Die Rübenrote Fanfiction - Upload

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Jemand öffnet die Tür und kommt mit schnellen Schritten in das kleine Zimmer. Er ist auf der Suche
nach etwas. Er muss es unbedingt noch finden. Noch heute. Etwas, das ein Geheimnis birgt. Er sucht
es nicht umsonst …
Sein Blick wandert umher, er inspiziert jede Ecke des Raumes. Nur ein paar lange Sekunden
vergehen, bis er endlich findet, was er sucht. Es liegt in einer dunklen Ecke und ist verstaubt. Schon
lange hatte es keiner mehr in der Hand gehabt. Doch heute soll sich das ändern.
Weißglänzend gleitet das Objekt durch die Finger des Menschen. Sie suchen etwas, suchen den
Anschaltknopf des Objekts.
Es ist ein Nintendo DS, der nun sein Geheimnis preisgibt: Jemand hat ein Firmware-Update
installiert. Das Gerät ist nun ein E-Book-Reader.
Hastig schaltet es der Unbekannte an. Die Ungeduld liegt wütend in seinen Augen. Er drückt den
Hinweis für Gesundheit und Sicherheit weg, ohne ihn gelesen zu habe – so ein Rüpel. Endlich
erscheint das Nintendosiegel und eine Startmelodie tönt krächzend aus dem Lautsprecher. Der
Titelbildschirm ist zu sehen. Auf ihm steht in Rübenrot:
DIE RÜBENROTE FANFICTION
Kapitelübersicht
Kapitel eins: Erste Begegnungen
4
Kapitel zwei: Aufbruch zur Reise
11
Kapitel drei: In den Gipfeln
17
Kapitel vier: An der Küste
23
Kapitel fünf: An Bord
32
Kapitel sechs: Im Labor
39
Kapitel sieben: In Haft
47
Zwischenspiel: Der geheime Plan der Safcon
53
Um schnell zu einem Kapitel zu gelangen, kannst du in der digitalen Version auf ein Kapitel in der
Übersicht klicken, um dorthin zu springen.
–2–
–3–
Kapitel eins: Erste Begegnungen
O
range wachte langsam auf. Er hörte das leise Vogelgezwitscher, das dumpf von draußen
durch die Fenster drang. Ein sanfter Wind wehte und umwiegte die jungen Knospen der
Birke vor dem Haus. Sein Säuseln war ganz leise von hier zu hören und drang Orange sacht
an die Ohren. Er öffnete langsam die Augen und blickte auf seine Zimmerdecke. Sie war so weiß und
uneben.
Müde, aber langsam erwachend, drehte er sich um, schaute reflexartig auf die Uhr und …
AAARGH!
Ein panischer Ruck durchfuhr seinen gesamten Körper, so als wäre er von einem heftigen Stromstoß
getroffen worden. Erschrocken sprang er aus dem Bett. Es dauerte eine ganze Weile, bis er sich
beruhigt hatte und begriff. Sein Schock wich langsam wieder der Schlaftrunkenheit, die sich nun
umso bleierner auf ihn senkte und ihn zurück in sein Bett taumeln ließ.
Orange hatte nicht verschlafen, seine Uhr zeigte nur eine falsche Zeit an. Schon seit dem Herbst, der
nun schon so lange zurücklag, ging sie beharrlich vor. Ihre Zeiger waren der restlichen Welt immer
eine ganze Stunde voraus. Orange hatte sie beim Wechsel von Sommer- auf Winterzeit und auch in
den darauffolgenden Monaten nicht umgestellt. Es war also nicht das erste Mal, dass er seinen
Morgen so begann. Heute jedoch war Orange besonders erschrocken, hatte er sich doch
vorgenommen, pünktlich aufzustehen. Mittlerweile jedenfalls begann in kleinen Schritten der
Frühling und in wenigen Tagen würden alle, die nicht so säumig wie Orange waren, ihre Uhren
wieder vorstellen. Doch das war nicht das einzige Argument, das gegen eine Umstellung der Uhr
sprach.
Orange würde noch an diesem Morgen aufbrechen, um sich auf seine große Reise zu begeben. Ein
Traum sollte wahr werden: Er wollte Pokémontrainer werden. Obwohl er fünf Jahre später aufbrach
als die meisten anderen Trainer, stand er den jüngeren Anfängern in Enthusiasmus und Motivation in
nichts nach. Als er zehn war und viele der anderen ihre Reise begannen, war ihm das alles noch
relativ egal, aber jetzt zog es ihn in die Ferne, zum Abenteuer hin.
Orange dachte ein weiteres Mal über seine bevorstehende Reise nach. Er hatte so viele Erwartungen,
doch in seinem Kopf drehte auch eine diffuse Furcht ihre Kreise. Was, wenn er untalentiert wäre?
Aber er kannte so viele, die es geschafft hatten und wenigstens mittelmäßige Trainer geworden
waren. Das war besser als gar nichts und so schwer war es bestimmt nicht, Orden zu gewinnen und
Pokémon zu fangen. Sicherlich konnte nicht jeder Pokémonmeister werden, aber eine schöne Reise
mit ein paar Orden wäre ja auch schon mal ganz nett.
Erst nach einer Weile, in der er noch ein wenig gegrübelt hatte, stand Orange auf. Er zog sich hastig
um und eilte die Treppen hinunter, viel schneller als er es an einem normalen Morgen getan hätte.
Seine Familie hatte sich unten schon versammelt und erwartete ihn. Den Abschied von ihr versuchte
er so kurz wie möglich zu gestalten, ehe er seine Entscheidung noch bereuen konnte. Die zahlreichen
anwesenden Bekannten, die extra für diesen kurzen Moment zu Besuch gekommen waren, hatten
ihm zahlreiche Geschenke mitgebracht und drängten ihn, sie alle mitzunehmen. Die Geschenke
waren alle sehr hochwertig. Ballast konnte Orange nicht gebrauchen, aber hierbei handelte es sich
ausnahmslos um nützliche Sachen, darunter mehrere Kugelschreiber und eine teure, tolle
Schneekugel.
Schließlich war der Moment gekommen. Orange ging aus der Tür und versuchte, sich nicht
mehr umzudrehen. Es misslang.
–4–
Als Orange das Haus verließ und sich umblickte, sah er dasselbe Alabastia, das schon einige
berühmten Koryphäen vor ihm erblickt hatten, als sie sich jeweils zu ihrer Zeit auf die große Reise
begaben. Rot und Blau, die mittlerweile zu den stärksten Trainern gezählt wurden, stammten auch
von hier. Blau war bis vor kurzem Leiter der Arena in Vertania City gewesen; wo Rot war, wusste man
nicht. Er sollte sich in den Bergen aufhalten, zumindest hatte man ihn dort vor zwei Jahren gesehen –
das behaupteten jedenfalls die gelben Insidertipps seines Trainerguides.
Außerdem hatte natürlich der berühmte Professor Eich sein Labor und seine Wohnung in Alabastia.
Er war anerkannter Wissenschaftler auf wohl fast allen Fachgebieten, die etwas mit Pokémon zu tun
hatten und hatte daneben viele Gedichte verfasst, die Literaturkritikeren zwar allesamt als grottig
eingeschätzt worden waren, aber von einigen wenigen Fans geliebt wurden. Das war auch der Grund,
weshalb Eich intervallsmäßig immer mal wieder einige Torten zugeschickt bekam. Eich war auch
derjenige, der den neuen Pokémontrainern ihr erstes Pokémon aushändigte, derjenige, zu dem sich
Orange jetzt begab. Dass Eich hier wohnte, war einer der Gründe, weshalb es praktisch war, in
Alabastia zu wohnen. Man musste also gar nicht so weit laufen.
