Terror vor Europas Toren

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Wie Phönix aus der Asche19
Darauf konnte ISIS aufbauen. Geheime Finanzdokumente des ISIS, die
später westlichen Nachrichtendiensten in die Hände fielen, belegen, dass
die Organisation in Mossul bereits vor der Juni-Offensive durchschnittlich 10–12 Millionen US-Dollar monatlich aus Schutzgelderpressung
einnahm. Obendrein fanden sich auch unter den führenden ISIS-Kommandeuren auffällig viele frühere hochrangige Baath-Offiziere der alten
Armee und der Republikanischen Garden, die beide 2003 von den USA
aufgelöst worden waren. Ohne deren Kampferfahrung, militärtaktisches
Geschick und Professionalität hätte ISIS nicht in so kurzer Zeit derart
große Geländegewinne machen können.
Ein neuer »Kalif« erhebt Anspruch auf die Führerschaft im globalen Dschihad
Am 29. Juni 2014 verkündete ein ISIS-Sprecher öffentlich die Gründung
des Kalifats (im Arabischen: khilafa). Zugleich gab er bekannt, dass sich
der Führer des ISIS, der bislang unter dem Kriegsnamen Abu Bakr alBaghdadi bekannt gewesen war, fortan den Titel »Kalif Ibrahim – Befehlshaber der Gläubigen« zulege. Darüber hinaus verkündete der Sprecher, dass der neue offizielle Name der Organisation ab sofort schlicht
»Islamischer Staat« (IS) laute. Wenige Tage später, am 4. Juli 2014, zeigte sich der IS-Chef »Kalif Ibrahim« in der großen Zentralmoschee von
Mossul zum ersten Mal in der Öffentlichkeit. Er hielt eine längere Predigt vor seinen Anhängern, in der er alle Muslime der Welt aufforderte,
sich dem »Islamischen Staat« anzuschließen und ihm den Gefolgschaftseid (arabisch: baia) zu schwören, der den klassischen Kalifen gebührt.
Die Ausrufung eines eigenen Kalifats war ein Paukenschlag. Denn dadurch erhob der selbsternannte Kalif den Anspruch, der Anführer aller
Muslime weltweit zu sein. Das Wort »Kalifat« hat seinen Ursprung in
dem arabischen Begriff khilafa (Nachfolge), womit die legitime Nachfolge Mohammeds als politischer und geistig-spiritueller Führer aller Muslime gemeint ist. Die Frage, wer Kalif (arabisch: khalifa), also legitimer
Nachfolger des Propheten, sein sollte, spaltete schon wenige Jahrzehnte
nach dessen Tod (632) die islamische Gemeinde; sie führte zu der bis
heute nicht aufgehobenen Spaltung zwischen Sunniten und Schiiten.
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Nach den vier »rechtgeleiteten Kalifen« oder Nachfolgern des Propheten – Abu Bakr, Omar, Othman und Ali – folgte das Kalifat der Omaijaden (661 bis 750) von Damaskus. Ihm schloss sich das der Abbasiden
(751 bis 1258) von Bagdad an, das zeitweise vom Maghreb bis nach Indien und Mittelasien hinein reichte und heute gemeinhin als die Epoche des größten Glanzes der islamischen Zivilisation gilt. Die Mongolen unter ihrem Khan Hülagu eroberten 1258 Bagdad und zerschlugen
das Abbasiden-Kalifat, das als politischer Schatten seiner selbst überlebte,
verkörpert in angeblich nach Kairo entkommenen Abbasiden-Nachkommen. Als die Osmanen-Sultane 1517 Ägypten eroberten, ließen sie sich
die Kalifatswürde übertragen und führten sie zusammen mit dem Amt
des Sultans fort. Seit dieser Zeit war das osmanische Vielvölkerreich ein
Kalifat, und der Sultan in Istanbul betrachtete sich selbst als legitimen
Nachfolger des Propheten Mohammed. Obwohl die muslimischen Araber 400 Jahre unter der Fremdherrschaft der osmanischen Türken lebten, atmete deren Kalifats-Reich dennoch weiterhin den Geist des Islam,
wie sie ihn deuteten. Dann geschah das, was viele heutige Islamisten als
die »Ursünde« des Westens gegen den Islam ansehen: die Zerschlagung
des Osmanischen Reiches nach dem Ersten Weltkrieg in den Jahren zwischen 1922 und 1924. Kemal Atatürk, der Gründervater der modernen
Türkei, schaffte das altersschwache Sultanat und Kalifat ab. 1923 proklamierten die Türken die Republik, ein Jahr später wurde auch die Institution des Kalifats für aufgehoben erklärt.
