ERSTE CHRISTVESPER AM HEILIGEN ABEND 2001 im Konventssaal des Klosters zu Preetz – Die Weihnachtsgeschichte von „Paul auf den Bäumen“ – (Klaus Eulenberger) Liebe Gemeinde! Von nun an ist nichts mehr, wie es war. Vielleicht ist dies der am häufigsten ausgesprochene Satz des zuende gehenden Jahres 2001. Es ist die Markierung einer Zeitenwende. Noch immer haben wir keinen Namen, keinen Begriff für das, was am 11. September passiert ist; wir sprechen vom 11. September und wissen, was gemeint ist: eine Unterbrechung des Gewohnten, ein Riß mitten durch die Zeit. Aber stimmt es denn, daß nichts mehr ist, wie es war? So vieles geht weiter wie eh und je. Längst sind wir wieder mit anderen Dingen beschäftigt. Was uns selbst betrifft, unsere Haut und was sie umschließt, unsere Pläne und unsere Wünsche, unsere Ängste, unsere Träume – das alles ist wieder dringlicher, deutlicher, lauter als der Nachhall des Schreckens von Manhattan und Washington. Längst arbeitet die New Yorker Börse wieder. Flugreisen sind nicht vermeidbar, und darum ist der Himmel nach wie vor voller Flugzeuge. Und die Lehren, die aus dem Desaster gezogen werden? Sie kommen uns fragwürdig, ja zweifelhaft vor. Irgendwie sollte die von Menschen bewohnte Welt anders konstruiert sein. Aber wer baut sie um? Wer wäre imstande, die Interessen aller so im Blick zu haben, daß nicht die einen dauernd auf Kosten der anderen leben? Wer könnte den Hochmut der einen und den Haß der anderen überwinden? Von nun an ist nichts mehr, wie es war. Dieser Satz kann auch einen ganz anderen Horizont öffnen als den, von dem gerade die Rede war. An diesem Heiligen Abend bekommt er eine Bedeutung, die wir bisher nicht gemeint haben. Er kehrt in einen Zusammenhang zurück, aus dem er einmal hervorgegangen ist. Wie könnten wir die Weihnachtsgeschichte besser zusammenfassen als mit diesem Satz: Von nun an wird nichts mehr sein, wie es war? Auch diesmal signalisiert der Satz eine Zeitenwende, aber nicht eine zum Bösen, sondern eine zum Guten, zum Heil. Sie zu beschreiben, ist nicht leicht. Denn der Augenschein spricht dagegen, daß die Geburt des göttlichen Kindes irgend etwas zum Guten gewendet hat. Andererseits ist die Rede von der Zeitenwende auch nicht erschöpft, nicht kraftlos geworden. Wenn wir singen: „Das ewig Licht geht da herein, gibt der Welt ein’ neuen Schein …“, dann wünschen wir jedenfalls, daß es wahr ist. Wir sagen nicht: Es ist ja doch nicht wahr … Vorsichtig also und leise wiederholen wir die Behauptung in ihrer guten Bedeutung: Nichts ist mehr, wie es war. Wir tun es mit dem Hauptsatz aus der Weihnachtsgeschichte, den wir, wie alle Jahre wieder, auch heute und gerade eben gehört haben: Fürchtet euch nicht! Eine erstaunliche Geschichte zu diesem Satz hat der Kabarettist Hanns Dieter Hüsch gemacht. Die Geschichte ist mir zugeflogen, und ich gebe sie an diesem Heiligen Abend an Sie weiter. 