Rede Edith Graf-Litscher 31. Juli 2015

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REDE ZUM NATIONALFEIERTAG AADORF 31. JULI 2015
Edith Graf-Litscher Nationalrätin SP TG
In der Vorbereitung meiner Rede habe ich mir die Frage gestellt:
Wie entsteht nationale Identität?
Was passt besser zu unserm Nationalfeiertag als der Stolz darauf, Schweizerin oder
Schweizer zu sein? Unser Nationalstolz befindet sich auf einem Rekordhoch:
Gemäss dem aktuellen Credit Suisse Sorgenbarometer sind 90 Prozent der
Befragten sehr stolz oder zumindest stolz, Schweizerin oder Schweizer zu sein. Dies
sind 17 Prozent mehr als vor 10 Jahren.
Auf der andern Seite geben die Befragten in der gleichen Studie an, dass ihre
grösste Sorge die Arbeitslosigkeit ist. Sie wird von einer knappen Mehrheit (51%) der
Schweizerinnen und Schweizer als eines der fünf drängendsten Probleme
bezeichnet. Darauf folgen mit 40 Prozent migrations-relevante Fragen und
Überfremdungsängste. Diese Sorgen müssen wir ernst nehmen.
Ich möchte deshalb heute nicht einfach eine „Schönwetterrede“ halten und die
Realität ausblenden, sondern den Themen „Nationalstolz, Angst vor Arbeitslosigkeit
und Überfremdung auf den Grund gehen und mit Ihnen zusammen Perspektiven
entwickeln, was wir hier in Aadorf und im ganzen Kanton Thurgau als Gemeinschaft
zur Lebensqualität für alle Menschen beitragen können.
Wie entsteht nationale Identität? Neutralität wurde in der Umfrage am meisten
genannt. Aber auch: unser politisches System, Sicherheit, Frieden, Föderalismus,
wirtschaftlicher Erfolg. Was fällt Ihnen dabei auf: das sind genau die Werte, deren
Grundlagen brüchig sind:
Die Politik entwickelt sich vom Milizsystem zu einem professionellen System, der
Bund drängt auf Zentralissierung, der wirtschaftliche Erfolg ist durch
Abschottungstendenzen gefährdet und das Interesse der Leute sich im Verein und in
der lokalen Politik zu engagieren nimmt auch bei uns im Thurgau ab. Ich gehe davon
aus, auch hier in Aadorf stehen die Leute nicht Schlange, um sich in einem Vorstand
oder einem Verein ehrenamtlich zu engagieren.
Heute leben 5,9 von 8,1 Millionen Schweizerinnen und Schweizern in städtischen
Gebieten und der Agglomeration. Die meisten davon arbeiten in einer
nahegelegenen Stadt. Von Aadorf aus in Frauenfeld, Winterthur, Wil, St. Gallen oder
Zürich. Das bedeutet, unseren Freundeskreis finden wir nebst dem örtlichen Bereich
mit Nachbarn oder Schulfreunden auch in dezentralen Netzwerken. Dadurch steigt
das Bedürfnis nach Heimat, dem sinnstiftenden Ganzen das uns verbindet.
Ist das für unser Land gut oder schlecht? Einerseits stärkt die schweizweite
Heimatliebe über die Sprachgrenzen hinweg unsere nationale Identität, auf der
andern Seite wird dem Föderalismus das Fundament entzogen, wenn wir uns den
Realitäten der heutigen Zeit entziehen und uns unsere Schweiz nostalgisch
erträumen, ohne sie konstruktiv mitgestalten zu wollen.
Wir befinden uns in einer rauhen allgemeinen Weltlage. Da kann es auf den ersten
Blick verlockend sein, einfach die Haustüre zu schliessen und zu hoffen, dass das
Gewitter bald vorüber ist und uns hier im Thurgau ja eigentlich gar nichts angeht.
Sicher haben wir einiges dazu beigetragen, dass es uns in der Schweiz im
internationalen Vergleich gut geht und dass wir bisher so glimpflich davon
gekommen sind. Und so können alle stolz darauf sein, was wir hier bei uns im
Thurgau in Aadorf, Häuslenen, Ettenhausen, Guntershausen, Wittenwil und Weiern
erreicht haben. Auch wenn wir als Einzelne vielleicht gar nicht soviel dazu
beigetragen haben.