Orange überlegte. Er wusste, dass die Karriere aufstrebender Trainer oft damit angefangen hatte,
dass sie impulsiv, ohne ein eigenes Pokémon zu haben, auf das Feld gerannt waren. Die
unzuverlässigen Professoren, die in ihren Laboren nicht aufzufinden waren, sprinteten dann besorgt
zu ihnen. Auf diese Weise konnte man die Wartezeiten reduzieren und musste sich nicht in
irgendeinen Raum setzen, wo alte Zeitschriften rumlagen. Wenn man ins hohe Gras ging, tauchten
die Professoren auf und warnten vor den Pokémon, die im Gras lauerten. Tatsächlich schien Orange
das hohe Gras mit seinen vielen wilden Pokémon gefährlich, beinahe so als ob es ihn hinterhältig
anblickte. Vielleicht würde ihn ein wildgewordenes Rattfratz hinterrücks anfallen und zerfleischen.
Außerdem übertrugen sie Krankheiten und ihre Bisse sahen etwas abstoßend aus. Orange würde sich
gegen einen Angriff wohl nicht wehren können, er war dünn und eher etwas schwächlich.
Aber auf diese Weise hatte zum Beispiel Rots Karriere angefangen. Auch Rot musste damals auf Eich
warten. Doch als er aufs freie Feld gerannt war, kam Professor Eich sofort und rief ‚Es ist zu
gefährlich. ‘ So erhielt Rot schnell sein erstes Pokémon.
„Na also“, redete Orange sich zu, „in dem Rasen wohnen doch eh keine Pokémon. Der wurde letzten
Mittwoch erst mit Pestiziden behandelt.“ Er bewegte seinen Fuß nach vorn –
Orange hatte einfach nicht den Mut dazu. Er fürchtete sich vor den wilden Pokémon, die
zähnefletschend auf ihn lauerten. Bestimmt warteten sie nur darauf, bis er den ersten Grashalm
berührte, ohne eigenes Pokémon zur Verteidigung. Statt sich einer Gefahr auszusetzen, ging er lieber
gleich zu Professor Eich.
Orange wanderte den schmalen, schmutzigen Pfad entlang, der hinauf zu Eichs Labor führte. Das
Haus befand sich auf einer kleinen Anhöhe. Manchmal lag am Rande des Wegs ein Kleinstein, das
sich von den zaghaften Strahlen der Frühlingssonne bewegungslos wärmen ließ (und deshalb auch
keine Gefahr darstellte). Unter Oranges Füßen stiebte der trockene Schmutz.
Schließlich erreichte er das Portal, zu Eichs Labor, das mit einer merkwürdigen Farbe gestrichen war.
Vielleicht war diese Farbe die billigste gewesen, vielleicht sollte sie aber auch Individualität
ausdrücken. Orange drückte die massive Türklinke herunter.
Endlich war er da! Vor ihm lag ein glänzendes graublaues Labor mit Designermöbeln aus den
60er Jahren. Unmittelbar nach dem er einen Fuß in das Labor gesetzt hatte, schritt ein junger Mann
mit Brille hastig auf Orange zu: Es war Ormal, ein Assistent des Professors. Ormal fand seinen Namen
–5–
völlig normal. Orange sah das anders, doch Ormal argumentierte, dass Orange auch kein
gewöhnlicher Name wäre und ein wenig an eine Zitrusfrucht erinnerte. Das war leider ein
Totschlagargument. Viele Leute sprachen seinen Namen auch genauso wie die Frucht aus und
Orange fragte sich immer, ob sie das mit Absicht taten oder es nur nicht besser wussten. Sie taten es
sicher mit Absicht. Ganz bestimmt. Das machte ihn etwas paranoid. Manchmal träumte er nachts
davon, wie die Leute ihn erst „Zitrone“ und dann „Orange“ riefen. Er wachte dann schweißgebadet
auf und betrachtete apathisch seine weiße, raue Zimmerdecke.
Orange erfuhr, dass Eich noch schlief. Einen Warteraum, in den man sich setzen und Zeitschriften
lesen musste, gab es anscheinend nicht. Es blieb also noch Zeit, sich das Labor mit den
wissenschaftlichen Schätzen anzusehen. Dort standen Regale, vollgepfropft mit Büchern, viele davon
mit Instruktionen zur Bedienung einer Pokémon-Edition. Eich, der immer ein Freund von
Benutzerfreundlichkeit gewesen war, hatte sie dort hingehangen. Wenn man eine Person
ansprechen wollte, sollte man den A-Knopf drücken – aha. An der Wand hing, in einem Rahmen aus
Eichenholz, ein Gedicht der Sorte Eich von derselben Thematik:
„Willst du das Startmenü besuchen,
darfst du‘s nicht versäumen,
den X-Knopf zu untersuchen,
sonst werd ich vor Wut schäumen
und back dir niemals Kuchen!“
Orange verstand dieses Gedicht nicht und sein Blick schweifte weiter. In dem Labor befanden sich
viele Ausstellungsstücke. Einige Aktenordner in den Schränken quollen über vor Papier. Orange
entdeckte den neuen Pokédex. Er hatte zwei Bildschirme und einen Touchscreen. Metallisch rot und
glänzend lag er auf einem Tisch - wahrscheinlich war er noch neu und sollte an einen Trainer
abgegeben werden. Daneben lag ein Zettel: „Dies ist ein Werbegeschenk einer japanischen
Videospielfirma. Wir bieten ihnen aber auch andere Produkte für nur 1.000.000 Pokédollar an, das ist
mehr, als in Ihr Portemonnaie passt. Schlagen Sie also umgehend zu, bevor nichts mehr da ist und Sie
sich leise schämen müssen.“
Auf weiteren Tischen lagen große Blaupausen – sie bildeten irgendwelche Konstrukte ab,
deren Funktion Orange nicht begriff. Das war ihm zu kompliziert. Daneben lag ein wissenschaftliches
Fax: „Ich möchte dich umgehend persönlich korrespondieren. Die Population ist in letzter Zeit rapide
gestiegen. Wenn es so weitergeht, werden sie uns schon bald Probleme machen.“, stand darauf.
Darunter war eine Bemerkung gekritzelt: „Du kennst meine Meinung. Gemüse, alles nur Gemüse!“
Wahrscheinlich war das Blatt von Eich abgeschickt und mit dieser Bemerkung wieder an ihn
zurückgefaxt worden. Orange wandte den Blick ab. Er war eigentlich nicht hierher gekommen, um
private Post zu lesen.
Auf dem gleichen Tisch lag ein Werbeprospekt einschließlich etlicher passender Coupons, die
Eich wahrscheinlich als Postwurfsendung erhalten hatte. Sie versprachen Tee aus Prismania City, der
nicht nur warm schmecken sollte, sondern auch kalt. Auf dem Tisch daneben lagen noch viele
weitere und alles deutete darauf hin, dass Eich ein knallharter Sparer war, der immer wartete bis er
tausend Coupons zusammen hatte und dann eine Tasse Tee gratis bekam. Das Labor war voll von
Werbung. Überhaupt machte es einen ziemlich unordentlichen Eindruck, obwohl es sehr sauber war
und die Fliesen glänzten. Dass diese dubiosen Firmen seine Adresse wussten und ihm Werbung
schicken konnten, war vermutlich Eichs Bekanntheit geschuldet.
–6–
Orange fand, dass es nun wirklich Zeit war, sich sein Pokémon zu besorgen. Er wandte sich an Ormal:
„Sag mal, können wir Professor Eich nun nicht endlich wecken?“ Ormal betrachtete ihn freundlich
aber auch mit einer gewissen Skepsis, eher er antwortete: „Ja, klar. Es wird ihm aber nicht gefallen.“
Sie stiegen die schweren Granittreppen zum Schlafzimmer des Professors hoch, öffneten die Tür und
traten in das eisig kalte Zimmer. Orange betrachtete die Eisblumen an der Innenseite des Fensters.
„Er hat die Klimaanlage angemacht“, sagte Ormal.
