Hauschild Band II - Neuzeit - EKHN

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Hauschild, Wolf-Dieter, Lehrbuch der Kirchen- und Dogmengeschichte. Band 2 Reformation und
Neuzeit [hier nur: Neuzeit §§17-20 in Auszügen, Reformation (siehe Notizen zu Martin H. Jung)]
§ 17. Kirche und Religion im neuzeitlichen Staat
14. Ende der Reichskirche und des Alten Reiches 1803-1806
-Reich bildete seit 1648 kaum noch einen Rahmen für kg. relevante Vorgänge
-Überlegungen zu einer Reichsreform - z.T. von der Aufklärung geprägt - blieben im 18.Jh.
ohne Ergebnisse
-allgemeine Säkularisierung des Denkens und Lebensgefühls setzte ein; Säkularisation der
Kirchengüter setzte gleichzeitig ein
-das seit dem Mittelalter bestehende geistliche Fürstentum verschwand als politische, soziale
und kulturelle Gestaltungskraft sowie als Stütze der Reichseinheit
-dies war eine epochale kg. Zäsur
-das Alte Reich brach nach 800 Jahren Bestehen zusammen; Verhältnis von Staat und Kirche
erhielt im 19.Jh. eine veränderte Basis
14.1. Nationalkirchliche Reformtendenzen im 18.Jh.
-Aufklärung verstärkte Tendenz zur nationalkirchlichen Behauptung ggü. dem päpstlichen
Primat
-dies zeigt sich am sog. Febronianismus, einem verbreiteten Reform, Episkopalismus,
der für die Stärkung der bischöflichen Autorität ggü. dem Papst eintrat
-Roms Abneigung gegen die Reichskirche verstärkte sich hierdurch
14.2. Die große Säkularisation von 1803 und ihre Folgen
-Entwicklung zum Ende des Alten Reiches wurde außenpolitisch angestoßen durch die
Abtretung der linksrheinischen Gebiete aus Frankreich und die damit verbundene
Entschädigungsregelung
-Napoleon wollte statt der territorialen Zersplitterung stärkere Mittelstaaten schaffen
-eine vom Reichstag eingesetzte Deputation (Kommision) präsentierte nach langwierigen
Verhandlungen am 25.2.1803 mit dem Reichsdeputationshauptschluss das Konzept einer
Säkularisation aller geistlichen Fürstentümer, Stifte, Klöster etc. und einer Mediatisierung
(d.h. Aufhebung der reichsunmittelbaren Selbständigkeit) zahlreicher Kleinstaaten und
Reichsstädte
-viele katholische Gebiete kamen in evangelisches Territorium und umgekehrt
-konfessionelle Neuordnung, welche generelle Religionsfreiheit einschloss,
war die Folge
-Folgen für den Katholizismus:
 materielle Verarmung der Bistümer
 Verschwinden der Domherrnpfründe
 Auflösung der Klöster, Schulen, Universitäten, Fürsorgeeinrichtungen
-Kg. bedeutsam war die Entscheidung für das 19./20.Jh., dass die Verpflichtung der
einkassierenden Staaten bestand, kontinuierliche Dotationen zu übernehmen; die heute noch
diskutierten finanziellen Staatsleistungen an die Kirchen basieren zu einem erheblichen Teil
auf den Rechtsverpflichtungen des Reichsdeputationshauptschlusses
-statt bisher 51 Reichsstädten gab es nur noch 6 und 1806 nur noch 4
-konfessionelle Verschiebung
 Kurfürstenrat: 6 evangelische Kurfürsten; 4 katholische Kurfürsten
o Wahl eines evangelischen Kaisers als Möglichkeit
-alle Güter der Bistümer und der über 700 (z.T. evangelischen) Domherrenpfründen, sowie
Besitztümer der Abteien und Klöster gingen an die weltlichen Staaten, allerdings mit dem
1
Vorbehalt, dass die Bauunterhaltung der Kirchen und die Dotierung der Geistlichen vom
jeweiligen Staat übernommen wurde
-Franz II. erklärte 1806 das Ende des Heiligen Römischen Reiches deutscher Nationen
§ 18. Neuzeitliche Subjektivität: Frömmigkeit und Gemeinschaft
Bedeutung des Themas
-Frage, wir christliches Leben zu gestalten sei als Grundthema der Epoche
-Reformation brachte eine grundsätzliche Problematisierung zweier wesentlicher Elemente
des Christentums:
1. kirchliche Institutionalisierung
2. individuelle Heiligung
-neuzeitliche Subjektivität vs. religiöse Fundamente eines vorneuzeitlichen Objektivismus mit
der Lehre, dass unabhängig vom Menschen Gott selber die Wahrheit allein durch sein Wort
(die Heilige Schrift) offenbart und das Heil allein durch Jesus Christus in der Rechtfertigung
aus Gnade ohne Werke ermöglicht
-„Volkskirche“, d.h. die traditionelle Integration der Kirche in die Gesellschaft wurde zum
Problem
-Pietismus und Aufklärung unterscheiden sich von der Orthodoxie dadurch, dass sie nicht wie
diese hautsächlich die objektiven Inhalte der Theologie (Schrift, Bekenntnis, Dogma) und die
traditionelle Kirchenstruktur zu repräsentieren suchten, dass sie vielmehr deren Erneuerung
und Plausibilisierung durch Rekurs auf individuelle Frömmigkeit anstrebten
-kirchengeschichtlich wichtigste Realisierung fand die Konzentration auf die Frömmigkeit im
Pietismus des 17./18.Jhs., in der Erweckungsbewegung des 19.Jhs. und in den davon
beeinflussten Bereichen
Hauptsächliche Probleme:
-Kirchlichkeit und individuelle Frömmigkeit
-Kontinuität und Unterschied zwischen Frömmigkeitserneuerung seit ca. 1600 (Johann Arndt)
und Pietismus seit ca. 1670 (Philipp Jakob Spener)
-Definition von Pietismus: Abgrenzung verschiedener Typen und Gruppen
-Gemeinsamkeiten von Pietismus und Aufklärung
Wichtige Ereignisse, Sachverhalte, Personen
-Stichworte: Orthodoxie, Johann Arndt, Gisber Voetius, Philipp Jakob Spener
(Frankfurt/Main), pia desideria, August Hermann Francke, „Radikale“ Pietisten, Nikolaus
Graf von Zinzendorf, Herrnhuter Brüdergemeine
18.1. Die Orthodoxie: Lehre und Leben
-Zusammenhang von Glaube und Leben war ein Grundproblem des nachreformatorischen
Protestantismus, speziell des Luthertums
-auch die sog. Orthodoxie bemühte sich mit Intensität um eine Lösung
-formalistische Systematisierung evangelischer Lehre ließ sich aber nur schwer
mit dem kirchlichen Alltagsleben vermitteln
-Intellektualität der Orthodoxie trennte von der Lebenswirklichkeit der
Gemeindeglieder
-offenkundige Ineffektivität der Orthodoxie führte zu Reformüberlegungen
2
18.1.1. Religiöse Krisenphänomene um 1600-1650
-einschneidende ökonomische und soziale Veränderungen und kulturellen Einbußen prägten
die individuelle Lebenseinstellung, die zudem noch über längere Zeit der Krankheiten und
Epidemien bestimmt war
-dreißigjähriger Krieg, Hygiene etc.
-Krise der Religion ergab sich aus theologischen Defiziten der Orthodoxie als auch aus einer
Veräußerlichung der allgemeinen Christlichkeit
-es häuften sich als Antwort hierauf Bußpredigten
-Hinweise auf Mängel der Kirchenzucht nahmen zu
-massive Kirchenkritik
-Reformvorschläge
-Umsetzung der reformatorischen Lehre in eine evangelisch geprägte Kirchlichkeit blieb auch
nach 1580 eine schwer lösbare Aufgabe
-Frömmigkeit bedeutete regelmäßigen Kirchgang, moralisch einwandfreie
Lebensführung, Katechismuswissen und Heilsglauben
-Moralpredigt diente einer Sozialdisziplinierung, die jedoch von der Bevölkerung
kaum aufgenommen wurde
-von den Geistlichen stereotyp bekämpfte „Laster“ waren verbreitet:
 Völlerei
 Trunk- und Spielsucht
 Unzucht, Ehebruch
 Auswüchse bei Hochzeiten, Beerdigungen und Festen
-Ordnungen der Obrigkeiten konnten ebenso wie die Predigten nichts hiergegen
ausrichten
-Aufforderung zu regelmäßigem Gottesdienstbesuch verband sich mit dem
Kampf gegen sonntägliche Lustbarkeiten und Arbeiten
-Christliches Leben sollte nach den Mahnungen der Theologen seine Identität durch
Teilnahme am öffentlichen Gottesdienst bekunden
-generell geriet die Predigt durch Pädagogisierung, Intellektualisierung und
Dogmatisierung in eine Krise
-sie konnte dem aufkommenden Bedürfnis nach selbsttätiger Individualisierung
der Frömmigkeit nicht genügen; ein Indiz dafür war die Verbreitung von
Erbauungsliteratur
18.1.2. Orthodoxie und Frömmigkeit
-das Zerrbild einer toten Orthodoxie, die vermeintlich das ganze kirchliche Leben im
16./17.Jh. erstarren ließ, ist durch die Kritik der Pietisten und Aufklärer geschaffen worden
-das stimmt jedoch so nicht; zwar war bspw. die Predigt intellektualisiert (Ziele:
Lehre, Widerlegung, Mahnung, Kritik Trost), dennoch bot sie - v.a. in Notsituationen auch immer Trost und Sinngebung
-seit 1600 verbreitete sich zunehmend Erbauungsliteratur, welche Traditionen der Mystik und
Schriften englischer Puritaner aufnahm
Ziel der Schriften: Verinnerlichte Aneignung der Glaubensinhalte
-Privatandachtsform Meditation gewann zunehmend an Bedeutung
-zunächst gab es nur wenige Theologen und meist am Rande der offiziellen
Volkskirche, die dies praktizierten
-Vertreter dieser frühen Phase einer neuen Frömmigkeit waren Martin Mollen und Philipp
Nicolai
-erst durch die Verbreitung der Schriften von Johann Arndt seit 1610 entstand dann das, was
man als „neue Frömmigkeitsbewegung“ bezeichnet hat
3
18.1.3. Das „Zeitalter des Barock“
-kg. bezeichnet man das Zeitalter als Orthodoxie/Pietismus, während sich in kunst-, literatur-,
und musikgeschichtlicher Hinsicht der Begriff „Barock“ etabliert hat
-Begriff Barock hat das Problem, das er nicht präzise definiert werden kann und allein als
Epochenbezeichnung für die Zeit ca. 1600-1750 nicht ausreicht
-Kennzeichen des Barock (auch für die Frömmigkeitsgeschichte):
 Weltbejahung
 pessimistische Vergänglichkeitserfahrung
 aktivistisches Ich-Bewusstsein
 Einbettung des Menschen in eine überindividuelle kosmische Ordnung
-Wissenschaft (auch Theologie) bemüht sich um eine Gesamtschau zum besseren Verständnis
alles Seienden, wobei Immanenz und Transzendenz wesenhaft zusammenhängen
-erst mit der Aufklärung weicht diese letzte Form einer christlichen Einheitskultur
einer rationalistischen und empiristischen Diesseitsorientierung
-kirchengeschichtlich bedeutsam wird die Mystik, die Erbauungsliteratur und die
Frömmigkeitsbewegung, die auch die wissenschaftliche Theologie (die Orthodoxie)
beeinflussen
-theologisches Denken: Der Todesverfallenheit und Nichtigkeit des irdischen Daseins
korrespondiert die Hoffnung auf die jenseitige Herrlichkeit, die im Glauben an den Erlöser
antizipiert (=vorweggenommen) wird
[18.2. Mystik und Spiritualismus als Antipoden der Orthodoxie]
18.3. Johann Arndt - Initiator der Frömmigkeitserneuerung
-Aufblühen einer neuen Frömmigkeit im Luthertum des 17. Jhs. ist v.a. den
Erbauungsschriftstellern zu verdanken
-Johann Arndt (1555-1621), niedersächsischer Pfarrer und Generalsuperintendent, erzielte
aufgrund der einzigartigen Verbreitung seiner Schriften einen Einfluss, der denjenigen
Luthers überdeckte
-neuere Forschung: Beginn des lutherischen Pietismus mit Philipp Jakob Spener
-hinsichtlich der Frömmigkeitsinhalte ist dies zutreffend
-ob er als Vater des Pietismus bezeichnet werden kann, hängt von der
Begriffsdefinition ab; bei Arndt fehlen noch die organisatorischen
Frömmigkeitsformen, er hat die Bewegung angestoßen
18.3.1. Das „Wahre Christentum“ als epochales Erbauungsbuch
-1605-1610: „Vier Bücher vom Wahren Christentum“
-Anleitung zur heilsamen Buße, zum wahren Glauben und zum heiligen Lebenswandel
-es wurde bis ins 19.Jh. zum klassischen Hausbuch zur Pflege von Meditation und
Gebetsleben
-Erfolg des Werkes beruht auf der eingängigen Sprache
-Gotteserkenntnis wurde dem Menschen vierfach offenbart/Grundgliederung seiner Bücher:
1. im Buch der Heiligen Schrift
2. im Buch des zur Nachfolge auffordernden Lebens Christi
3. im Buch des Gewissens
4. im Buch der Natur
-aus der Buße als dem Umschwung von der sündigen Existenz zur Wiedergeburt ergibt sich
die Nachfolge Christi in der Heiligung als Abkehr von der Welt
-individuelles Glaubensleben der Gerechtfertigten als fortschreitende innerliche Aneignung
des Heils
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-Arndt kritisierte das gottlose und unbußfertige Leben in den Gemeinden und intendierte eine
lebendige Einübung des Wortes Gottes
-Zentralgedanke seiner Theologie: Erneuerung der Gottebenbildlichkeit in Christus durch
Buße, Glaube, Leben
-weiteres Werk: „Paradies-Gärtlein voller Christlicher Tugenden“
-Gebetsbuch
-Texte Arndts inspirierten geistliche Lieddichtungen (bis hin zu Kantaten von J.S. Bach)
18.3.2. Konflikt mit Teilen der Orthodoxie
-obwohl Arndts Lehren den lutherischen Bekenntnisschriften entsprachen, waren sie wegen
ihrer mystischen Elemente vielen orthodoxen Theologen als „Schwärmertum“ o.ä. verdächtig
-Arndtsche Streitigkeiten:
-synkretistischer Streit (nur diejenigen Artikel, die allen Konfessionen gemein sind,
sind Dogma)
-riefen im 17.Jh. im Luthertum eine Konflikt hervor
-Radikale Arndtianer boten mit mystischen Spiritualismus und totaler Kirchenkritik
neuen Zündstoff, so v.a. Christian Hoburg
-einflussreichste Gegenschrift zu Arndt verfasste Lukas Osiander d.J. (1571-1638) der Arndt
als Exponenten des Spiritualismus angriff
-hiergegen wieder Heinrich Varenius, der die „Rettung der Vier Bücher vom Wahren
Christentum“ verfasste
-fast alle Reformer, die sich im 17.Jh. für eine Förderung der Frömmigkeit einsetzten, fanden
bei Arndt wichtige Anregungen
-unter Arndts Schülern unterscheidet man einen rechten Flügel, d.h. eine kirchlichorthodoxe Richtung, von einem linken Flügel, d.h. einer radikal-kirchenkritischspiritualistischen Richtung
18.3.3. Die puritanische Erbauungsliteratur
-Puritaner waren in ihrem Gegensatz gegen die etablierte Kirche und das verweltlichte
Christentum der englischen Gesellschaft darum bemüht, Lebensformen eines entschiedenen
Christentums durch strikte Befolgung des göttlichen Gesetzes, intensive Gewissensforschung
und psychologisch-praktische Selbstkontrolle zu realisieren
-Begriff Frömmigkeit bzw. Gottseligkeit (engl. piety, godliness) bekam zentrale
Funktion
-Literatur diente der Erbauung wie der frommen Praxis (Bekehrung und Heiligung)
-wurde auch in den Niederlanden und der Schweiz verbreitet
[18.4. Programme zur Reform von Kirche und Gesellschaft]
[18.5. Das geistliche Lied als Vehikel der Frömmigkeit]
18.6. Wesen und Bedeutung des Pietismus
-Protestantismus des 17.Jhs. bildete keine Einheit
-Erforschung von vielfältigen Denk- und Lebensformen, die man als pietistisch klassifizieren
kann, hat eine Fülle von Einsichten erbracht
-eine einheitliche Wesensdefinition oder eine übereinstimmende Datierung der
Anfänge des Pietismus gibt es nicht
-Generell unterschiedet man sechs Typen, die sich voneinander abheben
1. reformierter Pietismus in den Niederlanden
2. den von Spener begründeten lutherischen Pietismus
3. den von Francke in Halle geprägten Pietismus
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4. den radikalen Pietismus
5. Zinzendorfs Brüdergemine
6. den württembergischen Pietismus
-seit ca. 1780 bildeten sich neue Formen eines Spätpietismus, die z.T. in die
Erweckungsbewegung übergingen
-Pietismus war kein auf Deutschland beschränktes Phänomen
-historische Bedeutung des Pietismus bestand v.a. darin, dass er eine grundlegende
Erneuerung im Protestantismus bewirkte
-neben ihm stand als wesensverschiedene Erneuerungsbewegung die Aufklärung
-Pietismus brachte eine Veränderung der Kirchenstruktur: das Nebeneinander von kleinen
Gemeinschaften und „Volkskirche“
18.6.2. Frömmigkeitserneuerung und Kirchenreform
-Begriff Pietismus kommt erst ca. 1670/1680 auf und zeigt eine morphologische Besonderheit
auf: eine aus entschiedener Frömmigkeit resultierende praktische Reformbewegung, deren
Charakteristikum selbständige Organisationsformen - Konventikel und Gemeinschaften neben oder innerhalb der Institution Kirche waren
-entweder zum Zweck ihrer Erneuerung oder als Konkurrenz zu ihr
-Anfänge: 1670 bei Theodor Undereyck, Philipp Jakob Spener
-von Beginn an gab es unterschiedliche Formen (spritualistisch, mystisch etc.)
