Schatten - WordPress.com

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Vielleicht sind das, was mich so oft in letzter Zeit herunterzieht, die Schatten, die ich immer mit mir
herumtrage. Vielleicht habe ich so etwas wie eine dunkle Aura, weil all das, wie ich einmal gewesen
bin, die Ausstrahlung, die ich einmal hatte, nun diesen Schatten angehört, und ich sie nicht erhellt
bekomme, ob ich in der Sonne sitze oder nicht.
Das Leben von allen Menschen geht weiter. Sogar deins. Nur ich, ich bin gefangen hier in den
Schatten, die zu deiner und meiner Vergangenheit gehören. Immer wieder kommen Teile unserer
Geschichte hoch und ganz unterdrücken kann ich sie nie. Will ich das denn nicht? Wenn ich es
wirklich wollen würde, würde ich es dann nicht unterdrücken können sollen?
Es gibt Tage, an denen ich lächle und halbwegs glücklich bin, an denen sich die dunklen Wolken
heben können; es gibt Wochen, in denen du nicht wichtig bist. Aber irgendwann kommt immer ein
Zeitpunkt, an dem ich mich wieder an dich und uns erinnere. Irgendwann sehe ich etwas, fühle
etwas, erlebe etwas, das Teile von unserer Geschichte an die Oberfläche treiben lässt. Und dann sitze
ich, so wie eben, zum Beispiel vor dem Unigebäude und denke an dich. Und das ist irrsinnig, denn
obwohl ich sechs Jahre immer mit Unterbrechungen in diesem Gebäude verbracht habe, hatten du
und ich doch nur drei Monate, höchstens ein halbes Jahr hier zusammen. Es gäbe soviel, wozu du
nicht gehörst, an das ich mich erinnern könnte. Aber nein. Das wäre ja zu einfach. Die Zeit ohne dich
ist nie so intensiv gewesen, dass sie die wenigen Tage mit dir überlagern kann.
Und das schlimme ist: Wir hatten kaum glückliche Tage. Es ist nicht einmal so, dass wir zusammen
waren, oder dass du mehr als einen Bruchteil von dem empfunden hast, was ich für dich empfand.
Manchmal sitze ich irgendwo und ich will Kontakt zu dir aufnehmen, weil du mir fehlst, weil die Zeit
von damals, zu der du gehörst, mir fehlt. Diese Zeit kurz nach dem Abi, als alle Wege offenstanden,
als man noch glaubte, man würde immer etwas erreichen, egal welchen Weg man nimmt. Als man
glaubte, man könnte 1000 neue Freunde finden, man könnte die Welt bereisen und würde sich
irgendwann so in jemanden verlieben, dass man für immer mit ihm zusammenbleiben würde. Es war
die Zeit, in der ich noch zu Gefühlen für jemanden fähig war, ohne mich von meinem Verstand
beherrschen zu lassen. Oder war ich nur nie zu Gefühlen für jemand anderen fähig, weil ich immer
noch welche für dich habe?
Es ist nicht gut und nicht richtig und nicht logisch, dass ich an dich denke und dich sehen will und du
mir so fehlst, dass mein Innerstes manchmal zum Zerreißen gespannt und kurz vor einer Depression
ist, weil mein Leben nicht so ist, wie ich es will, weil ich eigentlich will, dass ich weiß, wie es dir geht,
was in dir vorgeht, weil ich manchmal dieses dumme Gefühl habe, nicht ganz zu sein ohne dich. Und
dabei war doch alles nur Einbildung. Dabei war ich nie ganz, wenn du bei mir warst, dabei hast du
vermutlich nach unserer Zeit nie einen Gedanken an mich verschwendet und tust das auch nun nicht.
Und ich bin dumm. So dumm. So unfähig, mich in jemand anderen zu verlieben.
Für mich war immer klar, dass wir nicht zusammen sein können. Wir würden uns zusammen nicht gut
tun. Das wusste ich. Und trotzdem brauchte ich dich. Ich musste dich sehen, regelmäßig, ich musste
mir Abfuhren oder Küsse einholen; und sahen wir uns zwei Wochen mal nicht, habe ich dich so
vermisst, dass mir Tränen liefen. Und ich vermisse dich immer noch.
Der letzte Tag, an dem ich richtig glücklich war, liegt mehr als sechs Jahre zurück: Silvester 2002 bzw.
Neujahr 2003. Es war die letzte Nacht, in der es nur uns beide inklusive Küssen gab. Es war die
Nacht, in der ich dir sagen wollte, dass ich dich liebe. Aber ich tat es nicht – wieder nicht. Vermutlich
hätte es keinen Unterschied gemacht, denn du hättest es eh nicht erwidert. Aber dann hättest du es
wenigstens sicher gewusst.
Wir haben uns kennengelernt zu einer Zeit, in der ich mir sicher war, fast alle Typen abbekommen zu
können und keinen wirklich zu brauchen, so dass ich ruhig allen fremdgehen konnte. Ich hatte kaum
Skrupel, kaum Grenzen und nur sehr wenig Moral. Lange Zeit hatte ich jemanden begehrt, der über
diese ganze Zeit hinweg eine Freundin gehabt hatte und den ich dennoch mehrere Male dazu hatte
bringen können, mich zu mit der gleichen Begierde zu küssen, die ich für ihn empfand. Es war wie ein
Rausch gewesen. Und 2000 war das rauschhafteste Jahr von allen: Ich bin durch die Disco- und
Männerwelt gefegt, als hätte ich nur jene kurze Blütezeit, die die meisten Frauen haben, und als
hätte ich noch einiges nachzuholen.
Auf Gefühle nahm ich dabei kaum Rücksicht, denn ich war der Meinung, dass die meisten Typen
vermutlich eh keine hatten und die Dinge, die sie mir sagten, oft nur sagten, um mich rumzukriegen
und nicht sagten, weil sie der Wahrheit entsprachen. Obwohl ich auf der Suche nach Liebe gewesen
bin, war ich doch zu zynisch, um sie anzunehmen, wenn man sie mir entgegenbrachte. Ja, ich nahm
sie nicht nur nicht an, ich schmiss sie demjenigen, der sie bereit war, mir zu geben, hart wieder gegen
die Brust zurück.
Der Abend, an dem wir das erste Mal sprachen, war an einem Mittwoch und ich hatte nicht meine
traditionelle Discokluft, bestehend aus einem engen Oberteil und einem sehr kurzen Rock, an,
sondern war unauffällig angezogen, aber anscheinend doch auffällig genug, um dein Interesse an mir
zu wecken. Doch vielleicht hat sich dieses Interesse auch nur entwickelt, weil du, der du zufällig mit
deinen Freunden an unserem Tisch im Bistro gesessen hast, in unserer Abizeitung mein Porträt
durchgelesen hast und rausbekommen wolltest, ob ich wirklich so bin, wie es dort drin steht. Meine
reizenden Freundinnen, die das Porträt geschrieben hatten, hatten nämlich nicht verheimlicht, dass
ich ziemlich unbekümmert mit meinem Ruf umging und ich glaube der Satz „Bei welcher Nummer
sind wir mittlerweile?“ fand sich auch in dieser Charakterskizze. Wenn ich ein Mann gewesen wäre,
hätte man mich in früheren Zeiten als Draufgänger betitelt, nun erhielt ich wohl eher das negative
Attribut einer Schlampe, was so vollkommen verkehrt war, als dass ich nur mit einem Typen, und mit
dem war ich in einer festen Beziehung gewesen, geschlafen hatte, und zu dem Zeitpunkt, an dem das
Porträt entstanden war, nämlich am Ende des vorhergegangenen Jahres, noch überhaupt mit
niemandem geschlafen hatte. Sämtliche Gerüchte über mich, sämtlichen Klatsch, den meine
angeblichen Freundinnen in meinem Abiporträt breittraten, beschränkte sich auf das Küssen. Und
das meiste Küssen hatten sie nicht einmal mitbekommen.
Jedenfalls weckte es dein Interesse an mir, dieses Porträt. Und in den nächsten zwei Wochen trafen
wir uns, um uns kennenzulernen. Wir stellten schnell fest, dass wir uns bereits „kannten“. Wenn es
nicht so kitschig klingen würde, dann würde ich uns als so etwas wie Seelenverwandte beschreiben:
Oft sprach ich zu Ende, was du gerade erst angefangen hattest zu denken, und oft konntest du Blicke
und meine Körperhaltung deuten, wie kein anderer. Du glaubtest, ich hätte die gleiche asoziale
Einstellung zum Leben und zu Beziehungssachen und ich machte es dir leicht, das zu denken, da ich
dir nicht verschwieg, dass ich in meiner Beziehung fremdgegangen war und dass ich in relativ kurzer
Zeitspanne recht viele Typen geküsst hatte. Doch in den zwei Wochen, die wir zusammen waren, bis
ich in meinen wohlverdienten Assiurlaub nach Lloret de Mar fuhr, konntest du mich nicht ins Bett
kriegen, was wohl das eigentliche Ziel dieser zwei Wochen gewesen sein dürfte. Stattdessen
verbrachten wir an einem Abend kurz vor meiner Abreise den wunderschönsten, kitschigsten Abend
zusammen im Wald auf einem hölzernen Ausguck. Und statt viel miteinander anzustellen, redeten
wir hauptsächlich. Wie viele Leute das bereits getan hatten und noch tun würden, hast du dich mir
geöffnet und mir Dinge erzählt, die du sonst nie so bereitwillig anderen Menschen offenbart hattest.
Und mit einem Mal wollte ich nicht mehr in den Urlaub fahren. Ich wusste instinktiv, dass es danach
mit uns vorbei sein würde, und ich wollte an uns festhalten. Ich wollte dich weiterhin so intensiv
langsam küssen und mit dir über Erlebnisse und Träume sprechen, mit dir irgendwo sitzen und
zwischen einigen Küssen und vielen Worten die Welt an uns vorbeiziehen sehen. Doch ich fuhr in
jenen Urlaub und als du auf meinen Anruf aus ihm so komisch reagiert hast, dass ich ahnte, dass du
bereits ne Andere hattest, kehrte ich in meine Baggerschiene zurück, küsste an vier Abenden vier
Typen und kam mit dem letzten mehr oder weniger zusammen. Und mit dem schlief ich dann auch...
Nach dem Urlaub hast du mich bei Seite genommen, um mir klar zu machen, dass du in der Zeit, in
der ich weg war, gemerkt hast, wie „geil“ es sei, solo zu sein und dass du, auch wenn es schön war,
nicht mehr mit mir zusammen sein wolltest. Und ich habe genickt und gefragt: „Wie viele hattest du
denn, während ich weg war?“ – und du hast gesagt: „Zwei, aber darum geht’s nicht.“ – und ich habe
erwidert: „Na, dann hab ich dich ja geschlagen.“ Und du hast die Augenbrauen hochgezogen und
gefragt: „Was?“ – und ich habe getrotzt: „Na, ich hatte vier im Urlaub.“ – „Was??? Vier?“ – „War ja
kein Kunststück. Wir können ja trotzdem mal irgendwann miteinander schlafen.“ – Und du bist zu
deinen Freunden und hast berichtet, dass ich „vier gehabt“ habe und das wurde dann praktisch zu
meinem zweiten Vornamen. Wie das tapfere Schneiderlein, das sieben hatte, war ich die, die vier
hatte. Und wie das Schneiderlein, das nur Fliegen hatte, hatte ich nur Küsse (ok, bis auf den einen
Typen, mit dem ich dann noch von Juni bis August irgendwie zusammen war und dem ich, wären wir
wirklich zusammen gewesen, einige Male fremdgegangen wäre). Aber ich war (natürlich) die
Schlampe. In deinem Kopf und in den Köpfen deiner Freunde. Und zunächst war es mir egal. Denn ich
wollte dich ja gar nicht. Ich war nicht verliebt gewesen, ich hatte einfach nur Interesse an dir gehabt.
Und wenn wir uns sahen, sprachen wir miteinander, aber ich trauerte uns nicht hinterher.
Ich kann gar nicht sagen, wann das anders wurde; aber nur zwei Monate später landeten wir wieder
beieinander und ich wusste, dass ich dich von mir überzeugen wollte. Doch immer wenn du gerade
dabei warst einzuknicken, hast du mir „vier Typen“ vor den Kopf geknallt und mich abgesäbelt.