Er hielt inne. „So, Orange – deine erste Aktion als neuer Pokémontrainer wird es sein, diese
Maronbeere ein wenig vor Eichs Gesicht umherzuschwenken. Viel Spaß dabei.“
Etwas zweifelnd machte sich Orange an die Arbeit und bewegte die Maronbeere vor Eich umher …
„HRTSCH!“, mit einem missglückten Niesen signalisierte Eich, dass er aufgewacht war. Offenbar war
er sofort munter, denn er verfiel gleich in einen hastigen Redeschwall: „Was stinkt denn hier so
penetrant? Bist du das, Ormal, oder gammeln meine Margeriten vor sich hin?“
Ormal überging diese Frage: „Wir sind gekommen um Sie zu wecken. Sie haben verschlafen.“
„ Was habe ich?“, fragte Eich und antwortete sich sofort selbst: „Ich habe verschlafen!“
Hysterisch redete er auf Ormal und Orange ein: „Warum habt ihr mich nicht geweckt … der heutige
Tag ist doch so wichtig!“
Orange antwortete: „Ja, er ist wirklich wichtig. Ich bekomme heut mein erstes …“
„Warum habt ihr mich nicht geweckt?“, Eich begann zu jammern.
„Nun ja, wir wollten nicht unfreundl …“, setzte Orange an, wurde aber von Eich unterbrochen:
„So! Ihr wart aber unfreundlich! Ob ihr das wollt, oder nicht! Ihr müsstet doch wissen, dass ich an
solch wichtigen Tagen nicht verschlafen möchte!“ Nun war Eich aus dem Bett gesprungen und ging
ziellos im Zimmer umher.
„Sie können mir doch auch jetzt noch mein Pokémon geben … ich habe geduldig gewartet.“
Orange war überrascht über die heftige Reaktion des Professors, der mittlerweile wild mit den
Armen fuchtelte. Er zischte verächtlich: „Pffff … Das ist doch völlig irrelevant, ob du dein Pokémon
jetzt oder später bekommst. Ich muss aufs Rübenfeld, Rüben stechen!“ Eich nahm sich eine
wahrscheinlich eiskalte Wasserflasche, die am Bett stand, öffnete sie und trank sie in einem Zug aus.
Dann nahm er sich noch eine und verfuhr mit ihr auf dieselbe Weise. Er hielt inne und keuchte
wütend.
„Was?“, Orange war enttäuscht. Er hatte so lange gewartet und würde nun doch nicht sein Pokémon
bekommen? Ormal beachtete ihn gar nicht und redete wissbegierig auf Eich ein: „Rüben stechen?
Davon haben Sie ja noch nie erzählt! Ich dachte man sticht bloß Spargel.“
„Du solltest wissen“, antwortete Eich, „dass es sich hierbei nicht um normale Rüben handelt. Rüben
sticht man doch nicht. Man sticht Spargel! Wird man übrigens viel zu gering bezahlt dafür. Da hab ich
neulich mal eine Reportage gesehen. Aber wie gesagt, man sticht Spargel und nicht Rüben.“
„Das hat er doch – grade gesagt?“, wandte Orange ein.
„Es sind ja auch keine normalen Rüben. Wie ich bereits sagte. Du musst zuhören! Naja, du kannst
gerne mitkommen, Rüben stechen.“
„Also wollen Sie jetzt Spargel stechen – nicht, oder? Da ist Ihnen der Verdienst zu gering. Oder jetzt
doch Rüben? Aber Rüben sticht man nicht, glauben Sie mir. Ich bin vom Dorf. Ach, Sie ja auch. Also
wie jetzt?“, Ormal war mittlerweile sichtlich verwirrt. Aber niemand beachtete ihn mehr, denn Eich
war bereits davon geeilt und Orange rannte ihm hinterher, schließlich hatte er ja noch was mit Eich
zu klären.
Über einen staubigen Schleichweg gelangten die beiden zum Rübenfeld. Es schien völlig leer. Auf der
–7–
dunklen, braungrauen Erde standen nur einige karge Büsche, die der Winter stark gebeutelt hatte.
„Wir sind da“, sagte Eich und hielt an. Orange, der noch immer glaubte sich verhört zu haben,
schaute sich orientierungslos um. Er wusste nicht, was er nun tun sollte und wandte sich fragend an
den Professor: „Wo sind denn die Rüben? Sind sie in der Erde? Sie sagten ja, wir sollen sie stechen…“
„Ja“, antwortete Eich ihm, „das werden wir tun. Einige von ihnen befinden sich in der Erde. Andere
halten sich wohl in den Sträuchern auf …“
„In den Sträuchern?“, Orange war irritiert, „Wieso können wir in den Sträuchern Rüben finden? Und
wieso ‚halten‘ die sich irgendwo auf? Ich kann mich im Supermarkt aufhalten, Rüben nicht, die liegen
dort einfach lustlos rum, vorausgesetzt sie werden dort verkauft, aber die ‚halten‘ sich doch nicht
dort –“
„Jaja, labere nicht so sinnlos rum“, unterbrach ihn Eich, der noch immer ein wenig gereizt
war, „Hör lieber zu! Zuhören, nicht dünnquatschen! Wie ich erst bereits sagte, handelt es sich nicht
um normale Rüben. Zweitens: Rübenstechen ist nur so eine Floskel unter Rübenstechern. Drittens: Es
sind Pokémon, die nur so aussehen wie Rüben. Man nennt sie Rüpli. Wir werden sie suchen, sie
verstecken sich hier ganz sicher. Solche Felder mit humusreicher Erde, auf denen nichts angebaut
wird, sind ihr bevorzugter Lebensraum.“
Der Professor atmete tief durch, schaute glasig in die Ferne und begann zu lächeln. Es schien, als
hätte er sich nun beruhigt.
„Wir werden sie suchen?“, fragte Orange, der langsam weiche Knie bekam. Er war noch nie
ohne Top-Schutz auf das freie Feld gegangen. „Werden sie uns angreifen, wie viele wilde Pokémon
sonst auch?“
Eich antwortete ganz gelassen und noch immer lächelnd: „So richtig weiß ich das auch nicht.
Eigentlich sind Rüpli nicht aggressiv. Aber in manchen Situationen – aah, diese Luft hier ist toll – also,
in manchen Situationen können sie schon ziemlich gemein werden. Uns kann sicher nichts passieren,
die Rüpli hier sind schwach. Ich brauche sie bloß für wissenschaftliche Studien. Man könnte sie aber
auch als Furchenzieher in der Landwirtschaft verwenden oder aber auch für meine Likörfalschen als
Korkenzieher… soo“, er hielt inne, „du buddelst mit diesem Schäufelchen einfach ein bisschen in der
niedlichen Erde rum.“ Eich gab Orange eine kleine Schaufel. „Ja, Sport ist gesund! Bück dich! Ja, mach
den Rücken krumm! Musste ich in deinem Alter auch machen. Irgendwann wirst du sicher ein Rüpli
finden. Sie sind orange und aus ihnen ragt ein grünes Rübenkraut. Wie Kraut und Rüben. Hahaha.“
Unsicher machte sich Orange an die Arbeit. Er grub mit der Schaufel kleine Löcher in die Erde,
genauso wie Eich es ihm gesagt hatte und hoffte, dass ihm kein Rüpli begegnen würde. Nach einigen
Minuten allerdings legte er in nur wenigen Zentimetern Tiefe ein grünes Kraut frei. Er wandte sich an
Eich: „Ist das so ein Rüpli?“
„Oh ja“, antwortete der Professor freudig und nahm einen Schluck aus einer mit Wasser gefüllten
Thermoskanne, die er aus seinem Mantel geholt hatte. „Ich hätte nicht gedacht, dass es so schnell
geht! Zieh es raus!“
„Ich soll was?“, fragte Orange entsetzt. Er hoffte, dass er sich verhört hatte, auch wenn er das nicht
wirklich glaubte.
„Du sollst es rausziehen! Zuhören!“, antwortete Eich harsch.
Vorsichtig zog Orange an dem Kraut ...
PLOPP!