1 Die Weihnachtsgeschichte von ‘PAUL AUF DEN BÄUMEN’ ... (, der sich am liebsten dort aufhält und), der nach seinem Ausbruch aus der Anstalt durchs Land streift und die Nächte hier und dort verbringt; zum Beispiel habe ‘PAUL AUF DEN BÄUMEN’ also den vorletzten Heiligen Abend in einem leeren fahrenden Güterwagen verbracht, und, um die Nacht zu verteilen und den Schlaf zu vergessen, habe er in völliger Dunkelheit - so beschwört er - mit Kreide auf die 4 inneren Wände des Güterwagens alles, was in ihm gewesen, draufgeschrieben und gekritzelt - beschwört er - , immer, ohne zu wissen, was er nun schreibe und ob es anderntags leserlich sei --bis alle Wände - er habe sie mit der Hand abgetastet voll Kreide und Schrift gewesen. Dann wäre er eingeschlafen. Und sei am Morgen erwacht - irgendwo in der Welt zwischen Brisbane und Stavanger und er habe die Tür geöffnet, und Licht sei geworden und auf den Wänden - voll Lebenszeichen und Hilferufen, Wutausbrüchen und Sanftmut und Jahreszahlen habe auf einmal gestanden - überall, hinter- und übereinander und unter- und durcheinander und überall, sogar an der Decke des Wagens und auf dem Boden - die er beide gar nicht beschrieben habe auf einmal deutlich zu lesen gestanden: FÜRCHTET EUCH NICHT ! - und wäre nicht wegzuwischen gewesen. (H. D. Hüsch) 2 Über Paul auf den Bäumen wissen wir weiter nichts, als daß er sich am liebsten in Baumkronen aufhält und es in einer psychiatrischen Anstalt nicht ausgehalten hat; womöglich fühlt er sich auf Bäumen am besten geschützt vor den suchenden Blicken derer, die den Verrückten (denn das ist er doch wohl) wieder internieren möchten. Der Heilige Abend ist für Paul, wie für andere Menschen auch, ein kritisches Datum. Gerade wenn man allein ist, kann einem die Zeit lang werden. Die Flucht, die Paul antritt, ist eine, bei der er das ihn haltende Gehäuse nicht verläßt, sondern mit sich führt. Dieses Gehäuse aber – ein leerer fahrender Güterwagen – ist sowohl Gefängnis als auch Schutzhütte. Es hält ihn fest, aber es hält ihn auch. Es ist ein Raum innerhalb des Raumes, den die Welt darstellt. Der fahrende Güterwagen bewegt sich in ihr. In ihm reisend, kann Paul sie nicht verlassen, er ist nicht aus der Welt, aber er ist doch begrenzt vor ihr geschützt, und es ist, als wäre er nicht mehr da. In diesem Wagen schreibt der durchs Land Streifende an die 4 inneren Wände alles, was ihm einfällt. Es ist ein Akt der Selbstäußerung, mit dem er ganz für sich bleibt. Niemand kann sehen, was Paul mit Kreide an die Wände kritzelt. Selbst wenn es nicht Nacht, sondern Tag wäre, bliebe es unsichtbar. (Es ist nicht wie bei den nach Auschwitz rollenden Güterzügen, an deren äußere Wände die verzweifelten Deportierten manchmal ungelenke Hilferufe schrieben, so daß die draußen – wenn sie es denn wollten – darüber aufgeklärt wurden, was, nein: wer in diesen Zügen transportiert wurde.) Pauls geradezu unerschöpfliche Selbstäußerungen bleiben allen, sogar ihm selbst, verborgen: Er weiß und sieht nicht, was er schreibt. (Wir aber erfahren, was es ist, nein: was es war, als es geschrieben wurde. Lebenszeichen und Hilferufe, Wutausbrüche und Sanftmut und Jahreszahlen.) In indirekter Rede ist das alles geschildert. Der Autor gibt wieder, was der verrückte Reisende der Heiligen Nacht ihm berichtet habe. Es ist, als bleibe der Chronist skeptisch: Das kann eigentlich nicht wahr sein. Aber er schreibt auf und gibt weiter, was er gehört hat. (Der Kabarettist als Evangelist.) Die Bemerkung über das morgendliche Licht, das hereinfiel in den fahrenden Wagen, ist Zitat, aber es heißt eben nicht: „Und es ward Licht“ wie in der Geschichte der