat, bittet er auch die Flöhe, ihm zu helfen und den Türhüter umzustimmen. Schliesslich wird sein Augenlicht schwach, und er weiss nicht, ob es um ihn wirklich dunkler wird, oder ob ihn nur seine Augen täuschen. Wohl aber erkennt er jetzt im Dunkel einen Glanz, der unverlöschlich aus der Türe des Gesetzes bricht. Nun lebt er nicht mehr lange. Vor seinem Tode sammeln sich in seinem Kopfe alle Erfahrungen der ganzen Zeit zu einer Frage, die er bisher an den Türhüter noch nicht gestellt hat. Er winkt ihm zu, da er seinen erstarrenden Körper nicht mehr aufrichten kann. Der Türhüter muss sich tief zu ihm hinunterneigen, denn der Grössenunterschied hat sich sehr zuungunsten des Mannes verändert. «Was willst du denn jetzt noch wissen?» fragt der Türhüter, «du bist unersättlich.» «Alle streben doch nach dem Gesetz», sagt der Mann, «wieso kommt es, dass in den vielen Jahren niemand ausser mir Einlass verlangt hat?» Der Türhüter erkennt, dass der Mann schon an seinem Ende ist, und, um sein vergehendes Gehör noch zu erreichen, brüllt er ihn an: «Hier konnte niemand sonst Einlass erhalten, denn dieser Eingang war nur für dich bestimmt. Ich gehe jetzt und schliesse ihn.» 2003, Junges Theater Solothurn Seite 6 Materialien für den Unterricht «DAS SCHLOSS» NACH FRANZ KAFKA ZUR DISKUSSION Menschen meiden Veränderung. Menschen haben Angst vor Veränderung. Einen Fremden zu ignorieren ist einfacher als ihn zu verstossen, was wiederum einfacher ist, als ihn zu integrieren. Die Suche nach sich selbst ist die schwierigste/hoffnungsloseste/ anstrengendste/längste Suche überhaupt. Die Grenze zwischen Traum und Wirklichkeit ist ziemlich unscharf. Unser Hauptziel im Leben ist immer die Suche nach Anerkennung. Unser Hauptziel im Leben ist immer die Suche nach Anschluss an eine Gruppe. Sprache ist Macht – Wer nicht sprechen kann/darf, hat keine Macht. 2003, Junges Theater Solothurn Seite 7 Materialien für den Unterricht «DAS SCHLOSS» NACH FRANZ KAFKA ZUR DISKUSSION - ERLÄUTERUNGEN Die Sätze sind als Gesprächsimpulse gedacht, um einige Schwerpunkte des Stückes aus der IchPerspektive zu betrachten und in Gruppen oder im Plenum zu diskutieren. Dafür braucht es keine Vorkenntnisse über den Stoff. Die folgenden Erläuterungen können der Lehrperson dazu dienen, die Verbindungen zwischen den Sätzen und der Inszenierung von „Das Schloss“ nachzuvollziehen. Menschen meiden Veränderung. Menschen haben Angst vor Veränderung. Unter den Bewohnerinnen und Bewohnern des Dorfes gibt es einige, die eine Veränderung regelrecht herbeisehnen. Trotzdem suchen sie diese nicht aktiv – ganz im Gegenteil: Als Veränderungen mit dem Auftauchen von K. möglich scheinen, sehnen sie wieder den vorherigen Zustand herbei. Einen Fremden zu ignorieren ist einfacher als ihn zu verstossen, was wiederum einfacher ist, als ihn zu integrieren. Daniel Pfluger möchte anhand dieses Stoffes auch faschistische Prozesse und Denkstrukturen untersuchen und aufzeigen. Als Repräsentant einer „besonders perfiden Form faschistischer Haltung“ bezeichnet er den älteren Mann (u.a. Wirt, Vater Barnabas, Momus): Angeblich empathisch und verständnisvoll wünscht er K. nichts Böses, solange dieser sich fügt und nicht aufbegehrt. Die Suche nach sich selbst ist die schwierigste/hoffnungsloseste/anstrengendste/längste Suche überhaupt. „Die Suche nach sich selbst und seinen Platz im Leben treibt K. voran“, schreibt