islamischer staat, anatomie des neuen kalifats

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DER ISLAMISCHE STAAT - ANATOMIE DES NEUEN KALIFATS
Thomas Flichy de La Neuville1
Vortrag in der Union Stiftung am 19.November 2015
- Es gilt das gesprochene Wort 1 - Ist der islamische Staat mächtig ?
Bis vor kurzem war die Lebensspanne eines Mannes ein sehr begrenztes
Beobachtungsfenster, um die geopolitischen Veränderungen der Zeit zu erkennen.
Zivilisationen könnten mehrere Jahrhunderte dauern bevor sie zusammenbrechen, und der
Blick einer Einzelperson müsste mit mehreren Generationen von Analysten konfrontiert
werden, um die Situation zu verstehen. Es scheint, dass die Zeiten sich verändert haben. In
der Tat ist die Beschleunigung so stark, dass wir in ein paar Jahren schon erhebliche
Veränderungen gesehen haben. Vielleicht sind wir zwischen zwei Epochen? Nur unsere
Nachkommen werden das wissen. Viele geopolitische Paradigmen von gestern sind jetzt
unwirksam. Die erste falsche Prämisse war zu glauben, dass die Sicherheit der
Kohlenwasserstoffreserven der Hauptschlüssel der Interpretation für die Beweggründe im
geopolitischen Bereich war. Öl ist überall gefunden worden. Die erste Konsequenz daraus ist
der Rückzug der USA aus dem Nahen Osten und Westafrika: In ein paar Jahren, werden die
Vereinigten Staaten ihr eigenes Flüssiggas exportieren. Die Folgen sind beträchtlich, weil Öl
den sozialen Frieden nicht mehr garantieren kann. In Algerien zum Beispiel. Das zweite
falsche Paradigma ist die Auflösung der kulturellen und politischen Faktoren aufgrund des
freien Marktes. Staaten, die die Zügel der Außenpolitik an antagonistische industrielle Lobbys
abgegeben haben, haben einen Niederlage erlitten im Gegensatz zu Staaten, die sich dem
enthalten haben. Das dritte Paradigma war zu glauben, dass die technologische Entwicklung
einen Fortschritt von Informationsfreiheit ermöglichen würde. Das Gegenteil ist passiert: Die
Vernetzung von Informationsflüssen hat die allgemeine Verarmung der Analyse provoziert.
Was sind also die richtigen Interpretationsschlüssel? Es sind die klassischen Kriterien der
Macht.
Erstens: Kollektives Selbstwertgefühl. Der Verlauf der Geschichte wird von kleinen
emotionalen Minderheiten durchgeführt. Diese Leute sind bereit, für ihre Ideen zu sterben.
Zweitens Innovation und Arbeit: Die Forschung und Kreativität von einigen ist das Rückgrat
der wirtschaftlichen Entwicklung. Diese Dynamik ist in den Händen der aktiven
Minderheiten. Unsere Epoche wird durch die Rückkehr des Fürsten in die Gesellschaft
geprägt. In einer Welt, die von einem wachsenden Chaos geprägt ist, ist das Gesetz nicht
genug. Es muss gekrönt werden. Russland oder der islamische Staat haben die Rückkehr des
Prinzen gewählt. Westliche Demokratien, dem entgegengesetzt, sind durch austauschbare
Bürokraten repräsentiert. Diese Beamte können natürlich nicht die legitime Gewalt
verkörpern. Auf der einen Seite haben wir einen Prinz des Krieges (Putin), und auf der
anderen die höchsten aller Technokratien.
Das dritte Kriterium der Macht ist die demografische Dynamik.
Wenn man diese Kriterien betrachtet, erkennt man sofort, dass die Macht des islamischen
Staates künstlich ist. Warum überlebt er eigentlich? Wegen der Unterstützung durch zwei
konkurrierende regionale Mächte: Türkei und Saudi Arabien.
