die ganze Rezension - Andreas Unterweger

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Hedwig Wingler:
Über Andreas Unterweger, „Du bist mein Meer“
Eine kleine Besonderheit: formal quadratisch und praktisch, inhaltlich kunstvoll und
abgerundet.
14 x 14 x 2 cm, mit weissen Schaumkronen der Meereswellen auf dem blauen Buchdeckel,
kann das Büchlein auf den Schreibtisch gestellt werden wie etwa das Foto von Frau und Kind
– im Büro von Familienvätern nicht unüblich. Aber es geht nicht wie befürchtet um
Kitschiges, sondern um verzweigte Reflexionen, wenn auch auf engem Raum und in sehr
konzentrierter Sprache. (Der Text ist im Frühjahr 2010 geschrieben.)
Andreas Unterweger hat schon einiges veröffentlicht, auch in den „manuskripten“ oder in
der Grazer Monatsschrift KORSO (die leider ihre Printausgabe eingestellt hat). Seine Texte
sind meist sehr persönlich geprägt, mit Stellungnahmen zu seinen Themen. Aber so wie in
diesem kleinen Buch hat er sich noch nicht dargeboten, nämlich als werdender Vater – oder
besser zukünftiger Vater. Dies ist eine aufregende Premiere und sie ist höchst gelungen.
Wer nun glaubt, Unterweger würde Emotionen schildern oder Beschreibungen des Zustands
der werdenden Mutter liefern, denkt allzu konventionell. Der Autor geht auf Distanz zu
seiner Situation und bedient sich eines – wie ich finde – sehr einnehmenden Kunststücks
oder Tricks.
„Er hat seinen Fotoapparat verloren“, so beginnt die Novelle. Er, das ist der Erzähler. Dass er
seine Kamera verloren hat, wäre des Erwähnens nicht wert; aber diese Tatsache wird zum
methodischen Angelpunkt gemacht. Schon die grammatische Wahl der dritten Person für
den Erzähler schafft den Abstand. Und dieser Er will ursprünglich fotografieren, Bilder
machen anstatt zu erzählen. Aber die Kamera ist nicht da, und nun sieht er „in Fotos“: Er
sieht die Frau, das Haus am Meer, das Meer „durch die Kamera, die es nicht gibt“. So
entstehen 3 x 77 Bilder, also 231 Texte, die kürzesten sind nur eine Zeile, die längsten sind
zehn Zeilen lang. Sie sind jeweils mittig auf die Buchseite gesetzt, sozusagen wie ein Foto in
die Mitte des Albumblattes geklebt wird, und wir, die Lesenden, werden auch zu
Schauenden, werden hineingezogen und sehen das, was er sieht: „Er sieht sich um. . . Er
weiß, dass er die Fotos, die er sieht, nicht machen kann. Er sieht, auf einem solchen Foto,
den Bauch der Frau. Er denkt an das Ungeborene darin. Er denkt es als ein Neugeborenes,
von dem er kein Foto wird machen können. Er sieht das unmögliche Bild vor sich . . .“ (Bild 4
und 5)
Es gibt die Hintergrundgeschichte, nämlich die, in der Er mit seiner hochschwangeren Frau
ans Meer fährt, ins Haus am Meer, das sie sich schon im Internet angesehen haben, und
wegen dieser Fotos haben sie es für sechs Tage gemietet, damit sie „allein“ sein können, zu
zweit, denkt er, bevor sie dann zu dritt sein werden. In der Hintergrundgeschichte gibt es
auch ein Hinterland, hinter dem Meer: „Er sieht: Traktoren, Dung.“ (Bild 57) Denn er will
nicht immer nur das Meer sehen. Es gibt die Ortschaft und Menschen. Es gibt eine Umwelt,
in der ein fremder Mann mit Stativ und Kamera sich an den Strand begibt und sozusagen in
den Augen des Er als Spiegelbild der eigenen Absichten erscheint – und der Fremde
erscheint ihm als lächerlich. Es gibt das kleine Geschäft im Ort, wo in der Auslage eine
Kamera zum Kauf verlockt und dann von ihm doch nicht erworben wird. Dies ist der
Handlungsstrang mit den Fakten, der Hintergrund. Dazu gehört auch noch die Bemerkung,
dass die verschwundene Kamera ein Geschenk des Vaters zur Hochzeit war; es ist das einzige
Zugeständnis an „Analytischem“: Er stellt fest, dass der Verlust eine „Fehlleistung“ gewesen
ist.