-dennoch strebten alle Pietisten eine neue Kirche durch Darstellung der wahren
Christenheit an
-ältere Forschung: Beginn des Pietismus in calvinistischen Reformkreisen der Niederlande
-neuer Forschung: traditioneller Beginn schwierig zu ermitteln, da einzelne zersplitterte
Gruppen; traditionelle Systematisierung nur schwer möglich
-einseitige Fixierung der Anfänge des Pietismus auf Spener als einzigen Begründer
relativiert
18.6.2. Vorgeschichte und frühe Entwicklung
-die in Deutschland seit ca. 1600 anhebende Frömmigkeitserneuerung wurde durch Johann
Arndts Schriften, aber auch durch die puritanische Erbauungsliteratur beeinflusst
-englischer Puritanismus als Vorgeschichte des dt. Pietismus
-Kennzeichen des Pietismus: Gemeinschaftsbildung der Frommen innerhalb bzw. neben der
Staatskirche
-Entstehung des reformierten Pietismus gehört nicht zur Vorgeschichte des deutschen
lutherischen Pietismus, da keine direkten Kontakte und Einflüsse nachweisbar sind
18.6.3. Gemeinsame Merkmale
-Pietismus erwuchs aus einer verbreiteten Unzufriedenheit mit den Zuständen in Kirche und
Gesellschaft
-Akzent lag auf dem gläubigen Leben statt auf theologischer Lehre
-Ziele: Beschäftigung mit der Bibel und Aktivierung der Laien
-erstmals bildete sich eine dezidierte Laienbewegung in der Kirche
-gegen die kirchlichen Institutionen wie Amt, Verfassung, Gottesdienst stand ein
grundsätzlicher Individualismus
-Hauskreise, Bibelstunden, Aktionsgemeinschafen etc.
-Wesen pietistischer Frömmigkeit lag in der Emotionalität (ggü. der Intellektualität der
Orthodoxie)
-vielfach gab es eine Ablehnung der Staatskirche und eine Resistenz gegen den fürstlichen
Absolutismus
6
[18.7. Der reformierte Pietismus und seine Vorgeschichte in den Niederlanden]
18.8. Begründung des lutherischen Pietismus durch Philipp Jakob Spener
-Philipp Jakob Spener (1635-1705), oft als „Vater des Pietismus“ titulierter praktischer
Theologie, war eine für viele Pietisten Orientierung und Hilfe vermittelnde Figur
-er prägte organisatorische Grundsätze und die theologischen Grundgedanken des
Pietismus
-ohne ihn wäre die kirchliche Einbindung der pietistischen Bewegung wohl kaum
gelungen
18.8.1. Kirchenreform durch Sammlung der Frommen
-seit 1666 leitender Pfarrer (Senior) überwiegend in Frankfurt/Main; versuchte die
Zielvorstellung der Reform- und Frömmigkeitsbewegung zu verwirklichen
 Sonntagsheiligung
 Kirchenzucht
 Katechismusunterricht (auch für Erwachsene)
 Erbauungsliteratur
 Bußgesinnung
 Andacht
-Erfolge blieben aus, danach kritische Sicht der kirchlichen Situation
-seit 1670: Privatzusammenkünfte/Hauskreise in seinem Pfarrhaus mit Gebet, Lektüre und
Besprechung von Erbauungsschriften
-Entstehung des sog. „collegium pietatis“
-der von der orthodoxen Eschatologie abweichende Chiliasmus begründete bei Spener die
„Hoffnung besserer Zeiten für die Kirche“ als Grundlage der Erneuerung
-seine Neukonzeption: Abkehr vom orthodoxen Ziel einer Reform der „Volkskirche“;
Besserung der Unfrommen; Kirchenreform durch Sammlung und Förderung der Frommen
-zur Speners Biographie:
 1635 im Elsaß geboren
 1654-1661 Studienzeit in Straßburg, Basel, Genf
 1664: Promotion in Straßburg
 1666: Pfarrer in Frankfurt (Barfüßerkirche)
 seit 1669: Studium der Schriften Luthers
 1669: Gründung des Gesprächskreises „gottseliger Freunde“
o bald darauf entstanden in Frankfurt von ihm unabhängige Konventikel
 ab 1682: seine in der Kirche stattfindenden „Collegia“ verloren an Bedeutung
 1686: Oberhofprediger in Dresden
 1691: Propst an St. Nicolai in Berlin
 1705: Tod
18.8.2. Die „pia desideria“ 1675 als Programmschrift
-mit dem kleinen Buch „pia desideria“ (wörtl.: fromme Wünsche“) stellte Spener ein
Reformkonzept vor, das maßvolle Verbesserungsvorschläge an die Kirche richtete
-Text bildet die Grundlage für
 eine kirchliche Integration des Pietismus durch Formung einer ecclesiola in ecclesia,
d.h. einer gläubigen Kerngemeinde in der verweltlichten Volkskirche
 eine Erneuerung der Kirche durch eine auf Frömmigkeit konzentrierte, praxisnahe
Theologenausbildung und Pfarramtsführung
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-Defizite innerhalb der Kirche waren für Spener die Degeneration des Kirchenregiments der
Obrigkeit durch politische Interessen, die Verderbnis der Geistlichkeit zugunsten
intellektueller Frömmigkeit, moralische Defizite der Gemeindeglieder
-Ideale waren für Spener der fromme Prediger, der notwendige Zusammenhang von Glaube
und Heiligung sowie das Prinzip des allgemeinen Priestertums der Gläubigen
-sechs Reformmaßnahmen:
1. Gemeinden sollen sich reichlicher mit Gottes Wort beschäftigen (durch Bibellektüre
und Versammlungen)
2. stärkere Beteiligung der Laien in der Gemeinde
3. praxis pietatis, d.h. die Nächstenliebe als Frucht des Glaubens
4. protestantische Religionsstreitigkeiten sollen eingeschränkt und maßvoll geführt
werden
5. Reform des Theologiestudiums: es soll primär nicht zur Gelehrsamkeit, sondern zu
intensiver Frömmigkeit anleiten
6. Predigt soll nicht auf intellektuelle Belehrung, sondern auf existentielle Erbauung
ausgerichtet sein
-eine allgemeine Kirchenreform bewirkte Spener nicht; er wurde zeitweise sogar der Häresie
beschuldigt
18.8.3. Förderer und Patriarch der pietistischen Bewegung 1686-1705)
-Spener wurde als Gelehrter und Kirchenmann in Deutschland berühmt
-er versuchte (u.a. durch politische Kontakte) die pietistische Bewegung in der Kirche
zu verankern
-seit 1690 engagierte er sich um eine Lösung in den Streitigkeiten mit der Orthodoxie
-Streitpunkt: Berechtigung der collegia, Heiligungslehre und Chiliasmus
-vielerorts entstanden radikale Pietistenzirkel durch separierte Konventikelbildung
-dies förderte sein Ziel nicht, im Gegenteil
-1700: umfangreichste Kontroverse in Form des sog. terministischen Streites um die bei Gott
mögliche Frist (terminus) zur Buße
-durch Gutachten und Briefe beeinflusste Spener die allgemeine Diskussion über
seelsorgerliche, ethische und kirchenrechtliche Fragen
-vielerorts war die Entstehung pietistischer Kreise auch mit Unruhen und Konflikten
verbunden (Leipzig und Hamburg)
-in seinen
18.8.4. Theologische Schwerpunkte: Wiedergeburt, Heiligung, Chiliasmus
-Spener wollte nie eine spezifisch pietistische, neue Theologie vertreten, sondern die
lutherische Lehre intensivieren
-Leitidee seines Reformprogramms: Wiedergeburt und Erneuerung im Zusammenhang mit
der Lehre von der Heilsordnung/ordo salutis
-im Kontrast zu einer äußerlich verstandenen Rechtfertigungs- und Versöhnungslehre
wurde der Begriff Wiedergeburt wichtig
-auf der Basis der als Sündenvergebung verstandenen Rechtfertigungslehre bezeichnet
Spener die Neuwerdung als einen von Gott bewirkten Existenzwandel
-Gotteskindschaft als Realität, erfahrbar im lebendigen Glauben
-hoher Stellenwert der Ethik, deren Konkretionen auf ein von der Welt abgesondertes
frommes Leben zielten
-Kirchenbegriff: Wahre Kirche summiert sich aus den einzelnen gläubig-erneuerten
Christenmenschen, sie unterscheidet sich von der äußeren Kirche der Unfrommen
-chiliastische Eschatologie als „Hoffnung besserer Zeiten“: Gott selber wirkt die Erneuerung
der Kirche durch Sammlung der Wiedergeborenen; Gott sorgt für die Bekehrung der Juden
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und den Zerfall des Papsttums - so wird der Idealzustand der Menschheit bereits innerhalb der
Geschichte erreicht, nicht erst jenseits derselben
-Absage des Pietismus an die orthodox-lutherische Eschatologie mit einer Erwartung
des Jüngsten Tages als Beendigung der Geschichte als wichtiges Merkmal
18.9. August Hermann Francke und der hallische Pietismus
-entscheidende Beiträge zur Verbreitung des Pietismus in der ev. Kirche erbrachte August
Hermann Francke (1663-1727)
-kennzeichnend war für ihn ein religiöser Aktivismus, der mancherlei Einrichtung zur
Bewältigung praktischer Aufgaben hervorbrachte
-seit ihm wurde im Pietismus das Engagement für diakonische, missionarische und
pädagogische Praxisgestaltung wichtig
-Franckes enorme Wirkung wurde über Deutschland hinaus auch in Südosteuropa, Dänemark,
England und Nordamerika spürbar
18.9.1. Bekehrung, religiöser Aktivismus, Pädagogik
-Francke kehrte sich bereits früh - beeinflusst durch mystische Literatur und Spener - von der
Orthodoxie ab
-seine als Erfahrung göttlicher Barmherzigkeit verstandene Bekehrung im Jahr 1687
bestimmte seine weitere Theologie
-christliche Existenz = radikale Lebenswende vom Unglauben zum Glauben, vorher:
intensiver Bußkampf
-typisch für Franckes Frühzeit war eine Verbindung zu radikalen Pietistinnen und Pietisten,
die einen kirchenkritischen Spiritualismus und Enthusiasmus vertraten
-1695: Aufbau einer Armenschule
-hiernach Folge ein Waisenhaus
-schließlich ein ganzes Netz von Erziehungs- und Bildungseinrichtungen
-sog. Franckesche Stiftungen
-an der Universität Halle (dort hatte er eine Professur für griechisch und hebräisch inne)
brachte er eine Reform des Theologiestudiums gemäß Speners Plänen in Gang
-wegen des Praxisbezuges bemühten sich Gemeinden aus ganz Deutschland, Hallenser
Kandidaten für die Pfarrämter zu bekommen
-von der Uni bis zur Volksschule existierte nun ein pädagogisches System
-das System war einmalig, es ermöglichte Durchlässigkeit auch für nicht wohlhabende
Kinder
-Elementarschule, Waisenhaus, Internat, Lateinschule, Paedagogium, Lehrerseminar,
als Elemente
-weitere biographische Angaben:
 Studium in Kiel und Leipzig
 seit 1686: intensives Bibelstudium
 1687: Bekehrung. Bei der Vorbereitung einer Predigt über den wahren, lebendigen
Glauben geriet er in Anfechtungen über die eigene Situation; er deutete seine Zweifel
an Gottes Existenz als Ausdruck des Unglaubens, der aufgrund intensiven Betens
abgelöst wurde von einem Gnadendurchbruch, einer plötzlichen Gewissheit der
Begnadigung zum Leben
-Begriff „Pietist“ verbreitete sich als Schimpfwort. Joachim Feller antwortete darauf: „Was ist
ein Pietist? Der Gottes Wort studiert / Und nach demselben auch ein heilig Leben führt
-im März 1690 wurde in Leipzig die Abhaltung von Konventikeln verboten; der Pietismus
war hier nun ausgeschaltet
-1717: allgemeine Schulpflicht unter Friedrich Wilhelm I. in Preußen
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18.9.2. Weltverbesserung durch Menschenveränderung
-Theologie:
 Konzept der Ordnung Gottes
o Die durch die Sünde bestimmte Natur führt den Menschen ins Verderben,
wenn er nicht durch Buße und Bekehrung zur Existenzwende gelangt. Die
Aneignung von Christi Heilswerk in einem gefühlvollen und tätigen Glauben,
welcher die sündigen Regungen abtöten, führt in den Gnadenstand
 Heiligung
o im Sinne der Nachfolge Christi als eine Erfüllung des Gesetzes verstanden, die
das gesamte Leben - privat wie im sozialen Bereich - prägt.