Mit einem Mal sprang das Rüpli aus der Erde.
–8–
„Aaah, was nun?“ Orange war zu erschrocken, um das Rüpli ausgiebig zu betrachten. Es hatte
einen ziemlich dicken orangefarbenen Rumpf, an dem oben grüne Blätter hinausragten, die
aussahen, als könnte man aus ihnen Löwenzahnsalat herstellen.
„Treib es in meine Richtung. Ich versuche, es einzufangen“, rief Eich Orange zu.
Einen Moment lang sah das Pokémon mit seinen großen Augen und fragendem Blick Orange an,
dann hüpfte es plötzlich so schnell davon, dass Orange rennen musste, um ihm zu folgen. Eigentlich
wäre er lieber selbst in die Gegenrichtung weggerannt. Dann wäre die Chance, dass sich die beiden
wieder treffen würden, ziemlich gering gewesen. Stattdessen musste er nun dem Rüpli folgen. Beim
Flüchten begann das Pokémon, einen lauten langgezogenen Ton auszustoßen.
„Was ist das?“, fragte Orange etwas keuchend und ein weiteres Mal verängstigt. Eich
antwortete: „Ich nehme an, dass das so eine Art Warnton ist, ähnlich wie ihn auch Wiesor nutzen.“
Orange rannte weiter hinter dem Pokémon her und schaffte es langsam und mühevoll, das Rüpli in
Eichs Richtung zu treiben, obgleich es ziemlich flink war und versuchte, zu entkommen. Eich warf
einen Pokéball und traf es. Der Ball öffnete sich und sog das Rüpli ein. Er wackelte …
Orange hatte so etwas noch nie aus der Nähe gesehen. Zwar liefen im Fernsehen laufend
Pokémonfänge im Nachmittagsfernsehen, aber das war einfach nicht das gleiche.
Der Ball regte sich nicht mehr. Das Pokémon war gefangen. Orange betrachtete staunend den
Pokéball und konnte seinen Blick kaum lösen. So etwas würde er nun auch bald tun, nachdem er sein
Pokémon bekommen würde …
„Und nun?“, fragte Orange, der sich erhoffte, endlich zurück zu Eichs Labor zu gehen.
„Nun machen wir weiter!“, antwortete der Professor vergnügt, „die Arbeit ist noch nicht vorbei.“
Sie setzten sich und nahmen die Schaufel wieder zur Hand und wühlten mit ihr in der Erde, Orange
nur wenig, Eich hingegen sehr ambitioniert. Als Orange sich gerade nach einigen weiteren Minuten
des Grabens aufsetzte und den Professor etwas fragen wollte, knallte es und plötzlich schossen
Horden von Rüpli aus den Tiefen der Erde und aus den Büschen des Feldes. Es kamen immer mehr
zum Vorschein. Sie hüpften auf die Eindringlinge zu und erreichten sie binnen weniger Sekunden.
„Was ist … das?“
„Aaargh, das weiß ich nicht!“ Eich verzog das Gesicht zu einer Grimasse. Es nahm einen Ausdruck des
Entsetzens und der wirren Freude an. „Fang sie ein, fang sie alle ein!“, rief Eich und warf gab Orange
einige Pokébälle zu. Doch als Orange die Pokébälle auf sie warf, griffen sie an. „Ich kann nicht, es sind
zu viele!“
Als Eich sah, dass sie wehrhaft wurden, änderte er seine Meinung: „Flucht, du Frucht!“
„Was?“ Es dauerte eine Weile bis Orange verstand, was Eich meinte. Sie versuchten durch das Feld
vorzudringen, aber die Pokémon versperrten ihnen den Durchgang. Ausdauernd, aber keuchend
bahnten sie sich ihren Weg. Endlich, nach etwa einer Viertelstunde, hatten sie es geschafft. Erschöpft
waren sie am Rand des Feldes angekommen, wo die Rüpli davon abließen, sie weiter zu verfolgen.
Eich, dem sein Vergnügen allerdings mit einem Mal aus dem Gesicht gewichen war, hatte sogar noch
zwei weitere Rüpli fangen können. „Endlich nun“, sagte er, „lass uns in unsere Praxis gehn.“
Entkräftet liefen sie den Weg zurück in Richtung des Labors. Orange öffnete erleichtert die
seltsamfarbene Tür. Es dauerte nicht lange, bis Ormal die beiden bemerkte und auf sie
zuschlenderte: „Was ist denn mit euch los? Ihr seid ja total dreckig und so zerkratzt.“
Eich antwortete: „Ein Überfall, ein Überfall! Und die Außentemperatur, die macht meine Haut rissig
…“
–9–
Orange ergänzte Eichs Antwort. Auch er hatte sich noch nicht ganz von dem Schock erholt: „Wir …
wir wurden angegriffen – von den Rüpli.“
„Ach, die Rüpli?“, sagte Ormal, der anscheinend etwas begriffen hatte, „Deshalb also ‚Rüben
stechen‘! Hmm –“, er dachte nach, „So eines hab ich schonmal auf einem wissenschaftlichen
Dokument gesehen, beim Einsortieren in einen Schrank. Nein, es war nicht irgendein Schrank. Es war
Schrank Nummer elf, der mit den Griffen aus Eichenholz.“
„Ha! Nachts um Schrank Elf wo ist Professor Erle?“, schaltete sich Eich wieder ein.
„Was ist mit dem los?“, wollte Orange wissen, der angesichts des seltsamen Verhaltens des
Professors halb belustigt, halb erschrocken war. Der Professor kam ihm sehr konfus vor.
„Kommt manchmal vor, wenn er überarbeitet ist“, antwortete Ormal ihm, „Wir sollten eine Pause
einlegen …“
Während der Professor sich irgendwo ausruhte, wartete Orange erneut im Labor. Er unterhielt sich
etwas mit Ormal.
Ormal war einundzwanzig Jahre alt und Auszubildender bei Eich. Er hatte viel Spaß an der Arbeit,
besonders an der Pflege von Eichs Laborgarten und an den Verhaltensstudien mit Pokémon. Leider
hatte er als Auszubildender nur selten das Vergnügen an solchen wissenschaftlichen Studien
mitzuarbeiten. Meistens stand er am Kopierer oder staubte irgendwelche Regale ab …
Er führte Orange durch das Laborgelände. Es war ein großes Areal mit viel Grün. Überall wimmelte es
von Pokémon. Von fern konnte Orange eine Kolonie von Sonnkern ausmachen, die inmitten eines
Blütenfeldes spielte. Papungha flogen taumelnd durch die Luft und an der Gewächshauswand
lehnend schliefen kleine Tannza.
Nach einer Weile, als sie sich schon viel angesehen hatten, schritt Eich auf sie zu. Anscheinend hatte
er sich genügend entspannt: „So, Orange, du wolltest dein erstes Pokémon?“
Orange war erstaunt, dass sich der Professor offenbar so schnell erholt hatte.
„Sind Sie wieder normal?“, fragte er vorsichtig.
„Ja, ich bin wieder frisch. Frisch wie ein Frosch. Haha.“
Orange wusste nicht so richtig, was er davon halten sollte.
„Ja, er ist nicht mehr überarbeitet“, sagte Ormal, der Oranges skeptischen Blick bemerkt hatte, „er
hat bestimmt irgendeine alberne Soap gesehen und nun ist er wieder ausgeruht …“
„Albern? Die sind nicht albern…“, wandte Eich ein, der die Bemerkung von Ormal gehört hatte.
„Nein?“, fragte Ormal.
„Nein!“, gab Eich zurück. Er fuchtelte erneut mit den Armen.
„Doch!“
„Äh, bekomm ich nun endlich mein erstes Pokémon?“, fragte Orange dazwischen.
„Nein, ich schlag dich gleich! Also, äh, ich meine ja. Jungen Trainern kann ich keinen Wunsch
abschlagen! Aber mit dem Ormal ist das schon anders! Also, Orange was soll‘s denn sein?“
„Ähm, was?“, Orange war verwirrt.
