SWR2 Cluster 14.01.2015, Musikmarkt: Buch-Tipp „Pointiert, freimütig und bisweilen derb“ Andrei Gavrilov Tschaikowski, Fira und ich Erzählung meines Lebens Diederich ISBN 978-3-424-35090-6, 24,99 € inklusive CD mit Chopin-Nocturnes Autor: Michael Horst Sergej Rachmaninow: Klavierkonzert Nr. 3 d-Moll, 3. Satz (Ausschnitt) Andrei Gavrilov (Klavier) The Philadelphia Orchestra, Leitung: Riccardo Muti EMI 7 49049 2 0‘10 Einstmals funkelte Andrei Gavrilovs Stern strahlend hell, er galt als einer der Kometen unter den jungen Pianisten der Sowjetunion. Rachmaninow und Prokofjew, Chopin und Ravel – mit ihnen brillierte er in den Konzertsälen und im Schallplattenstudio. Aber das ist nun mehr als 30 Jahre her – und Gavrilov fast von der musikalischen Bildfläche verschwunden. Er tourt mit zweitklassigen Ensembles wie dem German National Orchestra durch die Lande, er tritt in mittelgroßen Städten auf. Und er hat in einem Buch die Höhen und Tiefen seines Lebensweges nachgezeichnet. Man liest es mit Neugier und großem Interesse. Denn Gavrilov hat viel zu erzählen: die brutal harte Ausbildung an der Spezialschule für junge Talente, die ersten Triumphe – dann der tiefe Absturz, als er wegen allzu kesser politischer Äußerungen in die Klauen des KGB gerät. Ein Auftrittsverbot im Ausland ist die Folge, später wird er in psychiatrische Anstalten eingewiesen. Erst mit der Perestroika und dem Eingreifen Gorbatschows taucht Gavrilov wieder aus der Versenkung auf, doch dem grandiosen Comeback Ende der 80er Jahre folgt 1993 das komplette Verstummen. Sieben Jahre verbringt Gavrilov auf der Suche nach sich selbst, bevor er wieder in auf die Podien zurückkehrt – mit zwiespältigem Erfolg. Immer wieder ist von grauenvollen Erinnerungen die Rede und von Wunden, die bis heute schmerzen. Doch der Pianist würzt seine Erfahrungen mit brillanten kleinen Porträts und provokanten musikalischen Betrachtungen. Der couragierte Pförtner des Konservatoriums erhält genauso sein Kapitelchen wie etwa Gavrilovs Lehrer oder das extravagante Ehepaar Rostropowitsch / Wishnewskaja, das sich stets mit „Pinocchio“ und „Kirsche“ anzureden pflegte. Eine Portion Vorsicht ist sicher angebracht: Denn zu Anfang des Buches steht der ausdrückliche Warnhinweis, man habe hier eine „Autobiographie mit belletristischen Zügen“ vor sich. Dem Lesevergnügen tut das keinen Abbruch. Ganz seiner inneren Überzeugung entsprechen sicher Gavrilovs Urteile über die Komponisten. Auch die Werke Chopins hat Gavrilov immer wieder studiert, einige seiner Nocturnes extra für das Buch neu und höchst eigenwillig eingespielt. In ihnen hört er „Kanonendonner, ätzend schwarzen Humor, spielerisches Flirten und orgasmisches Stöhnen“: Frédéric Chopin: Nocturne Nr. 15 f-Moll (Ausschnitt) Andrei Gavrilov (Klavier) CD zum Buch 0‘20 Es ist schon kurios: Die Ehefrauen Gavrilovs werden auf wenigen Seiten abgehandelt, dagegen nimmt die Beschreibung Swjatoslaw Richters breitesten Raum ein. Fira, wie er ihn auch nennt, ist das Epizentrum in Gavrilovs Leben gewesen. Beide Pianisten waren in einer Art Hassliebe aneinander gekettet, die nach fünf intensiven Jahren der Freundschaft gesprengt wurde. In dieser Zeit verbrachten sie Stunden, Tage und Wochen miteinander, mit Diskussionen über Gott und die Welt, über Musik, Kunst, Philosophie und auch Sex. Sie organisierten zusammen einen prachtvollen Ball in Richters luxuriöser Moskauer Wohnung, und sie gingen sogar gemeinsam auf Tournee – erstaunlicherweise mit Werken von Bach und Händel. So hat man Richter in dem berühmten Film von Bruno Monsaingeon nicht gesehen. Denn Gavrilov nimmt kein Blatt vor den Mund: Er beschreibt die tiefen Depressionen, die Freund Slawa regelmäßig befielen, seinen Stolz und seine sadistischen Anwandlungen, seine Kindereien und seine Sucht nach hübschen jungen Männern. Gavrilovs Urteile schwanken heftig: Mal sind sie voller Bewunderung, dann wieder voll kühler Abscheu. Genauso unbarmherzig geht er mit Richters Interpretationen ins Gericht: Mozart und Chopin habe er jedes Leben ausgetrieben, mit der Energie seiner Riesenhände und seines wuchtigen Körpers jeden Esprit gnadenlos niedergewalzt. Wie bei Richter, so urteilt Gavrilov auch sonst über seine Zeitgenossen: pointiert, freimütig und bisweilen derb, mit scharfem Blick auf die Visagen seiner KGB-Bewacher oder auf die scheintote Riege des Politbüros, denen er zu Breschnews 70. Geburtstag die Revolutionsetüde vorspielen darf. Seine boshaften Bemerkungen werden zu bitterbösen Abrechnungen, wenn es um das Sowjet-System geht, um die brutale Unterdrückung und Gängelung eines ganzes Volkes, die auch den Pianisten wichtige Jahre seines Lebens kosteten. Seit einiger Zeit lebt Gavrilov nun in der Schweiz und schießt von dort seine Pfeile Richtung Moskau ab: „Die Gesellschaft im heutigen Russland lebt in einer Tretmühle, ist wund und verfault“, so lautet sein deprimierendes Fazit. Eine Abrechnung mit Putins Reich, die in Zeiten der Ukraine-Krise Gavrilovs Biografie auch zu einem bemerkenswert politischen Statement macht. Frédéric Chopin: Nocturne Nr. 15 f-Moll (Ausschnitt) Andrei Gavrilov (Klavier) CD zum Buch 0‘55