Außerdem hattest du dich in eine kleine, nicht allzu interessante Blonde verliebt, die der Sorte
Mädchen entsprach, die nach deinem Schema war. So waren viele vor mir und so waren viele nach
mir. Du wolltest immer lieber Frauen um dich, die du manipulieren konntest, und bei mir konntest du
das nie so wirklich. (Oder doch?)
Aber egal war ich dir auch irgendwie nicht. Einmal, als du mehrere Male mitbekommen hattest, dass
ich mich gut mit einem bestimmten deiner Freunde unterhalten hatte und du (berechtigterweise)
angenommen hast, dass zwischen uns was lief, bist du vor versammelter Fußballmannschaft Sonntag
vor dem Spiel zu ihm hin und hast gemeint: „Was hast du eigentlich mit meiner Gelegenheitsfreundin
zu schaffen?“ – und für die, die es hörten, war es eine eifersüchtige Frage und keine „Kumpel-wirkönnen-sie-ja-teilen“-Frage. Und mir hast du ungefähr zur gleichen Zeit „Schlampe“
hinterhergerufen... womit du nicht ganz unrecht hattest, denn mittlerweile hatte ich zwar immer
noch nicht mit mehr Typen als zweien geschlafen, aber jede zweite Woche wen anders küssen, zeugt
trotzdem nicht von gutem Benehmen. Und immer wieder gehörtest du zu diesem Kusskreis, wie du
mit dem Begriff „Gelegenheitsfreundin“ ja schön auf den Punkt gebracht hast. Natürlich hast du
deinen Freunden erzählt, dass wir auch Sex hätten, denn sonst wärst du kein ganzer Kerl gewesen
und ich wäre meinem Schlampenruf nicht gerecht geworden, aber du und ich, wir wissen, dass es
den Sex nie gegeben hat und dass es demnach nicht Sex gewesen sein kann, der uns zueinander
hingetrieben hat.
Gute und schlechte Momente wechselten sich rapide zwischen uns ab. An den einen Abenden flirtete
ich mit anderen Typen und du mit anderen Mädels (wobei ich mehr Treffer landen konnte als du,
zumal du dir überlegt hattest, dass du dich ändern wolltest), an den anderen Abenden, unterhielten
wir uns so lange, bis unsere Hände einander fanden und wir uns küssten. Es gab die Nacht in der
Disco, in der ich dich und einen Freund mit nach Hause nahm und ihr euch gegenseitig mit Freestylen
übertrumpft habt und du mich zum Abschied so zart geküsst hast, deine Hand so sacht an meine
Wange gelegt hast, dass meine Freundin, die dich nur hatte aussteigen lassen wollen und die das sah,
später meinte: „Wie kann er dich so küssen, wenn er nichts für dich empfindet?“ Es gab den Tag in
der Uni, als ich mich mit meiner ehemaligen Tutorin – das Studium hatte ich schon wieder nach
einem Monat dran gegeben (erstmal zumindest) – verabredet war, und stattdessen dich zufällig im
Gebäude traf, und du mich fragtest, ob ich mit dir und deinen Freunden zum Weihnachtsmarkt
gehen wollen würde, und ich nickte, und du mich einem deiner Freunde als Exfreundin vorstelltest
und der meinte „Ohoh...“ und du meintest „Nee, ist schon OK. Wir haben uns geliebt und gehasst
und eigentlich hat es ganz gut mit uns gepasst“. Wenig später sagtest du, dass dir kalt sei und gabst
mir, weil ich Handschuhe trug, deine Hand zum Wärmen; und es gab den Abend nur einige Tage
später, von dem du meintest, ich hätte dir meine Zunge ins Gesicht gehalten, so dass ich danach auf
Abstand zu dir ging und kaum mit dir sprach, dich wenig beachtete und du doch immer wieder zu mir
gekommen bist, um dich mit mir zu unterhalten.
Ich würde gern sagen, dass du mich manipulieren konntest, wie du die Blonden manipuliert hast,
denn damit wäre die Sache zwischen uns einfach erklärt und abgetan... aber... dass du meine Nähe in
dieser Zeit nach deiner rüden Abfuhr gesucht hast, spricht eigentlich dagegen, dass du mich lediglich
manipulieren wolltest. (Oder spricht auch das dafür?) Seltsamerweise waren das die Wochen, die uns
zu so etwas wie Freunden machten. Weil ich mich abweisend verhielt und unsere Gespräche nicht in
Küssen endeten, sondern ich mir direkt vor deiner Nase wen anders zum Küssen gesucht hatte (mal
wieder einen deiner Freunde; besonders klug war ich wirklich nicht), kamen wir uns durch Gespräche
langsam auf einer anderen Ebene als vorher näher. So nahe, dass wir an einem Abend bzw. in einer
Nacht, in der wir ziemlich lange miteinander geredet hatten, und du dich oft zu mir gesetzt hattest,
während ich dauerhaft auf meiner Couch gethront hatte, auf dem Rücksitz von unserem
gemeinsamen Chauffeur dichter aufrutschten. Du hast mich angesehen und mich gefragt: „Bist du
etwa angeschnallt?“ – „Natürlich, so muss das doch sein.“ Da hast du gemeint: „Das werden wir
ändern“ und hast mich abgeschnallt. „Und wenn wir nun einen Unfall haben und ich sterbe, dann bist
du Schuld.“ - „Na und? Dann bin ich ja auch tot“, hast du gesagt und ich habe geneckt: „Dann gibt es
einen Idioten weniger auf der Welt“, da hast du gefragt: „Was hast du gerade gesagt?“, hast
begonnen mich zu kitzeln, ich habe dich in die Wange gebissen und daraufhin hatten wir einen
Zeitlupenmoment, ehe wir uns küssten. Am nächsten Tag hast du dich bei mir gemeldet, was du nach
den anderen Küssen nie getan hast, und hast ein Treffen vorgeschlagen, doch ich war dreihundert
Kilometer weit weg bei meiner Tante. Und das folgende Wochenende lief es wieder beschissen
zwischen uns. Du musstest mir an den Kopf werfen, dass du nur in der Disco warst, weil du dachtest,
hier ne Kommilitonin treffen zu können. Doch als ich dich am Ende der Nacht bei dir zuhause
abgesetzt habe, hast du gefragt: „Morgen Kino?“ und ich gezickt: „Nein, ganz sicher nicht.“ „Rufst du
mich denn an?“ (Subtext: Weil ich es eh nicht machen werden.) Und ich habe höhnisch gefragt: „Um
mit dir zu reden?“ – „Ja, denn jetzt bin ich eh dicht.“ – Und was genau hätte es eigentlich zu reden
gegeben? „Nein, das bringt doch alles eh nichts.“ - Und du sagtest zerknirscht: „Tut mir leid.“ –
„Was? Dass du ein Arsch bist?“ – „Ja, genau.“ – „Super“, habe ich gesagt und bin weggefahren.
Was waren wir zu diesem Zeitpunkt? Ich habe keine Ahnung. Ich weiß nur, dass es mir nicht nur übel
ging, weil ich nicht wusste, was ich mit meiner Zukunft beginnen sollte, sondern auch, weil ich
merkte, wie sehr dich der Alkohol verändern konnte. Schon immer hatte ich mir Gedanken gemacht,
weil du zu viel zu oft getrunken hast und dir die Maxime gesetzt hattest: „Ein Jahr nur Party und
Alkohol und dann richtig studieren“, aber ich hatte befürchtet, ja, ich hatte insgeheim gewusst, dass
es nicht bei dem Jahr bleiben würde; ich hatte schon damals Angst um dich und dass du darauf
hängen bleibst. Sicher, die positive Seite am Alkohol ist gewesen, dass du mir zugeneigter warst, aber
ich denke, dass ich lieber darauf verzichtet hätte, wenn das geheißen hätte, dass du weniger trinkst.
Wir waren auf jeden Fall in dieser Zeit so viel füreinander, dass du bereit warst, dich für mich und
meine Ehre zu prügeln. Obwohl meine Einstellung hinsichtlich der Typen nicht viel besser geworden
war, hatte meine Verliebtheit in dich doch zur Folge, dass ich mich mit niemand anderem wirklich
intensiv beschäftigt habe und dass ich, auch wenn ich den einen oder anderen mal küsste, nie auch
nur das geringste Bisschen an Gefühlen für wen anders hatte. Eine Woche nach diesem letzten
Gespräch war der erste Abend von nicht unbedingt wenigen, an denen du dich (für mich) prügeln
wolltest und ich dich davon abhielt. Wir hatten uns in der Disco gut verstanden, doch ich hatte
Abstand zu dir gehalten, um meinem kleinen Herzchen eine Auszeit von dir zu geben. Vielleicht war
ein anderer Grund, dass der Typ mit der Freundin, den ich vor dir so sehr begehrt hatte, da war und
ich im Unklaren darüber war, ob ich wollte, dass was zwischen ihm und mir – um der alten Zeiten
willen – läuft. Darüber habe ich zumindest so lange nachgedacht, bis ich von der Wette erfuhr, die er
mit seinem Freund abgeschlossen hatte, nämlich, dass er mich rumkriegen würde. Da war ich sauer
geworden und hatte nicht mehr mit ihm gesprochen. Du und ich hatten uns draußen hingesetzt, um
auf die anderen zu warten, und er kam an uns vorbei, fragte mich, wieso ich nicht mehr mit ihm
geredet hätte und ich sagte „Weil du Wetten auf mich abschließt.“ – „Hab ich nicht.“ – „Doch, und
eben hast du es noch zugegeben. Also lüg jetzt nicht. Geh einfach.“ Und du bist aufgesprungen, in
Balzhaltung, und ich hab dich zu mir zurückgezogen, dich fest angesehen und gefragt: „Was willst du
machen?“ – „Mit ihm reden. So kann er nicht mit dir umgehen!“ – „Nein, bleib hier“, und ich habe dir
kurz die Geschichte zwischen ihm und mir erzählt, um dich abzulenken, und du hast gefunden: „Du
bist zu gut für ihn.“ Dann kamen zwei junge Typen an, von denen der eine mir seinen Schuh unter die
Nase hielt und meinte: „Mach ihn sauber.“ – „Spinnst du?“ – „Na, wenn ihr beide da so unten sitzt,
dann kann man auch so mit euch reden.“ Er meinte, dass wir, weil wir auf dem Bürgersteig saßen,
eine Pennerhaltung inne hatten. Wieder bist du aufgesprungen, diesmal warst du zu schnell, als dass
ich dich aufhalten konnte, und bist den beiden hinterher. Und ich bin dir hinterher, habe dein Gesicht
in die Hände genommen und deinen Blick so bei mir gehalten: „Lass sie. Sie sind es nicht wert.“ – „Ich
mach die fertig.“ – „Ignorier sie!“ – „Aber ich schaff die beiden.“ – „Aber ich will das nicht.“ Ich habe
dich weggezogen, zum Abschied haben wir uns einen kurzen Kuss auf den Mund gegeben, dann sind
wir in getrennten Autos nach Hause gefahren. Ich glaube, dass das spätestens der Abend war,
seitdem ich so etwas wie eine gute Freundin für dich war.
Leider kam uns das Küssen immer wieder dazwischen. Das Küssen und meine Gefühle für dich. Ich
wollte mehr und ich konnte mich mit den Küssen nicht zufrieden geben. Ich wollte nicht verstehen,
dass sie für dich eine Nebenbeschäftigung waren, während sie mir so viel bedeuteten. Nachdem wir
uns das nächste Mal, nur wenige Wochen nach diesem Prügelabend, küssten, und du wieder gefragt
hast: „Morgen Kino?“ und dich dann am nächsten Tag nicht gemeldet hast, wusste ich, dass ich
weder in die eine noch in die andere Kategorie reinfalle, nach der du Mädchen definiert hast: „Bei
manchen meldet man sich am nächsten Tag, bei manchen hat das was länger Zeit.“ Bei mir hättest du
dich gar nicht gemeldet.