„Du sollst zuhören!“, erwiderte Eich und schüttelte den Kopf, „die Jugend von heute! Ich habe dich
gefragt, welches Pokémon du haben willst.“
„Ich nehme Bisasam“, antwortete Orange bestimmt. Er hatte recht lange über diese Wahl
nachgedacht und war zum Entschluss gekommen, dass er Pflanzenpokémon am meisten mochte.
Endlich bekam er also sein erstes Pokémon und den Pokédex – auf beides hatte er den ganzen
Vormittag lang gewartet. Eilig, um keine Zeit mehr zu verlieren, verabschiedete er sich von Eich und
Ormal und machte sich fröhlich auf die Reise.
– 10 –
Kapitel zwei: Aufbruch zur Reise
O
range verließ Alabastia. Er wandte sich um und warf noch einmal einen Blick zurück auf die
Häuser. Dort, in dieser verträumten Siedlung, war er aufgewachsen. Er erblickte weiter
oben, auf einem Hügel, ein Dach in einem warmen, roten Farbton mit einem kleinen
Windrad darauf - das war das Labor von Professor Eich.
Orange drehte sich wieder um. Vor ihm lag Route eins, eine Art kleine Straße. Überall auf ihr wuchs
festes, dichtes Gras, welches noch ein märzenhaftes Hellgrün aufwies. Der ganze Weg wurde
gesäumt von massiven Bäumen, die Wälder bildeten. Erste Triebe deuteten an, dass hier bald
saftiges Laub sprießen würde.
Er ließ sein Bisasam aus dem Pokéball. Es sah ihn freundlich und zufrieden an und redete auf ihn
gleich in einer fremdartigen Sprache ein, die nur aus drei Silben bestand: „¡Bisasam! Bisabisabisasasambisabisa. Bisabi.“
Das Pokémon schien sich ebenso wie Orange auf die bevorstehende Reise zu freuen. Orange glaubte
nicht, dass er mit diesem Pokémon Probleme haben würde. Es war maximal ein wenig anstrengend,
da es die ganze Zeit vor sich hinredete. Genauso leicht war es, Route eins zu bewältigen und schon
bald hatte Orange sein erstes Erfolgserlebnis: Er bestritt seinen ersten Kampf gegen ein Rattfratz und
zwar, ohne von ihm überfallen zu werden – ein erster Triumph für ihn und Bisasam. Er freute sich
und besiegte gleich noch ein Rattfratz, anschließend ein Taubsi und dann ein weiteres Rattfratz. Dann
hatte er keine Lust mehr.
Nach anderthalb Tagen, einschließlich einer Übernachtung in einem Wäldchen in einem IKEA-Zelt,
das er im Rucksack hatte, kam Orange in Vertania City an. Ein gelber Stern in seinem Reiseführer
unterstrich, dass diese Stadt ein Knotenpunkt für Trainer war. Vertania City war schließlich
Mittelpunkt zwischen Alabastia, das Pokémontrainer wegen Eichs Labor anzog, dem Indigo-Plateau
mit der Pokémon-Liga und Marmoria City, der steingrauen Stadt. Auch wurde es häufig von Trainern
passiert, die von Kanto in den Bezirk Johto reisen wollten. Aus diesen Gründen vermarktete sich
Vertania als Trainerstadt und wartete mit dem Pokémontrainingszentrum auf, das insbesondere
stärkere Trainer anzog, gegen die Orange noch keine Chance hatte. Bis vor Kurzem war in dieser
Stadt passenderweise auch der stärkste Arenaleiter der Region zu finden, nämlich Blau. Orange
wusste, dass nun an seiner Stelle eine Arenaleiterin war. Ob sie genauso stark war wie ihr Vorgänger?
Orange überlegte nicht lange, er wollte endlich seinen ersten Arenaleiterkampf bestreiten.
Orange beehrte das Pokémoncenter und kaufte einige Pokébälle, bevor er wagemutig zur Arena ging.
Die vollautomatische, elektrische Tür öffnete sich und vor ihm lag ein lupenreiner Glasboden. Gleich
neben der Tür stand ein Mann mit Brille, der Ormal ein wenig ähnelte. Er redete gleich auf Orange
ein: „Ah! Oho! Toll! Ein Champ in spe! Vielleicht kann ich dir behilflich sein! Arenaleiterin Heike nutzt
vorwiegend saubere Wasserpokémon, aber manchmal setzt sie auch Chemikalien ein – ihre
Typenkombination ist also Wasser/Gift. Gegen Ersteres sind Pflanzenattacken sehr effektiv, aber sieh
dich vor, wenn sie erst die Chemiekeule auspackt … Ach so, und Achtung, hier ist frisch gewischt!“, Er
zeigte auf den Boden. Dann nahm er ein Brillenputztuch und etwas Glasreiniger aus seiner
Umhängetasche und wandte sich von Orange ab.
Orange bedankte sich bei dem Mann, der schon in die Kunst des Brilleputzens vertieft war und keine
Notiz mehr von ihm nahm und ging auf die Arenaleiterin zu, die am Ende des Raumes stand. Alles
– 11 –
war steril, es gab keinerlei Dekoration in der Arena. Es gab nicht einmal Kampf-Assistenten. In vielen
Arenen kämpften sie gegen die hereinkommenden Trainer und wollten sie daran hindern, zum
Arenaleiter vorzudringen, hier allerdings nicht. Das sah nicht sehr schwierig aus.
„Hey-du-da“, sprach die Arenaleiterin Orange ruckartig an, als er sich ihr näherte, „zieh die Schuhe
aus, du machst mir hier alles schmutzig.“ Sie zeigte mit ihrer Hand, auf der ein fleischfarbener
Gummihandschuh steckte, in Richtung eines Schuhregals.
„Ich soll was?“, fragte Orange irritiert.
„Schuhe ausziehen“, befahl sie ein weiteres Mal.
„Wieso?“, Orange hatte noch nie von einer Arena gehört, in der es Sitte war, die Schuhe auszuziehen.
„Weil hier alles dreckig wird sonst. Keine Diskussionen. Ich will, dass hier alles glänzt. Keine
Assistenten, die mir alles schmutzig machen, keine Holzschränke, die Staub ansetzen. Wie du siehst,
ist hier alles sauber und ordentlich.“ Sie bäumte sich vor Orange auf und stemmte energisch die
Hände in die Seiten.
„Wer kümmert sich denn um diesen Glasboden?“, fragte Orange zaghaft, obwohl er die Antwort auf
seine Frage schon ahnte.
„Ich“, erwiderte die Arenaleiterin stolz. Sie räusperte sich und redete lauter, so als wollte sie, dass ein
großes Publikum sie hören würde: „Jaja! Da kann man was lernen draus. Ich mache hier alles selbst.
Da ist nur dieser Typ, der den Trainern Tipps gibt, der dort vorn. Das muss so, den kann ich nicht
abschaffen. Ich sagte, er soll sich auf einen Teppich stellen, damit er nicht das Glas zerkratzt. Das hat
der dann auch gemacht. Ich bin sehr anerkannt, alle hören sie auf mich. Ja, früher da war ich
Putzfrau. Nun leite ich das ganze hier. So kann man aufsteigen, da kann man was draus lernen. Jetzt
bin ich Arenaleiterin, aber ich hab den Boden unter den Füßen nie verloren, ich mach das alles selbst.
Wie immer, ich mit dem Chemoreiniger. Früher habe ich sämtliche Fugen mit der Zahnbürste
geschrubbt, in einem Hotel und das hat mir nicht geschadet. Ich bin Mitte vierzig und habe
Rückenprobleme, aber das alles macht mir immer noch Spaß. Da kann man was lernen von.“
Eine Pause entstand. Genauso leer wie es in dem riesigen Glasraum war, so still war es auch. Auf dem
Boden spiegelte sich die Decke, die ihrerseits ebenso aus Glasfliesen bestand. Wäre die Decke auch
verspiegelt gewesen, hätte sie den Boden gespiegelt, der die Decke spiegelte, die wieder den Boden
spiegeln würde. Aber die Decke war ja nicht verspiegelt.