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Professeur à l’Ecole Spéciale Militaire de Saint-Cyr. Kontakt : [email protected]
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Die große politische Frage für Iran, Saudi Arabien, Israel oder die Türkei ist die Herrschaft
über das religiöse Zentrum der Welt. So versteht man die Manipulation - durch äußere Kräfte
- der Lebenskraft und der Aggressivität der Muslime des islamischen Staates. Für Länder wie
Saudi-Arabien oder der Türkei sollen diese Muslime elektrisiert werden. Für andere wie Iran
sollen ihre mystische Kräfte entladen werden. In dem schwierigen Kampf um die Eroberung
des religiösen Epizentrums wird der entscheidende Faktor die Konsistenz der Außenpolitik
sein. Wenn die Schwelle von Widersprüchen zu hoch wird, fällt die Außenpolitik
auseinander. Wir wissen, dass ein Glas, das mit seiner Eigenfrequenz ( Resonanzfrequenz)
angeregt wird, zusammenbricht. In dieser Hinsicht können sich Türkei, Saudi-Arabien und die
Vereinigten Staaten Sorgen machen.
2 - Ist die Entstehung des islamischen Staates eine Überraschung?
Nicht für jeden. Im Jahr 2004 veröffentlichte das National Intelligence Council ein Dokument
mit mehreren Szenarien für die Welt im Jahr 2020. Eines von ihnen hieß das Kalifat. Man ist
von der Genauigkeit der Vorhersagen überrascht. Man konnte zum Beispiel in diesem
Dokument lesen : Im Jahr 2020 ist al-Qaida entthront. Andere Gruppen, inspiriert von Al
Qaida, aber auf eine regionale Grundlage gestellt, sind jetzt für die Durchführung
terroristischer Anschläge verantwortlich (...) Das neue Kalifat ist eine Herausforderung für
westliche Werte. In der Tat, so der Bericht benötigten die Terroristen einen festen Sitz um
Operationen zu planen und durchzuführen. Allerdings hatte sich der National Intelligence
Council in zwei Punkten geirrt. Erstens wurde das Kalifat als grenzüberschreitende Struktur
gedacht. Natürlich möchte IS die Verwischung der Grenzen zwischen Syrien und Irak.
Trotzdem wünscht er die Schaffung eines stabilen territorialen Aufbaus. Zweitens wurde die
Macht des Kalifats überschätzt. Man glaubte, dass es den Prozess der Globalisierung
unterbrechen würde. Dies ist offensichtlich nicht der Fall. Immerhin haben kriminelle
Organisationen große Reiche nie am Handeln hindern können: Trotz der Piraterie konnte das
Römische Reich weiterhin mit China Handel treiben. Kurz gesagt war das neue Kalifat nur
ein Szenario aus vier sehr unterschiedlichen zukünftigen Möglichkeiten (Davos Welt, Pax
Americana, Zyklus der Angst), es ist aber klar, dass die Prognosen sich als richtig erwiesen.
3 - Was ist das Wesen des islamischen Staates?
Die Interpretationen sind hier vielfältig. Für die Europäische Union und die Vereinigten
Staaten ist ISIS eine spontan entstandene Hydra aus Kriminellen und Fanatikern. ISIS habe
mit Islam nichts zu tun. Für viele muslimische Länder ist ISIS eine amerikanische Kreatur,
die Chaos im Nahen Osten verbreiten würde. Für die Iraner wäre der islamische Staat eine
westliche Schöpfung um Schia zu zerstören. Warum ist es so schwierig eine objektive
Analyse zu machen?
Der islamische Staat enthält eine Doppelte Realität. Es ist eine politische Konstruktion und
eine imaginäre Darstellung. Am 10. Februar 1258 fiel Bagdad nach zweiwöchiger Belagerung
in die Hände der Mongolen. Die Stadt wurde systematisch geplündert und ein Teil der
Bevölkerung getötet. Nachdem Hülägü, der Enkel Dschingis Khans, in die »Runde Stadt«
eingezogen war und die schwarze Flagge der Kalifendynastie der Abbasiden nicht mehr über
der Stadt wehte, gab sich der letzte Kalif mit seinen Söhnen in die Hand des Siegers. Man
führte ihn allein in ein Zelt und verlangte von ihm, die Verstecke mit den sagenhaften
Schätzen des Kalifats preiszugeben. Doch anschließend wurde al-Mustasim in einen Sack
eingenäht und von mongolischen Pferden zu Tode getrampelt. Das Ende des letzten
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Abbasidenkalifen nährte den Traum, eines Tages Rache zu nehmen an den mongolischen,
persischen und christlichen Heeren, die die Kalifenstadt eingenommen hatten, und wieder
einen Herrscher einzusetzen, der mächtiger sein würde als Hülägü. Dieser Traum, der unter
ethnisch-religiösen, arabischen und sunnitischen Vorzeichen stand, war lange Zeit in
Vergessenheit geraten. In ihm manifestiert sich jedoch eine Wunschvorstellung, ohne die man
die weltlichen Ziele des fundamentalistischen Islam nicht hinreichend verstehen kann.