 Unterscheidung Kinder Gottes / Kinder der Welt
o Franckes Fundament für Ekklesiologie, Pädagogik und Ethik
o Erziehung zielt auf Frömmigkeit und Tüchtigkeit
o Kinder Gottes müssen sich in ständiger Überwindung der Selbstsucht
abgrenzen gegen die Sitten der gottlosen Weltkinder, weshalb ihnen deren
Allotria (d.h. Unfug: z.B. Spiele, Romane, Theater) verboten sind
 Verbesserung der Weltverhältnisse durch Veränderung der Menschen
o Christenmenschen sind dazu berufen, die Welt nach Gottes Ordnung zu
verändern; dazu gibt ihnen die Bekehrung/Wiedergeburt die Kraft, so dass alle
Aktivitäten als Gottesdienst in der Welt gelten können
o Kardinaltugenden: Wahrheitsliebe, Gehorsam, Fleiß
18.9.3. Expansion durch Publizistik, internationale Kontakte, Mission
-durch Franckes Aktivitäten erfuhr der kirchliche Pietismus deutschlandweit und darüber
hinaus eine Verbreitung, die ihn zu einer der wichtigsten religiösen Gestaltungskräfte des 18.
Jhs. machte
-pietistische Erbauungsschriften wurden in allen Bevölkerungsschichten verbreitet
-1710 wurde eine Bibelanstalt gegründet; durch Verminderung der Druckkosten wurde die vorher nur teuer zu erwerbende Bibel - als Hausbuch zugänglich
-Halle wurde zum Zentrum einer erstmals im deutschen Protestantismus planmäßig
betriebenen Heidenmission
18.10. Der radikale Pietismus
-Vertreter: Johanna Eleonora und Johann Wilhelm Petersen, Johann Konrad Dippel, Johann
Christian Edelmann
18.11. Zinzendorf und die Brüdergemeine
-Nikolaus von Zinzendorf schuf einen neuen pietistischen Typus: die Herrnhuter
Brüdergemeine (bestehend seit 1722)
-verbreitete sich rasch weltweit
-Entwicklung zu einer evangelischen Freikirche (seit 1749 als Brüder-Unität
bezeichnet)
-Kennzeichen: intensive Jesusfrömmigkeit, offene Gemeinschaftsbildung, ökumenische
Orientierung
-Das Herrnhutertum unterschied sich signifikant vom hallischen Pietismus und nahm manche
Elemente des radikalen Pietismus auf
18.11.1. Gemeinschaftsbildung in Herrnhut 1722-1736
-Entstehung der Bürderunität verdankt sich Reichsgraf Nikolaus Ludwig von Zinzendorf
(1700-1760)
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-erste Gemeinschaft bestand aus mährischen Exulanten sowie aus Deutschland zuziehenden
Pietisten
-einzelne Angehörige lebten in aktiven Kleingruppen zusammen, pflegten urchristliche
Frömmigkeitsformen, musikalische Gottesdienste und eine reiche Liturgie
-Zinzendorf (Jurist, kein Theologe) formte seine Theologie in Anlehnung an die frühen
Lutherschriften
-wurde 1736 des Landes verwiesen
-inzwischen waren jedoch schon neue Brüdergemeinden entstanden
-mit den 1727 festgelegten Statuten (einer Art Verfassung) war die Gründung der
„Brüdergemeine“ vollzogen
-Zinzendorf wollte keine Sekte, sondern i.S. von Speners Prinzip der ecclesiola in ecclesia
eine überkonfessionelle philadelphische Gemeinschaft innerhalb der sächsischen
Landeskirche bilden
-Struktur/Elemente der Gemeine:
 sog. Chöre: hatten ihr eigenes religiöses Leben mit täglichen Andachten
 Losungen: zunächst ein Liedvers, dann ein Bibelwort als Leitmotiv für das tägliche
Leben
o bis in die Gegenwart das am stärksten verbreitete Andachtsbuch des
Protestantismus
18.11.2. Von der philadelphischen Gemeinschaft zur Freikirche
-Missionsimpulse, die zur Gründung neuer Gemeinden in Europa und Amerika führten
-Entwicklung einer Freikirche
-weiteres deutsches Zentrum lag in der Wetterau (Marienborn und Herrnhaag)
-christozentrische Orientierung kam auch darin zum Ausdruck, dass man 1741 das
Führungsamt der Gemeine Jesus Christus übertrug, der somit in real-unsichtbarer Gegenwart
die gesamte Brüdergemeine leitete
-infolge enthusiastischer Überspanntheit kam es 1743-1750 in der Wetterau zu einer schweren
Krise durch absonderliche Fehlentwicklungen
 naiv-kindlicher Heilandskult um Jesu Seitenhöle
o Vorbild für Zinzendorf: naive Natürlichkeit der Indianer
o skurrile Natursprache: z.B. „nisteten“ die Gläubigen als „Kreuzluftvögelein im
Seitenhöhlchen“, der Wunde des Gekreuzigten
 esoterische Sprachspiele
 erotische Jesusmystik
o Ehereligion, welche Gedanken Hochmanns von Hochenau aufnahm:
Geschlechtsverkehr als reales Abbild der mystischen Verbindung Christi mit
seiner Braut, der Gemeine
 festliche Erlösungsfreude
Verbot und ENDE der Siedlung in Herrnhaag (Wetterau)
-Schwerpunkte waren fortan Herrnhut und Bethlehem/Pennsylvania
18.11.3. Christozentrische Theologie
-Theologie Zinzendorfs:
 Gedanke der grundsätzlichen Heilsfreude
 Glaube an das Versöhnungsopfer Jesu Christi
 Zentrum: Christusgemeinschaft als persönliche Lebensverbindung mit dem
gegenwärtigen Gekreuzigten
 rechtfertigender Glaube an den Heiland (als Gefühl, als Liebe zu Gott in der
Jesusmystik)
11


Blut- und Wundenlehre
für die Ekklesiologie wurde die sog. „Tropenlehre“ konstitutiv: Auffassung, dass
keine Konfession die Kirche Christi ganz darstellt, sondern alle Kirchen als deren Teil
verschiedene Weisen von Gottes Heilserziehung (tropoi paideias) repräsentieren
o Brüdergemeine übertrifft deshalb alle Konfessionen, weil sie in sich drei
Tropen vereint hat
 lutherisch
 reformierten
 mährischen
[18.12.-18.15. ausgelassen]
18.16. Zeitenwende: Antirationalistische Frömmigkeitsformen
-Impulse der Aufklärung weckten seit ca. 1760/1770 im dt. Protestantismus Gegenkräfte,
welche einerseits bestimmte aufklärerische Elemente produktiv verarbeiteten, andererseits die
Dominanz der Vernunftorientierung negierten
-Das pietistische Grundanliegen, eine lebendige Herzensfrömmigkeit durchzusetzen wurde
transformiert
-diese Frömmigkeit in ihrer allgemein-menschlichen Wesensgestalt wurde hin zu einer
öffentlichen Darstellung mit dem Anspruch auf generelle Verbindlichkeit geändert
-Ergebnis war die Erweckungsbewegung des frühen 19.Jhs. sowie die
Theologie Friedrich Daniel Ernst Schleiermachers
18.16.1. Offenbarungsglaube und religiöse Erfahrung
-anthroprozentrischer Ansatz des Pietismus und der Aufklärung hatten zur Problematisierung
des traditionellen (orthodoxen) Offenbarungsbegriffs geführt
-eine von außerhalb des Menschen kommende Wahrheitserkenntnis war durch eine
rationalen Standpunkt nicht möglich
-J.G. Herder: Für ihn zielte die Menschheitsgeschichte als Entwicklung zu einer durch
Vernunft und Freiheit bestimmten Humanität auf deren Erfüllung in der Religion:
 Der Mensch kann und muss die Erfahrung machen, dass seine Existenz auf Gott
bezogen ist und dass dieser sich in Natur und Geschichte, in der Bibel und in der
Kultur offenbart
 Sprachphilosophie: für den Menschen hängen Denken und Sprechen zusammen in der
Selbsterkenntnis als einem auf Empfindung basierenden Bewusstsein, welhces den
Bezug auf die Natur einschließt
o Besinnung auf Gottes Offenbarung, die sich im Buch Genesis, d.h. in Natur
und Geschichte, als Sprache der Tatsachen ebenso manifestiert wie im Buch
der Bibel als der Überlieferung der menschlichen Begegnungen mit Gott
-M. Claudius‘ Werk hatte einerseits Pietismus- und Aufklärungsbezüge, andererseits nahm sie
Elemente beider Frömmigkeitsbewegungen auf
18.16.2. Religion als Gefühl und Transzendenzbezug
-J.K. Lavater (Züricher Pfarrer und Schriftsteller) verstand von seinem ganzheitlichen
Menschenbild her Frömmigkeit als eine individuelle, Leib und Geist prägende Erfahrung:
 In jedem Menschen bekundet sich Gott indirekt dadurch, dass seine Seele als Bild
Gottes einen unmittelbaren Christusbezug besitzt, wobei der inkarnierte Jesus Christus
den schlechthin transzendenten, unfassbaren Gott in sich abbildet und ihn in der Liebe
zur Darstellung bringt
 das Gefühl bestimmt die ganze Existenz
12
18.16.3. Von der Aufklärung zur Erweckung
-eine pietistische Frömmigkeit, die im Sinne der Glaubensvergewisserung vor der
rationalistischen Kritik Bestand haben sollte und auf eine aktive Weltgestaltung drängte,
propagierte der populäre Schriftsteller J.H. Jung-Stilling (1740-1817)
-zunächst ein Vertreter der frommen Aufklärung, nach einem Bekehrungserlebnis zum
Kritiker des Rationalismus geworden, gehörte Jung-Stilling zu den Wegbereitern einer
Frömmigkeitserneuerung, die in der Erweckungsbewegung des frühen 19.Jhs.
profilierte Gestalt gewann
-der Arzt und Volkswissenschaftler entwickelte sich zu einem profilierten
Laientheologen
-Jung-Stilling deutete die zunehmende Säkularisierung des Christentums als Abfall von Gott
und Zeichen einer bevorstehenden Zeitenwende, des nahen Weltendes
-er war es, der paradigmatisch zeigte, wie sich bestimmte Intentionen des Spätpietismus und
der Aufklärung zu einer neuen, antirationalistischen Frömmigkeitsform verbinden konnten
§ 19. Staatskirche und Vereinskirche im 19. Jahrhundert
Bedeutung des Themas
-geistige und institutionelle Dauerkrise des Protestantismus erfuhr eine produktive Zuspitzung
im „Zeitalter der Moderne“ seit der franz. Revolution 1789ff.
-Protestantismus reagierte im 19.Jh. mit einer Neubesinnung auf seine Identität als Kirche
-Indizien für die neue Konzentration auf das Thema Wesen der Kirche:
 Bemühungen um die Neugestaltung von Kirchenverfassungen und Kirchenstrukturen
 neuartige Befassung mit der Ekklesiologie
-Epoche durch den fundamentalen Wandel von Staat und Gesellschaft geprägt
-das alte Reich wurde durch eine Staatlichkeit abgelöst, die Deutschland als separate Größe
konstituierte
 Deutscher Bund 1815-1866
o institutionelle Verfasstheit des Protestantismus in Landeskirchen
 Deutsches Reich 1871-1918
-aus der Verflechtung von Kirche und Staat ergaben sich folgende Probleme:
 Konflikte um eine größere Selbständigkeit der Kirchenverfassung
 Union zwischen Lutheranern und Reformierten
 Ergänzung der Hinderlichen staatskirchlichen Form durch neue Strukturen
o sog. Vereinskirche als ein Ensemble freier, individueller Zusammenschlüsse
-rigide Aufsicht über die Kirche führt v.a. mit der katholischen Kirche im sog. Kulturkampf
zu Kontroversen
-Strukturwandel der Gesellschaft durch Entkirchlichung; Grundproblem der sog. „Sozialen
Frage“ wurde thematisiert (Rechristianisierung der Gesellschaft)
-Erweckungsbewegung initiierte die Vereinskirche
-Der gesellschaftlichen Differenzierung entsprach ein pluriformer Verbandsprotestantismus,
dessen wirkungsgeschichtlich wichtigster Teil die „Innere Mission“ der deutschen
evangelischen Kirche wurde
Hauptsächliche Probleme
-Landesherrliches Kirchenregiment
-Erweckungsbewegung, Innere Mission, sozialer Protestantismus
-Thron und Altar, Kirche und Nation
-kirchliche Betreuungsstrukturen angesichts der Entkirchlichung der Massen
13
Wichtige Ereignisse, Sachverhalte, Personen
-Stichworte: Schleiermacher, Trennung Staat - Kirche (1848), Rettungshaus-Bewegung,
Johann Hinrich Wichern, Bodelschwingh, Entkirchlichung, Industialisierung,
19.1. Grundprobleme eines Jahrhunderts der Umbrüche
-„Zeitalter der Moderne“ seit 1789ff.
-Charakteristika: Traditionsbruch durch Aufklärung des späten 18.Jhs.
-Gegensatz zwischen rationalistischen Modernisierern und konservativen
Traditionalisten
19.1.1. Revolutionäre Veränderungen der Lebenswelt
-das lange 19.Jh. (1789-1914) wird als Zeit der Revolutionen betitelt
-revolutionäre Ereignisse
-langfristige revolutionäre Vorgänge im Sinne von strukturellen Umbrüchen
-Demokratisierung der Staatsverfassung in diversen europ. Ländern
-Industrielle Revolution in mehreren Phasen; Technisierung der Wirtschaft
-Deutschland:
 Scheitern der politisch-demokratischen Revolution im 19.Jh. an der restaurativreaktionären Beharrungskraft mancher politischer Gruppen
 Revolution von oben: bürokratische Umwälzung im Sinne einer Ausweitung
staatlicher Kompetenzen bzw. eine erhebliche Verstaatlichung der individuellen
Lebenswelt
o Steuerbelastung
o Einführung der allgemeinen Wehrpflicht
o allgemeine Schulpflicht
-neben industrieller und technischer Revolution gab es auch eine geistige Revolution:
Einerseits wurde die Naturwissenschaft zunehmend faktisch die gesellschaftliche
Leitwissenschaft, obwohl programmatisch die dominante Geltung der Geisteswissenschaften
im Volk der Dichter und Denker behauptet blieb. Andererseits wurde aufgrund der Erfolge
der Technik die allgemeine Mentalität durch Positivismus, Pragmatismus und Materialismus
geprägt
-Transzendenzbezug von Religion und Theologie, Kunst und Philosophie trat zurück
hinter der eindrucksvollen Macht diesseitiger Machbarkeit
-dennoch blieben die geistigen Kräfte im Leben präsent
19.1.2. Die religiöse Frage: Dechristianisierung und Rechristianisierung
-erst mit 18.Jh. wurde die Relevanz der Religion für das menschliche Leben grundsätzlich in
Frage gestellt
-im gesamten 19.Jh. wurde eine Diskussion um die allgemeine Relevanz des Christentums
und dessen „Wesen“ geführt:
-Pietismus und Aufklärung blieben in verschiedenen Grundformen einer Religionsdeutung
erhalten
-Religion blieb im 19.Jh. weithin in der bürgerlichen Kultur präsent, allerdings in einem
breiten Spektrum. In kirchen- und sozialgeschichtlicher Perspektive erwiesen sich solche
Positionen als wichtig, welche die Notwendigkeit religiöser Bindungen für den inneren
Zusammenhalt von Staat und Gesellschaft betonten
-Christliche Prägung der bürgerlich-protestantischen Gesellschaft des 19.Jhs. blieb - trotz
deutlicher Entkirchlichung hinsichtlich der traditionellen Verhaltensmuster - erhalten.