„Können wir ... nun kämpfen?“, fragte Orange schließlich, der etwas eingeschüchtert von
dem Vortrag der Arenaleiterin und ihrer rustikalen Erscheinung war.
„Schuhe aus, dann ja.“
Bereitwillig zog Orange die Schuhe aus.
„Dort, inne Kommode“, wies Heike an und zeigte in die Richtung eines kleinen Regals. Als Orange die
Schuhe hineingestellt hatte, zeigte sich ein kleines Lächeln um ihren Mund. Es entblößte unglaublich
viele kleine Fältchen.
„So, jetzt können wir“, sagte sie, „Stell dich dort hin, ja? Nun, pass schön auf, du kannst was lernen.
Ich bin nicht umsonst die stärkste Arenaleiterin in Kanto.“
„Was …?“, das hatte Orange nicht gewusst. Er hatte es, als er die Arenaleiterin gesehen hatte,
überhaupt nicht geahnt. Unter einem starken Arenaleiter hatte er sich was anderes vorgestellt. Nun
dachte er daran, schon vorher aufzugeben. Eigentlich hatte er ja gerade erst angefangen mit den
Pokémonkämpfen. Doch zum Kneifen war es nun zu spät.
– 12 –
Nach einer Minute war der Kampf beendet: Orange hatte haushoch verloren, obwohl Bisasam als
Pflanzenpokémon dem Austos der Arenaleiterin im Typ überlegen war. Es hatte sich wirklich
angestrengt, aber es war einfach noch zu unerfahren und zu schwach.
„Soso, da hast du dir also zu viel vorgenommen. Nun, ich will dir einen Hinweis geben. Immer
in kleinen Schritten vorarbeiten und überschätz dich nicht. Das hab ich auch so gemacht und nun bin
ich eben Arenaleiterin, ja? Man kann viel schaffen, auch wenn man selbst von Anfang an nicht viel
kann. Merk dir das. Ich war immer fleißig, immer arbeitsam. Und das bin ich auch jetzt, ich werde
nun den Dreck wischen, den du und deine Pokémon hier gemacht haben.“
„Ähm, tut mir leid“, sagte Orange, der nun gänzlich verstört und sichtlich erschüttert über seine
schnelle Niederlage war.
„Was? Das tut dir leid? Nein, nein. Das ist mein Job. Aber weißt du, du tust mir ein bisschen leid. Ich
will dir was mitgeben für deine Reise, fast so wertvoll wie mein guter Rat. Meine Sorte – die
fleischfarbenen – bekommst du nicht, die bekommen nur die, die sich als würdig dafür herausgestellt
haben. Du bekommst diese frischen azurblauen Gummihandschuhe, die sind zwar nur zweite Wahl,
aber auch nicht schlecht. Du wirst sie noch brauchen.“
Orange nahm sie an, bedankte sich und verließ dann, nachdem er seine Schuhe wieder angezogen
hatte, schleunigst die Arena. Er war zwar etwas frustriert, aber nachdem er die Arena mit ihrem
Spülmittelgeruch verlassen hatte, stellte sich seine fröhliche Grundstimmung von zuvor wieder ein.
Immerhin hatte er ja gegen die stärkste Arenaleiterin der Region gekämpft. Orange wollte nun erst
recht seinen ersten Orden gewinnen und in der nächsten Arena würde es sicher viel einfacher
werden. Ohne sich noch weiter in Vertania aufzuhalten, und vor allem nicht in dieser sterilen Arena,
machte er sich auf den Weg in die nächste Stadt: Nach Marmoria City.
Vor Orange betrat die Route zwei, die genauso wie schon Route eins von einer zartgrünen Wiese
bedeckt war. Am Ende der kleinen Straße befand sich ein Waldgebiet, der Vertania-Wald. Dieses
Areal musste Orange passieren, um auf dem schnellsten Weg nach Marmoria City zu gelangen. Die
Route wurde von einem Aufseherhäuschen mit dem Wald verbunden, das Orange nun betrat.
Unerwartet wurde er polternd von einem Wachposten im Polizeigewand angesprochen:
„Hallo, der Jungspund!“, begrüßte er Orange, „Endlich ein Gast. Sehr schön. Hatte ich schon lange
nicht mehr. Schon seit gestern nicht mehr. Ich bin sozial völlig unterversorgt. Willst du vielleicht
etwas Karten spielen? Ja, nun! Komm! Wir spielen um ein paar Pokédollar! Ah, ich habe nichts zu tun.
Lass uns Mau-Mau spielen und uns gegenseitig blöde Witze erzählen!“ Ein wenig soziale Kontakte
konnte Orange gebrauchen, schließlich war er es nicht gewohnt, mehrere Tage lang kaum eine
Ansprache zu erhalten. Die Gespräche mit Bisasam beschränkten sich auf das Pokémon selbst, das
immer etwas zu sagen hatte. Mit dem Mann konnte er sich wenigstens ordentlich unterhalten. Nun
war also die Gelegenheit für beide ihr soziales Depot aufzufüllen. Sie spielten Dame, Mau-Mau und
Offiziersskat und nach mehreren Stunden des geselligen Spiels war Orange um
eintausendzweihundertzweiundfünfzig Pokédollar ärmer und machte sich vergnügt auf den Weg
hinein in den Vertania-Wald.
Er hatte keine großen Probleme damit, hindurch zu kommen. Es war zwar dunkel und dicht, auch ein
wenig unheimlich, aber die Pokémon darin waren allesamt schwach. Mithilfe seines Bisasams hatte
er am Ende der Strecke drei Safcon, ein Raupy und noch ein Raupy gefangen. Er hatte auch zwei Rüpli
gesehen, doch es war ihm nicht gelungen, sie einzufangen. Oranges enorme Fangquote lag allerdings
nur bedingt an seinen besonderen Fähigkeiten, sondern eher daran, dass Bisasam ein Meister der
Diplomatie war und solange mit den Pokémon redete, bis sie sich ihm und Orange freiwillig
anschlossen.
– 13 –
Kurz nach Sonnenaufgang und erneutem Schlaf im IKEA-Zelt war Orange am Ende des Waldes
angelangt. Um den Wald zu verlassen, ging er erneut durch ein Aufseherhäuschen, bereits gefasst
darauf von einem zweiten unterforderten Aufseher zu einer Runde Dame, Skat, Canasta, Doppelkopf,
Mensch-ärgere-dich-nicht oder Mau-Mau aufgefordert zu werden. Erstaunlicherweise war kein
Aufseher da. Vermutlich machte er Frühstückspause und aß ein paar Knoppers, weil er sonst nichts
weiter zu tun hatte. Es war gerade genau halb zehn …
Orange freute sich, endlich wieder auf waldloses Gebiet zu gelangen. Stundenlang durch einen
dunklen Wald zu laufen, wurde mit der Zeit auch irgendwie bedrückend. Da war es sehr angenehm,
endlich wieder helles Tageslicht zu sehen. Freudig verließ Orange das Aufseherhäuschen – doch was
er sah, überraschte ihn. Eine Horde von Rüpli hüpfte vor seinem Gesicht entlang. Es waren solche
Massen, dass an den Stellen, wo sie entlang gehüpft waren, kein Gras mehr wuchs. Sie hinterließen
nur eine große Staubwolke.
Kämen sie auf Marmoria City zu – die Schäden wären nicht auszudenken. Aber sie hüpften nicht auf
Marmoria City zu, sie hüpften in eine andere Richtung.
————————
Geradewegs auf Orange zu.
„Aaaaaaaaaaaah!“, schrie Orange panisch. Er hatte noch zu gut die Rüpli in Erinnerung, die ihn und
Eich am Tag zuvor angegriffen hatten. Und heute waren es mehr. Viel mehr.