Es war wieder an der Zeit, meinen Trotz einzuschalten. Ich hatte den Eindruck, dass ich dir zu viel von
mir gegeben hatte. Also zog ich aus und suchte mir einen anderen Freund. Drei Wochen waren er
und ich zusammen, dann kam Karneval, ich küsste wen anders, er küsste wen anders und wir
machten Schluss. Es war eh nicht wichtig, nur ein Zeitvertreib. Einer von so vielen. Vielleicht auch
nicht nur ein Zeitvertreib, sondern ein Egoauftrieb: Wenn du mich nicht wolltest, dann musste ich
mir zeigen, dass andere mich wollten und dass ich auf dich nun wirklich nicht angewiesen war. Und
das zeigte ich dir im März dann gleich zweimal, weil ich mich zweimal abgewendet habe, als du mich
hättest küssen wollen. Das erste Mal war vor einer deiner Exfreundinnen, die später starke
Anzeichen von Magersucht zeigte, und die uns an diesem Abend die ganze Zeit angestiert hatte, bis
wir uns provozierend in die Arme nahmen, du das dann aber anscheinend ausweiten wolltest. Das
zweite Mal war ein oder zwei Wochen später: Ich hatte mich mit einem aus der Clique unterhalten,
den du nicht mochtest und deine Augenbrauen zogen sich zusammen, je mehr wir sprachen. Als er
mir dann auch noch einen Handkuss geben wollte, hast du ihm fast seine Hand von meiner
weggeschlagen. Also beendete ich das Gespräch und du und ich tanzten kurz, bis du dich vor mir
aufgebaut hast und deinen „Ich-küss-dich-gleich“-Blick drauf hattest; da habe ich deinen Blick
gemieden. Nach dieser Disco sind eine Freundin, du und ich noch in eine andere Disco gefahren, wo
ich dich einmal im Airhockey geschlagen habe (du mich dreimal), und du bei einem Lied sagtest, ich
solle auf den Text hören. Der Typ sang von einer Frau, die ihn liebte, und du hast auf dich und mich
gedeutet. Ich habe gelacht und dir einige Schläge versetzt. Geküsst habe ich dich jedenfalls nicht.
Aber Recht hattest du natürlich trotzdem.
An dich gebunden haben mich vermutlich weniger die Abende, an denen mal du mich, mal ich dich
abwies oder an denen wir unsere Lippen und Zungen spielen ließen, sondern die Abende, an denen
es nur uns beide gab, auch wenn wir meistens von den anderen umgeben gewesen sind. Einer dieser
Abende war Anfang April, als ich mich schon entschlossen hatte, ein Studium in W. zu beginnen und
A. zu verlassen, und als du immer noch in deinem offiziellen Partyjahr warst, obwohl dir so langsam
das Geld ausging. Wir feierten in A. den Geburtstag einer Freundin, doch anstatt wirklich mit ihr und
den anderen zu feiern, standen wir nebeneinander an der Tanzfläche und dachten uns aus, dass wir
eine Callgirl-Agentur eröffnen würden, in der wir gleichberechtigte Partner seien, mit dem
Unterschied, dass du die Mädels austesten musst, während ich nur dich haben durfte. Wir wägten
die Menschen um uns herum ab und entschieden, welche wir ins Boot holen würden und welche
nicht. Wir lästerten über die gerade allseits beliebten Hüftkettchen, die ich nicht trug, und du
meintest: „Dass du dem Trend nicht folgst, dafür liebe ich dich fast schon wieder“. Aber obwohl wir
mit dem Mistreden viel Spaß hatten, sprachen wir auch über ernstere Sachen und ich sagte dir, dass
deine Cliquenfreundschaften oberflächlich seien. Du hast das abgestritten und wolltest davon nichts
wissen, denn das seien deine guten, deine engen Freunde. Doch im Grunde würde ich Recht
behalten. In der Partyzeit waren sie gut, aber als du sie später brauchtest, waren nur noch ganz, ganz
wenige davon da. Am Ende des Abends suchte ich, unter anderem über die Freundschafts- und
Alkoholthematik, ein Streitgespräch mit dir. Ich warf dir vor: „Es ist einfach nur arm, wie sehr ihr alle
den Alkohol braucht. Er macht das Hirn kaputt, drückt auf den Geldbeutel und schwächt die Potenz.
Du hast gesagt, du wolltest ein Jahr Party machen. Und nun? Fängst du nun bald an zu studieren?
Drei Klausuren hast du schon in den Sand gesetzt. Das Trinken hat dir echt viel gebracht“, und als ich
dich bei dir Zuhause absetzte, wollte ich zwei Mark Fahrgeld haben. Die wolltest du mir nicht geben,
obwohl es wirklich Peanuts waren. Du hast mich zur Sau gemacht, wie uncool ich sei, und in der
darauf folgenden Woche war ich immer noch so sauer auf dich, dass ich dir mein Wasserglas über
dem Kopf ausgeschüttet hab. Gute Abende führten wie in einem unaufhörlichen Wellengang zu
schlechten, und manchmal mündete der gute Anfang eines Abends in einem üblen Ende. Trotzdem
hatten für zwei oder drei Stunden in dieser Disco nur du und ich existiert: Während wir Müll und
Ernst geredet hatten, waren wir uns selbst genug.
Und während ich eigentlich Streit mit dir hatte, hattest du ihn offensichtlich nicht mit mir, denn eine
Woche nach dem Wasser-Vorfall bist du zu mir gekommen und meintest: „Alle sagen, wir hätten
Streit.“ – „Haben wir ja auch.“ – „Also ich habe keinen Streit mit dir.“ – Na toll, du hattest ihn aber
vom Zaun gebrochen... „Ich rede zumindest nicht mit dir“, habe ich gesagt, mich umgedreht und das
Gespräch beendet. Dann kam ein Typ zu mir, den ich kannte, aber du nicht, riss ein Herz (schon für
den 1. Mai) aus der Deko heraus und überreichte es mir. Du hast einen halben Meter weiter
gestanden und zusehen müssen. Ich habe den Typen angegrinst, das Herz genommen und es auf
einem Tisch hinter mir deponiert. Als ich mich wieder dem Typen zugewendet und etwas mit ihm
herumgealbert habe, hast du das blöde Herz genommen und es, den Typ provozierend, zerrissen.
Während du und er ein bisschen herumgebalzt haben, habe ich die Augen verdreht und deine,
meine, unsere Freunde haben gegrölt und wissend gelacht und einer meinte zu mir: „Ich glaube, da
ist jemand eifersüchtig.“ – Hätte man deine Aktion irgendwie anders verstehen können? Kurz danach
hatte ich keine Lust mehr auf die Disco, du zufällig auch nicht, und wir sind – man bedenke den Streit,
den ich eigentlich mit dir hatte – zusammen, zu zweit, weiter auf eine Studentenfete nach A.
gefahren. In jenes Gebäude wieder, vor dem mir eben die Tränen kamen, weil ich auf einmal unsere
Schatten gesehen habe. Die Schatten die wir während der Fete warfen. Den Streit mit dir hatte ich
vergessen, denn ich hatte dich für mich, und das war mir wichtiger als alles andere. Du und ich, wir
waren auf dieser Fete, die Musik war studentenfetenschlecht, das Bier, das ich dir durchs An-michbringen von Pfandbechern umsonst besorgte, vermutlich eher schal. Aber es war voll dort und du
warst es auch einigermaßen. Als wir ankamen und ich uns durch die Leute schlängelte, hast du
festgestellt: „Wow, alle, echt alle Typen sehen dich an und dir hinterher.“ Und ich dachte mir, dass
dir das eigentlich was sagen sollte. Aber du hast dir erst mal noch ein paar Bier hinter die Binde
gekippt, von denen ich dir einige besorgt habe bzw. die mir einige Typen gegeben haben und die ich
dann an dich weiterreichte. Irgendwann, aufgrund des Biernachschubs, hast du festgestellt: „Du bist
die Frau zum Heiraten.“ Und so standen wir da, die Fete neigte sich dem Ende zu, die Musik war
immer noch schlecht, die Leute gafften immer noch, und ich war zwischen deinen Beinen platziert,
dein einer Arm lag locker um meine Taille, mit der anderen Hand hast du das Bier festgehalten. Bis
wir uns zu küssen begannen. Ich sehe unsere Schatten am Treppenaufgang gelehnt stehen und sehe,
wie du mir in den Hals gebissen hast, wie ich dich necke, wie wir uns küssen, bis die Securityfrau uns
rausschmeißt. Einander stichelnd und lachend fahren wir nach Hause, wo ich dich abliefere. Du hast
mich erneut gefragt, was ich am nächsten Tag vorhabe, und ich musste dir sagen, dass ich wieder bei
meiner Tante dreihundert Kilometer weit weg bin. Wir sagten uns, dass wir uns am Mittwoch auf der
anderen Studentenfete sehen und das taten wir. Wir gingen sogar freundlich und normal
miteinander um.
Manchmal, wie an diesem Abend oder auch nur wenige Tage später, hast du feststellen müssen, dass
ich hübsch bin. Du hattest Anfang des Jahres mal bemerkt, dass ein Freund von dir zu dir sagte, ich
sei süß und dass das stimme. Dann diese Fete, bei der du gemurmelt hast: „Alle Typen sehen dich an,
aber echt alle“, dann zwei Wochen später, als du kopfschüttelnd meintest: „Von allen Mädchen, die
solo sind, siehst du am besten aus.“ – Ich hatte grinsend entgegnet: „Dann sind wohl nicht viele solo,
oder?“ – „Doch, ungefähr alle, bis auf drei.“ Ich nahm es nie als Komplimente auf; es waren stets
eher widerwillige Feststellungen, bei denen dir aufzugehen schien, dass ich eben doch nicht nur ein
Kumpel sein konnte bzw. war, sondern ein weiblicher, sehr weiblicher Kumpel. Wir küssten uns nach
dieser letzten Bemerkung nicht. Ich habe es nicht zugelassen, obwohl du, dicht wie du mal wieder
warst (du bist sogar vom Barhocker geflogen), dich wohl dazu bereit erklärt hättest. Aber ich habe –
was bekanntlich selten genug vorkam - meinen Kopf eingeschaltet gelassen.
Wir hatten uns in dieser Zeit, eigentlich seit dem vorangegangenen Sommer, fast wöchentlich
gesehen, oft auch zweimal die Woche. Und du warst zu einem festen Bestandteil in meinem Leben
geworden. Das wurde mir vor allem in jenen ersten drei Wochen in W., wo ich mein Studium wieder
aufgenommen hatte, klar. Im Mai kam ich nämlich diese drei Wochen nicht nach Hause, weil ich
fand, ich müsse mich ein bisschen einleben, ich könne mir den Sprit sparen, ich habe keine Lust auf
die heimatlichen Discos und ich solle mich am Wochenende auf meinen neuen Job als Bademeister
konzentrieren. Schon nach zwei Wochen fühlte ich, dass du mir fehltest. Und als ich mit einer
Freundin telefonierte und sie mir sagte: „Ich weiß gar nicht, ob ich dir das sagen soll... Aber er hat
nach dir gefragt. Und ich habe gesagt, du bleibst in W. und dass ich dich vermisse, da hat er gemeint:
‚Sag ihr das bloß nicht, aber ich vermisse sie auch‘, und er hatte nur zwei Bier getrunken“, da musste
ich weinen, weil ich dich wirklich vermisst habe und weil ich so froh war, dass es dir anscheinend
ähnlich ging.