Daniel Pfluger. Für K. hat diese Suche durchaus etwas Schwieriges, Hoffnungsloses und Anstrengendes, da er nicht bemerkt, dass er sich nicht fortbewegt sondern an Ort und Stelle tritt ohne sich dem Schloss entscheidend zu nähern. Die Grenze zwischen Traum und Wirklichkeit ist ziemlich unscharf. Was für Kinder alltäglich ist, aber auch Jugendliche und Erwachsene oft kennen: Man ist sich plötzlich nicht mehr sicher, ob eine Erinnerung aus dem Erlebten oder einem Traum entstammt. In Kafkas Fragment wie auch in der Stückfassung von Daniel Pfluger gibt es mehrere Traumsequenzen. Der Stoff hat aber auch sonst etwas Unwirkliches, was z.B. durch die immense Häufung des Wortes „scheinbar“ verstärkt wird: Man kann sich nie sicher sein, ob das Geschehen nun real ist oder auf einer ganz anderen Ebene stattfindet. Und schliesslich kann man sich auch fragen, ob K.’s ganze Geschichte einem (Alb-) Traum entstammt. Unser Hauptziel im Leben ist immer die Suche nach Anerkennung. Unser Hauptziel im Leben ist immer die Suche nach Anschluss an eine Gruppe. Woher die Hauptfigur K. kommt und warum er unbedingt zum Schloss vorstossen will, bleibt im Verborgenen. Doch trotz allen Schwierigkeiten (oder gerade deshalb) versucht er, sich einen Platz im Dorf zu erkämpfen. In der Inszenierung erhält er diesen Platz – ganz sinnbildlich als Stuhl – in der letzten Szene. Sein Hauptziel hat er jedoch nicht erreicht – das Schloss. Sprache ist Macht – Wer nicht sprechen kann/darf, hat keine Macht. Der Regisseur und Autor der Stückfassung Daniel Pfluger erklärt den Umgang mit der Sprache im Stück folgendermassen: „Sprache ist Macht, wer sprechen kann, definiert sich und die Realität (denn die Bühne selbst ist ein abstrakter Raum, der mehr einer absurden Seelenlandschaft entspricht). […] Je weiter sich K. in den Wirren der Gesellschaft verliert, desto mehr verliert er auch die Sprache, die anderen dominieren die Sprachwelt immer mehr, bis sie ihm am Schluss komplett fehlt.“ 2003, Junges Theater Solothurn Seite 8 Materialien für den Unterricht «DAS SCHLOSS» NACH FRANZ KAFKA BEOBACHTUNGSAUFGABEN Wie schon Kafkas Fragment lebt auch die Inszenierung nicht in erster Linie vom Ablauf einer linearen Geschichte, sondern vielmehr von der Grundstimmung, die durch die enge Dorfgemeinschaft, die Unerreichbarkeit des Schlosses und die verzweifelten Versuche K.’s ebendieses zu erreichen, erzeugt wird. Beim Theaterbesuch soll darum nicht unbedingt das Ziel sein, „draus zu kommen“, d.h. die Geschichte zu verstehen, weil viele Dinge sehr unterschiedlich verstanden oder nur sehr schwer nachvollzogen werden können. Wichtiger wäre es, Sympathien und Antipathien mit den Figuren zu entwickeln und zu ergründen und die Stimmung des Stoffes/der Inszenierung wirken zu lassen. Konkrete Beobachtungsaufträge können helfen, sich weniger verloren zu fühlen. Hier eine Sammlung möglicher Beobachtungsaufträge – die Auswahl muss klassenspezifisch getroffen werden. Wo ist das Schloss? Wie wird es dargestellt? Wie nimmt das Schloss (bzw. die Leute, die dort arbeiten) Kontakt mit den Dorfbewohnerinnen, Dorfbewohnern und mit dem Landesvermesser K. auf? Wie verändert sich der Landesvermesser K. im Verlauf des Stückes? Wie verändern sich... ... seine Ziele? ... seine Sprache? ... sein Erscheinen, seine Körperhaltung? Mit einer Ausnahme spielen alles Schauspielerinnen und Schauspieler mehrere Figuren. Gibt es Gemeinsamkeiten zwischen den Figuren, die ein und derselbe Schauspieler verkörpern? Welche Figuren sind dir eher sympathisch? Welche nicht? Wieso? Gibt es Situationen, die dir in irgendeiner Weise bekannt vorkommen? Z.B. die Stimmung einer Figur oder was einer Figur widerfährt? Was für Traumsequenzen erkennst du? Was für eine Stimmung entsteht durch das Bühnenbild? Was löst die Musik bei dir aus? Wie würdest du die Kostüme beschreiben? 