Er wollte wieder zurück ins Aufseherhäuschen, doch in dem Moment, als er die Tür dorthin
öffnete, strömten auch von dort weitere hunderte Rüpli heraus, die sich wahrscheinlich die ganze
Zeit lang im Vertania-Wald gesammelt hatten. Von drei Seiten versperrten die Rüpli den Weg. Aber
sie schienen Orange nicht zu beachten. Offenbar hatten sie nicht einmal Notiz von ihm genommen.
Wie eine riesige Welle bewegte sich die Masse von rübenroten Punkten auf Orange zu. Er wählte den
einzig möglichen Fluchtweg. Er verließ die Route nach Marmoria City und sprintete davon …
Sie hatten nicht die Absicht ihn zu jagen. Aber sie bewegten sich auf ihn zu, ohne ihn zu
bemerken. Orange rannte und rannte und keuchte bald, er war kaum noch schneller als die Rüpli.
Nach einiger Zeit verspürte er ein Seitenstechen. Seine Kehle wurde ganz trocken … er blickte über
die Schulter … sie kamen näher … er rannte weiter.
Es begann, langsam vor Oranges Augen zu flimmern und sein Bewusstsein wurde immer schwächer.
Die Rüpli bewegten sich ziemlich schnell. Verwaschene Gedanken machten sich in ihm breit, die
schließlich dem bloßen Drang zu rennen wichen. Er rannte einfach. Er rannte solange, dass er bald
schon nicht mehr wusste, wo genau er sich befand. Die Silhouette Marmoria Citys war schon nicht
mehr zu sehen. Oranges Kehle brannte, seine Beine schmerzten, er fühlte es, doch es schien ihm weit
weg, so als würde er träumen. Er war verwirrt, seine Gedanken konfus. Er wusste nicht, wie lang er
schon so rannte. Eine Viertelstunde, eine halbe Stunde, zwei Stunden, tagelang? Er wusste nicht, wo
er war, er wusste aber, dass er rennen musste und spürte seine Gedanken wie entfernte Winde...
Er wusste, dass er rennen musste, weil er verfolgt wurde. Er spürte irgendwo in ihm, dass seine Beine
nachgaben.
– 14 –
Eine Welle von Rüpli näherte sich. Sie war nur noch wenige hundert Meter entfernt.
Während Orange auf dem Erdboden lag und er mit Laufen aufgehört hatte, kam sein Verstand
zurück. Seine Kraft hatte nachgelassen und er war zusammengebrochen. Wenige Sekunden hatten
ausgereicht um seinen Verstand wiederherzustellen. Er sah das schöne weiche Gras unter ihm. Und
er hörte ein Tosen hinter sich. Erschaudernd drehte er sich um und hob seinen Kopf:
Er sah eine Staubwolke auf ihn zu kommen und Hunderte Rüpli … er konnte nicht mehr wegrennen.
Wenn er liegen bliebe, würden sie ihn überrennen, aber er konnte nicht mehr wegrennen. Orange
versuchte, sich aufzurichten, aber seine Kraft reichte dazu nicht mehr aus.
Die tosende Welle der Rüpli war nun nur noch wenige Meter entfernt, binnen Sekunden würden sie
ihn erreicht haben.
Orange verharrte regungslos auf dem Boden. Die Welle der Rüpli hatte ihn erreicht.
————————
Die Rüpli beachteten ihn nicht, sie hüpften über ihn hinweg, krochen unter ihm durch, stemmten sich
gegen ihn. Sie waren ganz leicht. Er wurde von ihren Bewegungen getragen und sanft nach vorn
geschoben, es war als würde er auf dieser Woge von Rüpli schwimmen, sie verletzten ihn nicht. Ihr
Gewicht reichte in Massen zwar, um Felder zu zerstören, doch einem Menschen konnten sie damit
nicht schaden. Er wurde von einer großen rübenroten Welle fortgetragen …
Es ging eine ganze Weile so und Orange, völlig entkräftet von seinem Sprint, döste auf der
rübenroten Masse vor sich hin. Ein merkwürdiges Glücksgefühl machte sich in ihm breit. Es war toll.
Und es dauerte lange, bis er wieder völlig klar im Kopf wurde und verstand, wo er war. Die Rüpli
wanderten und wanderten.
Plötzlich gab es einen Ruck. Die Sonne stand niedrig und bewegte sich langsam, ganz langsam, auf
den Horizont zu. Es war Abend geworden. Nach etwa einem halben Tag endlos scheinendem Laufens
hatten die Rüpli auf einmal angehalten. Das war Oranges Chance, der Horde zu entkommen.
Wahrscheinlich war er stark von seinem ursprünglichen Weg abgekommen und bald würde die
Sonne untergehen. Er scheute sich jedoch, aufzustehen und das rübenrote Feld zu durchqueren. Der
Schock saß noch zu tief. Andererseits fühlte er sich auf eine seltsame Weise mutig. Das war sein
erstes echtes Abenteuer.
Wenn er sich nicht jetzt von ihnen entfernen könnte, würden sie ihn noch viel weiter mitnehmen,
vielleicht in noch viel abgelegenere Gegenden, nachts. Er wusste auch nicht, wie lange er noch so
unbemerkt mitreisen konnte.
Orange versuchte langsam, sich aus der rübenroten Masse zu erheben. Doch schon mit der ersten
Bewegung, die er tat, wurden einige der Rüpli unruhig. Sie sahen ihn mit großen Augen an und
stießen die Warntöne aus, an die er sich noch gut von seiner ersten Begegnung erinnern konnte. Bis
jetzt hatten sie ihn nicht angegriffen, sie hatten ihn während ihrer Wanderung ja nicht einmal
bemerkt. Würden sie ihn aber angreifen, dann würde er wohl mehr als einige Kratzer davontragen als
– 15 –
bei ihrem ersten Zusammentreffen. Es war etwas anderes, ob sie ihn einfach mit sich trugen, ober ob
sie ihn absichtlich angriffen.
Orange beobachtete die Rüpli aufmerksam und kam zu dem Schluss, dass sie sich anscheinend
wieder beruhigt hatten. Er setzte sich in Bewegung und durchquerte langsam und vorsichtig die
Horde. Die Rüpli schienen ebenso verunsichert, blieben aber einigermaßen ruhig. Erst nach einer
knappen halben Stunde erreichte er das Ende der Rüplimasse, so viele waren es. Orange entfernte
sich weiter von ihnen. Einige folgten ihm neugierig ein kleines Stück, machten dann aber wieder
kehrt um zu den anderen zurückzukehren. Orange war erleichtert. Doch bald wich seine
Erleichterung einer erneuten Furcht.
Orange wusste nicht, wo er sich befand, zumindest schien er aber weit weg von einer Siedlung zu
sein. In alle Richtungen versperrten Bergketten einen weiten Blick in die Ferne. Er bekam eine
fürchterliche Ahnung. Konnte das, was er befürchtete, denn wirklich stimmen? War er so weit
gereist? Langsam und unwillkürlich nahm er seinen Pokécom aus der Tasche – und erschauderte: Für
diesen Ort war kein Kartenmaterial verfügbar. Das konnte nur heißen, dass sich Orange nicht mehr in
Kanto befinden konnte. Er musste am Fuße des Silberbergs gelandet sein.
In diese Gegend wagten sich nur die stärksten Trainer – sie war berühmt für die starken und seltenen
Pokémon, die hier lebten. Nur wenige Trainer wagten sich überhaupt hierhin und Orange war bereits
am dritten Tag seiner Reise hier gelandet. Was sollte er tun? Sein Bisasam war viel zu schwach, um
sich hier durchzukämpfen. Vielleicht wäre es doch besser gewesen, wenn er noch länger mit den
Rüpli gereist wäre. Dieser Ort war vielleicht der gefährlichste der gesamten Region.