Wie habe ich unserem Wiedersehen entgegengefiebert und wie wenig wusste ich, wie ich mich
verhalten sollte. Ich war schon Vatertag zuhause und habe euch Jungs beim Fußballspielen zugucken
wollen: Alle waren da, bis auf dich. Du hast dich, als du davon hörtest, beschwert: „Da kommt sie
mal, und ich bin nicht da.“ Und bist du gefragt worden: „Du hängst schon ziemlich an ihr, oder?“ und
hast geantwortet: „Nein, ich mag sie eben nur.“ Dann war ich freitags am Baggersee und du meintest
abends, wenn du das gewusst hättest, wärst du auch hingekommen. Und Freitagabend sahen wir uns
also. Ich habe dich erst ignoriert, weil ich nicht wusste, wie ich mit uns umgehen sollte, doch du bist
zu mir gekommen und hast mich mit meinem neuen Job als Bademeister aufgezogen. Ich habe
behauptet, die Wasserballer würden alle ziemlich gut aussehen, was auf zumindest zwei zugetroffen
hat, und du hast dich dagegen gestellt: „Die sind doch eh alle schwul. Was weiß ich, was die unter
Wasser machen.“ Ja, sicher... Während des aggressiven Spiels fummeln die noch ausgiebig. Ich,
ziemlich betrunken, habe mit einer Freundin getanzt, und du, noch nicht ganz so betrunken wie ich,
hast deinen Freund angestupst und gemeint: „Unsere Frauen tanzen ziemlich bescheuert“, woraufhin
er erwidert hat: „Eigentlich nur deine, denn die ist voll.“ Es war einer jener Abende, an denen wir
beieinander geblieben sind. Eine Zeit lang standen wir alleine an der Tanzfläche, dann gesellten sich
die anderen zu uns und doch blieben wir für uns. Du hast den Kopf schräg gelegt und ich habe
lachend meinen geschüttelt: „Vergiss es, ich küss dich nicht, während die anderen zugucken.“
Zwischen deinen Beinen stehend, während du auf der kleinen Bühne gesessen hast, hast du mich
näher zu dir gezogen, bist über meinen Po gegangen und hast festgestellt: „Ich mag ihn.“ „Lass ihn.“
Und etwas später: „Weißt du, ich finde dich wirklich faszinierend.“ – OK, der Anfang war nicht
schlecht: „Wieso?“ fragte ich argwöhnisch. – „Du bist das einzige Mädchen mit der gleichen
Assieinstellung wie ich.“ – Ja, da war es wieder, das Mich-reduzieren-auf-die-Typen,-die-ichangeblich-mit-ins-Bett-nahm. Kurz danach hast du mir Dinge über dich gesagt, die du sonst sicher
keinem erzählt hast und die ich für mich behielt, obwohl ich die Sache mit dir und mir stets breit
ausdiskutiert habe mit meinen Freundinnen. „Es ist besser, wenn wir nur oberflächlich zusammen
sind“, hast du mir dann, zwischen kleinen Küssen auf Stirn, Wange und Hals, deine Theorie erklärt:
„So hat keiner Anspruch auf den anderen und niemand kann verletzt sein, wenn der andere dann
was mit wem anders hat.“ – Aber irgendwie hat das nie gestimmt. Gut, ich habe dich nur zweimal, im
vorangegangenen Sommer wen anders küssen sehen, aber ich habe es gehasst. Und deine Reaktion
zu den Typen, mit denen ich was hatte oder von denen du glaubtest, dass ich was mit ihnen hatte,
waren auch relativ... sagen wir... eindeutig eifersüchtig. Die Nacht neigte sich dem Ende zu, uns
wurden nur noch zehn Minuten gegeben, dann würdest du nach Hause gefahren werden. Ich zog
dich in den anderen Raum, weg von der Gruppe. Und wir küssten uns. Meine Arme lagen um deinen
Hals, als ich fragte: „Und nun?“ – „Ich weiß nicht, wieso ich nicht mit dir zusammen sein möchte.“ –
„Aus Angst?“ – „Kann sein. Weißt du, ich habe dich in den drei Wochen wirklich vermisst. Als ich von
deinem Bademeisterjob erfahren habe, musste ich erst lachen, dann habe ich gemerkt, dass du mir
fehlst.“ – „Aber morgen hat sich trotzdem nichts geändert, oder?“ – „Doch. Und wenn wir so
weitermachen, heiraten wir eh.“ Obwohl ich es vielleicht besser wissen musste, habe ich dir in diesen
Momenten geglaubt (nicht das mit dem Heiraten...). Ich wollte dir glauben; aber vielleicht waren das
die Momente in denen du mich wie so viele andere nur manipuliert hast? Vielleicht war es auch nur
der Alkohol, der aus dir sprach. Ich weiß es nicht. Tatsache ist, dass du dich nicht gemeldet hast. Ich
hielt es bei meiner Mutter nicht aus und bin Sonntagmorgen total verheult mit dem Auto nach W.
gefahren. Das Weinen war so schlimm, dass ich an einem Rastplatz halten musste, weil ich nichts
gesehen habe. Kaum war ich in W., bin ich wieder mit dem Zug zurück nach Hause, weil ich es allein
auch nicht ausgehalten habe. Ich bin abends wieder nach W. zurückgekehrt, nur um am nächsten Tag
erneut heimwärts zu fahren, dich am Bahnhof abzupassen und zur Rede zu stellen. Du hast nur mit
den Schultern gezuckt und in deiner harschen Art befunden: „Tut mir Leid, OK? Fang eben nichts mit
mir an, wenn ich betrunken bin.“ – „Sag einfach nicht mehr, dass du dich meldest.“ Ich war wie in
Trance als ich zurückfuhr. Ich hasste dieses andere Wesen, das du werden konntest, wenn kein
Alkohol deine Adern durchfloss und das du nicht gewesen warst, als wir uns kennengelernt hatten,
denn da hattest du ja auch oft keinen Alkohol in dir und warst trotzdem anständig.
Ich wusste, dass ich dich liebte, denn du hättest mir nicht so wehtun können, wenn ich dich nicht
geliebt hätte. Aber ich fühlte auch, dass wir nicht zusammen sein würden. Nicht, wie ein richtiges
Paar. Deswegen nahm ich Abstand. Ich lernte Typen in Zügen kennen, von denen ich einen mit nach
Hause nahm, und ich lernte Typen bei meinem Job kennen, von denen ich ebenfalls einen mit nach
Hause nahm (und erst abgeschreckt wurde, als der meinte: „Ich will dich rammeln“, und ich dachte:
‚Was? Na, ich dich aber nicht‘, und natürlich nicht mit ihm schlief). Allen Falschangaben zum Trotz
hatte sich die Zahl derer, mit denen ich geschlafen hatte seit der letzten Nennung lediglich auf vier
verdoppelt und du hast nicht zu ihnen gehört. Aber so viel war „vier“ nicht, im Vergleich zu der Zahl,
die es hätte sein können. Zwar sah ich dich immer mal wieder, zwar sprachen wir auch miteinander,
aber ich hielt unsere Körper voneinander weg. Schon eine Woche nach meinem Heulzusammenbruch
habe ich dich wiedergesehen, dich ignoriert und mit anderen Jungs gesprochen. Ich habe deine Blicke
bemerkt, und nicht nur ich. Eine Freundin meinte: „Ich versteh ihn nicht. Wenn er dich nicht will,
wieso guckt er dann jetzt so verletzt, wenn du mit anderen redest?“ – Ich konnte nur hilflos die
Schultern heben. Abstand, ich hielt Abstand. Du begannst schlecht von mir zu reden und zu
behaupten, zwischen uns wäre endgültig alles gelaufen. Und ich begann in deinem
Persönlichkeitswandel den Alkohol als Grund zu sehen. Er war es, der dich immer wieder veränderte.
In dieser Zeit erwarteten wir den Tod meines Großvaters, der schon tief vom Krebs gezeichnet
gewesen ist. Doch unerwartet starb zuerst mein Lieblingslehrer. Und du warst die Person, die mich
und meine Trauer am ehesten verstanden hat, die mir angeboten hat, ich solle mich melden, weil du
nicht sehen wolltest und konntest, dass es mir so schlecht ging. Für das Angebot war ich dir dankbar,
auch wenn ich es nicht nutzte. Ich hatte Angst, es zu nutzen, weil es leicht alkoholisiert
ausgesprochen worden war. Und wenn ich mich dann wirklich bei dir gemeldet hätte, wärst du
nüchtern und vermutlich wieder kalt gewesen. Ich weiß es nicht. Das einzige, an das ich mich aus
dieser Zeit erinnere, ist ein Abend in unserer Stammdisco, in der wir uns gut verstanden, obwohl wir
beide Fahrer waren: Wir hatten viel gemeinsam gelästert und als wir vor der Disco auf die anderen
warteten, die noch Jacken abholen mussten, hast du zur Verabschiedung meine Hand genommen
und ich habe einen Knicks gemacht. Du hast gesagt: „Lass uns Tango tanzen.“ – „Ich kann nicht
tanzen.“ – „Ich aber. Tango tanzen geht so: Wir ziehen uns aus und schlafen miteinander.“ – „Im
Bett?“ – „Egal wo. Tango tanzen kann man überall.“ Ich liebe diesen Spruch. Immer noch. Jedesmal,
wenn sein Schatten mich erreicht, muss ich lächeln. Doch küssen taten wir uns nicht.
Es ging mir generell schlecht in diesen Wochen. Und doch war es die Zeit, in der ich echtes Interesse
an jemand anderem entwickelte. Er war der erste Junge seit dir, den ich mochte und mit dem ich mir
mehr hätte vorstellen können, aber er ging eine Woche nach unserem Kennenlernen nach Australien.
Wir behielten Kontakt in Form von sehr langen, sehr guten Emails bei, und als mein Großvater dann
starb, entschied ich, die immer noch nicht wusste, wie ihr Leben weiterlaufen sollte und ob das
Studium in W. das richtige war, dass ich auch nach Australien gehen würde. Ich sagte es dir, aber du
hast nicht reagiert. Hättest du mit irgendeiner Reaktion gezeigt, dass du es scheiße findest, wäre ich
vielleicht sogar nicht gegangen. So aber begann ich es vorzubereiten. Ich hatte noch einige Monate
Zeit, weil ich erst das gerade begonnene Semester zu Ende bringen wollte, aber ich buchte meinen
Flug, beantragte mein Visum, löste meinen Fonds auf und transferierte das Geld auf mein normales
Konto. Nachdem die Weichen gestellt waren und ich dich seit Mitte September nicht gesehen hatte,
kam der Oktober und Ende des Monats der Schulball deiner ehemaligen Schule. Als ich für einen
Moment alleine herumgestanden habe, bist du zu mir gekommen, und ich erzählte dir von der Disco,
in der wir zwei Abende vorher waren und dass du auch mit hättest kommen sollen. „Mit dir und
deinem neuen Freund? Ganz sicher nicht.“ – „Freund? Ich habe keinen Freund.“ Und diesmal
verleugnete ich niemanden, denn ich konnte nicht behaupten, mit jemandem zusammen zu sein, den
ich nur eine Sekunde kannte und der dann nach Australien gegangen war. Das wäre lächerlich
gewesen. „Nicht? Naja, ist ja auch nicht wichtig“, sagtest du, aber ab diesem Moment warst du
anders, weniger distanziert. Oder hatte der Alkohol einfach nur angeschlagen? Du hast an diesem
Abend, schon recht früh, zugegeben: „Du hattest übrigens Recht damit, damals, als du gesagt hast,
wir seien fast alle nur oberflächlich befreundet. Ich wollte das nicht wahrhaben, aber es stimmt.“ –
Ich nickte nur. Was sollte ich sagen? Es ist bestimmt keine schöne Einsicht, zu der du da gekommen
warst, aber – wie du sagtest – eine Einsicht, die ich bereits lange vorher hatte. Ich habe dir an diesem
Abend noch einmal gesagt, dass ich nach Australien gehe. Du hast getan, als würdest du es zum
ersten Mal hören: „Alleine? Was machst du da?“ – „Keine Ahnung. Mal gucken; aber ja, alleine.“ –
„Find ich ziemlich mutig. Naja, bis du gehst, werden wir uns noch viermal in der Disco gesehen und
uns viermal ignoriert haben.“ – „Wieso sollten wir das tun?“ – „Weil wir das immer so machen.“ –
„Das können wir ja ändern“, sagte ich. Ein Typ kam daher und du und er unterhieltet euch kurz und
oberflächlich. Als er gegangen war, hast du mich gebeten: „Wir waren mal befreundet. Sag jetzt
nichts dazu, bitte.“ Und ich nickte nur. Während wir nebeneinander saßen und sich zwischen uns
keine Fremdheit einschleichen wollte, spürte ich, dass es kleine Annäherungen deinerseits gab, in
dem du mir deine Hand öfters mal auf den Bereich der Lendenwirbelsäule legtest, doch ich hielt dich
auf Abstand. Erst als du meintest: „Das ist ein Schulball, lass uns rüber in die Halle zu den Tanzenden
gehen“, wichen sich unsere Hände auf dem Weg dorthin nicht mehr aus, sondern ergriffen sich,
selbstverständlich wie so oft. In der Turnhalle mussten wir erkennen, dass es nicht besser war. Wir
standen voreinander und auf meine Frage „Und nun?“, hast du erst erklärt, ich sei die
Phantasievollere von uns beiden, doch als ich dir sagte, es sei immerhin deine ehemalige Schule und
du kennst dich besser aus, hast du mich wieder bei der Hand genommen und mich an den
unromantischsten Ort überhaupt geführt: In eine Sammelumkleide, die als Garderobe diente und hell
erleuchtet war. Doch als wir dort standen – geküsst hatten wir uns noch nicht, hast du auf mich
herabgesehen und auf einmal ist aus dir herausgebrochen: „Ich will nicht, dass du nach Australien
gehst. Ich weiß, es ist scheiße, aber ich würde dich vermissen. Ich hab dich die letzten Wochen schon
vermisst. Bitte, geh nicht.“ Und ich habe nicht eine Sekunde daran gedacht, dass du das sagtest, um
zu sehen, wie weit du mich manipulieren konntest, sondern weil es der Wahrheit entsprochen hat.