14
-Friedrich Daniel Ernst Schleiermacher (1768-1834):
 von Pietismus, Romantik und frommer Aufklärung geprägt
 „Kirchenvater des 19. Jahrhunderts“
 Schrift: Über die Religion. Reden an die Gebildeten unter ihren Verächtern
 Religion als selbständige, spezifische und notwendige Dimension menschlichen
Lebens
o Wesen der Religion: „Anschauung und Gefühl“; unmittelbares Erleben des
„Unendlichen“
 Vollgestalt findet die Religion im Christentum, weil dieses das Absolute mit dem
Endlichen vermittele in der Person Jesu Christi
-für die Epoche war das Denken des Dt. Idealismus wichtig
-Fichte entwickelte seine Transzendentalphilosophie
-Schelling: Natur und Geist verbindende Identitätsphilosophie
-Hegel: Wahrheit der Religion lässt sich nicht auf das subjektive Bewusstsein
reduzieren, weil das menschliche Denken dem Absoluten (Gott) in einer Dialektik von
Identität und Differenz begegnet
-Kritik durch Sören Kierkegaard
-Religionskritik des 19.Jh.
-Hauptrepräsentant Ludwig Feuerbach
-Gottesbegriff als Projektion der defizitären menschlichen Wirklichkeit
-Karl Marx
-Religion als Opium für das Volk
19.1.3. Die kirchliche Frage: Kirche als Institution der gesamten Gesellschaft
-zwei Tendenzen, erweisen sich als entscheidend für die evangelische Kirchengeschichte im
19.Jh.:
1. Klage über die zunehmende Entkirchlichung des Bürgertums und der Massen, d.h. der
sozialen Unterschichten (die sich z.T. mit der sozialen Frage verband)
2. evangelische Kirche blieb organisatorisch ein Teil des Staates unter dessen
einengender Kontrolle und war solcherart als Staatskirche eine prinzipiell-theoretisch
auf die gesamte Gesellschaft (d.h. auf deren evangelischen Bereich) bezogene
Institution
-der Staat war nicht einmal mehr interessiert an einer Durchsetzung der Kirchenzucht
-er ergänzte die negative Kirchenfreiheit auch durch eine positive Freigabe, nämlich
durch Autonomie der Kirchenverfassung
-Grundprobleme der Kirchenverfassung und Entkirchlichung hingen zusammen
19.1.4. Die soziale Frage: Kirche und gesellschaftlicher Strukturwandel
-Begriff „Soziale Frage“ hat im 19.Jh. eine spezifische Prägung: Er beschreibt die seit 1850
auftretende ökonomischen und gesellschaftlichen Folgen der Industrialisierung, insbesondere
auf die mit der Entstehung der Arbeiterschaft als einer neuen Klasse verbundenen Probleme
-für die Kirche gab es schon seit 1830 eine soziale Frage, die unter dem Begriff
„Pauperismus“ diskutiert wurde: die Kumulation individueller Armut zu einem
Massenphänomen, das am Rand der Gesellschaft ein alarmierendes Signal für
Fehlentwicklungen derselben darstellte
-Ursachen: materielle Not nach Krieg, Hungersnot 1817, rasantes
Bevölkerungswachstum
-das kirchliche Finanzsystem hing im Wesentlichen an agrarischen Grundlagen;
Verstädterung hatte zur Folge, dass die kirchlich-traditionellen Betreuungsmechanismen
(Armenfürsorge und parochiale Seelsorge) versagten
15
19.1.5. Die nationale Frage: Deutschlands Gott und die Ersatzreligion
-19.Jh. wurde das Zeitalter der Nationalstaaten und des machtpolitisch-ideologischen
Nationalismus
-Unterdrückung Deutschlands durch ein fremdes Volk und der geforderte Befreiungskampf
wurden seit 1806 von wortmächtigen Vordenkern, philosophischen und theologischen
Predigern u.a. im Sinne einer besonderen Sendung der von Gott auserwählten deutschen
Nation geschichtstheologisch stilisiert (v.a. Ernst Moritz Arndt)
-Umformung zu einer Ersatzreligion, dem „Glauben an Deutschland“ o.ä.
-erhebliche Teil der Kirche schollen sich im sog. Nationalprotestantismus der Tendenz
an, weil sie damit den gesamtgesellschaftlichen Relevanzverlust kompensieren wollten
19.1.6. Die konfessionelle Frage: Bekenntnis als Identitätssicherung
-Pietismus und Aufklärung relativierten durch ihr Religionsverständnis die Geltung einer
konfessionalistischen Bestimmung des Protestantismus
-im 19.Jh.: Frage nach dem theologischen und geistlichen Gewicht einer formal beibehaltenen
Bekenntnisbindung der Amtsträger und Gemeinden
-Konflikt um die Union von Lutheranern und Reformierten in einer einzigen Landeskirche
(siehe 3.3.)
-auf dem Hintergrund einer zunehmenden Entkonfessionalisierung im Bewusstsein der
normalen Kirchenmitglieder erschien diese konfessionelle Frage oder jene praktische
Bekenntnisfrage als ohnehin obsolet
-Verhärtung des Gegensatzes zwischen Protestantismus und Katholizismus wurde wichtig
-beide Konfessionen konkurrierten im neuen Reich 1871ff. bei der politischen und
kulturellen Einflussnahme
[19.2. Die Neuformation Deutschlands seit 1815]
[19.3. Staatskirche und Konfessionen: Die Unionsproblematik in Preußen 1817-1834]
19.4. Religiöser Neuaufbruch: Die Erweckungsbewegung ca. 1810-1840
-spezifische Intensivierung christlicher Lebenseinstellung manifestierte sich allgemein um
1820-1830 insbesondere im Kontrast zur moderaten Christlichkeit und zur distanzierten
Kirchlichkeit
-Selbstverständnis als Erweckung, eine individuelle Bekehrung zu lebendigem Heilsglauben
in Absage an die gottlose „Welt“
-Zusammenschlüsse in kleinen Kreisen entstanden
-Ziel: Heiligung des Lebens
-erst im 20.Jh: Erweckungsbewegung; enorme kg. Bedeutung für den dt. Protestantismus
durch Installation vielfältiger missionarisch-diakonischer Einrichtungen
-Erweckungsbewegung war eine der wesentlichen kirchlichen Gestaltungskräfte im 19.Jh.
19.4.1. Wesentliche Merkmale der Erweckungsbewegung
Merkmale:
 Zusammengehörigkeitsgefühl, welches sich wesenhaft aus einer gemeinsamen
Frontstellung gegen den modernen Säkularismus stellte
 Antirationalismus
 Emotionalität, Verbindung von Selbsterfahrung und Gotteserfahrung
 Elemente von Pietismus, Aufklärung und Orthodoxie fließen ein und werden in eine
neue Synthese eingebracht
 Vereinsbildung als soziologische Form der auf Heiligung des Lebens drängenden
Frömmigkeit
16


Zeitbewusstsein (jedoch unterschiedliche Enderwartungen
Reich-Gottes-Hoffnung
19.4.2. Vorformen und Anfänge der Erweckungsbewegungen
-kein einheitlicher Beginn oder deutliche Anfangsphase zu konstatieren
-stattdessen: viele einzelne Bewegungen, die sich als Ausdruck einer Erweckung
verstanden
-mancherorts entwickelte sich die Erweckungsbewegung direkt aus pietistischen Gruppen wie
z.B. in Württemberg und im Rheinland
-„Erweckte vor der Erweckung“:
 J.H. Jung-Stilling
 J.K. Lavater
 M. Claudius
19.4.3. Missionarische Initiativen
-19.Jh. eröffnete für den Protestantismus das Zeitalter der Mission in Afrika und Asien
-Bewusstsein ökumenischer Gemeinschaft entstand
-Erweckungsbewegung in Europa und Nordamerika nahmen hier entscheidenden
Einfluss
-Grundanliegen der Missionare: sündigen Menschen durch Buße und Bekehrung die
Erfahrung der göttlichen Gnade zu vermitteln; nicht-christliche Seelen durch den Glauben an
den Erlöser Jesus Christus zu retten
-Missionsvereine entstanden ebenso wie Bibelgesellschaften
-Christentumsgesellschaft, British and Foreign Bible Society
-Baseler Missionsgesellschaft
-das durch die Erweckungsbewegung geweckte Konfessionsbewusstsein wirkte sich aufgrund
des Zusammenhangs von missionarischer Kirchengründung und Bekenntnisbindung
dahingehend aus, dass etliche Lutheraner jene konfessionsübergreifenden Gesellschaften nicht
mehr unterstützten
19.4.4. Erweckungsbewegungen in Deutschland: Zentren und Regionen
-Erweckungsbewegungen erfassten nicht den gesamten deutschen Protestantismus, sondern
nur eine Minorität in einigen Regionen
-Teile Württembergs und Frankens
-Siegerland
-Bergisches Land
-Niederrhein und Minden-Ravensburg
-Erweckungen als kontinuierliches Dauerphänomen entstanden hauptsächlich als Wirkung
charismatischer, populärer Prediger
-missionarisch-diakonische Aktivitäten
-Neublüte des kirchlichen Lebens (Missionsfeste, bestimmte Jahresfeste)
-Erweckungsbewegung knüpfte allmählich nach 1850 die Verbindungen zur Amtskirche, aber
ihre Freiheit behielt sich die Bewegung
-wie im Pietismus wurden kleine Gruppen der sozialen Eliten (v.a. des Adels, z.T. auch des
Bildungsbürgertums) gewonnen, die neben den Pfarrern (ver-)walteten
19.4.5. „Erweckungstheologie“ und „Konfessionalismus“
-da Erweckungsbewegung sich vielfältig präsentierte, lassen sich ihre theologiegeschichtliche
Wirkung und Bedeutung nicht präzise bestimmen
17
-für das kirchliche Leben wurde bedeutsam, dass die Erweckung als eine Predigtbewegung
entstand und durch elementarisierte Inhalte auch nach der Frühphase 1840ff. charakterisiert
blieb:
 Erfahrung des Sündigseins und Errettetwerdens
 Heiligung des Lebens
-inhaltlich konzentrierte sich die Bewegung auf die reformatorischen Bekenntnisschriften
-konfessionsbewusste Theologie als Kennzeichen, die - trotz der pauschalen Etikettierung als
„Konfessionalismus“ oder „Neuluthertum“ durch ihre Widersacher - zumeist keine einfache
Wiederholung der Orthodoxie war
-lutherischer Konfessionalismus: Kennzeichen waren Eigenständigkeit der Kirche ggü.
Staat und Gesellschaft, andererseits der Unterschied des Luthertums ggü. Calvinismus
und Union
19.5. Soziales Engagement der frühen Erweckungsbewegung
-durch ökonomischen Wandel entstand zunehmend eine Armutsproblematik
-Häufung von Verelendung sprengte die traditionellen Möglichkeiten der kommunalstaatlichen und gemeindlich-kirchlichen Armenfürsorge
-Kirche besaß oberhalb der Gemeindeebene kaum organisatorische oder konzeptionelle
Voraussetzungen zur Beteiligung an Lösungen (zumindest kein Geld und Personal)
-seit ca. 1800/1810 steigende Massenarmut
-vereinzelte Privatinitiativen aus dem Umfeld der Erweckungsbewegung
-Die Erfahrung der eigenen Errettung aus dem Sündenverderben, die eine
frohgemut-gläubige Herzensfrömmigkeit begründete, führte zu einem
praktisch-verantwortlichen Gemeinschaftsbewusstsein
-Ansätze dessen, was später im 19.Jh. als „christliche Liebesthätigkeit“ bezeichnet
wurde
-zwei neue Berufe entstanden im protestantischen Umfeld (Diakon und Diakonisse)
-Reich-Gottes Idee als tragendes Motiv
19.5.1. Das große Problemfeld der Armenfürsorge
-Armut war auf eine bestimmte Gesellschaftsschicht bezogen
-als die materielle Unmöglichkeit, den Lebensunterhalt menschenwürdig aus eigener
Kraft zu bestreiten, betraf sie bislang diejenigen Teile der Unterschichten, die
aufgrund von Krankheit nicht arbeiten konnten
-„Arbeitsscheues Gesindel“ suchte man durch regelmäßigen Kampf gegen den Bettel
und durch Einsperrung in sog. Zucht- bzw. Arbeitshäuser einzusperren
-nach 1815 verstärkte sich die Problematik dahingehend, dass viele Arbeiter samt Kindern nur
noch Löhne, die das Existenzminimum kaum deckten bekamen oder schlimmstenfalls
arbeitslos wurden (bedingt durch Industrialisierung)
-Armut wurde zu einem Massenphänomen
-bis 1850 sollte die Armut steigen und sich eine Massenarmut entwickeln, der sog.
Pauperismus
-zwei christliche motivierte Personen drangen auf praktische Abhilfe der Problematik:
 J.F. Oberlin (elsässischer Pfarrer)
o Ziel: Verbesserung der Lebensbedingung durch gute Schulbildung
o schuf Arbeitsplätze durch Neuansiedlung von Gewerbegebieten
 H.E. von Kottwitz (schlesischer Baron)
o er war ein herausragender Vertreter der Berliner Erweckungsbewegung
o gründete eine Texilmanufaktur, die „Freiweillige Beschäftigungs-Anstalt“
o Pionier einer sozialen Diakonie
18
-im 19.Jh. entwickelte sich auch die Gefangenenfürsorge. Es war die Bemühung um geistliche
Betreuung und bessere Lebensbedingungen der Sträflinge in den miserablen „Arresthäusern“
-Massenunterbringung in entsetzlichen Häusern
-kein geschultes Personal
-Pfr. Theodor Fliedner betreute seit 1824 die Insassen des Düsseldorfer Gefängnisses
-er gründete 1826 die „Rheinisch-Westfälische-Gefängnisgesellschaft“
-1833: Einrichtung eines Asyl-Wohnheims für entlassene weibliche Gefangene
19.5.2. Jugendarbeit: Die „Rettungshaus“-Bewegung
-große Aktivität zeigte die Erweckungsbewegung im Bereich der Fürsorge verelendeter
Kinder
-Sozialarbeit nach hier also ihren Anfang
-seit ca. 1820: pädagogische Initiativen zur Gründung von „Rettungshäusern“
-diese sollten bei verwahrlosten Jugendlichen durch religiöse Errettung aus der
Sündhaftigkeit (ein typisches Erweckungsmotiv!) deren gesellschaftliche und
kirchliche Integration fördern
-Johann Hinrich Wichern (1808-1881) lieferte in herausragender Weise einen Betrag, indem
er 1833 eine Erziehungsanstalt gründete, die nach dem Familienprinzip organisiert war:
-Kinder aus zerrütteten Familien wurden unter Leitung eines Hausvaters als religiös
geprägte Lebens-, Lern- und Arbeitsgruppe zusammengefasst, um später als
Handwerker o.ä. ordentliche Glieder einer bürgerlichen Gesellschaft zu werden
-Erzieher hierfür wurden in einer spezifischen Schule ausgebildet
-hiermit wurde das Diakoneamt völlig neu begründet (bisher lediglich
Armenpflege in der Gemeinde)
-Wichern verfolgte das Prinzip der „rettenden Liebe“, welches er später (1848) durch
sein wirkungsvolles Programm der „Inneren Mission“ formulierte
-Lebensertüchtigung durch handwerkliche Fähigkeiten i.V.m. erwecklicher
Frömmigkeit
-gezielte Publizistik (eigene Druckerei, die sog. „Agentur des Rauhen Hauses“) führte
zur raschen Verbreitung seiner Idee
19.5.3. Theodor Fliedner: Krankenpflege und Diakonissenamt
-zwei Aspekte trafen bei den Anfängen der Mutterhausdiakonie zusammen, die der durch die
Herrnhuter Brüdergemeine geprägte Pastor Theodor Flieder gezielt zusammenführte: (18001864)
1. massenhaftes Elend der Krankenpflege in den Unterschichten
2. Problem der Versorgung unverheirateter Frauen/Jungfrauen, denen außer Heirat und
Familie keinerlei Berufsmöglichkeiten offenstanden
-1832: Gründung des „Vereins für Armen- und Krankenpflege“
-1836: Errichtung eines Krankenhauses; Schule für Pflegekräfte
-hier entstand das Amt der Diakonisse, das später zu einer tragenden Säule in Kirche
und Innerer Mission wurde
-pädagogische Tätigkeiten im Kindergarten- und Volksschulbereich traten hinzu
-Flieder wurde zu einer der großen Gestalten der Kirchengeschichte des 19.Jhs.