2003, Junges Theater Solothurn Seite 9 Materialien für den Unterricht «DAS SCHLOSS» NACH FRANZ KAFKA FIGURENKONSTELLATION Als ein Schwerpunkt möchte die Inszenierung auch die (faschistoiden) Mechanismen innerhalb der Dorfgemeinschaft untersuchen. Darum hat sich der Autor der Stückfassung und Regisseur Daniel Pfluger entschieden, fünf Dorfbewohnerinnen und Dorfbewohner zu zeigen, die jeweils verschiedene Figuren verkörpern. Ähnlich den Mitgliedern in einer Familie übernehmen alle fünf typische Funktionen in der Gemeinschaft. So hat jede dieser Dorfbewohnerinnen und Dorfbewohner figurenübergreifende Grundmotive des Handelns, welche für alle gespielten Figuren gelten. Der sechste Schauspieler, Pascal Lalo, spielt den angeblichen Landesvermesser K., von dem beinahe nichts bekannt ist: weder woher er kommt, noch Details zu seinen Absichten. Figuren K. - angetrieben durch die Suche nach sich selbst und seinem Platz im Leben Junger Mann - zerrissen zwischen Ablehnung und Bewunderung für K. - will alles richtig machen um als Mann wahrgenommen zu werden - wünscht K. nichts Böses, solange er nicht aufbegehrt Älterer Mann - zerstörerisches Potential - > perfide Form faschistoider Haltung 2003, Junges Theater Solothurn Schwarzer (Schlossvertreter) Barnabas (Bote) Lehrer Hans (kleiner Schuljunge) Wirt Vorsteher (Beamter) Momus (Dorfsekretär von Klamm) Vater Barnabas Daniel Hajdu - bockig, stur, treudoof, passiv, Mitläufer Schauspieler/-in Pascal Lalo figurenübergreifende Grundmotive Jan-Philip Walter Heinzel Rolle Bürgel (Beamter) Seite 10 Jüngere Frau Junge Frau - hat den faschistisch anmutenden Drang, das Dorf vor K. zu schützen Lehrerin - heimliche Regentin des Dorfes Frieda (Schankmädchen, ehem. Geliebte Klamms, Geliebte K.’s) - bewegt sich zwischen Hoffnung auf Veränderung und Unterdrückung ihres Umfeldes Mutter Barnabas Amalia (Schwester von Barnabas, hat Sortini verweigert) - leidet unter der Überpräsenz der jüngeren Frau Olga (Schwester Barnabas) - spinnt Intrigen, allerdings eher dumm anstatt perfide Mizzi (Gehilfin des Vorstehers) - gefährlich; ist bereit, wenn nötig alles in den Abgrund zu reissen Pepi (Neues Schankmädchen, Nachfolgerin von Frieda) Miriam Strübel Ältere Frau Wirtin Fernanda Rüesch - will aus dem Hintergrund die Autorität haben Barbara Grimm Materialien für den Unterricht «DAS SCHLOSS» NACH FRANZ KAFKA Die Gehilfen werden von allen fünf Dorfbewohnerinnen und Dorfbewohner im Wechsel gespielt. 