Sowohl al-Qaida als auch der „Islamische Staat“ berufen sich darauf. Gleichzeitig verweist
dieser historische Rückgriff auf einen wichtigen Punkt: Die Entstehung des Islamischen
Staates ausschließlich unter den Gesichtspunkten Ökonomie und aktueller Weltlage zu
verstehen, greift nicht nur zu kurz, sondern ist auch falsch. Die Erneuerung des Kalifats stellt
sich vor allem als die Verwirklichung eines alten Traumes dar, und es besteht kein Zweifel,
dass die Wiederbelebung der Bezeichnung „Kalif“ einem emotionalen Donnerschlag
gleichkam, der dem Westen gänzlich entging. Niemand weiß, ob Abu Bakr al-Baghdadi,
Anführer der dschihadistisch-salafistischen Terrororganisation Islamischer Staat, schon
morgen seine Befehle mit dem Siegel des Propheten Mohammed zeichnet. Das Schwert des
letzten Kalifen hat er jedenfalls wiedergefunden.
4 - Was sind die Grundlagen des islamischen Staates?
Es gibt zuvörderst religiöse Grundlagen. Das säkulare Baath-Projekt sollte gemischte
Bevölkerungen einbinden. Die schiitische Mehrheit ist jetzt aber religiöser, sogar pietistisch
geworden. Das Kalifat stellt sich als Antwort gegen Säkularismus und Pietismus dar.
Die Grundlagen sind auch ethnischer Natur. Irak ist in der Tat ein Mosaik von arabischen
Stämmen. Die Stammesstruktur erschien in der mesopotamischen Epoche und überlebte trotz
äußerer Invasionen. Die Briten haben sich auf die Stämme verlassen für ihre indirekte
Verwaltung. Die Stammesführer verteilten Wasser und Land. Die Stämme haben aber eine
sehr opportunistische Haltung. Sie kämpfen gegen Unterdrückung. Für die ehemaligen
Offiziere von Saddam ist der islamische Staat nur ein Mittel zu der Rückeroberung der Macht.
Davon können wir eine sofortige operative Schlussfolgerung ziehen: Die Schwächung der EI
wird schließlich auf der Umkehrung einiger Stämme beruhen.
5 - Was sind die wirtschaftlichen Herausforderungen des Konflikts?
Irak verfügt über eine der größten Ölreserven der Welt ( etwa 143 Milliarden Barrel).
Chinesische Unternehmen (PCCB, Petro China und Sinopec) hatten bis zum Ausbruch des
Konflikts starken Einfluss auf die irakische Ölförderung. Der gegenwärtige Konflikt bedroht
deutlich die großen Interessen, die sich China seit 2003 gesichert hat. Seit 2008 investierte
China Dutzende von Milliarden von Dollar in das irakische Öl. Darüber hinaus sind 10.000
chinesische Arbeiter auf irakischen Ölanlagen tätig. China möchte im Jahre 2035 80% des
irakischen Öls oder 8 Millionen Barrel pro Tag erfassen. Irakisch Kurdistan verfügt
inzwischen über mehr als 25% der Ölreserven des irakischen Staates, und seine GasRessourcen betragen rund 5 Billionen m3. Kurdistan verhandelt mit westlichen
Ölgesellschaften. Kurdistan führt Öl in die Türkei aus. Die Türkei profitiert somit von einem
billigeren Öl. Die Vereinigten Staaten sind jetzt energetisch unabhängig, aber sie möchten
verhindern, dass China alle irakischen Ressourcen erfasst.