[19.6. Kirche in Staat und Gesellschaft bis zur Revolution 1848/1849]
19
19.7. Wichern und die Innere Mission
-kg. Hauptproblem im 19.Jh. war die Entkirchlichung der Massen, d.h. der sozialen
Unterschichten
-Soziale Frage wurde entscheidend
-eine umfassende Kirchenreform erwies sich als notwendig
-Zur Kirchenreform um 1840/1850 entscheidend beigetragen zu haben, war der Verdienst J.H.
Wicherns
-historische Bedeutung als eine der größten Gestalten des dt. Protestantismus
-Bündelung und Systematisierung der missionarisch-diakonischen Impulse und der
Erweckungsbewegung
-Wicherns Beitrag habt die heute charakteristische Parallelität von „Vereinskirche“ und
„Amtskirche“, von freien Verbänden und Landeskirchen, begründet
19.7.1. Der Wittenberger Kirchentag 1848
-Revolution mit den Aufständen im März 1848 schuf eine neue Situation
-obwohl die Kirche das als Sünde gegen die göttliche Ordnung ansah, erwuchsen doch
zahlreiche eigene Reformprojekte
-Ziel (u.a.): nationaler Zusammenschluss über die Landeskirchengrenzen
hinweg
-Einige Vermittlungstheologen aus den Unionskirchen sahen eine Möglichkeit zur
Konsolidierung und Ausweitung der Union. So traf sich ein breiter, positionell diffuser
Trägerkreis im September 1848 zu einer Versammlung in Wittenberg.
-Ziel: eine Konföderation selbständiger Landeskirchen, die ihren jeweiligen
Bekenntnisstand - lutherisch, reformiert, uniert - und ihre Autonomie in Verfassung
und Gottesdienst beibehalten sollten
-konkret wurde auf dem Kirchentag noch nichts
-In der Folgezeit wurde der Kirchentag (bis 1872) regelmäßig abgehalten, was das Erstarken
des Verbandsprotestantismus untermauert
-Von größter Bedeutung für die weitere Entwicklung war der Beschluss, zu den Aufgaben des
künftigen Kirchenbundes sollte die „Innere Mission“ gehören, welche durch einen
„Centralausschuss“ die einschlägigen Initiativen zahlreicher Vereine etc. koordinieren sollte
-Anstoß gab Johann Hinrich Wichern mit einem Antrag und einer fulminanten
Begründungsrede
-1848 entstand also die Basis für die Formation eines gesamtkirchlich orientierten, auf
gesellschaftliche Probleme bezogenen Verbandsprotestantismus
19.7.2. Wicherns Konzept der „Inneren Mission“
-sein Konzept für eine umfassende Reform fasste Wichern unter dem Begriff einer „Inneren
Mission“ (=IM) zusammen
-Konzept seit 1843/1844 aufgrund der Auswertung zahlreicher diakonischer Aktionen
in Konfrontation mit dem Pauperismusproblem erarbeitet
-Objekte der Missionstätigkeit sollten Menschen in Deutschland sein, die bereits getaufte
Christen waren, aber als das „Heidentum im Christentum“ einer Bekehrung zugeführt werden
sollten
-Ziel einer Rechristianisierung der Gesellschaft durch Laienaktivierung
-Wichern strebte eine Synthese der neuen, rasch wachsenden Vereinskirche mit der
traditionellen Amtskirche an und verwandte dafür den Begriff „Volkskirche“, um anzudeuten,
dass nur durch Kooperation aller Kräfte das Volk wieder mit christlichem Leben erfüllt
werden könnte
20
-Reich-Gottes-Idee: Dem im Volk stark verbreiteten Reich der Sünde soll durch die Innere
Mission entgegengetreten werden, welche neuen Glauben erweckt und mit der rettenden
Liebe die Menschen zu Gott führt
-Reich-Gottes als innerweltliches Ziel
-entscheidende Frage der IM wurde diejenige der tatsächlichen Realisierung der Pläne; hier
erwiesen sich Wicherns Ideen i.V.m. Konzeptionen und Projekten vieler anderer als höchst
effizient
-Wichern verfasst „Die innere Mission der deutschen evangelischen Kirche. Eine
Denkschrift an die deutsche Nation“
-Ortsgemeinde soll - verstärkt durch die freien Vereine - der Liebestätigkeit, die eigentlich
Trägerin der IM sein soll, nachgehen
-ab etwa 1868 wurde der Begriff „Volkskirche“ nicht mehr als Zukunftsmodell, sondern als
Zustandsbeschreibung verwandt
-Volkskirche zu sein, bedeutet für die Kirche, der ganzen Gesellschaft zu dienen
-Erneuerung der Gesellschaft ist eher von den sittlichen Kräften des Christentums (also von
Kirche und IM) zu erwarten als von der bürokratischen Staatsverwaltung
19.7.3. Der Erfolg von Wicherns Rechristianisierungsprogramm
-Erfolge:
 innerkirchliche Bekehrungsaktivitäten
 umfassende Dimension der „rettenden Liebe“
-sozialer Nutzen der IM Einrichtungen (spätere Diakonie) wurde evident, dadurch
Rechristianisierung der Gesellschaft
-der Großteil der bisherigen Protestanten blieb - trotz aller Säkularisierung - in der
evangelischen Kirche, so dass diese faktisch sich als Volkskirche verstehen konnte
(was ihren Rechtsstatus als Staatskirche legitimierte)
19.8. Christliche Diakonie im Umbruch der Gesellschaft
-Kirche war weder finanziell noch personell in der Lage, die Folgen der gesellschaftlichen
Strukturveränderungen auch nur für ihr unmittelbar geistliches Handeln aufzuarbeiten
-Mitgliederexplosion in den Stadtgemeinden führte dazu, dass angesichts fehlender
Pfarrstellen und Kirchengebäuden eine angemessene Betreuung durch Gottesdienst, Seelsorge
und Unterweisung kaum möglich war
-freie Vereine boten hier Möglichkeiten; Dienste diakonischer Art sorgen für Hilfe bei
den jeweils Betroffenen
19.8.1. Die Arbeit der Inneren Mission ca. 1850-1900
-„Centralausschuss für die Innere Mission“ gab seit 1849 neue Impulse für eine Ausweitung
der Rettungsarbeit in
 Kleinkinderschulen
 Jugendheimen
 Krankenhäusern
 Plegeheimen usw.
-durch den Widerstand einiger lutherischer Kirchen wurde die Zusammenarbeit zwischen den
Landeskirchen erschwert
-dadurch entwickelte sich die regionale Diakonie in dezentralisierter Form
-durch Unterstützung König Friedrich Wilhelm I. und durch große Spenden konnten neue
Arbeitszweige aufgebaut werden: zunächst die Stadtmission, später seelsorgerlich21
diakonische Hilfen in Beratungs- und Betreuungseinrichtungen für besondere Gruppen
(Seemannsmission, Auswanderermission u.a.) und für sozial Gefährdete (Bahnhofsmission)
19.8.2. Friedrich von Bodelschwingh: Organisation der Barmherzigkeit
-kirchlich-gesellschaftliche Relevanz diakonischer Aktivitäten, aber auch deren beschränkte
Reichweite im Blick auf Strukturprobleme der Sozialen Frage zeigte exemplarisch das kg.
herausragende Werk des westfälischen Pastors Friedrich von Bodelschwingh (1831-1910)
-seit 1872: Engagement für die Krankenpflege (Fürsorge für Epileptiker)
-Aufbau einer „Stadt der Barmherzigkeit“ vor den Toren Bielefelds
-Bethel (d.h. Haus Gottes)
-christliche Liebestätigkeit leistet einen effektiven Beitrag zur Verbesserung
der Lebensbedingungen von sozial Schwachen
19.9. Kirchliche Auseinandersetzung mit der Sozialen Frage
-Soziale Frage bekam eine neue Qualität infolge der aufblühenden Industrialisierung nach
1850
-Hauptthema: Transformation der Gesellschaftsstruktur
-neues Element mit spezifischem Millieu; Klassengesellschaft entstand, in
welcher die verschiedenen Klassen v.a. durch ihren ökonomischen Status
definiert waren (auch der Adel und das Bürgertum)
-Ausgrenzung der Arbeiter aus der bürgerlich dominierten Gesellschaft, ihre politischökonomische schwäche und die Entstehung des Proletariats als einer verelendeten
Unterschicht gaben der „Sozialen Frage“ ein neues Profil
-Liebestätigkeit der Vereinskirche bzw. des Verbandsprotestantismus blieben eine konkrete
Hilfsmaßnahme
19.9.1. Die Phase der Hochindustrialisierung nach 1870
-seit 1850: Eisenbahnbau in Deutschland; Industriezentren entstanden (v.a. im Ruhrgebiet und
in Oberschlesien)
-Wachstum der Städte bzw. Mutierung von Dörfern zu Industriestädten
-zweite Welle der Industrialisierung seit ca. 1890 brachte mit der Blüte von Chemie und
Elektrotechnik einen weiteren Modernisierungsschub
-Bevölkerung im Dt. Reich stieg um 70 Prozent von ca. 40 auf ca. 68 Mill. Einwohner
-neue Lebensbedingungen für Arbeiter:
 lange Arbeitszeiten
 kaum oder kaum Urlaub oder Feiertage
 schwerer körperlicher Einsatz
 geringes Einkommen
 Mitarbeit von Frauen und Kindern zwecks Unterhaltssicherung
 miserable Wohnverhältnisse
 fehlende Kranken- und Altersversorgung
 kurze Lebenserwartung
-Angesichts der Probleme erwarteten viele - auch Theologen - eine Lösung der Sozialen Frage
vom Staat durch Sicherung und Verbesserung der materiellen Lebensverhältnisse
-Hoffnung wurde auf die seit ca. 1860 sich formierende Arbeiterbewegung in Form von
Gewerkschaften und politischen Parteien gesetzt
22
19.9.2. Vereinzelte Vorstöße zu Problemlösungen
-lutherischer Verwaltungsmann Friedrich Wilhelm Raiffeisen, gründete landwirtschaftliche
Darlehensvereine als Selbsthilfeorganisation der Bauern (mit örtlicher Leitung oft durch
Pfarrer)
-weitere Impulse lieferten Prof.. Viktor Aimé Huber und Rudolf Todt
19.9.3. Sozialpolitik und Rechristianisierungsprogramm bei Adolf Stoecker
-nach Wichern erlangte nur eine Gestalt als theoretisierender Praktiker eine vergleichbare
historische Breiten- und Tiefenwirkung im deutschen Protestantismus: der Berliner
Hofprediger und Politiker, konservative Kirchenmann und diakonisch-missionarische
Organisator Adolf Stoecker (1835-1909)
-Repräsentant der neuen Verbindung von Frömmigkeit und Agitation
-Rechristianisierung i.S. des Theorems der Volkskirche
-durch christlich-soziale Politik im Staat
19.9.4. Versuche zu politischer Einflussnahme
-Mehrheit des dt. Protestantismus stand politisch hinter den konservativen Parteien, welche
die Interessen von Besitzbürgertum und Adel vertraten und nach 1895 kaum noch auf eine
christlich-soziale Komponente bedacht waren
-Sozialdemokratische Partei als einzige Arbeitervertretung wollte mit der Staatskirche, der
sog. schwarzen Polizei, nichts zu tun haben, evangelische Kirche wiederum lehnte die SPD
wegen ihrer revolutionären und atheistisch-materialistischen Grundhaltung ab
-Protestantismus hatte also nicht die Möglichkeit, durch Parteipolitik Lösungen der „Sozialen
Frage“ anzusteuern; anders die Katholiken mit ihrer Zentrumspartei
-Bismarck war es, der mit der Sozialgesetzgebung erstmals eine direkte Besserung der
Zustände herstellte
-Adolf Stoecker gründete den „Evangelisch-Sozialen Kongress“, um Konservative und
Liberale zu gemeinsamer Grundlagendiskussion zusammenzubringen
-seit 1882: Gründung von evangelischen Arbeitervereinen
[19.10. Religionspolitische Stellung: Der Kulturkampf 1871-1887]
§ 20. Volkskirche und evangelische Identität im 20. Jahrhundert
Bedeutung des Themas
-besonders deutlich wird der Gegenwartsbezug bei der sog. kirchlichen Zeitgeschichte
-Begriff bezeichnet die unmittelbare Vergangenheit der „jetzt Lebenden“
-faktisch meint er die Zeit seit 1918 unter Konzentration auf den dt.