2003, Junges Theater Solothurn Seite 11 Materialien für den Unterricht «DAS SCHLOSS» NACH FRANZ KAFKA FIGURENKONSTELLATION 2003, Junges Theater Solothurn Seite 12 Materialien für den Unterricht «DAS SCHLOSS» NACH FRANZ KAFKA 2003, Junges Theater Solothurn Seite 13 Materialien für den Unterricht «DAS SCHLOSS» NACH FRANZ KAFKA MÖGLICHE ANSÄTZE FÜR EINE NACHBESPRECHUNG Anlässlich des Interviews mit Daniel Pfluger wurden verschiedene Fragen aufgeworfen, für die er und das Ensemble teilweise (noch) keine Antwort gefunden haben. Haben sie sich am Schluss alle gegenseitig umgebracht? Sind sie schon längst alle tot? War die Realität jemals eine Realität, war es immer schon ein Traum...? Gibt es das Schloss wirklich, hat es wirklich Macht, oder existiert es bloss in den Köpfen der Dorfbewohner? Muss das Gesellschaftssystem nicht immer wieder neu hinterfragt werden? Gibt es überhaupt die Möglichkeit, frei zu sein, frei zu denken, solange wir zusammenleben wollen oder fangen wir dann immer automatisch an, uns selber zu beschneiden, zu begrenzen? 2003, Junges Theater Solothurn Seite 14 Materialien für den Unterricht «DAS SCHLOSS» NACH FRANZ KAFKA INTERVIEW JAN-PHILIP WALTER HEINZEL, MITGLIED DES SCHAUSPIEL-ENSEMBLES 1) Wie bist du vorgegangen, um einen Zugang zu diesem Stoff zu bekommen? Ich habe Kafka schon in meiner Schulzeit kennengelernt. Wir haben die Torhüterparabel („Vor dem Gesetz“) gelesen, diskutiert und interpretiert. Ich fand die Geschichte damals total faszinierend, und sie hat mich ziemlich nachdenklich gemacht. Wie sehr hindert mich die Angst nicht zu genügen daran, Dinge zu versuchen, zu denen es mich hinzieht? Bin ich asozial, wenn ich gegen den Gruppenwillen, gegen die Gruppenbedürfnisse verstosse, wenn es für mich Sinn macht? «An das Gefühl hab ich mich nun erinnert: Wie man den ‚Neuen‘ beschnuppert und anbellt.» Ich habe damals die Schule gewechselt: Neues Umfeld, neue Klasse, neue Leute. Ich war der Fremde und alle fanden mich erstmal scheisse, aber irgendwie auch „exotisch“. Plötzlich steht man alleine da. An das Gefühl hab ich mich nun erinnert: Wie man den "Neuen" beschnuppert und anbellt. Das hat für mich viel mit dem Schloss zu tun. Wenn ich mich einem Stoff nähere, versuche ich immer Dinge zu finden, die ich aus meinem eigenen Leben kenne. So nach dem Motto: „Hey das ist mir auch passiert!“ Dann hat man schon mal eine Verbindung. 2) Du spielst mehrere Figuren. Was heisst das für dich? Weil alle Figuren von mir gespielt werden, haben sie ja alle etwas gemeinsam, nämlich mich. Sie werden dadurch eher verschiedene Aspekte einer Person. Jeder Mensch ist in manchen Momenten mal sehr kindisch und 2003, Junges Theater Solothurn nörglerisch und sucht jemanden an dem er sich festhalten kann. Einen Moment später kann er dann unglaublich wütend und brutal werden, z.B. wenn er niemanden zum Festhalten findet. So entstehen aus einer Grundperson (mir) die verschiedenen „Figuren“. Einer kindisch, einer altklug, einer brutal und schroff, einer dumm und langsam - aber alle verbunden durch eine ähnliche Faszination, die sie K. gegenüber empfinden. 3) Warum soll man sich mit diesem Stück beschäftigen? Was hat dieses Stück heute für eine Dringlichkeit? Kafka ist ein Genie und kann einem, wenn man zuhört, viel über einen selbst und die Welt erfahren lassen. Seine Sicht der Dinge ist eine so ureigene und unangepasste, dass die Welt, durch seine Augen gesehen, plötzlich farbiger werden kann. Ein Literaturpunker! Darum lohnt es sich, sich auf ihn einzulassen. Mir persönlich geht es so, dass mich die Begegnung mit Kafkas Texten oft verstört und traurig macht. Es ist soviel Einsamkeit in seinen Worten. Aber dadurch habe ich mich auch oft weniger allein gefühlt. Ich weiss durch ihn: „Es geht nicht nur mir so!