Die Vordergrundgeschichte aber ist die Reflexion auf den Umstand, wie er sieht, was er
sieht, weil er es nicht mit der Kamera aufnehmen kann. Um den Verlust des Bildermachens
zu kompensieren, fällt ihm ein, dass er zeichnen könnte, und er fängt an zu zeichnen. „Er
zeichnet, was er sieht, auf das Papier. Man zeichnet, denkt er, die Dinge einfach in ihrer
wahren Größe: . . . (Und ganz genau so, wie er denkt, denkt er, zeichnet er auch.) . . . Er
sieht auf dem Papier nicht das, was er gezeichnet hat.“ (Bild 16) Es schaut nicht so aus, wie
es wirklich aussieht! Er stellt fest, dass man das Meer nicht zeichnen kann. Dies bringt ihn
dazu, die Namen der Dinge neben das Gezeichnete zu schreiben: „Meer“ oder „(weiße)
Mauer“. Das Zeichnen ist nämlich eine ungeheure Leistung der Abstraktion von dem, was
uns anschaulich gegeben ist. Und daher beschliesst er, „schriftliche Fotos“ zu machen. Weil
er nicht nur werdender Vater, sondern auch Schriftsteller ist. Er kehrt sozusagen das
bekannte Diktum „Bilde Künstler, rede nicht“ einfach um und schreibt.
Andreas Unterweger schildert lebhaft und anschaulich – immer in der leicht ironischen
Distanz der dritten Person - , wie seine Ausflüge in das Zeichnen ihn darin bestärken, zu
schreiben. Sein bildsamer Geist scheitert an der ästhetischen Herausforderung der
bildnerischen Mimesis und brilliert in der Schilderung dieses Scheiterns. Und er sublimiert
versuchsweise auf andere Art:
„Er hat die Idee zu einem Gedicht. . . . Er verwirft die Idee. / Er hat die Idee zu einer
Geschichte. Besser gesagt: ihm fallen Worte ein.“ (Bild 19, 20) Und jetzt schreibt er auf, wie
die Geschichte beginnen wird: „>Er hat seinen Fotoapparat verloren<, steht in seinem
Notizblock.“
Jetzt beginnt die Erzählung darüber, wie Er eine Idee hat, ein Buch zu schreiben, eher eine
Novelle, und die Verschachtelung wird vollständig:
„In der Novelle könnte es um ein Haus am Meer gehen, denkt er, ein Haus wie dieses hier . . .
Ein Ehepaar könnte das Haus bewohnen. Der Mann heißt Robert, denkt er, und die Frau
heißt Sara. (Die Namen muss man später selbstverständlich unbedingt noch ändern, denkt
er.) Sara ist schwanger, denkt er, Robert Maler. (Oder auch Fotograf, Philosophieprofessor
oder Clown – was immer. Robert darf alles machen, denkt er, nur nicht schreiben wie ich/.)“
(Bild 105-107) So werden Vordergrund und Hintergrund der Erzählung durch einen Kunstgriff
zur verschränkten Rahmenhandlung einer Fiktion, die in witziger Weise der Haupterzählung
ähnlich würde. . .
Die Pointe besteht dann darin, dass er – naturgemäss, möchte Thomas Bernhard gesagt
haben, denken wir - die Idee der fiktiven Geschichte des Paares verwirft. Denn „wie bei
Parmenides“ – ja, die alten Griechen! – geht nichts jemals verloren und nichts ändert sich. . .