Protestantismus
-weltgeschichtliche Umbrüche durch die Jahre 1914-1918 und 1939-1945 (die beiden
Weltkriege) und dem anschließenden Kalten Krieg bis 1989/1990
-markantes Spezifikum des 20.Jhs. ist die zunehmende Globalisierung der Lebenswirklichkeit
-hinsichtlich der Kirche und Theologie spiegelt sie sich im Ausbau der sog. Ökumenischen
Bewegung wieder
-weiterhin liegt ein Schwerpunkt auf dem „Proprium“ der Kirche: eine programmatische
Betonung ihres spezifischen Wesens und Auftrags, die im Verlauf des 20.Jhs. profilierte
Formen praktischer Gestaltung erreicht hat
Hauptsächliche Probleme
-Gegenüber und Miteinander von Institution Kirche (Amtskirche) und weniger engagierten
(volkskirchlichen) Christenmenschen
23
-Verfassungsrechtliche Regelung des Verhältnisses Staat-Kirche
-Evangelische Kirche und deutsche Nation
-Deutsche Christen und Bekennende Kirche
-Verkündigung und Lehre: Traditionelle Konfessionsdifferenzen und neue theologische
Konflikte
Wichtige Ereignisse, Sachverhalte, Personen
-Stichworte: Weimarer Reichsverfassung, Kooperation der 28 Landeskirchen im Deutschen
Evangelischen Kirchenbund, Staatskirchenvertrag in Preußen (1931), Kirchenkampf,
Reichskirche: Deutsche Evangelische Kirche (DEK), Reichsbischof Ludwig Müller,
Bekennende Kirche (BK), Spaltung der BK (Reichsbruderrat - Lutherrat) 1936,
Judenprogrom: weithin kirchliches Schweigen; Zweiter Weltkrieg, kirchliche Proteste gegen
Euthanasie-Aktion, Holocaust
20.1. Der Erste Weltkrieg als Epochenschwelle
-in den Schrecken der maschinell-technisierten Kriegsführung äußerte sich die Krise der
modernen Mentalität
-Zerfall der seit 1815 bestehenden europäischen Staatenordnung
-innenpolitische Konflikte aufgrund ungelöster sozialer Spannungen
-Kriegseintritt der USA 1917 markierte den Beginn einer weltgeschichtlichen Wende
20.1.1. Kulmination des protestantischen Nationalismus
-vaterländisch-militärische Aufbruchstimmung (der „Geist von 1914“) sorge für eine neue
religiöse Erweckung
-tatsächlich aber verstärkte die Kirche mit ihrer politischen Predigt nur die staatliche
Kriegspropaganda durch eine religiöse Legitimierung
-Erwählung Deutschlands durch Gott
-neue Gottesoffenbarung durch Kriegsgeschehen
-prägend für die Lebenseinstellung vieler Theologiestudenten und Pfarrer wirkte sich der
freiwillige Dienst als Frontkämpfer oder Feldgeistlicher aus
-Verhältnis der Kirche zur Nation blieb von hier an ein kg. Grundthema
-enorme Steigerung des Gottesdienstbesuches zu Kriegszeiten
-neue Frömmigkeit durch Kriegsandachten, tägliche Gebetsstunden,
Dankgottesdienste und Glockengeläut bei militärischen Siegen
-erbauliches Schrifttum mit religiöser Sinndeutung des Krieges
20.1.2. Vom Kaiserreich zur Republik
-Einheit des um Kaiser Wilhelm II. gescharten deutschen Volkes bestand faktisch
keineswegs; dies wurde nur ideell vermittelt
-Gegensatz zwischen Reformern (Demokraten) und Reaktionären (Monarchisten)
-Revolution im November 1918 bestand zunächst in einer von oben gelenkten
Parlamentarisierung und in einem spontanen Massenaufstand von Soldaten und Arbeitern
-Abdankung der Monarchen, Ausrufung der Republik
20.1.3. Christenverfolgungen als Zeichen einer neuen Zeit
-in der Türkei und in Rußland kam es zu harten Unterdrückungen der orthodoxen Kirchen
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20.2. Grundsätzliche Trennung von Kirche und Staat
-Eine Trennung der Kirche vom Staat im Sinne größerer Selbständigkeit hatten schon im
19.Jh. neben liberalen auch konservative Theologen gefordert, ohne damit den öffentlichen
Einfluss der Kirche preisgeben zu wollen
-mit Ende der monarchischen Staatsform verlor ev. Kirche die äußere Stützte durch
das landesherrliche Kirchenregiment bzw. den obrigkeitlichen Summepiskopat
-durch die neue Reichsverfassung (WRV 1919) erhielt die Kirche erstmals die Freiheit zu
autonomer Gestaltung, so dass sich das Ende des Staatskirchentums als Gewinn erwies;
andererseits behielt die Kirche ihre privilegierte öffentliche Position, die ihrem
programmatischen Anspruch entsprach, Volkskirche zu sein
20.2.1. Sozialistisches Programm und Volkskirchenbewegung 1918/1919
-spektakulärster Versuch einer radikalen Trennung von Staat und Kirche unternahm die
preußische Regierung im Winter 1918/1919
-Verordnungen: Tilgung des christlichen Charakters der Schulen, Aufhebung des
Religionsunterrichts, Einstellung der staatlichen Finanzzuschüsse, Erleichterung des
Kirchenaustritts
-eine Art neuer „Kulturkampf“ entstand, ein schwerer Konflikt um die öffentliche
Geltung der Religion
-Gegen diese Maßnahmen wehrten sich Kirche und Protestantismus durch eine beachtliche
Mobilisierung der Gemeinden in der sog. Volkskirchenbewegung
-im Zusammenhang mit den Wahlen zur dt. Nationalversammlung bewirkten sie eine
Rücknahme der Konfrontationspolitik
-Kurswechsel ermöglichte das Ausscheiden der USPD aus der Regierung
20.2.2. Protestantismus und politische Parteien
-während der Katholizismus (mit ca. 32 Prozent weiterhin eine starke Minderheit der
Reichsbevölkerung) wie bisher mit dem „Zentrum“, der „Deutschen Zentrumspartei“ eine
spezifische Interessenvertretung besaß, fehlte dem Protestantismus derartiges
-evangelische Bevölkerungsmehrheit (ca. 64 Prozent) wählte unterschiedliche Parteien
-Mehrheit der Pfr. favorisierte die „Deutschnationale Volkspartei“ (DNVP)
-liberale Protestanten wählten die „Deutsche Demokratische Partei“ (DDP)
20.2.3. Die Weimarer Reichsverfassung 1919
-die beiden sozialistischen Parteien SPD und USPD wollten der Kirche nur einen
privatrechtlichen Vereinsstatus zubilligen
-Gegner drängten auf eine zentralistische Regelung in der neuen Reichsverfassung
-in Weimar tagende Nationalverfassung knüpfte an die liberale Tradition 1848/1849
an
-Ergebnis: Grundsätzlich wurde das Staatskirchentum aufgehoben, aber die
privilegierte Position der beiden Großkirchen mit öffentlich-rechtlichem Status blieb
erhalten
-radikale Trennung war hinfort ausgeschlossen (so Hauschild; das ist aber
falsch)
-entscheidenden Beitrag zu dieser Gestaltung kam Friedrich Naumann zu
-Faktisch wurde eine Grundlage für eine Partnerschaft von Staat und Kirche geschaffen (so
Hauschild)
-Beispiele aus der WRV:
 Autonomie der Kirchen
 Möglichkeit der Erhebung von Kirchensteuern
 KdöR
25
20.3. Kirchliche Neuorganisation
-ab 1919 mussten alle Landeskirchen neue Verfassungen erstellen
-sie übernahmen dabei wesentliche Elemente der synodal-konsistorialen Ordnung im
19.Jh.
-neue Chance zu gesamtkirchlichem Handeln entstand
-1922 kam es zur Gründung eines Kirchenbundes der 28 Landeskirchen
-der durch den Weltkrieg signalisierte Epochenbruch zeigte sich besonders deutlich in den
grundlegenden theologischen Veränderungen, die dem allgemeinen Kulturwandel entsprachen
-Neuansätze theologische Art entstanden
-besonders hervorzuheben ist hier die sog. Dialektische Theologie, die
besonders durch Karl Barth Geltung fand
-Theologie der Krisis, welche - in bizarrer Sprache und paradoxalem
Denkansatz vorgetragen - nicht mehr die Religion des Menschen,
sondern allein Gottes Wort thematisieren wollte und alle bisherigen
Vermittlungsbemühungen (Religion und Kultur, Theologie und
Philosophie, Glaube und Wissenschaft etc.) als Irrweg verwarf
-im Ergebnis führten die neuen theologischen Ansätze zu dem Ergebnis, dass die „Kirche“ als
pneumatisches Ereignis in scharf betontem Gegensatz zur verfassten Institution als einer
Abart von Kirche stand
-Karl Barth bekämpfte den Kulturprotestantismus Adolf von Harnacks scharf
-Karl Barth (1886-1968)
 reformierter Theologieprofessor
 „Kirchenvater“ des 20. Jahrhunderts
 mutiger Kampf gegen die nationalsozialistischen Irrlehren des Protestantismus
 einer der maßgeblichen Theoretiker der „Bekennenden Kirche“
 Dem „unendlichen qualitativen Unterschied“ zwischen Gott und Welt, Zeit und
Ewigkeit korrespondierte für ihn das Paradox des Glaubens und die „unmögliche
Möglichkeit“ menschlicher Rede von Gott
[20.4. Internationale Kooperation: Die Ökumenische Bewegung]
[20.5. Evangelische Kirche und Republik]
20.6. Grundsätzliche Bedeutung der Epoche 1933-1945
-Die von einer breiten Bevölkerungsmehrheit erhoffte, von den Nationalsozialisten seit 1933
betriebene „nationale Wiedergeburt“ Deutschlands hat - auch durch den 2. WK - bewirkt, dass
die herkömmliche Staatenordnung Europas umgestürzt und die Existenz des Dt. Reiches
vernichtet wurde
-sie führte zu unermesslichen Gräueln und Verbrechen
20.6.1. Staatliche Kirchenfeindschaft
-für die KG bedeutsam ist der paradigmatische Konflikt des NS-Regimes mit der Kirche
-Frage, ob die Rolle als „Volkskirche“ und damit die sozial- und kulturgeschichtlich
dominierende Position des Christentums in dieser Epoche zu Ende geht
-möglicherweise leitete die NS-Zeit dieses Phänomen ein
-zwar erlebte nach 1945 im Westen Deutschlands die Volkskirche eine Restauration;
in der DDR wurde sie aber definitiv abgebaut
-Dechristianisierung geht folglich auf die NS-Zeit zurück
-für 1933-1945 gilt, dass die Kirche (ev. und kath.) durch einen kirchenfeindlichen Staat eine
Unterdrückung bis dahin unbekannter Art erlebte
26
20.6.2. Nationalsozialistische Herrschaft: NS-Staat als „Drittes Reich“
-Verbrechen und Vernichtung von Millionen deutscher und europäischer Juden kommt
besondere (folgenschwere) Bedeutung) zu
-Nationalsozialisten wollten ihrer Herrschaft durch den Propagandabegriff „Drittes Reich“
herausstellen
-Begriff i.S. einer grundlegenden Neugestaltung des Staatswesens durch Synthese des
Gegensatzes von Sozialismus und Nationalismus, Neugestaltung des Reiches (nach
dem 1806 zerfallenen Deutschen Reich und dem Heiligen Römischen Reich dt.
Nation)
-chiliastisch-spiritualistische Geschichtsdeutung als tausendjähriges Reich
-Begriff „Drittes Reich“ war zwar stark verbreitet, aber niemals als offizielle Bezeichnung
gängig
20.6.3. Der Begriff „Kirchenkampf“
-weit verbreitet für die evangelische KG im NS-Staat ist der Begriff „Kirchenkampf“
-dieser ist missverständlich und nur teilweise zutreffend
-hiermit ist vielmehr ein „innerkirchlicher Kampf“ zwischen den Deutschen Christen
und der Bekenntnisfron bzw. der Bekennenden Kirche gemeint
-NS-Propagada verwandte den Begriff im Sinne eines Theologenstreites bzw.
„Pfaffengezänks“
-Deutsche Christen hatten eine staatspolitisch Komponente, weil die NS-Führung hierin ein
Instrument zur Gleichschaltung der evangelischen Kirche sah
-es handelte sich also um einen Kampf des Staates gegen die Kirche (nämlich gegen
die Bekennende Kirche)
-Der Begriff kann kaum so verstanden werden, als hätte es sich um einen Kampf der Kirche
gegen den NS-Staat gehandelt
-Bekennende Kirche hat keinen grundsätzlichen Widerstand gegen den Staat
praktiziert, wenngleich sie einen gewissen „Störfaktor“ ggü. dem Totalitarismus
bildete
20.6.4. Kirchliche Identität und gesellschaftliche Relevanz
-in der Propaganda der Deutschen Christen (DC) wurde der Anspruch, Volkskirche zu sein,
mit nationalsozialistischen Volkstumsideen verbunden: Die Volkskirche sollte allgemein eine
spezifisch deutsche Kirche sein, doch was das konkret bedeutete, wurde unterschiedlich
interpretiert
-bei den DC wurde häufig auch eine Politisierung durch Übernahme
nationsozialistischer Ziele eingeführt
-seit 1933 erhielt die Volksmission ein neu betontes Gewicht als Aufgabe der Kirche
-Nach 1945 musste die Kirche auch Verantwortung für ihr Handeln übernehmen (Stuttgarter
Schuldbekenntnis)
20.7. Die nationalsozialistische „Revolution“ 1933/1934
-politischer Umbruch mit Adolf Hitlers Ernennung zum Reichskanzler veränderte in wenigen
Monaten Deutschland grundlegend
-kalter Staatsstreich stand am Anfang: Die Abschaffung der Republik (in Ermangelung einer
Mehrheit im Parlament) durch eine konservative Diktatur
-Hitler etablierte durch geschickte Taktik eine revolutionäre und totalitäre Diktatur
mittels scheinbar legaler Veränderungen
-ihm half die breite Zustimmung der Bevölkerung, welche die proklamierte nationale
Erneuerung begrüßte und die Zerstörung des Rechtsstaates hinnahm
27
20.7.1. Der Nationalsozialismus vor 1933
-Nationalsozialistische Deutsche Arbeiterpartei/NSDAP gehörte bis 1930 zu den
Splittergruppen der sog. Völkischen Bewegung
-zunächst auf München beschränkt; Gründung 1919
-Führer: Adolf Hitler (1889-1945)
-Ziel: politischer Umsturz, Beseitigung der Republik
-Haftstrafe nach misslungenem Hiterlputsch vom 8./9.11.1923 führte zum Verfassen von
„Mein Kampf“
-Grundposition der NSDAP: Verbindung von atavistischer Weltanschauung und technischer
Modernität; brutale Gewaltanwendung und psychologisch geschickte Propaganda
-seit 1928 zunehmend mehr politischer Einfluss
-fulminante Wahlerfolge 1930 (18,3%) und 1932 (37,3 %)
-dass Hitler bereits 1932 zum Reichspräsidenten gewählt wurde, konnte nur die
Unterstützung der SPD für Hindenburg vereitelt werden
-Organisation: Führerprinzip; paramilitärische Sturmabteilung/SA; Terror als Mittel um die
staatliche Ordnung zu untergraben; Hitler als „politischer Messias“; Antisemitismus
-Kult der Gewalt und Stärke als Ersatzreligion
-uniformierte Aufmärsche, Weihefeiern, Gesänge, Hakenkreuz als
Lichtsymbol, Fahnen- und Heroenkult
20.7.2. Hitlers „Machtergreifung“ durch Verfassungsumsturz
-um sich der Abhängigkeit von Reichspräsident Hindenburg zu entledigen, erwirkte der am
30.1.1933 zum Reichskanzler ernannte Hitler die Reichstagsauflösung und Neuwahlen
-allgemeine Furcht vor einem kommunistischen Putsch nutzte Hitler gekonnt
-präsidiale Notverordnung setzte die wichtigsten Grundrechte außer Kraft;
Möglichkeit zum Eingriff in die Hoheit der Länder wurde geschaffen
-Verhängung des Ausnahmezustandes wurde zur Grundverfassung des NSStaates
-Reichstagswahl vom 5.3.1933 brachte nicht die absolute Mehrheit; Hitler bewog die
bürgerlichen Parteien durch Drohungen und Versprechungen am 23.3.1933 dem sog.