Zwar legte kein westlicher Staat selbst die Axt an den Stamm des Kalifats. Doch der Übeltäter, der es an ihrer Stelle tat, Kemal Atatürk, war
in seinem Denken und Handeln von den in Europa entstandenen Konzepten wie Säkularismus und Volkssouveränität beherrscht. Dies führte,
so die Ansicht der Islamisten, im Gleichklang mit den kolonialen Expansionsbestrebungen der großen christlichen Mächte Europas zwangsläufig
dazu, dass im Nahen Osten unabhängige Nationalstaaten auf den Trümmern des Osmanischen Reiches entstanden. Der Identitätskern dieser
Staaten ist das Konzept der Nation, ein Konzept, dessen Akzeptanz den
heutigen Islamisten und Dschihadisten als Götzendienst (arabisch: shirk)
gilt: Dabei wird die Nation anstelle Gottes angebetet und zum höchsten Wert erklärt. In den Augen der meisten heutigen Islamisten, Salafisten und Dschihadisten bedeutet das Bejahen von Volkssouveränität und
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Nation nichts anderes als shirk, die »Beigesellung« anderer Wesen neben
Gott, und damit eine der Todsünden, die der Islam kennt.
Nach Ansicht der Dschihadisten muss die von Atatürk und den britischen und französischen Kolonialmächten zwischen 1918 und 1924 im
Nahen Osten geschaffene Ordnung der Nationalstaaten durch Gründung eines Kalifats zerschlagen und rückgängig gemacht werden. Dies
gilt umso mehr, weil jene Ordnung im »schändlichen Gewand« des säkularen arabischen Nationalismus daherkam. Die säkulare Trennung von
Staat und Religion ist für Salafisten und Dschihadisten Gottesfrevel, da
die Souveränität allein Allah, nicht dem Volk, gebührt. Den allermeisten sunnitischen Islamisten und Dschihadisten gelten der säkulare Nationalismus und die Schiiten gleichermaßen als die größten Übel der islamischen Welt.
Der »Islamische Staat«, ein Konkurrent der Al-Qaida
Mit der Proklamation des neuen Kalifats hatte al-Baghdadi den Anspruch
erhoben, der Anführer der bewaffneten dschihadistischen Internationale
zu sein. Das eröffnete eine weitere Front. Denn damit warf »Abu Bakr
al-Baghdadi« der Al-Qaida in Pakistan den Fehdehandschuh hin. Terrorismusexperten bewerteten diesen Schritt als wichtigste Entwicklung im
internationalen Dschihadismus seit dem 11. September 2001. Er richtete
sich explizit gegen das alte dschihadistische Terrornetz von Al-Qaida, das
nach der Tötung von Usama Bin Ladin durch US-Spezialkräfte im Mai
2011 von Ayman al-Zawahiri geleitet wird. Die Operationsgebiete von
Zawahiris Kern-Al-Qaida liegen inzwischen allenfalls an der Peripherie
des Nahostkonflikts, nicht jedoch inmitten der aktuellen Auseinandersetzungen im Irak, Syrien und Libanon. IS-Chef al-Baghdadi konnte ab
2013 bedeutende finanzielle und materielle Erfolge erzielen. Darüber hinaus vermochte er bis Herbst 2014 im Norden und Westens des Irak sowie im Osten Syriens ein Territorium in seine Gewalt bringen, das etwa
so groß wie Bayern ist.
Damit hatte al-Baghdadi beeindruckende territoriale Fakten geschaffen, den Anspruch auf Führerschaft im globalen Dschihad nachhaltig unterstrichen und unter den Gefolgsleuten und Sympathisanten des IS Begeisterung ausgelöst. All das, worauf sie seit Jahrzehnten gewartet hatten,
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der Aufbau eines rein sunnitisch-islamistischen Staates und die Restauration des Kalifats, schien nun wahr zu werden. Auch die Kern-Al-Qaida hatte jahrelang das Fernziel beschworen, das Kalifat wieder zu errichten. Allerdings war es ihrem konspirativen Untergrundnetzwerk niemals
auch nur ansatzweise gelungen, wichtige Regionen der islamischen Welt
dauerhaft und fest in ihre Gewalt zu bringen. Stattdessen musste sich die
alte Generation der Al-Qaida-Kämpfer in kaum zugänglichen, entlegenen Bergregionen oder Wüsten verstecken. Erschwerend kam hinzu, dass
sie zumeist auf Gedeih und Verderb auf das Wohlwollen ihrer jeweiligen
Gastgeber angewiesen waren, seien es die Taliban-Regierung in Afghanistan, die lokalen Paschtunen-Stämme in der unregierbaren NorthwestFrontier Area von Pakistan oder der von radikalen Islamisten beherrschte
»Inter Service Intelligence« (ISI), der mächtige pakistanische Militärgeheimdienst. Die Protektion ihrer Gastgeber verschaffte ihnen Schutz,
machte sie teilweise aber auch zum Spielball von deren durchaus wechselnden Interessen. Als Ergebnis dessen waren der Freiheit und dem Aktionsspielraum von Kern-Al-Qaida stets erhebliche Grenzen gesetzt.