(Bild 111-113). Das hindert den Er jedoch nicht, im weiteren Verlauf sich an Robert zu
wenden: „Was würde Robert tun, denkt er“, als er zögert, ob er sich die Kamera in der
Auslage kaufen soll. „(Aber R. gibt es nicht. R. schweigt.)“ Er kauft sie nicht. (Bild 207)
Ist Robert seine spiegelbildliche oder virtuelle Persona? Ein kleiner Tipp (Bild 151): Unter den
Büchern im gemieteten Haus findet sich „Alice im Wunderland“, Through the Looking-Glass
and What Alice Found There. Demgemäss ist dies ein Verweis auf die literarische
Verwandtschaft, wie Unterweger sie versteht. Die Katze der Nachbarn heisst Alice – welch
sonderbarer Name für eine Katze, denkt er. - Blicke durchs Fenster oder spiegelnde
Glastüren sind ein durchgehendes Motiv. Das im Haus gefundene Fernglas erlaubt den Blick
durch die Scheiben der Hoftür auf das Meer hinaus.
Perspektivismus ist ein Kennzeichen moderner Literatur. Mit dem wiederholten
Hinweis auf den Verlust der Kamera betont der Autor, dass nicht „die Welt“, oder in seinem
Fall (der Urlaub eines Paares, bestehend aus dem zukünftigen Vater und der schwangeren
Frau) dargestellt wird. Sondern er zeigt die möglichen Blickwinkel auf das, was geschieht,
etwa auch in den Abschnitten, wo die Frau, wie er beobachtet, mit ihrem Mobiltelefon ein
Foto vom Meeresstrand und auch von ihm gemacht hat: „Man sieht dich auf dem Foto
nicht“, sagt sie zu ihm. Indirekt schildert er ihren Zugriff, ihre Perspektive. Es gäbe nämlich
auch andere Möglichkeiten des Blickes, so ist es wohl gemeint.
Es hat sich schon in den Zitaten gezeigt, wie einfach und klar dieser Text geschrieben ist. Die
Sprache ist verblüffend lakonisch. Viele kurze Hauptsätze, oder nur Aufzählungen:
„(Der Hof, die Hummerreuse im Hof, das Meer: hinter der Hoftürscheibe.)“ (Bild 196) Und
immer wieder kurze Hypotaxen: „Wieder überrascht ihn, wie groß ihr Bauch ist. (Und: Wie
klein das Wesen darin sein muss, denkt er.)“ (Bild 65) Das entspricht der Ästhetik der
Fotografie, denke ich mir, und bewundere die Konsequenz, mit der der Autor diese
stilistische Reduktion durchhält, die umso mehr Eindruck macht, weil seine Erzählung
durchaus von Situationen durchzogen ist, die beim Lesen Kommentare evozieren, assoziative
oder emotionale. Aber Andreas Unterweger bleibt bei seiner Methode „Klick“, ich halte fest.
Und hat durchaus einen Schriftstellerkollegen parat, Rolf Dieter Brinkmann, der seine
Gedicht „snap-shots“ nannte – „Er fragt sich, ob Brinkmann wohl auch einmal seinen
Fotoapparat verloren hat“ (Bild 184, 185)
Es ist Unterwegers Text auch ein Spiel mit Verweisen, mit Anspielungen, etwa wenn er
Vincent van Gogh zitiert (zur Perspektive, Bild 26) oder Stéphane Mallarmé, der gesagt hat,
Verse mache man nicht mit Ideen, sondern mit Worten (Bild 19). Oder das Zitat des alten
Parmenides, siehe oben. Damit bekennt sich der Autor (nicht Er, sondern es ist das Anrufen
einer Meta-Ebene, die aufblitzt) als ein Poeta Doctus. Es verleiht der Komposition eine
weitere vergnügliche Dimension, ein intellektuelles Gegengewicht zur Liebesgeschichte.