Ermächtigungsgesetz zuzustimmen
-Beseitigung der parlamentarischen Demokratie
-Legislative Gewalt oblag der Reichsregierung
-Gleichschaltung der Länder (Entmachtung der nicht-ns-regierten Länder)
-Gleichschaltung der gesellschaftlichen Gruppen und Verbände durch
nationalsozialistische Umformung
-definitiv etabliert war die Hitlerdiktatur erst im Sommer 1934
-kirchenpolitische Auswirkungen ab 1935
-Ausnahmegesetze wirkten sich auch auf die Kirchen aus
 Kanzelparagraph, der Maßnahmen gegen die Bekennende Kirche vorsah
o im sog. Heimtückegesetz formuliert
-Entstehung sog. KZ, der Geheimen Staatspolizei (Gestapo) und der Schutzstaffel/SS
-brutale Macht trat an die Stelle des Rechts
-Das Reichspräsidentenamt wurde auf den Führer und Reichskanzler Adolf Hitler als
Staatsoberhaupt am 1.8.1934 übertragen
-Volksabstimmung vom 19.8.1934 bestätigte dies mit fast 90 %
-obwohl die Kirchenartikel der Verfassung nicht aufgehoben wurden, leiteten NS-Juristen aus
dem sog. Ermächtigungsgesetz eine neue Verfassungswirklichkeit ab, die dem Staat völlige
Hoheit auch ggü. der Kirche geben sollte
28
20.7.3. Verhältnis zu Kirche und Christentum
-Parteiprogramm 1920:
„Wir fordern die Freiheit aller religiösen Bekenntnisse im Staat, soweit sie nicht dessen Bestand
gefährden oder gegen das Sittlichkeits- und Moralgefühl der germansichen Rasse verstoßen. Die Partei
als solche vertritt den Standpunkt eines positiven Christentums, ohne sich konfessionell an ein
bestimmtes Bekenntnis zu binden. Sie bekämpft den jüdisch-materialistischen Geist.“
-Haltung der ev. Kirche ggü. der nationalsozialistischen Machtergreifung war nicht einhellig,
aber weithin zustimmend
-Hitler (nominell ein Katholik), repräsentierte scheinbar die legitime Regierung, welcher nach
der traditionellen lutherischen Obrigkeitslehre zu gehorchen war
-seit 1930 nahm Hitler eine bewusst kirchenfreundliche Haltung ein
-in den Monaten Januar bis März 1933 stellte er sich bewusst als gottgläubiger Führer
dar und als Förderer der Kirche und des Christentums
-„Tag von Potsdam“ (21.3.1933) stellte die symbolische Verbindung von NSStaat und Kirche (DC) her
-Regierungserklärung Hitlers schloss den öffentlichen Einfluss beider Großkirchen ein; sie
war - wie viele andere Kundgebungen - aber bloß eine auf momentan erforderlicher Taktik
basierende Konzession gewesen
-Hitlers dürftige religiöse Position bestand wesenhaft in seinem egozentrischen messianischen
Sendungsbewusstsein, der Heilsbringer des deutschen Volkes bzw. der von „der Vorsehung“
Erwählte zu sein
-Hitlers regierungsamtliche Verlautbarungen sollten die Kirchen beruhigen und die
Zentrumspartei für die Zustimmung zum Ermächtigungsgesetz gewinnen
20.8. Nationalsozialistische Gleichschaltung: Die Reichskirche 1933
-Nazis strebten seit März 1933 eine Gleichschaltung aller staatlichen Institutionen und
gesellschaftlichen Organisationen an (auch ev. Kirche)
-Gleichschaltung sollte durch den Zusammenschluss ev. Nationalsozialisten, v.a. der
Deutschen Christen/DC, vollzogen werden
-aufgrund theologischer Uneinheitlichkeit schien die ev. Kirche leicht zugänglich zu
sein
-katholische Kirche war eine fester gefügte Institution
-hier ging es zunächst um die Ausschaltung des sog. politischen Katholizismus
(Auflösung der Zentrumspartei und der kath. Gewerkschaften) und um einen
Friedensschluss mit dem Episkopat
20.8.1. Aufschwung der Deutschen Christen
-Hitlers Taktik (der „gläubige Führer“ zu sein) bereitete mit wachsender Massenbegeisterung
im Protestantismus den Boden für eine weitgehende Bereitschaft zur Identifikation mit dem
neuen Staat
-seit 1932 wurde mit der Kirchenpartei der „Deutschen Christen“ eine nationalsozialistische
Organisation innerhalb der Gemeinden und der Pfarrerschaft werbewirksam tätig, die infolge
des politischen Umschwungs enormen Zulauf erfuhr
-kg. Novum, dass eine politische Partei sich einen kirchlichen Ableger aufbaute
-Deutsche Christen waren eine theologisch und ideologisch disparate Gruppierung und
wollten eine „Bewegung“ im Sinne einer revolutionären Erneuerungskraft sein
-junge politisierende Pastoren (an der Spitze der fanatische Joachim Hossenfelder)
waren ihre Führer
-Germanisierung des Christentums
-Antisemitismus
-„Deutscher Luther-Geist“
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-seit 1928 traten vereinzelt Geistliche der NSDAP bei (1931 wohl ca. 100)
-in vielen Regionen (Baden und Preußen) erzielten die Gremien der DC viele Sitze in den
Landessynoden
-Herausgabe der Zeitung „Evangelium im Dritten Reich“
-Ziel: Synthese von Christentum und Nationalsozialismus
-1933: DC-Reichstagung, die forderte, eine Reichskirche, die dem „Staat Adolf Hitlers“
entsprechen sollte
20.8.2. Kapitulation der Kirche vor dem NS-Staat
-angesichts der Ländergleichschaltung, der Reichskirchenforderung der DC und der
angekündigten Konkordatsverhandlungen mit dem Vatikan schien den ev. Kirchenleitungen
Eile geboten, den erforderlichen Umbau des Kirchenbundes vorzunehmen
-Hitler ernannte zu seinem Bevollmächtigten in Angelegenheiten der evangelischen Kirche
den nationalsozialistischen Pfarrer Ludwig Müller
-Konflikt begann; Müller wurde an Beratungen des Verfassungsausschusses beteiligt,
deren Ergebnis im Mai 1933 das sog. Locumer Manifest war: mit Grundsätzen für die
künftige Gestalt der Dt. Evangelischen Kirche/DEK als einer Fortentwicklung des
alten Kirchenbundes
-wichtigste Neuerung war das Leitungsamt eines Reichsbischofs
-Friedrich von Bodelschwingh wurde für dieses Amt nominiert, obwohl
keine entsprechende Verfassung existierte
-zu den internen Kontroversen kamen nun die Polemik der NSDAP und der Deutschen
Christen gegen Bodelschwingh als unpassenden Repräsentanten einer vergangenen
Zeit
-Forderung, nur Ludwig Müller - weil Hitlers Vertrauensmann - dürfe Reichsbischof werden
-Konflikt um die Reichsbischofswahl wurde ein erster Kampf um die Unabhängigkeit
der evangelischen Kirche
-Preußischer Kultusminister setzte einen Staatskommissar für die ev. Landeskirchen
ein (verfassungswidriger Eingriff in die Kirchenhoheit)
-infolge dessen trat Bodelschwingh am 24.6.1933 von der
Reichsbischofskandidatur zurück; Ludwig Müller wurde zum designierten
Reichsbischof gewählt
-Ergebnis: Folgenreiche Kapitulation der Kirche vor dem Druck des
NS-Staates
-Zur Person Ludwig Müller (1883-1945):
 seit 1927 mit Hitler bekannt
 Auftrag, „alle Arbeiten zur Schaffung einer evangelischen deutschen Reichskirche zu
fördern“
 Müller vertrat einen theologisch dürftigen Nationalprotestantismus
 seit 1914 Marinepfarrer
 seit 1926 Wehrkreispfarrer in Königsberg
o antisemitische Reden und Publikationen
 seit 1932: Angehöriger der DC-Reichsleitung
 vollzog nach seiner Wahl zum Reichsbischof eine Machtergreifung: Nach staatlichem
Vorbild erließ er - wegen eines angeblich kirchlichen Notstandes - eine „Verfügung
zur Behebung der Notstände in Kirche und Volk“, wonach er „als Bevollmächtigter
des Herrn Reichskanzlers die Leitung des ev. Kirchenbundes“ übernahm.
o bisherigem Verfassungsausschuss wurde das Mandat entzogen
-DC veröffentlichten eine Richtlinie, wonach auf „eine einheitliche Leitung unter einem
geistlichen Führer“ hingearbeitet werden sollte
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-Locumer Manifest beschrieb Grundelemente, wonach die Landeskirchen ohne den
Staat und ohne Urwahlen sich auf die Person des künftigen Reichsbischofs
verständigen sollten, und zwar im Zusammenhang mit der Verabschiedung der
Verfassung
-Als Reaktion auf den kirchlichen Führungsanspruch der DC formierte sich die
„Jungreformatorische Bewegung/JB“
-zu diesem Kreis kamen in ganz Deutschland schnell viele Mitstreiter für eine
gemäßigte Kirchenreform hinzu, u.a. Dietrich Bonhoeffer
-von diesen kam der Vorschlang, Bodelschwingh zum Reichsbischof zu
ernennen
-mit dieser Entscheidung begann der Kampf zwischen DC und JB
20.8.3. Die Machtergreifung der Deutschen Christen
-Ludwig Müller als designierter Reichsbischof konnte massiv die Arbeit an der DEKVerfassung beeinflussen, die jetzt ebenso auf das Führerprinzip konzentriert wurde
-landeskirchlicher Föderalismus sollte erhalten bleiben, doch das stand in einer
Spannung zum zentralistischen Ansatz, wonach die DEK das „deutsche
gesamtkirchliche Rechtsleben“ regelte
-Hitler ordnete - rechtswidrig - an, dass kurzfristig Kirchenwahlen abgehalten werden
müssten
-NS-Organisation, Staatspropaganda etc. griffen massiv zugunsten der DC ein
-diese errangen fast überall eine große Mehrheit und stellten daraufhin die
Kirchenleitungen und Landesbischöfe (mit Ausnahme von Bayern,
Württemberg und Hannover)
-Kirchenleitung der DEK war fortan das sog. Geistliche Ministerium; dem Reichbischof
wurde das unklare Recht zugesprochen, „die zur Sicherung der Verfassung erforderlichen
Maßnahmen“ zu treffen
-Bestimmungen über die Abwahlen von Reichsbischof und Geistlichem Ministerium
waren nicht enthalten
-Ludwig Müller beruhigte die Landeskirchen mit dem Versprechen, dies
alsbald in einem Gesetz zu erlassen, er erfüllte es niemals
20.9. Organisierte Opposition: Die Entstehung der Bekennenden Kirche
-innerkirchliche Machtergreifung der DC war Teil der NS-Revolution und wurde von Hitler
unterstützt
-seit Herbst/Winter 1933 entstand aber in Teilen des Protestantismus ein Widerstand gegen
ideologische Anpassung und institutionelle Gleichschaltung
-Vorwurf: DC verfremden das Wesen der Kirche
-Entstehung einer „Bekenntnisfront“, die sich aus kirchenpolitischen Notwendigkeiten
im Jahr 1934 zur Bekennenden Kirche (BK) formierte, jedoch von vornherein so
starke Divergenzen enthielt, dass sie kaum als Einheit agieren konnte
20.9.1. Erste Widerstände gegen die deutsch-christliche Umgestaltung
-Drei Aspekte der DC-Herrschaft stießen auf Kritik:
1. rücksichtslose Verwirklichung des Führerprinzips
2. theologische Verstöße gegen Bekenntnisinhalte (durch völkisch-religiöse Parolen)
3. Übernahme des sog. Arierparagraphen
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-Eindeutig war der breite Protest gegen den Versuch, die völkische Religiosität als Grundlage
einer neuen „deutschen Volkskirche“ zu proklamieren
-November 1933: sog. Sportpalastskandal
-Radikale DC-Kräfte propagierten die Fortführung der kirchlichen Revolution
auf theologischem Gebiet durch Abkehr vom AT und von zentralen
Bekenntnisinhalten (v.a. Sühnetod Christi und Rechtfertigung des Sünders);
Abkehr von der Theologie des „Rabbiner Paulus“
-Folge: viele gemäßigte Mitglieder traten bei den DC aus
-Ansehen des Reichsbischofs in der Kirche erlitt noch eine stärkere Einbuße, als er im
Dezember 1933 gegen vielfältigen Protest die Eingliederung der Ev. Jugend in die
Hitlerjugend (HJ) verkündete und so die Konsequenzen des Führerprinzips verdeutlichte
-im Herbst 1933 war bereits deswegen - und wegen der Einführung des Arierparagraphen in
der Kirche - ein Pfarrnotbund (PNB) gegründet worden
-Vorsitzender war Martin Niemöller (1892-1984), der sich als einer der schärfsten
Kritiker des reichsbischöflichen Kirchenregiments präsentierte
-PNB hatte bald über 7.000 Mitglieder - mehr als 1/3 der gesamten Pfr.schaft
-zum Arierparagraphen:
 Gutachten zu diesem von den theol. Fakutltäen Marburg (Hans von Soden und Rudolf
Bultmann) und Erlangen verfasst. Marburger lehnten den Arierparagraphen als schriftund bekenntniswidrig ab; Das Erlanger Gutachten mit seiner schöpfungstheologischvolkskirchlichen Argumentation blieb unklar (Entlassung nichtarischer Geistlicher
nicht generell, sondern nur fallweise bei „Zerrüttung des Vertrauensverhältnisses
zwischen Pfarrer und Gemeinde)
 Müller stellte sein Vorhaben, den Paragraphen einzuführen, später zurück
-Infolge der Auseinandersetzungen äußerten sich viele Kirchen in Form von Bekenntnissen
und grundsätzlichen Positionsbestimmungen:
 Osnabrücker Bekenntnis
 Wort und Bekenntnis westfälischer Pastoren
 Betheler Bekenntnis (von Bodelschwingh initiiert; Bonheoffer, Sasse und Merz
arbeiteten mit)
-größten Einfluss auf die theologische Opposition gegen die DC am Karl Barth zu
(Veröffentlichung der Broschüre „Theologische Existenz heute!“)
-Aufruf zur Konzentration auf die theologische Sache als Dienst am Wort Gottes
20.9.2. Gründung der Bekennenden Kirche: Die Synode von Barmen 1934
-die von Reichsbischof Müller betriebene Eingliederung der Landeskirchen in die DEK (als
Abschluss der Gleichschaltung) führte dazu, dass die Opposition neue Wege suchen musste,
sich zu organisieren
-Landesbischöfe Meiser und Wurm unternahmen einen Versuch zur Ausschaltung
Müllers, doch ihr Gespräch mit Hitler am 13.3.1934 brachte keinen Erfolg
-Zentren der werdenden BK innerhalb der Kirche der Altpreußischen Union (ApU-Kirche)
waren neben Berlin die Kirchenprovinzen Rheinland und Westfalen
-hier schlossen sich seit Sommer 1933 Pfarrbruderschaften gegen die DC
zusammen
-sog. freie Synoden entstanden (Rheinland, Westfalen, Brandenburg)
-diese trennten sich von den DC-Kirchenleitungen
-sog. intakte Landeskirchen (Bayern, Hannover, Württemberg)
-angesichts verfassungswidriger Eingriffe des Reichsbischofs in Württemberg veranstaltete
die neue „Bekenntnisfront“ den Ulmer Bekenntnistag am 22.4.1934
-Proklamation, die „rechtmäßige Evangelische Kirche Deutschlands“ zu sein
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-Aufruf, „der dauernden Gefährdung des Bekenntnisses und der Kirche“ zu
widerstehen
-DEK-Verfassung bot eine Möglichkeit für diese Begründung; jetzt galt es, eine
theologische Begründung, wonach das Kirchenregiment Müllers und die DC häretisch
und damit illegitim wären, zu formulieren
-Reichsbekenntnissynode in Barmen (29.-31.5.1934)
-verabschiedet wurde eine im Wesentlichen von Karl Barth (und Hans Asmussen und
Thomas Breit) formulierte „Theologische Erklärung“ (später als Barmer Theologische
Erklärung bekannt)
-„Theologische Erklärung zur gegenwärtigen Lage der Deutschen
Evangelischen Kirche“
-sechs Thesen begründeten zu zentralen Themen die Verwerfung von deutschchristlichen Irrlehren als Verstöße gegen Schrift und Bekenntnis
1. These: Gegen politische Theologie und völkische Religion der DC;
christologisch-offenbarungstheologischer Ansatz (Wort Gottes)
2. These: Rechtfertigungslehre wird auf die Ethik angewandt gegen die Lehre von
der Eigengesetzlichkeit weltlicher Ordnungen
3. über das Wesen der Kirche
4. über die Ämter in der Kirche; Ablehnung der Anpassung der kirchlichen
Ordnung an den Zeitgeist und das Führerprinzip
5. Staatslehre in Abwehr von Totalitarismus und Gleichschaltung
6. Wort Gottes muss den ganzen Dienst der Kirche bestimmen
-Kirchenleitung unter L. Müller nicht rechtmäßig
-Ziel der Erklärung war nicht eine Kirchenunion zu schaffen!