Da habe ich geflüstert: „Ich habe dich auch vermisst.“ Doch du hast den Kopf geschüttelt und mir
nicht geglaubt. Ich konnte Australien nicht mehr aufgeben, die Vorbereitungen waren zu weit
fortgeschritten, ich hatte zu vielen Leuten schon davon erzählt; aber wenn du nur noch etwas mehr
gesagt hättest, hätte ich es mir vielleicht dennoch überlegt. Wir küssten uns lange im grellen Licht
der Umkleide, bis ich fragte: „Ist nun was anders?“ und du geantwortet hast: „Ich glaube schon;
dabei bin ich nicht mal so betrunken.“ Wir haben den Rest des Abends beieinander verbracht und
alle Leute sehen lassen, dass zwischen uns was lief. Tatsächlich hast du dich am nächsten Tag
gemeldet. Tatsächlich haben wir uns in der darauffolgenden Woche gesehen. Aber das reichte mir
nicht. Kaum war räumlicher Abstand zwischen uns, hatte ich Angst, dass ich dir nicht mehr wichtig
war. Und so machte ich kaputt, was ich eigentlich hatte haben wollen: Ich säuselte und bettelte,
mehr Zeit mit dir zu verbringen, als du bereit gewesen bist zu geben. Und du warst erschrocken, wie
sehr ich säuseln konnte. Du nanntest es meine Nuttenstimme. Und das schlimme ist, dass du Recht
hattest. Damals hast du mich damit vor den Kopf gestoßen, aber du hast Recht gehabt. Ich hatte
diese Stimme und die sie begleitenden Gesten bisher dazu genutzt, um Typen rumzukriegen, um sie
heiß zu machen und nahezu alle waren darauf angesprungen. Also dachte ich, dass das meine besten
Waffen seien; dir hatte an mir aber stets am besten meine Intelligenz, meine Art von Humor, meine
Selbstironie und mein Sarkasmus gefallen. Und das hast du mir dann auch gesagt. Nach einer Woche,
die wir mehr oder weniger zusammen waren, hast du dich nicht mehr gemeldet. Und als wir uns
dann im November auf einer Studentenfete wiedersahen und ich dich zur Rede stellte, hast du mir
klar gemacht: „Wir werden nie, nie, nie wieder zusammen sein. Du hast dich das letzte Mal so assi
verhalten, so billig. Es war so übel, wie du versucht hast, mich rumzukriegen; du warst gar nicht mehr
so, wie ich dachte, dass du bist.“ Und nachdem wir das zwischen uns stehen hatten, begannen wir im
Nieselregen miteinander zu sprechen. Ich sagte dir, dass ich Angst um dich habe, weil du so viel
trinkst, dass ich Angst habe, dass du wie dein Vater werden wirst und deine Ziele nicht erreichst. Und
du sagtest mir Dinge, die du niemanden gesagt hast und hast dir an den Kopf gepackt: „Wir machen
gerade Schluss... Was erzähl ich dir eigentlich alles?“ Außerdem hast du mir noch erklärt, dass du
mich für gefühlskalt halten würdest, und dass ich genau so gesehen werden will, dass ich deswegen
eine unnahbare und kühle Oberfläche hätte. Da habe ich mich gefragt, wie gut wir uns eigentlich
kennen. – Und dann habe ich dich an deinem Kapuzenpulli gepackt und zu mir gezogen: „OK, wir
werden nicht mehr zusammen sein. Das ist in Ordnung. Aber ich möchte, dass wir uns küssen.“ –
„Jetzt?“ – Ich nickte. „Wir machen gerade Schluss“, hast du mich erinnert. - „Das ist mir egal. Ich
möchte dich küssen, immer. Jetzt auch“, ich habe dich näher zu mir gezogen, habe deinen
Widerstand schwinden sehen und gefragt: „Ich küss doch gut, oder?“ - Du hast bejaht. – „Also?“ –
„Küssen ist wie das Vorspiel zu Sex. Immer wenn ich dich küsse, werd ich geil auf dich. Wir können
uns nicht einfach nur so küssen.“ – Aha... Und als ich mich in der vorhergegangen Woche an dich
rangeworfen hatte, konntest du dennoch ziemlich leicht widerstehen. – „Du bist nüchtern und klug.
Wie kannst du glauben, dass wir uns einfach nur küssen könnten?“ – „Weil ich es so will“, habe ich da
gesagt. - „Es ist falsch“, hast du leise protestiert, als ich dich zu mir zog und du deine Arme auf meine
Taille legtest. - „Das ist mir egal“, und endlich war der Widerstand gebrochen. Wir küssten uns. „So
habe ich noch nie Schluss gemacht“, hast du geseufzt und ich habe entgegnet: „Du bist mir zu
wichtig, um dich einfach so gehen zu lassen.“ Dann bin ich gegangen und wir hatten weitere Schatten
in meiner Lieblingsstadt hinterlassen.
Einige Wochen später hast du mir gesagt, dass dieses Gespräch das einzig wirkliche Gespräch
zwischen uns in all der Zeit gewesen sei, weil Teile meiner Stärke eingebrochen seien, weil ich etwas
von mir gezeigt hätte. Dass ich nun, an diesem Abend, eifersüchtig auf ein Mädel war, mit dem du
gerade gesprochen hattest und dass ich dein Gespräch mit ihr absichtlich unterbrochen hatte, wegen
der Eifersucht, hast du mir aber wieder nicht geglaubt. Wieso sollte ich eifersüchtig sein, wo ich doch
gar keine Gefühle für dich hätte? Obwohl du wissen musstest, dass ich dich wollte und dass ich dich
liebte, hast du immer so getan, als wäre das unmöglich, als würde ich mich da höchstens reinsteigern
und als könnte ich niemanden wie dich lieben und für ihn empfinden. Dass ich gerade dich lieben
würde, wäre dir wohl nie in den Kopf gegangen, oder? Dass ich für dich auf den Skiurlaub verzichtete,
nur um mir auf der Silvesterfete endlich wieder einen Kuss von dir klauen zu können, hättest du mir
nicht abgenommen. Und dass ich ein Bild, das an diesem Silvester von dir gemacht worden ist, mit
mir durch ganz Australien schleppte, es dort manchmal hervorholte, lächelte und nasse Augen
hatte... was würdest du sagen, wenn du das wüsstest? Für wie durchgeknallt würdest du mich
halten?
Vor Australien haben wir uns zumindest nicht mehr ignoriert. Wir haben Wetten abgeschlossen, wer
an einem Abend mehr Leute rumbekommt und als ich diese Wette gewann (eins zu null), hab ich
mich vor dir aufgebaut – es fehlt nur noch, dass ich dir die Zunge rausstreckte – und du hast mich mit
einer Heftigkeit geküsst, die den eigentlich eher zarten Küssen zwischen uns sonst nicht zu eigen war.
Fast erschien es, als wolltest du von mir Besitz ergreifen... aber das mag nur Einbildung gewesen sein.
An einem anderen Abend hast du mich angezickt, weil ich dir sagte, ich würde es in Australien
vermissen, dich verarschen zu können. Damit meinte ich nicht das Verarschen in dem Sinn, dass ich
mit deinen Gefühlen spiele, sondern das spielerische Sticheln und Necken zwischen uns. Doch du
hast nur gegrunzt und gemeint: „Ich hasse dich. Das würd ich über niemanden sagen, aber dich hasse
ich wirklich.“ Und am übernächsten Discoabend versuchtest du mich an einen Typen zu verscherbeln,
während ich zwischen deinen Beinen stand. Du hast ihm erzählt, du seist mein Bruder und müsstest
mich an den Mann bringen. Auf einmal lachtest du und ich sah dich fragend an: „Er findet dich geil“,
hast du immer noch lachend festgestellt und schon längst meine Hand in deiner gehabt. Als meine
Freundin uns nach Hause fuhr und wir beide hinten saßen, hast du mir meine Haare einzeln aus dem
Gesicht genommen und mich sacht geküsst.
Und in der darauffolgenden Woche, zeigtest du mir im Rotlicht der Disco erneut wie sehr du mich
gehasst hast: Australien war nur noch zwei Wochen hin und wir waren uns auf dem Weg zur Toilette
(du von ihr, ich zu ihr) entgegen gekommen, hatten gesprochen, uns an die Seite gestellt, in jenes
Rotlicht, und du, sehr dicht – zugegeben-, sagtest mir (unter anderem) viele nette Dinge. Nach dem
ersten Kuss meintest du noch: „Ich bin dicht. Küssen ist unwürdig.“ – „Wann sind wir je würdevoll
gewesen?“ fragte ich und zog dich wieder zu mir zurück: „Wir küssen uns, weil du mich gern hast und
ich gut küsse.“ – „Ungelogen, du küsst wirklich besser, als alle anderen. Wirklich gut.“ Und wir
küssten uns. Dann hast du den Kuss unterbrochen: „Du gehst nach Australien! Ein halbes Jahr!“ und
es klang vorwurfsvoll. – „Was soll ich denn sonst machen?“ – „Du gehst weg, ohne dich um etwas zu
kümmern. Wie kannst du eine solche Entscheidung einfach so treffen?“ – „Würde ich hier bleiben,
was würde sich ändern? Das mit uns würde ewig so weitergehen und das kann es ja auch nicht sein,
oder?“ – „Ich weiß nicht, wie ich es gern hätte, aber ich habe so Schiss, mich zu binden.“ - „Ja, aber
vielleicht nur, weil du nicht genug für mich empfindest. Aber du hasst mich nicht, oder?“ – „Nein, ich
habe dir doch oft genug gesagt, dass ich dich mag. Soll ich dir deswegen hinterher fliegen?“ – „Nein...
Das könntest du höchstens machen, wenn du mich liebst.“ Zwischen den Küssen versuchte ich dir
klar zu machen, dass ich wusste, wie scheiße ich oft gewesen bin und dass ich mit zu vielen Typen
was gehabt hatte. „Darum sagen alle, dass wir gut passen. Wahrscheinlich sollten wir doch...“, du
hast dich schnell unterbrochen. Ich habe den Satz beendet: „... heiraten? Ja, sollten wir“, ich grinste,
„unsere Kinder würden unglaublich werden.“ – „Meinst du?“ hast du gefragt und zurück gegrinst:
„Anderen Frauen dürfte ich das gar nicht sagen, die würden eh nur spinnen...“ – „Was?“ – „Du bist
perfekt.“ – Daraufhin zog ich dich wieder zu mir, um dich erneut zu küssen, doch du hast
gegrummelt: „Du glaubst mir nicht“, und wolltest dich abwenden. Da habe ich entgegnet: „ Doch, ich
weiß, dass ich die beste für dich bin.“ – In diesen Momenten hast du mich so zärtlich angesehen, hast
so sanft mein Gesicht in deine Hände genommen, meine Nasenspitze geküsst... Du hast mich gefragt,
ob du mich anrufen darfst und ich habe gesagt: „Natürlich. Wenn du möchtest, dann darfst du. Aber
wir wissen doch, wie das läuft.“ Und ehrlich gesagt, hatte ich nicht darauf gewartet, dass du dich
meldest. Ich hatte einfach angenommen, dass du betrunken anrufwillig und nüchtern verstockt sein
würdest. Und so war es dann auch. Trotzdem kann mir niemand diese Momente unterm Rotlicht
nehmen. Leider, vielleicht. Und dann kam unsere letzte Woche... und wir küssten uns, entgegen
deiner Wette, mich nicht zu küssen, ein letztes Mal vor Australien, passend auf „I hate you so much
right now“ – und obwohl ich dich liebte, hasste ich dich: Zum einen wegen jener Wette, aber zum
anderem auch, weil du mir an diesem Abend ein Mädel zeigtest (klein und blond), über die wir ein
halbes Jahr vorher gelästert hatten, und die du nun zur Liebe deines Lebens erklärtest. Ich habe dich
ausgelacht und war innerlich so wütend, dass ich dich am liebsten mit dem Kopf gegen eine Wand
geschlagen hätte. Du bist nie mit ihr zusammen gekommen, aber dennoch...