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6 - Welche Unterschiede bestehen zu al-Qaida?
Trotz ihrer Gemeinsamkeiten und trotz Rekrutierungsbrücken zwischen ihnen sind ISIS und
al-Qaida Wettbewerber. Sie präsentieren sich als zwei falsche Zwillinge im Wettbewerb.
Der erste Unterschied ist politischer Natur: ISIS ist ein Art Verstaatlichung von Islamismus.
Diesem Ziel widerspricht die Politik von Al-Qaïda. Al-Qaïda wünschte die Destabilisierung
und nicht die Verstaatlichung. Dieser politische Unterschied hat militärische Folgen. Für alZawahiri, der Führer von Al-Qaida, müssen die Mitglieder in ihrem Land bleiben, ihre eigene
Gesellschaft destabilisieren und Muslime dort radikalisieren. ISIS jedoch will die
Auswanderung in das neue Heilige Land fördern. Die Situation hat sich jedoch vor drei
Wochen verändert. Ausländische Kämpfer sollen jetzt Krieg in ihrem eigenen Land machen.
Die Franzosen zum Beispiel sind nicht gut integriert.
Der zweite Unterschied ist militärischer Natur: ISIS ist mehr pragmatisch als Al-Qaïda. Die
Angriffe sind meist auf militärische Ziele festgelegt, während Al-Qaida eine große Zahl von
Opfern sucht. Wir werden nachher sehen, dass dieser Unterschied seit Freitag kleiner
geworden ist.
Der dritte Unterschied ist sozialer Natur: Im Gegensatz zum "alten" Al-Qaida, der
geheimnisvoll und autoritär war, ist ISIS modern, offen, regional verwurzelt und urban. AlQaida-Führer kommen in der Regel aus den gesellschaftlichen Eliten ihres Landes im
Gegensatz zu den Führern bei ISIS, wo der Aufstieg schneller ist.
Der vierte Unterschied besteht darin, dass Al-Qaida sich der Globalisierung anpassen konnte.
Der islamische Staat hingegen hat verstanden, dass die Welt von morgen von Nationen
geprägt sein wird. Durch diese Wiederbelebung der Vergangenheit hat ISIS einen Schritt an
Vorsprung gewonnen. ISIS hat verstanden, dass der Traum der friedlichen Globalisierung
schon zu Ende war und dass morgen Identitäten wiederaufleben würden.
7 - Was sind die historischen Wurzeln des islamischen Staates?
Das Wiederaufleben der Kalifat-Titel durch den islamischen Staat ist mehr als eine
Erinnerung, es ist ein politisches Aktionsprogramm mit einer religiösen Legitimation. Seit
dem Zusammenbruch des Kalifats im Jahre 1258 hat die sunnitisch-arabische Welt die
Kontrolle über ihr Schicksal verloren. Im späten Mittelalter verloren die arabischen Sunniten
die Kontrolle des Handels- und Schiffsverkehrs im Mittelmeer an die europäischen Häfen.
Dem schiitischen Iran gelang es jedoch, sein Freiheit und wirtschaftliche Macht zu behalten.
Es gab also eine doppelte Demütigung durch den Westen und durch die schiitische Welt. Die
Gewalt ist auch eine verzweifelte Reaktion auf eine Sterilisierung der Innovation. In seiner
Predigt vom Freitag, 4. Juli 2014 erklärte der "Kalif Ibrahim" warum Jihad unerlässlich war:
" Jede Neuheit ist eine Innovation und jede Innovation Irreführung ...".
8 - Wer ist Abu Bakr al-Baghdadi, der Führer der Bewegung?