Ich glaube, statt Stolz ist eher Dankbarkeit angebracht. Und damit verbunden die
Einsicht, dass eine Gesellschaft nicht eine Gemeinschaft von Gleichen unter
Gleichen ist, sondern die Schweiz heute da ist wo sie ist, weil die Menschen mit
unterschiedlicher Herkunft, Vorstellungen und Haltungen einander bereichern und
unser Land weiterbringen. Das zeigt sich in politischen Mehrheits- oder
Minderheitsverhältnissen und in Integrationsbemühungen und der Verhinderung von
Ausschlussrisiken. Nur dann haben wir eine Chance die Stürme der Zukunft
gemeinsam zu bestehen.
Schauen wir doch gemeinsam zurück wie es vor 200 Jahren bei uns ausgesehen
hat. In der 2. Auflage der Chronik von Maischhausen, verfasst von Helgard Bozian –
Stralau und Florian Jacot – Descombes bin ich auf Schilderungen gestossen die
mich tief berührt haben:
Immer wieder kam es im Thurgau zu Hungersnöten, wie Augenzeugen berichten.
1816/17 gab es im Hinterthurgau 7000 Bedürftige, in Fischingen 619 und in
Bichelsee 328 Hungernde.
Bettelfuhren waren bis 1821 üblich: Die Armen wurden zusammengetrieben und über
die nächste Landesgrenze (Kanton) geworfen. Die Bevölkerung verarmte nach dem
Hungerwinter 1845/46 zusehends. Es herrschte allgemeiner Nahrungsmittelmangel.
In Maischhausen wurde 1843 ein Armenhaus registriert. Ein weites Armenhaus 1854
in Guntershausen. Die Armut trieb Hunderte nach Übersee. Auch die lokalen
Heiratsverbote für die "almosengenössigen, liederlichen und erwerbslosen Personen"
waren kein taugliches Mittel, um die Armut zu bekämpfen.
1848 schwächte sich die Konjunktur nach einer kurzen Erholung erneut ab. Ein
Drittel der ausgestellten Reisepässe im Thurgau wiesen die Destination Amerika auf.
Nach neuerlichen Missernten 1851/52 stiegen die Lebensmittelpreise.
In diese Krise hinein plante man unerschrocken den Eisenbahnbau. Gewaltige
Änderungen brachten die Eröffnung von zwei Bahnlinien. Im Oktober 1855 passierte
die erste Dampfeisenbahn Maischhausen. Es war die St. Gallisch – Appenzellische
Bahn (Winterthur-St. Gallen). Ab 1856 wurde sie in VSB, d.h. Vereinigte Schweizer
Bahnen umbenannt. Bereits am 15. Mai 1855 war die NOB, Nordostbahn
(Romanshorn – Winterthur) eröffnet worden. So wurden dem Thurgau zwei wichtige
Verkehrswege erschlossen. Der Fernverkehr verlagerte sich auf die Bahn, die
Eilpostwagen verschwanden. Die Bahn zerschnitt zwar das Dorf, schloss aber
Maischhausen und Aadorf ans Verkehrsnetz an. Sie sicherte den Einwohnern den
Erwerb auch ausserhalb.
Kommen wir zurück in die Gegenwart: Die Schweiz steht vor wichtigen
Weichenstellungen: Wollen wir uns von Europa und der Welt abschotten? Ich bin
überzeugt, für uns Thurgauerinnen und Thurgauer und für die Schweiz bringt eine
offene, gerechte und solidarische Schweiz in der klare Spielregeln herrschen für alle
mehr Lebensqualität und wirtschaftlichen Erfolg. Setzen wir uns gemeinsam für eine
lebenswerte Gemeinde, eine solidarische Gesellschaft ein, wie der Einwohnerverein
mit gutem Beispiel voran geht: „ Für`s Dorf im Dorf“ ;Für den Thurgau im Thurgau
und für die Schweiz in der Schweiz“.
Ich schliesse mit einem passenden Zitat von Molière: „Wir sind nicht nur
verantwortlich für das was wir tun, sondern auch für das was wir nicht tun.“
Edith Graf-Litscher, 31. Juli 2015
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