Unterweger nennt seine Erzählung Novelle; ja sie erfüllt das Merkmal des
„Ereignisberichtes“, aber dieser Bericht ist keineswegs chronologisch-linear, sondern die
sechs Tage des Aufenthaltes am Meer wirbeln durcheinander, sind manchmal mehrfach
geschildert, wie die Motivik es erfordert. Das macht die Lektüre lebendig, trotz der schon
erwähnten bewusst einfachen Sätze. Und die Struktur, der Aufbau mit Hinter- und
Vordergrund und Rahmen und „Abbild“ sowie Meta-Ebene unterstreicht die muntere, fast
nervöse Atmosphäre, die den Erzähler einhüllt – denn es steht ein grosses Ereignis bevor.
Es ist ein Buch über die Liebe, aber nicht nur: sondern auch über das Wunder, dass
ein Kind im Bauch einer Mutter im Werden ist. Und eine Ahnung entsteht, wie völlig anders
dem Mann, dem zukünftigen Vater, dieses Phänomen sozusagen zustösst. Darf gesagt
werden, die Frau erfährt es existenziell, der Mann beobachtet und sublimiert es? In einer
Folge von Bildern schildert Er einen Traum: Er fliegt aufs Meer hinaus, „stößt im Sturzflug auf
das Meer hinab, bricht durch den Schatten (seinen eigenen Schatten), durch die Scheibe,
den Spiegel. Er taucht.“ (Bild 166, 167) Dieser Traum als gedichtete Metapher für den Ersatz
dessen, dass Er nicht gebären kann? Aber zeugen. Es ist ein wunderschönes Buch über die
gemeinsame Erwartung, geschildert aus dem Blickwinkel des Autors, ohne Interpretation der
eigenen Gefühle oder der emotionalen Situation der Partnerin. Aber die Beschreibung ihres
Körpers, ihrer Körperlichkeit – etwa wie sie einmal Yoga zur Geburtsvorbereitung macht – ist
in einer Einfachheit gehalten, wie sie nur aus grosser und respektvoller Nähe möglich ist,
kurz aus Liebe. Gerade wenn Er über sie, die Frau (beide haben keinen Namen) schreibt, fällt
die die fast kühle Sachlichkeit auf: als Merkmal der Kunst des Autors, nicht aus Mangel an
Nähe, sondern eher um die grosse Nähe zu verschleiern. Denn: sie, die Frau, ist sein Meer.
Es gibt ein - zu Unrecht vergessenes – Büchlein von Günther Anders (ja, dem mit der
„Antiquiertheit des Menschen“), es heisst „Mariechen. Eine Gutenachtgeschichte für
Liebende, Philosophen und Angehörige anderer Berufsgruppen“; Hauptfigur ist ein durch die
Weltmeere gleitender weiblicher Wal namens Mariechen, weiters figurieren Er als Erzähler
und seine mit ihm im Bett liegende Geliebte, die auch Mariechen heisst. Anders schrieb
diese Geschichte in gebundener Sprache im Jahr 1946, sie erschien erstmals 1987 zu seinem
85. Geburtstag. Auch dort spielt das Meer als Projektionsfläche für die als unendlich
empfundene Liebe eine Hauptrolle.
Andreas Unterweger, „Du bist mein Meer“, Novelle (in 3 x 77 Bildern). 236 Seiten.
Literaturverlag Droschl, Graz - Wien 2011.
PS. „Maria auf dem Titelblatt hält die manuskripte sicher hinaus in die Zukunft. Die
Dichtertochter (Andreas Unterwegers) versinnbildlicht das Weiterschreiben, das Vertrauen
zur Poesie.“ So Alfred Kolleritsch in seiner Marginalie im März-Heft Nr. 191/2001 der
„manuskripte“, wo leibhaftig (Foto von Sepp Unterweger) das Baby aus „Du bist mein Meer“
tatsächlich das Heft Nr. 187 (2010, mit dem bunten Titelbild von Günter Waldorf) zu
begutachten scheint – visuell und taktil, noch nicht kritisch! So wissen wir Lesenden der
Zeitschrift, dass die poetische neue Generation im Heranwachsen ist. In der Wirklichkeit gibt
es doch nicht nur verlorene Fotoapparate! Also gibt es auch Fotos, die den Schreibtisch
schmücken. Aber nur in der Wirklichkeit. So ein Glück.
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