“ Wir sind alle gemeinsam einsam. Kafka ist für mich einer, der immer wieder Seite 15 Materialien für den Unterricht «DAS SCHLOSS» NACH FRANZ KAFKA einen Menschen gegen eine Gruppe stellt oder es noch weiter treibt und die Gruppe zum System werden lässt. Einen Apparat, dem man ausgeliefert ist. Und jedes System, dem man ausgeliefert ist - ob ich als Schauspieler dem Theater, oder der Schüler der Schule muss kritisch behandelt werden. Es bewertet mich und sagt mir, wie viel ich als Mensch wert bin, aber wie bewerte ich das System? Video dazu: «I Will Not Let An Exam Result Decide My Fate» www.bit.ly/1dSBirt Es lohnt sich auch, darüber nachzudenken, welche Systeme man selber für ungerecht hält. Wann bin ich stumm und feige, wenn ein System willkürlich oder falsch handelt. Das können kleine Dinge sein, wie der offene Blick einem "Fremden" gegenüber, wenn man selber Teil der Gruppe, des Systems ist. Oder der Mut, die Wahrheit zu sagen, auch wenn es einem schadet. Es können aber auch grosse Dinge sein, wie der Mut dazu: Videos dazu: «Tank Man am Tiananmen-Platz» www.bit.ly/16QNByh «Willi Brantds Kniefall in Warschau» www.bit.ly/Gzt9wG 4) Was gefällt dir an der Arbeit an dieser Produktion besonders gut? Wir arbeiten sehr frei und körperlich. Diese Herangehensweise erlaubt es mir, mich nicht nur mit meinem Kopf mit Kafka zu beschäftigen, sondern meinen Körper, meine Intuition und auch meine Spielpartner mit einzubeziehen. Dadurch wird es keine einsame Aufgabe, sondern wir als Gruppe ergründen Kafka dann gemeinsam. Jan-Philip Walter Heinzel wurde 1979 in Kiel geboren. Er studierte European Business Studies in England und anschliessend von 2006 bis 2009 Schauspiel an der Hochschule der Künste Bern. Seit 2011 ist er festes Mitglied am Theater Biel Solothurn. In der vergangenen Saison war er in Don Carlos, Mit wem soll ich jetzt schweigen?, Der nackte Wahnsinn und Barbaren zu sehen. 2003, Junges Theater Solothurn Seite 16 Materialien für den Unterricht «DAS SCHLOSS» NACH FRANZ KAFKA LITERATURHINWEISE Carsten Schlingmann: Literaturwissen: Franz Kafka. Stuttgart: Reclam 1995. Michael Müller: Das Schloss. In: Bettina von Jagow und Oliver Jahraus (Hgg.): Kafka Handbuch. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2008. Thomas Mann: Dem Dichter zu Ehren. Franz Kafka und „Das Schloss“. In: Ebd.: Gesammelte Werke. Bd. 15: Rede und Antwort. Frankfurt a.M.: S. Fischer 1984 2003, Junges Theater Solothurn Seite 17 Materialien für den Unterricht «DAS SCHLOSS» NACH FRANZ KAFKA «DAS SCHLOSS» NACH FRANZ KAFKA Produktionsteam Bühnenfassung DANIEL PFLUGER Inszenierung DANIEL PFLUGER Bühne FLURIN BORG MADSEN Kostüme JANINE WERTHMANN Dramaturgie ADRIAN FLÜCKIGER Regieassistenz & Inspizienz RICARDA AMBERG Dramaturgie- & Regiehospitanz STELLA NOACK Besetzung K. PASCALE LALO Ältere Frau BARBARA GRIMM Älterer Mann DANIEL HAJDU Junge Frau FERNANDA RÜESCH Junger Mann JAN PHILIP WALTER HEINZEL Jüngere Frau MIRIAM STRÜBEL Theaterpädagogik Materialmappe Patenklasse des Jungen Theater Solothurn CHRISTOF OSER-MEIER REGULA SCHELLING © 2013, Junges Theater Solothurn KANTONSSCHULE SOLOTHURN, KLASSE L12d, BARBARA GÖTZ Weitere Infos zum Angebot des Jungen Theater Solothurn finden Sie auf unserem Flyer oder auf der Webseite www.tobs.ch unter JUNGES PUBLIKUM. THEATER ORCHESTER BIEL SOLOTHURN JUNGES THEATER SOLOTHURN Theater und Schule Christof Oser-Meier Gibelinstrasse 20 | 4500 Solothurn T ++41 (0) 32 626 20 68 www.tobs.ch 2003, Junges Theater Solothurn Seite 18