Die Mikroflora im Darm - Billionen Bakterien auf unserer Seite Noch immer kämpfen sie gegen ihren schlechten Ruf: die zahllosen Bakterien in und auf unserem Körper. Obwohl sie uns mit (fast) jeder Zelle versorgen und schützen, ernten sie Ekel statt Bewunderung. Doch diese Arroganz kann sich der Mensch eigentlich nicht leisten, denn die Bakterien sind in der Überzahl. Die Menge der uns besiedelnden Bakterien übersteigt die Zahl unserer Körperzellen um das zehn- bis hundertfache. Im Dickdarm tummeln sich 100 Millionen Bakterien auf einem Raum, der so groß ist wie ein Stecknadelkopf. Bakterien: ein Teil von uns Mit jeder Geburt entsteht ein neues bakterielles Ökosystem. Das Ökosystem Darm hat die höchste Zelldichte von allen untersuchten mikrobiellen Lebensgemeinschaften. Die bakterielle Vielfalt der Mikroflora im Darm fasziniert die Forschung seit Jahren. Etwa 500 verschiedene Arten sind heute bekannt; geschätzt wird die Zahl auf 1000 oder mehr. Nach der Meinung von Nobelpreisträger Joshua Lederberg gäbe erst die gemeinsame Untersuchung der menschlichen Gene und der Gene der Mikroflora im Darm umfassenden Aufschluss über den menschlichen Organismus. Mikroflora als „lebenswichtiges Organ“ Die Mikroflora im Darm ist für unsere Gesundheit so bedeutend, dass einige Wissenschaftler von einem „lebenswichtigen Organ“ sprechen. An der Darmschleimhaut leben Bakterien und Mensch eng zusammen. Dabei versorgen und prägen sie sich gegenseitig. Ohne Nahrungsaufnahme und Verdauung des Menschen wären die Bakterien nicht lebensfähig; ohne den Stoffwechsel der Mikroflora wäre der Mensch schlecht versorgt. Wie sehr wir auf die Bakterien in unserem Darm angewiesen sind, zeigen Untersuchungen an keimfreien Tieren. Keimfreie Tiere leben von Geburt an in einer sterilen Umgebung. Sie sind nie mit Bakterien in Berührung gekommen und ihre Schleimhaut ist daher nicht mit Bakterien besiedelt. Das führt bei den Tieren zu gesundheitlichen Problemen. Die Darmschleimhaut ist verkümmert. Die Tiere gedeihen schlecht, sind anfälliger für Infektionen und müssen deutlich mehr Kalorien aufnehmen, um ihr Körpergewicht zu halten. Keimfreie Tiere müssen Vitamin K und verschiedene B-Vitamine zu sich nehmen, da diese Nährstoffe im Normalfall von der Mikroflora im Darm gebildet werden, nicht aber von Mensch oder Tier. Nährstoffe für uns Die Mikroflora im Darm setzt in der gleichen Größenordnung Stoffe um wie unsere Leber, nur verfügen die Bakterien über zusätzliche Stoffwechselleistungen. Sie können zum Beispiel Nebenprodukte unseres Stoffwechsels entsorgen. Die Mikroflora schließt außerdem unverdauliche Nahrungsbestandteile auf und bildet Stoffe, die für uns lebenswichtig sind. Dazu gehören bestimmte Vitamine und die Buttersäure. Die Buttersäure ist die Hauptnahrungsquelle der Darmschleimhaut. Entsprechend trägt die Mikroflora zur gesunden Entwicklung der Darmzotten bei. Bei einer normal besiedelten Darmschleimhaut verändern sich die dünnen Blutgefäße der Darmzotten nach dem Abstillen: das Netz der Gefäße verzweigt und erweitert sich. Bei keimfreien Tieren bleibt das Netz der Blutgefäße dagegen unterentwickelt. Von bestimmten Bakterien reicht bereits eine einzige Art, um die Entwicklung der Blutgefäße bei den keimfreien Tieren anzuregen. Darmbakterien schützen die Schleimhaut Die Mikroflora im Darm bildet einen natürlichen Schutzwall gegen Krankheitserreger. Sie konkurriert mit den Krankheitserregern um Nährstoffe und Bindestellen an der Darmschleimhaut und hindert sie so an der Vermehrung. Außerdem setzen einige Bakterien der Mikroflora Stoffe frei, die antibakteriell gegen unerwünschte Erreger wirken. Zusätzlich kann die Mikroflora die Darmschleimhaut anregen, körpereigene Antibiotika – die Defensine – zu bilden. Die Defensine wirken gegen Bakterien, Pilze und bestimmte Arten von Viren. Immuntoleranz und Immunabwehr Auch eine gesunde Toleranz gegenüber fremden Stoffen geht auf das Konto der Mikroflora. Dabei ist die natürliche Besiedlung des Darms nach der Geburt besonders wichtig: dieBakterien wirken in dieser sensiblen Phase der „Immunerziehung“ einer Neigung zu allergischen oder überschießenden entzündlichen Reaktionen entgegen. Die Mikroflora erzieht das Immunsystem also einerseits zu mehr Gelassenheit, andererseits ist sie aber auch ständiger Trainingspartner für das Immunsystem. Im Darm sitzen die Bakterien an den Schalthebeln des Immunsystems und stellen die Weichen für kommende Immunreaktionen im ganzen Körper. Etwa 80 Prozent der Immunzellen befinden sich im Darm, um die 400 m2-große Darmschleimhaut zu bewachen und die vorhandenen Bakterien, Viren und Fremdstoffe „abzutasten“. In Zusammenarbeit mit der Mikroflora koordinieren die Immunzellen im Darm die Abwehr an allen Schleimhäuten.