Einerseits war ich froh, dass ich Australien durchziehen würde, andererseits machte ich mir schon vor
meinem Weggang Sorgen um meine Heimkehr und wie wir dann miteinander umgehen würden.
Würden wir nicht mehr miteinander reden? Würde ich dich sehr vermissen? Oder würde ich sogar
mit dem Typen, der mich überhaupt erst auf diese Idee gebracht hatte und mit dem ich mir weiterhin
lange Emails geschrieben hatte, glücklich werden? Letzteres konnte ich schnell abhaken, denn er und
ich verstanden uns in Australien gar nicht. Und ich ließ mich von einem Ort zum anderen treiben,
doch zur Ruhe kommen konnte ich erst in Melbourne. Ich sehe es gerne als den Ort an, an dem ich
mich selbst gefunden habe, während ich am Strand von St. Kilda wohnte. Und verliebt habe ich mich
auch in Australien, nicht in das Land, sondern in einen Engländer. Es ist das letze Mal gewesen, dass
ich mich überhaupt verliebt habe. Sam hieß er, blond war er. Meine Oma hätte ihn vielleicht einen
Luftikus genannt, aber ich musste ihm nur einmal in die Augen sehen und schon war’s geschehen.
Obwohl er ähnlich empfand, reisten er und seine Freunde relativ überstürzt weiter, unter anderem
weil es zwischen Sam und einem der Freunde zu einem Streit wegen mir gekommen war. Toll. Nicht
einmal geküsst haben wir uns.
In Australien habe ich viel gesehen, viel erlebt, habe viel geschrieben, doch auch dort habe ich deinen
Schatten mit hingenommen. Und als ich nach einigen Wochen an der Westküste nach Melbourne
zurückkehrte und sich ein riesiger Regenbogen über dem Himmel spannte, da warst auch du in
meinen Gedanken, als ich lächeln musste und in mein Reisebuch schrieb: „Ich bin ein Glückskind!“
Ich habe dir geschrieben von dort. Einen Brief zu deinem Geburtstag und eine lange Email während
meines ersten Melbourne-Aufenthaltes. An dem Tag, an dem du die Email bekommen hast, warst du
komisch drauf, hat eine Freundin mir erzählt. Vielmehr fragte sie mich in einer Email, ob ich
irgendetwas unternommen hätte. Da sagte ich, ich hätte dir eine Mail geschrieben. Und sie
erwiderte: „Wusste ich es doch; er war irgendwie seltsam. So nachdenklich.“ – Nach Australien hast
du mir gesagt, dass du mir auf die Mail geantwortet hast, weil es dir scheiße ging, so wie mir noch
zum Zeitpunkt der Mail, und dass du es eigenartig gefunden hast, dass es mir so weit entfernt und
bei einem solchen Abenteuer schlecht gehen würde. Eine Mail von dir habe ich aber nicht erhalten
und ich habe dir nie geglaubt, dass du sie geschrieben hast. Aber dass du dich noch Monate später an
die Mail erinnern konntest und wusstest, was drin steht und wie es dir zum Zeitpunkt des Erhalts
gegangen ist, ist auch schon etwas wert gewesen. Mir sowieso.
An einem meiner letzten Abende in Sydney traf ich auf eine ältere Amerikanerin, Carolyn, und sie
sagte mir, dass man immer bedingungslos lieben solle, dass man nie Veränderungen fordern kann. Ist
es naiv? Ich weiß es nicht, aber mit dieser Einstellung kam ich zurück und ich habe sie behalten, denn
wenn man jemanden liebt, hat man sich in die Person verliebt, so wie sie zu dem Zeitpunkt war.
Wieso muss man sie dann nachträglich ändern, nur weil man auf einmal nicht mehr vollkommen mit
der Art und den Ansichten der Person übereinstimmt? Ist das nicht das eigene Problem? Natürlich
wollte ich nie, dass du dich zugrunde richtest, und wenn du Hilfe gewollt hättest, hätte ich sie dir
gegeben. Aber ich habe dich immer so genommen, wie du bist. Und was andere dachten, war mir
diesbezüglich seit jeher herzlich egal. Ich habe seitdem nur noch einmal etwas gefordert, war nur
noch einmal von dir vor den Kopf gestoßen. Aber dazu später.
Für meine Heimkehr hatte ich mir einen Punkteplan entworfen. Ich wollte aus Wuppertal zurück
nach A. ziehen, wollte ein Semester pendeln und in diesem Semester mein Grundstudium
abschließen. Ich wollte mir einen Job in A. suchen und ich wollte einen festen Freund, „der mich
liebt, wie ich ihn.“ Bis auf jenen letzten Punkt, habe ich alle anderen zügig erfüllen können, und jenen
habe ich nie erfüllt bekommen. Ist das traurig? Dass ich mich nicht mehr verliebt habe in all den
Jahren? Habe ich zu hohe Erwartungen oder gar keine mehr? Oder habe ich nur nie aufgehört, für
dich zu empfinden und konnte ich mich nur nie von deinem Schatten freizumachen?
Als ich zurückkam, habe ich dich die ersten Wochen nicht gesehen, weil du begonnen hattest, von
deinen Freunden auf Abstand zu gehen, in dem du weniger mit ihnen rausgegangen bist und deinen
Traum von einem eigenen Punklabel mit einem Freund wahrgemacht hattest. Viele mögen darüber
grinsend den Kopf geschüttelt haben, aber ich habe geglaubt, dass du gut darin sein kannst: Ihr
hattet eine Homepage entworfen, einen Sampler zusammengestellt, einen kleinen Raum gemietet.
Vielleicht hat dieser Traum und die Reaktion deiner „Freunde“ auf ihn, dir zu etwas Abstand von
ihnen verholfen, ich weiß es nicht. Jedenfalls sah ich dich also die ersten Wochen nicht, aber jedes
Mal, das die Möglichkeit bestand dich zu sehen, war mir schlecht. Irgendwann hab ich es nicht
ausgehalten, habe dich angerufen und bei dir Freikarten für die Stammdisco abgeholt, in der du - ein
weiterer Grund, wieso du nicht mehr so viel mit der Clique gemacht hattest – ungefähr die Monate
über, die ich in Australien war, Hausverbot bekommen hattest. Barfuß bin ich vor deiner Tür
aufgetaucht und deine Mutter hat mich zu dir gelassen. Wir haben oberflächliches Zeug gesprochen
und ich war bald wieder weg. Aber wir hatten uns zumindest gesehen und ich konnte etwas ruhiger
werden.
Nach ungefähr einem Monat begann sich langsam etwas zwischen einem deiner Freunde und mir zu
entwickeln. Am ersten Abend, an dem ich was mit ihm hatte, bin ich von einer Disco, in der auch du
warst und wir normal, fast freundschaftlich miteinander umgegangen sind, mit ihm nach Hause
gefahren und wir küssten das erste Mal. Doch bevor sich mehr entwickeln konnte, brach ich es aus
mehreren Gründen (erst einmal) ab. Zum einen wegen dir, zum anderen wegen einer Sexbeziehung,
die ich mit einem weiteren deiner Freunde hatte... Auch wenn ich in Australien mit keinem Typen –
außer dem, für den ich ja mehr oder weniger hin gegangen bin – geschlafen hatte und wirklich
züchtig gewesen bin, holte die Heimat die Schlampe etwas mehr zum Vorschein. Allerdings küsste ich
fast nur Typen, die ich vorher auch schon geküsst hatte, so auch denjenigen, mit dem ich diese auf
drei Mal beschränkte Sexsache hatte und mit dem ich mich noch lange danach gut verstanden habe.
OK, das bekam aber jedenfalls keiner mit. Also du auch nicht. Und die andere Sache hatte ich wie
gesagt schnell auf Eis gelegt.
Auf euren Schulball bin ich mit dem festen Vorsatz gegangen, dich zu küssen. Meine unbequemen
Schuhe führten allerdings dazu, dass ich mich kurzfristig, mangels anderer Sitzgelegenheiten, auf den
Boden setzen musste. Irgendwann kamst du zu mir (so halb eins war es): „Du setzt dich auf den
Boden, du lachst kaum und du findest alles scheiße...“ – „Findest du es denn hier gut?“ - Da hast du
den Kopf geschüttelt. Du meintest, dass wir tanzen sollen, oder singen, z.B. „You’re the one that I
want“ – dein Vorschlag. Und so beschlossen wir, an die Tanzfläche zu gehen. Vorher besorgte ich dir
bei einem Bekannten meiner Mutter noch eine Zigarette.... Ich kleiner Unterstützer der Drogensucht.
Obwohl du nicht richtig betrunken warst, standen wir schnell nah voreinander, aber ich wich vor dir
zurück. Allerdings bettelte ich, dass du mit mir tanzt, doch außer ein paar Kopfbewegungen, bekam
ich nichts aus dir heraus: „Ich tanze nicht! Was ist überhaupt mit dir passiert? Du tanzt doch sonst
nie...“- „Doch, um Leute zu verarschen. Tanz mit mir!“ ich legte die Arme um deinen Hals:
„Biiiiiitte!!!“ – „Nein, selbst wenn du die geilste Frau der Welt wärst, nein.“ – „Bitte, bitte, bitte,
bitte“, und ich klimperte aufgesetzt und übertrieben - damit du es nur ja nicht als ernstgemeinten,
sexuellen Aufriss missverstehen konntest, mit den Augen: „Bitte, bitte, bitte“. Und recht schnell hatte
ich dich rum: Du legtest die Arme um meine Taille und begannst sich zu bewegen, ehe du dich wieder
besonnen hast, denn sonst hätte ich mich ja als besser als die geilste Frau der Welt sehen können.
Wir standen zu nahe voreinander, gefährlich nahe. Doch ich unterbrach diesen Kussmoment wieder.
Du hast einen Bekannten um eine Zigarette gebeten, ich ihn daraufhin auch, so dass ich dir meine
geben konnte und dafür hast du mich angegrinst und gemeint: „Du bist so geil dreist. Göttlich.“ –
Und so war ich in den Olymp der Götter aufgestiegen. Den Typen an der Theke hast du versucht zu
beschwatzen, damit er dir ein Freibier gab, doch er ließ sich nicht rumkriegen. Nicht von dir.
Grummelnd hast du gemeint: „Verdammt. Dann will ich eben ’ne Kippe... Komm, lass uns...“ – Ich
habe dich aufgehalten: „Warte“, wandte mich an den Thekentypen und fragte ihn nach einer
Zigarette für mich, die er mir ohne weiteres gab und auch an machte. „Lass uns schnell gehen“, sagte
ich und gab dir die Zigarette nach ein paar Metern. Grinsend hast du erklärt: „Ich fass es nicht. Du
bist so dreist, du bist einfach nur geil dreist. Zu mir waren die Typen scheiße unfreundlich und bei
dir? Ich fass es nicht... Willst du etwas trinken?!“ Du hast auf deine letzten beiden freien Stellen auf
deiner Karte gesehen, die genau für ein Getränk für mich draufgegangen wären. Und ich habe gesagt,
du sollst dir lieber selbst ein Bier holen. Doch als du von der Theke gekommen bist, hast du mir eine
Cola gegeben. Auf der Suche nach Freibier, gingen wir raus in den Nieselregen und dort hast du dich
vor mir aufgebaut. - „Willst du mich küssen?“ habe ich dich vorsichtshalber gefragt, nicht, dass ich
wieder irgendwelche Vorwürfe hinsichtlich Überrrumpelung zu hören bekommen hätte. Und du hast
genickt. Und so küssten wir uns nach acht Monaten das erste Mal. Es war nicht seltsam, nicht
himmelhochjauchzend, sondern eher warm und gewohnt. Den restlichen Abend blieben wir, wie im
Vorjahr beim Schulball, beieinander und verarschten Leute. Einem aus deiner ehemaligen Stufe
haben wir erzählt, dass du nach Berlin gegangen seist und nun Pornoproduzent wärst und ich eine
deiner Darstellerinnen wäre, und mit aufgerissenen Augen hat er uns das geglaubt. Es war früher
Morgen als ich dich und einen Freund zu dir nach Hause gebracht habe. Während er in der Küche Eier
briet, saßen wir auf der Couch und lästerten über den Tanzstil einer Psychopathin, die auf dich stand.