Schöpfung, auch nicht: „Und die Klarheit des Herrn leuchtete um sie“ wie in der Weihnachtsgeschichte. Verhalten notiert der Chronist: „Und Licht sei geworden“. Licht irgendwo zwischen Brisbane und Stavanger: Dieser Güterwagen, dieses rollende Gehäuse ist in Australien ebenso unterwegs wie in Norwegen und, so sollen wir wohl folgern, überall, wo Menschen leben, unter denen die Geschichte der Heiligen Nacht erzählt wird. Es wird Morgen, die Nacht ist zuende, Paul öffnet die Tür, und es wird Licht. Und in diesem Licht sieht Paul nicht, was er nachts geschrieben hat an die 4 inneren Wände, er sieht immer und immer wieder den Satz FÜRCHTET EUCH NICHT!, deutlich zu lesen nicht nur an den Wänden, sondern auch an der Decke des Wagens und auf dem Boden. Aber wie ist die Schrift dorthin gekommen? Wer hat dies geschrieben? Niemand hat geschrieben als Paul allein. Und er hat nichts geschrieben als alles, was in ihm gewesen. Er ist darüber eingeschlafen. Hat etwas, hat jemand ihm die Hand geführt, als er Lebenszeichen und Hilferufe kritzelte? Oder ist das Durcheinander von Wutausbrüchen und Sanftmut und Jahreszahlen verwandelt worden, während er schlief? Ist der verrückte Reisende, ohne es zu wissen, ein Medium göttlicher Rede, ein Instrument der Engel geworden? Es gibt keine Erklärung. Es gibt nur den Bericht über einen Bericht: daß, als am Morgen Licht wurde, alle sechs inneren Flächen des Güterwagens beschrieben gewesen seien mit einer Schrift, die nicht wegzuwischen gewesen sei: FÜRCHTET EUCH NICHT! Überall diese Schrift: an der Wand, am Boden, an der Decke. Sie ist, so müssen wir annehmen, nicht ohne Mitwirkung des sonderbaren Reisenden zustande gekommen, aber sie gibt nicht einfach wieder, was ihm eingefallen ist und was in ihm gewesen. Als die Nacht zuende ist, liest er, was er geschrieben und was nicht er geschrieben hat, was aus ihm herausgegangen und von ganz woanders hergekommen ist: FÜRCHTET EUCH NICHT! 3 Wenn wir sagen, daß nichts mehr ist, wie es war, dann reden wir heute von diesem Satz. Die Lebenszeichen, die wir geben, sind und bleiben in sich widersprüchlich. Mal sind wir kräftig, mal mutlos, und was wir jetzt über uns mitteilen, kann im nächsten Augenblick falsch sein. Unsere Hilferufe werden gehört oder auch nicht, nicht immer haben wir Macht darüber, und manchmal besteht die Hilfe schon (und nur) darin, daß wir um Hilfe rufen oder es unserer Wut erlauben, aus uns hervorzubrechen. Nicht immer ist es uns möglich und wäre es richtig, sanftmütig zu bleiben. Wer wollte sich das im Ernst vornehmen angesichts alles Empörenden, mit dem wir konfrontiert werden Jahr um Jahr? Ach, wer weiß, wie die 4 inneren Wände des fahrenden Güterwagens aussähen, nachdem jede, jeder von uns einen Heiligen Abend darin verbracht hätte, um die Nacht zu verteilen und den Schlaf zu vergessen. Die Nachtwände, die Schattenwände des Gehäuses, aus dem wir nicht hinauskommen, solange wir mit ihm unterwegs sind. Aber sobald es Morgen wird, sobald es Licht wird, lesen wir nicht mehr, was wir über Nacht geschrieben haben. Zum Glück – ja, zum Glück! – steht an den Wänden nun auch nicht: Alles wird gut oder: Es wird dir nichts geschehen. Auch lesen wir nicht: Gott liebt dich und sorgt für dich. Es steht auf den Wänden nur dieses kräftige