Al-Baghdadi, der den Spitznamen Das Gespenst (al-shabah) hat, ist für seine Diskretion
bekannt. Er ist Nummer drei auf der Liste der meistgesuchten Terroristen der Vereinigten
Staaten. Bereits vom US-Militär identifiziert wurde er das Ziel eines Luftangriffs im Oktober
2005 und wurde im selben Jahr festgenommen. Er radikalisierte sich im Gefängnis und nahm
Kontakt mit anderen Terroristen auf. Seine Freilassung im Jahr 2009 wirft viele Fragen auf:
Wollten die Vereinigten Staaten ihn in Syrien gegen Assad verwenden? Seine religiöse
Gelehrsamkeit, seine Frömmigkeit und vor allem seine Unnachgiebigkeit machen ihn zu
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einem furchtbaren Führer. Er ist kompromisslos in seinem Handlungen: Er hat einige Gegner
gekreuzigt, und steinigte eine Frau, die einen Facebook-Account eröffnet hatte.
9 - Ein 2,0 Dschihadismus?
Die Erfolge des IS sind auf seine geschickte Nutzung der Medien zurückzuführen, die ihm bei
der Rekrutierung neuer Anhänger helfen und die Terrorkampagnen gegen seine Gegner im
Irak und in Syrien unterstützen. Diesen geschickten Umgang mit den Medien hat sich der IS
teils von den Videobotschaften Osama bin Ladens und der (früher mit al-Qaida verbündeten)
islamischen Armee im Irak abgeschaut, die ihre Entführungen und Militäraktionen ebenfalls
häufig im Film festhielt.
Am 31. März 2014 veröffentlichte der IS seinen zweiten „Tätigkeitsbericht“ mit präzisen
Angaben zu seinen Operationen: 10.000 Einsätze im Irak zwischen November 2012 und
November 2013, 1.083 gezielte Tötungen und 4.465 Autobomben. Die Verbreitung dieser
Gewalttaten ist der schockierendste und bekannteste Teil der Medienpolitik von Da‘ish. Die
Organisation wendet sich damit direkt an ihre Gegner, sucht sie verächtlich zu machen und
schafft ein Klima des Terrors, welcher den Boden für ihre militärischen Aktionen bereitet.
Die tragische Flucht der irakischen Soldaten aus Mossul war die Folge einer Panik, die unter
anderem durch diese Videos ausgelöst wurde. Im Juni 2014 gingen Bilder eines Gemetzels an
1.700 Soldaten durch alle sozialen Netzwerke. Sie zeigten Hunderte von Soldaten in
Unterwäsche, die Hände hinter dem Kopf, die unter dem Hohn und Spott der Dschihadisten
wie Schlachtvieh barfuss durch die Wüste getrieben wurden. Auch die Zivilbevölkerung ist
Ziel dieser Kommunikation des Terrors. Ganze Familien werden ohne jeden Anlass auf der
Flucht in ihren Autos erschossen, gefesselte Muslime liegen in Reihen am Boden und werden
niedergemäht, unterlegt mit Gebeten, Koranzitaten und Musik wie in einem Hollywood-Film.
Aufnahmen der Enthauptung entführter britischer und amerikanischer Journalisten –
beispielsweise von James Foley am 19. August oder von Steven Sotloff am 2. September –
sind inszenierte Direktübertragungen des Todes: die ockergelbe Wüste, die bis zum Horizont
reicht, ein maskierter, schwarz gekleideter Dschihadist, ein kniendes Opfer in orangefarbener
Tunika; die kontrastreichen Farben schaffen eine surreale, emotionslose Ästhetik – der
Henker vollendet sein Werk selbstsicher und ohne innere Regung.
10 - Eine fanatische Organisation?
Sind die Männer von ISIS verrückt oder Opfer von Indoktrination? Nein. Al-Baghdadi ist
kalt, intelligent, gelehrt. Der islamische Staat hat ein Ziel: Der Sieg Gottes. Er verteidigt und
verbreitet die Rechte Gottes. Hinter dem bewussten Ziel stützt er sich auf Takfirism. Diese
mittelalterliche Tendenz wurde in den späten 1970er Jahren wiederbelebt. Es ist eine
Rückkehr zum ursprünglichen Islam. ISIS ergibt sich letztlich als eine eschatologische
Struktur im Islam. ISIS vermeidet Chaos und die Störung des täglichen Lebens. In Mossul,
forderten die Kämpfer, dass die Beamten und die Arbeiter zur Arbeit gehen, und dass die
Verteilung von Wasser und Strom gewährleistet wurde. Männer wurden an Kreuzungen
aufgestellt, um das Verkehr zu regeln.