Ich spottete über sie und wie ich sie in der Disco imitierte und du hast lachend meinen Kopf geküsst
und gegrinst: „Ich liebe dich.“ Und dann sagtest du: „Beim letzten Mal in der Disco wollte ich mich
eigentlich bei dir dafür entschuldigen, wie das immer zwischen uns gelaufen ist... Dass ich mich nicht
gemeldet habe und so.“ – „Schon gut. Hätte ich dich nicht küssen wollen, hätte ich es nicht getan.
Nur dieses ‚Ich ruf dich morgen an‘ kannst du dir sparen. Sag es nie wieder zu mir und alles ist in
Ordnung.“ – Du hast mich zu dir gezogen, mir einen Kuss gegeben und gesagt: „Du bist perfekt.“ –
Mal ehrlich, das wussten wir doch längst. Perfekt für dich.
Seltsamerweise hast du dich danach gemeldet und mir eine Email geschrieben. Doch ich habe sie
beantwortet, in dem ich dich daran erinnert habe, dass wir abgemacht hatten, dass du dich nicht
melden musst. Einen Monat später kam eine weitere von dir, in der du mich zu einem Konzert deines
Labels eingeladen hast, auf das ich nicht kommen konnte. Wir hatten uns noch einige Male hin und
her geschrieben, bis du mitbekommen hast, dass ich etwas mit dem Freund von dir laufen hatte, mit
dem ich es nach Australien auch schon einmal kurz versucht hatte. Es ging mir dreckig, als ich
bemerkte, dass du dir deinen Teil dazu denken konntest. Aber was hatte ich erwartet? Immerhin
hatte ich dich nie als dumm angesehen und von daher war klar, dass es dir nicht verborgen hatte
bleiben können. Zwischen ihm und mir lief einen Monat etwas. Wir waren nie richtig zusammen und
als ich die Sache definiert haben wollte, hatte er mir gesagt, dass wir Frauen stets so kompliziert
seien. Nach Weihnachten ging es mir täglich beschissener. Wegen dir. Die anderen hatten
beschlossen, Silvester auf einer Privatfete zu verbringen, während du auf einer Großveranstaltung DJ
sein würdest. Ich wollte Silvester bei dir sein, nicht bei den anderen. Und deswegen beendete ich
das, was auch immer es war, mit deinem Freund. Seltsam, dass sich der Kreis schloss, als drei oder
vier Jahre später dessen Freundin dich geküsst hat und, obwohl es eher ihre Aufgabe gewesen wäre,
du ihm das erzähltest; was eurer Freundschaft nicht half, aber wenigstens war es ehrlich. Nach
meiner Entscheidung gegen ihn und für dich, ging es mir besser und ich nahm mir vor, dir an jenem
Silvester zu sagen, dass ich dich liebe, damit es raus ist. Ich meldete mich bei dir und bat dich, den
Preis für die Fete für mich zu drücken, da ich erst kommen würde, nachdem ich mit meiner Mutter,
die nicht wusste, ob ihr unzuverlässiger Freund bei ihr sein würde, ins neue Jahr gefeiert hatte. Du
hast mich zurückgerufen und mir gesagt, ich müsse nur die Hälfte bezahlen.
Nachts um zwei Uhr bin ich auf der Fete aufgetaucht, ich habe gezittert, mit den Zähnen gebibbert
und mir war schlecht, richtig mulmig im Bauch. Ich bin sogar umsonst reingekommen und das erste
bekannte Gesicht, das ich gesehen habe, war deins. Ich habe dich zu mir gezogen, dich umarmt, dir
einen Kuss auf die Wange gegeben und dir ein frohes neues Jahr gewünscht. Da ich dir nicht beim DJsein in die Quere kommen wollte, habe ich mich eine Zeit lang mit meiner ersten großen Liebe,
meinem ehemaligen Nachbarn, unterhalten. Und dass ich für dich bereit war zu verzichten, zeigte
unter anderem, dass ich ihm nicht meine Nummer gab, auch als er danach fragte, und ich ihn mir
nicht warmhielt. Ich wusste zwar, dass du und ich keine normale Beziehung führen können würden,
aber was auch immer du bereit warst, mir zu geben, hätte ich genommen. Nach dem Gespräch mit
meinem Ehemaligen, kletterte ich zu dir ans DJ-Pult und hatte einen eifersüchtigen Kloß in mir, als ich
ein Mädel neben dir stehen sah, das schon mehrere Male ihr Interesse an dir deutlich gemacht hat.
Ich habe dir meine Hände entgegengestreckt und gesagt: „Wärmst du sie mir?“ – Du hast sie
genommen, „Wirklich kalt“ gesagt und mich zu dir gezogen. „Frohes neues Jahr“, hast du noch
einmal gesagt und mich vor den Augen des Mädels geküsst. Fast nüchtern warst du, weil du es dir als
DJ nicht leisten konntest, dich abzuschießen. Und so verbrachten wir den Rest des Abends
miteinander. Irgendwann habe ich dir etwas gesagt wie „Ich bin die wichtigste Person in deinem
Leben und wir lieben uns ja eh...“ und du hast gemeint: „Du sagst das so, als würde es nicht
stimmen.“ - „Wäre ich dann hier?“ Wirklich gesagt, dass ich dich liebe, habe ich dir allerdings auch
an diesem Abend nicht. Aber ich hätte gemeint, es wäre offensichtlich gewesen. Am Ende hast du
gesagt: „Ich bin froh, dass du noch gekommen bist. Du bist der einzige Grund, aus dem die Fete gut
war.“ – „Und du bist der einzige Grund, aus dem ich gekommen bin.“ Dann ging ich und ließ dich dort
schlafen.
Einen Monat lang ging es gut mit uns. Ich klammerte dich nicht ein, weil du mir nie das Gefühl gabst,
dass ich dir zu viel war. Doch am Ende des Monats... Wir hatten gesagt, dass du, nachdem du
Plakatwände geklaut hattest, noch in die Disco nachkommen könntest, in die ich deswegen alleine
gefahren war. Als ich versuchte, dich auf dem Handy zu erreichen, brach der Kontakt ab und beim
nächsten Anruf war das Handy aus oder hatte keinen Empfang. Wütend, weil ich glaubte, dass du
mich versetzt und dein Handy absichtlich aus gemacht hattest, bin ich von der Disco weggefahren
und baute dabei einen Unfall mit einem parkenden Wagen, floh jedoch ohne eine Nachricht zu
hinterlassen. Schon am folgenden Tag hast du geschrieben, dich für den Abend entschuldigt und
gemeint, dass du keinen Empfang gehabt hast. Doch ich war zu verletzt, zu misstrauisch, zu wütend
und pfefferte eine böse Email zurück, in der ich dir die Schuld am Unfall gegeben habe und dir
schrieb, dass du mich irgendwie hättest erreichen können, wenn du gewollt hättest und dass nur klar
sei, dass du mich offensichtlich nicht willst. Die Mail war wirklich nicht von schlechten Eltern... Ich
glaube, so sehr habe ich nie vorher und nie nachher gezickt. Anstatt mich zu ignorieren, hast du aber
sogar zurückgeschrieben, hast versucht mich einigermaßen zu beruhigen, hast noch mal auf deine
Unzuverlässigkeit verwiesen und dass du dich in der Nacht auch noch bei zwei anderen Freunden
hattest melden sollen, aber dass du das auch nicht getan hättest. Ich glaube, ich habe dir nicht mehr
geantwortet – und wenn dann nur oberflächlich, weil du nach dem Unfall gefragt hast.
Schon danach wusste ich, dass es vorbei war. Mein Herz wollte brechen, ich hatte dauerhaft
gedrückte Laune, ich hatte keine Ahnung, wie ich in Ruhe für die Zwischenprüfung ilernen sollte... Ich
wusste, ich musste uns abschließen, aber ich konnte es nicht. Ich schrieb in mein Tagebuch, dass ich
den Alkohol eh nicht ausgehalten hätte, dass du das im Laufe der Zeit doch hättest ändern müssen;
ich schrieb: ‚Es ist vorbei, weil ich niemandem Teile meines Lebens geben kann, niemandem meine
bedingungslose Zuneigung, der sie nicht haben möchte und sich nicht um sie schert. Es ist vorbei,
weil er nicht der Mann meines Lebens sein kann, da er nicht ein solches Leben führen möchte, wie
ich das tue. Es ist vorbei, denn ich hebe meinen Kopf hoch und weiß, dass es ohne ihn weitergehen
muss. Das alles heißt nicht, dass ich noch sauer auf ihn bin, ihn verdamme und verwünsche, dass ich
ihm Schlechtes tun will oder ihn nicht leiden kann. Ich liebe ihn und seine bekackte Art und Weise,
und wie er mich ansieht und küsst. Und ich würde mir nie, nie, niemals einen anderen Jahresbeginn
wünschen, oder es bereuen, dass ich zu ihm fuhr, weil, so sehr er es vielleicht abstreiten würde, er an
diesem Abend zu mir gehörte und damit zufrieden war. Ich weiß das und er auch.‘
Wir sahen uns am Ende des folgenden Monats und du hast das Mädel angegraben, das du noch an
Silvester für mich hattest stehen lassen. Eine Freundin ist dann zu dir gestapft, hat dich für mich
zusammengeschissen (ich hatte sie gewiss nicht beauftragt) und war so sauer auf dich und dein
Getue, dass sie nicht mehr in der Disco bleiben wollte: „Wie ein kleines Kind hat er vor mir
gestanden, mich gefragt, was er denn tun soll, und dass ich doch wüsste, dass er Gefühle für dich
hätte, aber dass du ihn so angeraunzt hast... Ich kann mir das nicht mehr ansehen. Ich habe ihm
gesagt, dass er sich entscheiden soll: Entweder was Festes oder ihr müsst endlich ganz die Finger
voneinander lassen. Und er hat gemeint: ‚Als ob wir das nicht oft genug versucht hätten.‘“ Nachdem
sie gefahren war, bin ich zu dir gekommen und habe dir gesagt, dass ihre Wut nicht von mir aus
geschürt worden ist. Du hast mich angesehen und gesagt: „Sag mir, was ich machen soll.“ – „Das
muss ich dir nicht sagen. Wenn du es nicht selbst weißt, dann ist immerhin klar, dass du mich nicht
willst.“ – „Natürlich will ich dich. Seit fast drei Jahren will ich mit dir schlafen.“ – „Wenn es sich darauf
reduziert, ist es nicht genug.“ – „Ich will dich auch sehen, aber... Du erwartest doch jetzt nicht, dass
ich mich erniedrige und dir Sachen aus Sat1-Kitschsendungen sage oder Mails schreibe, wie sehr ich
dich mag?“ – „Nein, das weiß ich ja irgendwie.“ – Du hast gesagt, dass in diesen drei Jahren nur
wenige Tage gut mit mir gewesen sind, dass die dann aber so perfekt waren, dass sie zu den besten
deines Lebens gehörten. Ich wollte dir gern glauben, doch später konntest du dich an diese Worte
nicht mehr erinnern. Wir beendeten den Abend mit einem Kuss. Aber trotz deiner Worte, trotz
dieses Kusses, blieb meine Meinung bestehen, dass wir Abstand voneinander haben mussten, denn
ich wusste, dass du mich nicht liebtest, wie ich dich, dass ich dir nicht reichte, wie du mir. Und darum
musste ich ein weiteres Mal versuchen, einen Schlussstrich zu ziehen. Hinter uns.
Ungefähr zwei Wochen später hast du dich in die verliebt, über die wir an diesem letzten Abend
lästerten, weil sie was mit einem deiner Freunde hatte und er sich nachher nicht mal mehr an ihren
Namen erinnern konnte, der im übrigen der meine war. Und du kamst mit ihr zusammen. Plötzlich
hast du mit ihr in der Disco gestanden und keiner hatte was gewusst. Meine Beine drohten
wegzuknicken und mit einer Freundin ging ich zur Toilette. Sie sah mich an, sah, wie ich am ganzen
Körper zitterte, wie ich meine Hände, meine Zähne und meine Atmung kaum kontrollieren konnte. Es
war, als wäre mein Körper durch deinen glücklichen Anblick mit dem Mädel vergiftet worden. Auf
dem Weg zurück zu euch lernte ich wen anders kennen. Ich war froh, dass ich bei ihm bleiben konnte
und nicht mit ansehen musste, wie glücklich du warst. Vier Jahre blieb ich bei ihm.