und herbe Wort: Fürchtet euch nicht! Und es steht, wenn wir sehr genau hinsehen, auch nicht auf dem blanken Holz. Es steht, hinter- und übereinander und unter- und durcheinander und überall, auf längst beschrieben Flächen. Es ist ein Palimpsest, eine neue Handschrift auf einer alten Schrift, die von ihrem Untergrund abgekratzt worden ist, um überschrieben zu werden mit einem neuen Text – aber man sieht dem neuen an, daß er einen anderen voraus-setzt und ihn nicht einfach tilgt, sondern noch enthält: wie wir die Tränen noch sehen, selbst wenn sie schon abgewischt worden sind, und wie ein Lächeln noch auf den Schmerz schließen läßt, der ihm zugrunde liegt und es schöner macht, als es ohne ihn, den Schmerz, wäre. Mehr ist es nicht, aber es ist auch nicht weniger als dies. Nie, außer in manchen Augenblicken, können wir sagen: Alles ist gut. Aber immer ist die Schrift an der Wand: FÜRCHTET EUCH NICHT. Seit dieser Nacht, die mit zuverlässiger, beharrlicher und wunderbarer Regelmäßigkeit wiederkehrt, wissen wir, daß die Schrift nicht wegzuwischen ist. Sie bedeutet Zurechtweisung und Tröstung, Aufrichtung und Zumutung zugleich. Nichts wird mehr sein, wie es war, wenn wir dieser Schrift an der Wand – und damit Gott ins Angesicht sehen. Gott kommt auch in leeren fahrenden Güterwagen zur Welt, wie wir durch Paul auf den Bäumen wissen. Amen 4 TAGESGEBET: Ewiger Gott. Wir finden dich in deinem Sohn, einem Kind, zart und verwundbar. In ihm leuchtet deine Liebe auf, strahlend wie ein nie verlöschendes Licht, deine Liebe, die von Anfang an war und bleiben wird, die uns im Blick hatte von Anbeginn und die uns nicht verloren gibt in Ewigkeit. Amen (Gottesdienstbuch S. 255) Lesung: Jesaja 9,1-6 DANKGEBET: Gott, in dieser Nacht feiern wir, daß du uns in Christus nahe gekommen bist. Rühre unser Herz an und bewege uns, daß wir nicht verharren in unserer Trägheit, sitzen bleiben in unseren Problemen und bestehen auf unseren Zweifeln. Laß uns den Weg finden zu ihm, der uns geboren wurde, damit er Licht in unser Dunkel trage, Liebe in uns wecke, das Vertrauen stärke, der Geduld langen Atem schenke und unserer Hoffnung Weite bringe. Hilf uns zu dem Glauben, der Jesus Christus, deinen Sohn, auch heute empfängt; denn in Christus bist du uns nahe, mit ihm wird deine Güte unter uns sichtbar, und durch ihn hilft deine Liebe uns allen zum Leben. Gott, erlöse uns aus Furcht und Schmerzen, laß uns Menschen deines Wohlgefallens sein und laß geschehen, was über unsere Vorstellung geht: daß Friede auf Erden werde für alle Menschen, an allen Orten, zu unserer Zeit. Wir bitten dich für alle, die heimatlos sind, für alle, die in Armut leben, für die Verlorenen und Einsamen. Für die, die in Gefahr leben und verfolgt werden, für alle, die das Land verlassen mußten, in dem sie zuhause waren. Wir bitten dich für alle, die in Not und Bedrängnis sind, für die Unglücklichen, die sich selbst nicht helfen können. Wir bitten dich, Mensch gewordener Gott, daß du zu allen sagst: Fürchtet euch nicht, und daß sie dich hören und dir glauben und befreit werden zu einem Leben in Mut und Widerständigkeit. Ewiger, der du gegenwärtig bist unter uns in diesem Kind, hilf uns, in einem jeden Menschen dein Ebenbild zu entdecken und so dir die Ehre zu geben. Amen 5