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11 - Wie viele Kämpfer?
Das ist schwer zu schätzen, weil der islamische Staat sich ständig verändert. Im Sommer 2014
gab es zehntausend Mann. Aber dieser Zahl ist bei großen Operationen im Juni und Juli auf
20.000 gestiegen. Die Hälfte der Kämpfer kommen aus dem Ausland. Der Zustrom von
ausländischen Freiwilligen - etwa 3000 – überquert die Türkische Grenze. Die Kandidaten für
den Jihad kommen aus dem ganzen muslimischen Welt. Ausländer kommen aus Algerien,
Tschetschenen, Saudi Arabien, Tunesien, Libyen. Schließlich profitiert ISIS von ein oder
zwei Tausend an europäischen Dschihadisten und sogar von einer Handvoll Amerikaner. Es
gibt rund 900 Franzosen. Das klingt wie ein Wiederaufleben der Geschichte. Das Kalifat
rekrutierte im 9. Jahrhundert Söldner im Ausland. Die Abbasiden waren nämlich misstrauisch
gegenüber ihren eigenen arabischen Truppen. Die Ziele sind Bagdad, Damaskus und endlich
Medina.
12 – Wie kämpfen ISIS Kämpfer (Videos )
13 - Welche finanziellen Ressourcen hat der islamische Staat?
Die Kriegskasse der Daesh wuchs auf zwei Milliarden US-Dollar. Eine Milliarde für den
Verkauf von Öl aus Syrien und dem Irak, 430 Millionen für die Plünderung der Banken, 100
Millionen für dem Verkauf von Antiquitäten und Kunstwerke aus irakischen Museen und 40
Millionen für den Verkauf von Sklaven. Siebenhundert Yezidi-Frauen wurden für 150 Dollar
pro Stück verkauft. Unsere arabischen Gläubiger finanzieren ihn. So erhalten ISIS Kämpfer
700 Dollar pro Monat statt 350 in der Armee von Bachar-al-Assad.
13 - Was ist das Spiel der regionalen Mächte?
Um dieses Spiel zu verstehen sollte man die Interessen der Mächte betrachten. Die echten
Gegner von ISIS sind die Mitglieder des neuen Mongolischen Reiches. Dieses Bündnis fasst
Iran, Russland und China zusammen. Iran wünscht eine territoriale Verbindung mit Syrien.
Russland braucht einen Hafen in warmen Gewässern. Die USA hingegen haben die Karte des
politischen Salafismus in Syrien und dem Irak gespielt. Saudi-Arabien und die Türkei
unterstützten den islamischen Staat.
14 - Migranten und Radikalismus
Wie kommt es, dass das Römische Reich zusammenbrach unter dem Einfluss der relativ
kleinen Welle germanischer „Flüchtlinge“ und dass im Gegensatz dazu Westeuropa
aggressive Invasionen ertragen konnte, ohne dass seine Zivilisation dauerhaft verändert
wurde? Die wissenschaftliche Untersuchung der beiden großen Migrationswellen, die Europa
zwischen dem dritten und sechsten Jahrhundert, und später zwischen dem achten und zehnten
Jahrhundert berührten, führte zu folgendem Schluss: Die Beibehaltung einer Zivilisation trotz
Massenmigrationen berührt auf drei wesentlichen Kriterien: Das erste ist die VitalitätAggressivität der Migranten, diese Vitalität zählt mehr als ihr Anteil in der Bevölkerung des
Gastlandes. In der Tat. Obwohl die Germanen in Gallien zwischen 5 und 10% der
Gesamtbevölkerung machten, waren sie in der Lage, 25% der bewaffneten Männer zu stellen.
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Das zweite Kriterium bezieht sich auf die Widerstandsfähigkeit der betroffenen
Zivilisationen. Das dritte Kriterium bezieht sich auf die kulturelle Kluft zwischen Migranten
und Einheimischen.