Ganz anders war hingegen die Strategie von al-Baghdadi. Seine
Kämpfer gaben das Versteckspiel mit den Sicherheitskräften in Syrien
und dem Irak auf und modifizierten ihre alte Taktik grundlegend, die zumeist darauf abgehoben hatte, mit möglichst rücksichtslosen Bombenanschlägen Aufsehen zu erregen und Angst und Schrecken zu verbreiten.
Statt sich wie früher auf kleinere Angriffe zu beschränken, unternahmen
sie Blitzoffensiven und versuchten – wie Perlen auf einer Perlenschnur
– nacheinander feindliche Stellungen zu überrennen. Im Norden und
Westen des Irak konnten sie damit fulminante Erfolge erzielen, die irakische Armee in die Flucht schlagen und staatliche Strukturen aufbauen,
die jenen in ihrer ostsyrischen Hochburg Raqqa glichen. Die Kontrolle
über große Territorien und wirtschaftliche Ressourcen sowohl in Syrien
als auch im Irak machten den IS-Führer mächtiger, als es Usama Bin Ladin jemals gewesen war.
Bis Ende August 2014 hatte der IS nach und nach alle wichtigen syrischen Ölfelder unter seine Kontrolle gebracht – sowohl das Tanak-Ölfeld
in der Provinz Deir al-Zor als auch das bereits Monate zuvor eroberte Ölfeld al-Omar, das größte und ergiebigste in ganz Syrien. Nach dem nordsyrischen Raqqa war Deir al-Zor schon die zweite syrische Ölprovinz,
in der die IS-Terrormiliz weite Territorien kontrolliert. Der militärische
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Sieg im ostsyrischen Deir al-Zor, das an den Irak grenzt, beruhte vor allem auf den Waffen, die der IS bei der Mossul-Blitzoffensive im Juni erbeutet hatte. Die Eroberung der syrischen Ölfelder erwies sich für den IS
als überaus gewinnbringend, da er durch die Einnahmen aus den Ölverkäufen seine Kriegskasse dauerhaft füllen konnte. Das wiederum stärkte
seine Position als militärisch und finanziell potenteste Dschihadisten-Organisation in Syrien und im Irak. Bereits seit 2013 hatten Kader der Terrormiliz Öl an Mittelsmänner des syrischen Machthabers Baschar al-Assad verkauft. Zugleich führten sie auch große Mengen auf dem Landweg
in die Türkei aus, wo es von türkischen Mafia-Organisationen aufgekauft
wird. Im Gegenzug für die Treibstofflieferungen versorgte das Regime in
Damaskus Raqqa und die umliegenden Gemeinden mit Strom. Ein beträchtlicher Teil des IS-Finanzvolumens stammt bis heute aus Erlösen
von Ölverkaufen.
Diese Finanzquellen waren notwendig, denn der IS brauchte sie, um
funktionierende staatliche Strukturen aufzubauen, die ihm bei der Mehrheit der Bevölkerung in seinem Herrschaftsbereich ausreichend Legitimität und Wohlverhalten einbringen sollten. Seit der Einnahme von Raqqa
2013 und später auch nach der Eroberung von Mossul bemühte sich der
IS darum, ein gewisses Maß an gesellschaftlicher Normalität zu bewahren, wofür die Aufrechterhaltung infrastruktureller und sozialer Basisdienstleistungen die Grundlage bildete. So übernahm der IS alltägliche
Aufgaben der Verwaltung und sorgte durch regelmäßige Patrouillen seiner Ordnungswächter für die Wahrung von Recht und Ordnung auf den
Straßen. Ferner kümmerte sich der IS um Strom- und Wasserversorgung
sowie um die Müllabfuhr und beaufsichtigte die Märkte, das Handelswesen und die Banken. Blanker Terror war also nur die eine Säule, auf
der die IS-Macht in den von ihnen beherrschten Gebieten ruhte, die Aufrechterhaltung von Sicherheit und sozialen Diensten die andere.
Die Ausrufung des Kalifats war jedoch nicht nur eine Kampfansage an Kern-Al-Qaida. Sie richtete sich auch gegen die westlichen Staaten. Die ehemaligen Kolonial- und Mandatsmächte Großbritannien und
Frankreich hatten mit dem Sykes-Picot-Geheimabkommen 1916 und
im Vertrag von Sèvres 1920 die Grenzen der heutigen Staaten gezogen
und mit Gewalt durchgesetzt. Die territoriale Begrenzung des IS auf den
Irak und das historische Großsyrien in der Levante war aber nun für alBaghdadi passé. Jetzt war die Eroberung der Levante für ihn nur noch
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