-diese kirchenpolitische Zielsetzung ermöglichte einen Konsens der ansonsten
divergierenden Gruppen der sog. Bekenntnisfront, die sich seit der Barmer Synode zur
Bekennenden Kirche entwickelte und die legitime DEK sein sollte
-Barmer Theologische Erklärung (BTE) wollte ausdrücklich kein förmliches Bekenntnis sein
und keine Union der verschiedenen Konfessionskirchen begründen
-nur deswegen stimmten die Lutheraner zu
-BTE war das bedeutendste theologische Dokument des Kirchenkampfes, das zur
Scheidung der Gruppen beitrug und der kirchlichen Identität ein klares theologisches
Fundament gab
-nach 1945 bekam die BTE erhebliche Relevanz; sie gehört heute zur Bekenntnisgrundlage
vieler EKD-Gliedkirchen
20.9.3. Aufbau der Bekennenden Kirche
-Proklamation einer Bekennenden Kirche behob nicht die grundsätzliche Differenz zwischen
DC und der Bekenntnisfront
-intakte Landeskirchen (s.o.) gehörten weder der Bekenntnisfront noch den DC an und waren
damit in einer anderen Lage als die sog. zerstörten Landeskirchen
-deswegen drängten sie auf Ausbau der Bekennenden Kirche an
-zerstörte Landeskirchen waren in fester Hand der DC; hier bildete sich v.a. in Preußen (ApU)
als Alternative zur etablierten Landeskirche eine Bekennende Kirche im strikten Sinn
-diese Organisation war revolutionär und für den NS-Staat illegal, weshalb dieser mit
Repressionsmaßnahmen einschritt
-Generell gab es daher immer zwei Typen von Bekennender Kirche, die nur zeitweise
institutionell verbunden waren
-dies zeigte sich u.a. auf der zweiten Reichsbekenntnissynode in Berlin-Dahlem 1934
-Proklamation eines Notrechts, um die DC zu ersetzen - „Vorläufige
Kirchenleitung“ der DEK wurde - nach vielen Diskussionen - verabschiedet
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-das DEK-Schisma war somit vorgezeichnet perfekt, nachdem es nicht gelungen war, Müller
als Reichsbischof abzusetzen
-es darf insgesamt nicht übersehen werden, dass es eine breite neutrale Mitte in Pfarrerschaft
und Gemeinden gab
20.10. Die katholische Kirche im Konflikt mit dem NS-Regime
-katholische Kirche: Gleichschaltungsversuche betrafen in keiner Weise die hierarchisch
geprägte Institution, sondern ihre innere Geschlossenheit
-von einem innerkatholischen Kirchenkampf kann keine Rede sein
-es gab keine Kirchenpartei - wie im Protestantismus die DC - die die Leitungsstruktur
ändern wollte
-auf Seite der Katholiken kam erschwerend hinzu, dass das festgefügte Lehrsystem keinen
Spielraum für Irrlehren bot, wie sie im dogmatisch weniger fixierten Protestantismus auftraten
-Hitlers Kirchenpolitik im Hinblick auf den Katholizismus:
1. Ausschaltung der neben der hierarchischen Institution angesiedelten, jedoch mit ihr
verbundenen Vereine und Organisationen, des sog. Verbandskatholizismus
2. möglichst völlige Zurückdrängung des Einflusses der Kirche unter der Parole einer
„Entkonfessionalisierung“ des öffentlichen Lebens (v.a. Presse-, Schulbereich)
-deutscher Episkopat hatte vor 1933 katholischerseits den Nationalsozialismus als
antikatholische Weltanschauung verurteilt
-nach Machtwechsel - Meinungswechsel
-mit der Zentrumspartei zerfiel eine wichtige Stütze des Katholizismus in DE
-Hitlers Angebot, ein Reichskonkordat abzuschließen (bis heute gültig!)
-Juli 1933 Übereinkommen, von dem sich beide Partner praktischen Gewinn erhofften
-sog. Entpolitisierungsartikel und Treueverpflichtung neuer Bischöfe
-Bestätigung der Autonomie und umfassende Bestandssicherung
-Das Konkordat bot einen formalen Schutz vor Übergriffen bzw. einer politischen Handhabe
zum Einspruch gegen Rechtsverletzungen. Somit ging auch in dieser Hinsicht der deutsche
Katholizismus von einer viel besseren Basis aus als der Protestantismus
20.11. Institutionelle Zersplitterung der evangelischen Kirche
-seit Ende 1934 war klar, dass Hitlers Konzeption einer Gleichschaltung der ev. Kirche
gescheitert war (keine Reichskirche im Sinne einer zentralistischen Institution)
-Kirchenspaltung (DC und BK, dazu die neutrale Mitte) bildete wegen der innerkirchlichen
Unruhen ein Element, welches partiell gesellschaftlich destabilisierend wirken konnte und
innerpolitisch unerwünscht war
-BK war ebenso wie die katholische Kirche ein Störfaktor
-Jahre 1935-1937 als Übergangszeit
20.11.1. Staatsaufsicht: Reichskirchenministerium und Reichskirchenausschuss
-staatliche Zuständigkeit für Kirchenfragen lag hauptsächlich beim Reichsinnenministerium
unter Wilhelm Frick
-Erfolgslosigkeit von Reichsbischof Müller sorgte dafür, dass im Juli 1935 als zentrale
Staatsinstanz ein Reichskirchenministerium unter der Leitung des religiös engagierten
Nationalsozialisten Hanns Kerrl geschaffen wurde
-Ministerium diente der verschärften staatlichen Aufsicht über Verwaltung und
Gemeindeleben in der ev. wie in der kath. Kirche
-Hitlers Entscheidung hierfür war taktisch bestimmt, wirke allerdings kirchenfreundlich
-Kerrl setzte als neue DEK-Leitung einen Reichskirchenausschuss (RKA) ein
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-hiermit wurde Ludwig Müller definitiv entmachtet (wenngleich er bis 1945 nominell
Reichsbischof blieb)
-Vorläufige Kirchenleitung der BD wurde für illegal erklärt
-RKA bestand aus gemäßigten Vertretern und war somit sowohl von DC-Anhängern (die die
Idee des NS fördern wollten) als auch von BK-Mitgliedern (die das NS geprägte Kirchentum
aussondern wollten) nicht anerkannt
-Februar 1937: Auflösung des Reichskirchenausschuss
-Im Ergebnis war somit der Befriedungsversuch innerhalb der Kirche (durch RKA) ebenso
wie zuvor der Versuch der Gleichschaltung gescheitert
20.11.2. Definitive Spaltung der Bekennenden Kirche
-unterschiedliche Bedingungen der BK in den zerstörten und intakten Landeskirchen mit
bruderratlicher bzw. bischöflicher Leitung wirkte sich negativ aus
-wie sollte man mit den sog. Neutralen und den gemäßigten DC umgehen, wie sollte
man sich ggü. dem Staat verhalten?
-Differenzen in der Ekklesiologie und in der politischen Haltung
-Ergebnis: Zerbrechen der in der „Vorläufigen Kirchenleitung der DEK“ manifestierten
Koalition auf der vierten Reichsbekenntnissynode 1936
-bruderrätliche Bekennende Kirche (Preußen)
-Lutherrat, „Rat der Evangelisch-Lutherischen Kirche in Deutschland“
-Spaltung des Jahres 1936 riss sachliche und persönliche Gräben auf, die auch nach 1945
nicht überwunden werden konnten
20.11.3. Vergebliche Neuordnungsversuche
-Kirchenminister Kerrl versuchte, durch staatskirchliche Maßnahmen die Einheit der DEK
vordergründig darzustellen und die BK bürokratisch zu unterdrücken
-Überlegung: Protestantismus würde sich durch Zersplitterung schon selbst zerstören
-Endlösung für Kirche und Christentum
-Versuche, die Bekennende Kirche in den intakten und zerstörten Landeskirchen durch
Kooperation ihrer zerstrittenen Flügel zu stärken, waren nur eingeschränkt effektiv,
desgleichen die Versuche, mit der „neutralen Mitte“ zusammenzuarbeiten
20.12. Kirche im völkisch-totalitären Unrechtsstaat
-1936/1937 erreichte die allgemeine Zustimmung der dt. Bevölkerung zu Hitlers Führung
einen Höhepunkt
-nochmalige Steigerung durch die Kriegserfolge 1939-1941
-Entwicklung eines Überwachuns- und Unterdrückungsapparates
-seit 1935: „Entkonfessionalisierung des öffentlichen Lebens“
-Maßnahmen gegen die Kirchen
20.12.1. Verschärfung des Weltanschauungskampfes seit 1935
-nur wenige NS-Führer vertraten eine weltanschauliche Synthese von Nationalsozialismus
und Christentum, wobei sie sich meist auf das Parteiprogramm beriefen
-Führerkult wurde zunehmend wichtiger
-Weihehandlungen und Feiern mit pseudoreligiösen Elementen
-Ausgestaltung der SS als „Orden“ mit einer rassistischen Neureligion
-gegen diese Überlegungen wandte sich die Denkschrift der vorläufigen Leitung der DEK
vom Mai 1936
-seitdem galt die BK als staatsfeindliche, subversive Organisation
-päpstliche Enzyklika vom März 1937 sorgte ebenfalls für Aufsehen
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20.12.2. Unterdrückung und Behinderung der kirchlichen Arbeit
-Strategie des „Abfaulen-Lassens“
 staatliche Strangulierung und Schikanierung der kirchlichen Arbeitsmöglichkeiten
o marode Volkskirche wie einen kranken Baum eingehen lassen
 Einschränkung der kirchlichen Arbeitsfelder
o Publizistik (Zeitungen, Zeitschriften, Broschüren)
o theologische Fakultäten von Restriktionen betroffen (Abbau von Lehrstühlen,
Zwangsfusionen etc.)
o Militärseelsorge wurde eingeschränkt
 Bekennende Kirche: Rede- und Aufenthaltsverbote, zeitweise Verhaftungen,
Einschränkung der Kollekten, Auflösung der Ausbildungsstätten
o 1938-1945 Martin Niemöller als „persönlicher Gefangener Hitlers“ im KZ
o Pfarrer Paul Schneider, der im KZ ermordet wurde
-eine „ökumenische“ Verständigung war damals noch undenkbar und setzte zögernd erst nach
1950 ein
20.12.3. Politische Verdächtigung der Bekennenden Kirche
-Staat und DC erhoben Vorwürfe gegen die BK
-Drohung eines staatlichen Verbotes mit Gewaltanwendung
-Treueeidkampagne: Alle dt. Pfarrer sollten zum ausdrücklichen Gehorsam gegen den Führer
Adolf Hitler verpflichtet werden
-viele litten unter der moralischen Belastung
20.12.4. Kirche im Zweiten Weltkrieg
-Charakter des Unrechtsstaates bekundete sich deutlich im Krieg
-religiöse Aufbruchstimmung wie 1914 gab es weder bei Kriegsbeginn 1939 noch bei den
Siegesfeiern bis 1941/1942
-diesmal war es offenkundig, dass es sich - entgegen Hitlers Parolen - nicht um eine von
außen aufgezwungene Notwehrsituation handelte
-Kriegspredigt in der Heimat blieb biblisch orientiert und vermittelte v.a. Glaubensstärkung
und Trost
-Teilnehmerzahl der Gottesdienste wuchst stetig - Kirche als Raum der Geborgenheit
-dennoch ging die staatliche Behinderung der kirchlichen Arbeit weiter
-NS-Regime plante für die Zeit nach dem Endsieg die Beseitigung des Christentums
20.12.5. Protest gegen die Staatsverbrechen an Behinderten
-gemäß der vulgärdarwinistischen NS-Ideologie sollten geistig und körperlich
Schwerbehinderte als „Lebensuntüchtige“ oder „Minderwertige“ keinen Platz in der
Gesellschaft haben
-staatliche Maßnahme der Zwangssterilisation
-seit Herbst 1939: von Hitler angeordnete „Euthanasieaktion“
-systematische Ermordung Schwerbehinderter
-Proteste beschränkten sich im ev. Bereich 1940 auf nichtöffentliche Eingaben an die
maßgeblichen Instanzen
-öffentliche Proteste 1941 durch den württembergischen Landesbischof Wurm und den kath.
Bischof von Münster Graf Galen
-in der Forschung ist umstritten, welchen Einfluss die kirchlichen Proteste auf die offizielle
Beendigung der Krankenmorde hatten
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20.13. Evangelische Kirche und Judenverfolgung
-Zu den beschämendsten Teilen der deutschen Kirchengeschichte gehört das fast völlige
Versagen der Christenheit angesichts der grauenhaften NS-Staatsverbrechen an Millionen
Jüdinnen und Juden
-Ausschaltung des Judentums wurde von der Bevölkerungsmehrheit toleriert, auch im
Protestantismus
-Während die mit Ausschaltung und Verdrängung verbundenen Gewalttaten der
Öffentlichkeit bewusst waren, wurde der Völkermord von allen Beteiligten systematisch
geheim gehalten, so dass nur wenige Unbeteiligte Kenntnis davon bekamen
-das weitgehende Schweigen der Quellen entspricht der Tatsache, dass die
Christenheit in weitem Maße geschwiegen hat
20.13.1. Zurückhaltung angesichts staatlicher Maßnahmen
-NS-Judenpolitik:
 seit 1933: administrative Unterdrückung mit sog. spontanen Terroraktionen
 Atmosphäre einer allgemeinen Einschüchterung
 1935: Nürnberger Rassegesetze
-nur Einzelpersonen engagierten sich öffentlich gegen Antisemitismus und staatliche
Judenpolitik
-sog. nichtarische Christen bauten seit 1933 mit eigenen Kräften eine Selbsthilfeorganisation
auf, die der Staat streng kontrollierte
20.13.2. „Novemberpogrom“ 1938: Allgemeines Schweigen, einzelne Hilfsstellen
-Verbrennung fast aller Synagogen in ganz Deutschland am 9./10.11.1938
-dritte Phase der Judenverfolgung begann
 völlige gesellschaftliche Ausstoßung
 materielle Ausplünderung der Nichtarier
-in der Kirche herrschte das allgemeine Fehlurteil, dass die „Judenfrage“ als solche kein
Thema für die Kirche, sondern ein rein politisches Problem sei
20.13.3. Moralische Katastrophe der Christenheit: Die Judenvernichtung
-öffentlich vollzogene Ausstoßung der Juden aus der Gesellschaft fand keinen nennenswerten
Widerspruch oder Widerstand in der Bevölkerung bzw. der Kirchen
-seit September 1939 begann die systematischen Mordaktionen an den in Polen lebenden
Juden und Deportationen deutscher Juden in Ghettos und Arbeitslager
-dass die Deportation nur die Vorstufe der Liquidierung sein sollte, war der Bevölkerung
unbekannt
-sog. „Endlösung“ stand als organisierter Völkermord/Genozid erst mit der Vorbereitung des
Rußlandkrieges 1941 fest
-da dies in strikter Geheimhaltung erfolgen sollte, wussten tatsächlich wohl die
meisten Deutschen bis 1945 nichts oder kaum etwas von den Judenmorden
-Holocaust bzw. die Schoa (seit ca. 1979/1980 aufkommende griechische bzw. hebräische
Begriffe: Brandganzopfer bzw. Ausrottung) vernichtete fast das gesamte europäische
Judentum, insgesamt wohl über 6 Mio. Menschen allein um ihrer angeblichen
„Rassenzugehörigkeit“
-Schuldfrage derer, die etwas gewusst haben oder hätten wissen können (auch kirchenleitende
Persönlichkeiten): Sie hatten meist Angst um die eigene Existenz
-Nur sehr wenige Deutsche haben zur Rettung von Judenbeigetragen und noch
weniger haben protestiert, beides unter Gefährdung des eigenen Lebens; mutige
Christenmenschen gehörten dazu
-all das verschwindet aber hinter dem fast totalen Schweigen
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-Frage bleibt: Was hätten Christenmenschen und Kirchenführer verhindern können durch
Widerspruch und Widerstand, und weswegen hat es keine effektiven Versuche dazu gegeben?
Diese Frage markiert die moralische Katastrophe der Christenheit
-Das Christentum als Religion hätte durchaus Ansätze geboten, das weithin gänzliche
Versagen der Gläubigen zu vermeiden
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