15 – Analyse der letzten Angriffe
Sind die Anschläge vom 13. November nur eine vergrößerte Wiederholung der JanuarAngriffe? Diese Antwort ist nicht zufriedenstellend, da Terrorismus einen sehr raschen
Wandel erlebt. Jüngere und härtere Islamisten, die auf ausländischen Schauplätzen gekämpft
haben, treffen jetzt ihre Opfer wahllos und mit besseren Waffen. Diese wenig kontrollierte
Gewalt könnte ein politischer Fehler sein. Zum ersten Mal haben die Islamisten die gesamte
französische Bevölkerung gegen sich stehen.
Die Motive der Islamisten haben sich verändert. Es sind jetzt nicht nur die Karikaturen des
Propheten, sondern der Lebensstil der westlichen Gesellschaft, der als "abscheulich" und
"perverse" beschrieben wird. Inzwischen sind die Dschihadisten jünger als vor 6 Monaten:
das Durchschnittsalter beträgt jetzt 26 Jahre. Im Gegensatz zu den Anschlägen vom Januar,
wo die Islamisten in Gefängnis radikalisiert worden waren, hat die jüngere neue Generation
von Attentätern in Syrien gekämpft. Es ist klar, dass die November-Angriffe eine numerische
Schwelle überquerten. In Januar 2015 gab es 17 Tote und 11 Verletzte. Heute gibt es 129
Toten und 352 Verletzte. Unterdessen hat sich das Verfahren verändert. Die Ziele sind nicht
mehr sorgfältig ausgewählt. Ferner ist die Technik der Selbstmordattentate verbreitet worden.
Der greifbare Unterschied zwischen den zwei Anschlägen bleibt jedoch die Reaktion der
Behörden. Die Kampagne „ich bin Charlie“, die der Soziologe E. Todd als „totalitären
Moment“ beschrieb, scheiterte. Nun haben wir heute eine einfachere und effektivere
Kommunikationskampagne. Die leeren Schlagwörter von gestern sind jetzt vergessen. Statt
dessen liest man „Betet für Paris“.
16 - Wie kann man auf unserem eigenen Boden ISIS bekämpfen ?
Frankreich denkt manchmal fälschlicherweise, dass sein Feind der islamische Terrorismus ist.
Beispielsweise mobilisiert das Land heute 7000 Soldaten für eine Million Euro pro Tag, um
besondere Orte von der Armee schützen zu lassen. Diese Überwachung wird sich bis zu den
nächsten Präsidentschaftswahlen ausweiten. Von diesem Standpunkt aus betrachtet, sind die
Angriffe gegen Charlie Hebdo ein Erfolg für die Islamisten. In der Tat ist der islamische
Terrorismus nicht unser Feind, sondern nur eine der praktischen Modalitäten eines politischen
Subversion-Projekts: Die Umwandlung des westlichen Kulturkreises hin zum Islam. Die
heutige Antwort der westlichen Welt auf die weitreichenden Umbrüche ist freilich eine
technische: Luftschläge gegen identifizierte Ziele. Zu behaupten, der Westen und der
Dschihadismus würden sich gegenseitig provozieren und bekämpfen, ginge völlig an der
Sache vorbei, denn zwischen religiösem Fanatismus und technischer Verblendung gibt es
keine Menschlichkeit, keine Kommunikation, keinen Kampf der Werte oder Kräfte, es ist
allenfalls ein Duell zwischen seelenlosen Wesen. Der Islamische Staat ist mehr als nur eine
kriminelle Organisation. Er ist für viele ein arabischer Traum. Ein wahrgewordener Traum,
der Tod verbreitet. Eine masslose Sehnsucht nach Wiedererlangung der Macht nach lange
erlittenen Demütigungen. Es reicht, „Kalifat“ zu skandieren, um es wirklich werden zu lassen;
es reicht, sich diesem Traum hinzugeben, um kriminelle Taten in Sühnetaten zu verwandeln.
Wenn ein Volk sich wie im Traum bewegt, können Bombardierungen im Allgemeinen nichts
bewirken, erst recht nicht, wenn sie von schlafwandlerischen Eliten ferngesteuert werden.
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