Auf einer Studentenfete in der übernächsten Woche, auf die wir mit der Clique und ohne unsere
„Partner“ gegangen sind, ignorierte ich dich zunächst, stellte dich aber irgendwann zur Rede. Immer
noch war ich so aufgewühlt, dass ich weinen musste. Und trotz deiner Bitte, nicht wegen dir zu
weinen, konnte ich die Tränen nicht zurückhalten. Du hast mich von der Fete weggelotst, bist mit mir
raus in die Nacht gegangen und hast sie mit mir und mit reden verbracht. Es fühlte sich seltsam an,
nicht deine Hand zu nehmen, und zu wissen, dass wir uns nicht am Ende der Nacht küssen werden.
Aber wir redeten immerhin. Über alles. Über Freundschaften, über Zukunft, über Jobs, über das
Leben. Und du sagtest mir, dass du nicht in mich verliebt gewesen bist und dass es deswegen nichts
mit uns hatte werden können. An deine betrunkenen Worte von unserem letzten gemeinsamen
Abend konntest du dich nicht erinnern. Und es war wieder der Alkohol, den ich mehr zu hassen
begann. Um sechs Uhr morgens hast du mich nach Hause gebracht, du hast gesagt, dass es dir
während der letzten Stunden schwergefallen sei, mich nicht zu küssen. Ich habe gesagt: „Ich weiß,
dass wir uns nicht küssen werden, aber kannst du mich kurz umarmen?“ Deine Arme schlossen sich
fest um mich. Dann habe ich ein letztes Mal deinen Geruch eingeatmet, dich losgelassen und habe
die Haustür hinter mir geschlossen. Und du gingst weg.
Ich habe versucht, wirklich versucht, von dir wegzukommen. Ich war mit jemandem zusammen, vier
Jahre lang, auf den du, wenn du ihn gesehen hast, mit Abneigung reagiert hast, und der, nachdem ich
ihm nach einem Jahr von dir erzählte, ebenso auf dich reagierte. Ich durfte nichts mehr mit der
Clique unternehmen, weil er Angst hatte, dass ich auf dich treffen könnte und weil ich nach den
ersten zehn, nicht unbedingt guten Monaten zwischen ihm und mir, ihm mit dem Typen
fremdgegangen bin, mit dem ich in Australien gewesen war. Unzählige Male wollte ich Schluss
machen, weil ich ihn nicht liebte, weil ich nicht mal in Ansätzen die Gefühle für ihn hatte, die für dich
da waren, immer noch. Doch jedes Mal machte entweder ich einen Rückzieher, oder er bettelte,
weiter zusammen zu sein. Jedes Mal knickte ich ein.
Nach anderthalb Jahren fiel dein Vater in ein Wachkoma und du hast deine eh schon zum Scheitern
verurteilte Unikarriere aufgegeben. Ein weiteres halbes Jahr später hast du dich von deiner Freundin
getrennt (oder sie sich von dir). Ich hatte ein Gefühl in mir, das mir sagte, wie unglaublich scheiße es
dir gehen müsse, und das durch deine Einnahme von Koks oder Speed bestätigt wurde. Auf einmal
war es nicht nur Alkohol, nicht nur Gras, sondern auch chemisches Zeug, obwohl du kaum Geld denn woher? – hattest. Ich machte mir Sorgen, wie dein Leben weitergeht und ich wollte für dich da
sein, aber ich durfte nicht. Ich weiß nicht, ob ich es gewesen wäre, wenn ich es gedurft hätte... Doch,
eigentlich weiß ich das. Zwei Jahre nachdem du deine Beziehung aufgegeben hast, bin ich endlich aus
meiner rausgekommen. Und war ein anderer Mensch. Ich hatte mich so lange verbogen, geduckt,
war so viele Jahre albern, aber nicht glücklich gewesen, hatte Konflikte versucht zu meiden, sie aber
nie umgehen können, hatte nicht so oft rausgehen dürfen, hatte keine neuen Leute kennenlernen
sollen, hatte immer weniger Wert auf mein Aussehen gelegt, war zu einer solchen übel gelaunten
Zicke mutiert, dass ich die Freiheit, die ich nach dem endgültigen Schlussstrich von ihm verspürte,
kaum beschreiben kann. Auf einmal konnte ich wieder atmen. Auf einmal konnte ich atmen und
manchmal kam mit dem Atmen wieder, wie früher, einfach so ein Lächeln.
Seine Eifersucht, seine Kontrollsucht, sein Charakter hatten mein freiheitsliebendes Wesen
unterdrückt und umzukrempeln versucht. Ganz geschafft hatte er es nie, aber gescheitert ist es
zumindest nicht an der Mühe, die er sich dabei gegeben hat. Ich weiß, dass er mich mochte, dass es
Zeiten gab, in denen er mich liebte, dass er mich hoch hielt und mir nicht fremdgegangen wäre. Aber
ich wäre in meinem Leben mit ihm nie glücklich geworden, es wäre immer nur ein Kampf gewesen,
ein Kampf um einen Rest Selbstbestimmung.
Ironie und Sarkasmus gingen mir meistens ab in dieser Zeit, Humor hatte ich nur noch einen albernkindischen, interessant finden tat ich mich gar nicht mehr... Natürlich war seine Eifersucht dir
gegenüber nicht ungerechtfertigt, denn ich habe von dir geträumt, hätte dich jederzeit sehen und mit
dir reden wollen, hätte dich jederzeit geküsst. Manchmal, wenn ich alleine war, schloss ich die
Augen, und dein Gesicht tauchte so nah vor meinem auf, dass ich tief Luft holen musste, weil sie mir
sonst weggeblieben und an ihrer Stelle Tränen gekommen wären.
Zum Zeitpunkt meiner Trennung war ich in München für ein halbes Jahr, und du und ich hatten schon
seit fast zwei Jahren nicht mehr miteinander gesprochen. Zurück aus München sah ich dich im
Sommer 2007 das erste Mal wieder, du hattest eine neue Freundin und wir haben nicht geredet. Die
Sache mit den chemischen Drogen schien sich zu halten und immer mehr Leute bekamen es mit.
Meine Sorgen um dich nahmen zu und erdrückten mich manchmal; doch ich bin nicht zu dir
gegangen. An Weihnachten saßen wir immerhin mal an einem Tisch, aber auch da haben wir nicht
geredet. Erst als dein Vater im Sommer des darauffolgenden Jahres starb, habe ich mich bei dir
gemeldet. Als ich von seinem Tod erfuhr, musste ich weinen. Der Tränensturz hatte weniger etwas
mit deinem Vater zu tun, den ich nur dreimal gesehen hatte, als mit dir. Ich habe geweint, weil ich
wusste, wie schlecht es dir ging, und weil ich – obwohl ich es wusste – nicht einfach zu dir gehen und
dich in die Arme nehmen konnte. In der Email habe ich dir gesagt, dass ich, auch wenn viel Zeit
vergangen ist, immer noch da wäre. Und ich habe es so gemeint. Trotz allem, was gewesen ist. Du
hattest zu diesem Zeitpunkt wieder eine Freundin, doch mit ihr hast du nur eine oder zwei Wochen
später Schluss gemacht. Geantwortet hast du mir allerdings auf die Mail und auch auf die darauf
folgende.
Aus der Clique hattest du dich weitestgehend zurückgezogen, denn mit deinen alten Freunden, die
alle einen Platz im Leben nach dem Studium eingenommen hatten, hattest du dir vermutlich nur
noch wenig zu sagen. Du selbst hast vor einem oder zwei Jahren eine Lehre dort begonnen, wo du
zuvor schwarz gearbeitet hast. Dein Label hattest du einem Freund übergeben, der sich immer noch
darum kümmert, weil du die Pflege deines Vaters mit übernommen hattest. Von deinen alten
Freunden kamen nur drei zu seiner Beerdigung. Ich hatte an diesem Tag arbeiten müssen, sonst wäre
ich mit ihnen gegangen. Doch einige Stunden nach der Trauerfeier habe ich dich gesehen, weil ich –
für dich – zum Fußballturnier gekommen bin. Da habe ich dich bei der Verabschiedung umarmt.
An Weihnachten warst du in der Disco in meinem Heimatort. Und es wurde der erste Abend, den wir
über weite Strecken miteinander verbracht haben. Es war anders als früher, nicht mehr so „normal“,
und ich hatte Angst, mit dir über die Dinge zu reden, die mir auf dem Herzen lagen, vor allem über
Drogen. Wir sahen uns einige Male in den kommenden zwei Monaten, wir sprachen miteinander und
schrieben uns. Einmal hattest du mich im Arm und dieser Moment war wie früher. Aber du warst
dicht (wie früher) und außerdem hinter einem anderen Mädel her (wie früher), das du aufgrund ihres
Alters, denn sie war zehn Jahre jünger, noch manipulieren könntest (so sagtest du). Noch einmal
schrieb ich dir, um dir zu sagen, dass ich es gut fände, wenn du am folgenden Wochenende in die
Disco kommen würdest. Du warst zwar da, aber wohl eher für das Mädel, das besitzergreifend den
Arm um dich legte, als sie dich mit mir reden sah. Du sagtest, dass sie das nur macht, weil ich da sei,
und dass sie, wenn ich weg sei, wieder kein Interesse an dir hätte... Aber dennoch hast du sie, neben
mir stehend, geküsst. Ich glaube, ihr wart einige Wochen zusammen, aber mittlerweile vielleicht
nicht mehr. Ich weiß nicht.
Ich weiß nicht.
Von dem Jungen, der du damals, als wir uns kennenlernten, warst, bist du weit entfernt. Damals
breitete das Leben sich nach deinem Zivi vor dir aus und mit einem Plan hättest du es in Besitz
nehmen können. Aber du bist immer wieder vor dem Alkohol auf die Knie gegangen, hast dich von
Schicksalsschlägen zum Speed treiben lassen. Ich kenne dich nicht mehr, kaum noch zumindest. Und
manchmal wünsche ich mir, dass der idealistische Träumer mit dem enormen Wortschatz und der
unbestreitbaren Intelligenz immer noch ein Teil von dir ist und du ihn nicht totgetrunken und
weggerauscht hast. Manchmal, wie jetzt, stehen Tränen in meinen Augen, weil ich am liebsten mit
dir aus dieser Welt ausbrechen möchte. Ja, ich bin dieser starke Mensch, der keine Gefühle zeigt, der
sie nicht zulässt, der eiskalt alle Leute abweist, die ihr zu nahe kommen. Natürlich. Deswegen hat es
mich auch so mitgenommen, dass mein Vater, ein Gewohnheitstrinker wie deiner und du, mit zu viel
Alkohol intus erwischt worden ist und den Führerschein für neun Monate abgeben musste. Ich
glaube, neben den Schatten von uns und dir, die mich überall in A. und in sämtlichen Discos hier in
der Umgebung begleiten, war das der Auslöser, dass ich noch einmal schreiben musste.
Vielleicht bist du mit dem Leben, wie du es nun hast, zufrieden. Doch irgendwie glaube ich da nicht
dran. Und siehst du, ich habe mein Studium zu Ende, meinen Doktor hoffentlich bald auch, habe Teile
der Welt gesehen, habe gute Freunde behalten und gefunden, aber ich bin leer. Oft ist in mir der
Drang, in mein Auto zu steigen und alles hinter mir zu lassen, eine Strandbar aufzumachen, eine
eigene Insel zu erobern. Manchmal habe ich das Gefühl, dass die Welt zu klein für mich ist und mich
nie zufriedenstellen kann. Aber dann denke ich an dieses Silvester, und wie zufrieden es mich
machte, einfach nur bei dir zu sein. Und dann denke ich, dass keine Flucht vor dir und den Schatten
mir helfen wird, weil sie mir immer folgen. Und ich frage mich, ob ich meine Gefühle für dich nur als
Ausrede nutze, um mich nicht in jemand neuen zu verlieben, dessen eventuelle Kontrollsucht ich
dann wieder ertragen muss. Oder den ich nie so lieben werde, so bedingungslos und jugendlich, wie
ich das Bild von dir, von dem Menschen, der du warst und vielleicht irgendwo in dir noch bist, ...
liebe.
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