Ihm fiel ein, dass irgendwo am Silberberg ein Pokémoncenter war, wo die Trainer, die sich hierher
gewagt hatten, ihre Pokémon auskurierten. Dort konnte er sich ausruhen und vielleicht irgendwelche
Hilfe bekommen. Aber er wusste nicht, wie weit es noch war, in welche Richtung er überhaupt gehen
musste …
Schon bald wandelte sich Oranges Vermutung zu einer Gewissheit. Er war nur eine Weile ziellos
umhergegangen, als ein Donphan auf ihn zuschnellte. Dieses Pokémon gab es nur hier in seiner
entwickelten Form. Orange dachte gar nicht daran, sein Bisasam einzusetzen, er rannte einfach nur
davon, schon wieder …
Dass seine Reise als Trainer gleich zu Beginn so gefährlich sein würde, hatte er nicht erwartet. Er
meinte, er würde etwas von der Welt sehen und spannende Kämpfe austragen, nette
Bekanntschaften machen und vielleicht auch das ein oder andere kleine Abenteuer erleben.
Stattdessen befand er sich nun an einem einsamen Ort, nur im Versuch, der nächsten Gefahr zu
entrinnen. Was sollte er gegen das Donphan ausrichten? Es rollte sich zu einer Kugel und schoss auf
Orange zu.
Auf einmal schnellte ein Turtok aus dem Gebüsch. Es attackierte ohne zu zögern das Donphan und
hielt es davon ab, Orange anzugreifen.
– 16 –
Kapitel drei: In den Gipfeln
D
as Turtok, welches das Donphan vertrieben hatte, ging bedrohlich schweigend auf Orange
zu. Er wusste nicht, was er tun sollte. Ein Turtok in den Bergen war sehr ungewöhnlich.
Hatte es ihm helfen wollen, oder stellte es nur eine weitere Gefahr für ihn dar? Hatte es
sich auch hierher verirrt? War es geschwächt – oder deswegen vielleicht besonders kamplustig? Das
Pokémon schwieg. Orange dachte an sein zu Hause, dort war es warm und gemütlich. Dort war es
verschlafen und provinziell, ruhig und friedlich. Wenn er sich jetzt zu Hause befinden würde, auf dem
Sofa, vielleicht mit einer Apfelsinentorte, das wäre wunderbar. Er könnte sich berieseln lassen und
anderen dabei zu sehen, wie sie aufregende Abenteuer erlebten.
Stattdessen war er mittendrin in seinem eigenen Abenteuer, aber wohl fühlte er sich nicht gerade
nicht dabei. Er war umgeben von einsamen Bergen, gemeinsam mit einem finster blickenden Turtok.
Er wusste sich nicht weiter zu helfen und ließ sein Bisasam aus dem Pokéball. Vielleicht würde es
einige Mitleidspunkte sammeln können.
Sobald er Bisasam aus dem Pokéball gelassen hatte, begann es, unerlässlich zu reden und vor Freude
zu hüpfen. Sooft Orange auch versuchte es zu unterbrechen und ihm den Ernst der Lage zu erklären,
es hatte wenig Sinn. Orange setzte an, aber Bisasam beachtete seine Worte gar nicht. Anscheinend
schien es sich nur zu freuen, dass es endlich wieder raus aus dem Pokéball durfte und wollte sich mit
Orange unterhalten.
„Bisasasasam, bisasa, Biiiiii. Bisa. Bisasam … …“
Es hielt während des Redens kein einziges Mal inne, sodass Orange sein Pokémon unterbrach: „Ich
habe eine Aufgabe für –“
„Bisasam, Bisabisa bisa!“
Bisasam hoppelte wild um das riesenhafte Turtok herum, so als ob es mit ihm spielen wollte.
„Also … meine Aufgabe“, setzte Orange von neuem an, „… kannst du dem Turtok bitte …“
„Bisabisabisabisasaaaaaaam!“, Bisasam schnitt eine Grimasse.
„Pssssssssssssst!“, zischte Orange.
„Bissssssssssam!“, zischte Bisasam zurück.
Orange konnte dem Pokémon nur mit äußerster Mühe erklären, was er wollte. Bisasam sollte dem
Turtok verständlich machen, dass sie nur aus Versehen hier waren. Doch als Bisasam endlich begriff
und zum Reden ansetzte, schossen bei dem Turtok schon Fontänen aus dem Rücken. Orange konnte
Bisasam gerade noch in den Pokéball zurückrufen, ehe es von einer gewaltigen Hydropumpe
getroffen worden wäre.
Wenn Bisasam ihm nicht helfen konnte, dann vielleicht ein anders Pokémon? Er dachte daran, dass
er im Vertania-Wald zumindest einige andere Pokémon gefangen hatte. Vielleicht waren die dem
Turtok ja sympathischer. Das schien Orange zwar nicht wahrscheinlich, war aber immerhin einen
Versuch wert. Wahllos griff er nach einem Pokéball und öffnete ihn. Es war ein Raupy. Es schaute
schal durch ihn hindurch, direkt an die Stelle, wo sich das Turtok befand. Vermutlich war es ein wenig
beängstigt.
„Hallo Raupy“, rief Orange betont munter, „das ist, wie du siehst, ein Turtok. Und ich dachte
mir, vielleicht könntest du ja mal mit ihm reden oder so. Wir sind hier nämlich etwas in
Schwierigkeiten.“
Raupy rührte sich nicht. Mittlerweile hatte es seinen Blick gedreht und fixierte einen unbestimmten
Punkt am Horizont oberhalb einer völlig kahlen, vegetationslosen Stelle des Silberbergs.
– 17 –
Eine lange Zeit geschah nichts. Niemand rührte sich. Es war plötzlich still. Alle drei schwiegen, das
Raupy saß in der Mitte. Orange hatte indes verzweifelt versucht, die prekäre Lage aus seinen
Gedanken zu verdrängen. Er dachte an den Frühling, der bald kommen würde und an den Winter,
der vor einem Monat ganz Kanto noch einmal in kräftige Schneefälle gerissen hatte. Der Winter war
nun schon lange her und bald war im Flachland ein außergewöhnlich milder Frühling eingekehrt. Hier
am Silberberg jedoch war es noch unangenehm kalt. Orange zitterte etwas, doch das war nicht nur
der Kälte geschuldet.
Plötzlich passierte etwas. Hunderte blitzende Fäden schienen auf einmal von seinem Raupy
auszugehen, sie verbreiteten sich in alle Richtungen und bildeten ein kaum vermaschtes, lockeres
Netz. Ein großer leuchtender Kegel bildete sich um das Pokémon. Große samtweiße Flügel schossen
aus der Mitte hervor und ließen die Fäden in alle Richtungen platzen. Sie gaben den Blick frei aus
einem Smettbo, dass sich ganz plötzlich ohne sich noch weiter als Safcon aufzuhalten aus dem Raupy
entwickelt hatte. Anscheinend war der Anblick des starken Turtoks so schockierend gewesen, dass es
diese Entwicklung ausgelöst hatte. Das Pokémon breitete leise seine Schwingen aus und hob sich in
die Luft davon. Ein Windhauch vom Flügelschlag des Smettbos ließ das Gras beben.
Dann war es einfach weg.
Schade.
Erneut war es einige Zeit still, bis Orange, noch starr von diesem seltsamen Ereignis aus seinen
abwesenden Gedanken gerissen wurde, die sich wieder eingestellt hatten.
„Tok“, Turtok bewegte seine Pranken in eine undefinierbare Richtung.
„Was?“, Orange verstand nicht.
„Tok“, nun bewegte es beide Pranken heftig.
„Hm?“, fragte Orange, „Kann ich dir helfen? Hast du Probleme? Kann ich irgendwas für dich tun?“
„Turtok“, es fuchtelte wild mit Armen und Beinen.
„Nein? Hast du Hunger? Möchtest du spielen? Ich kann dir gern helfen, ich habe alles in meinem
Rucksack. Tapetenfarbe, Blumenkästen, Antiquitäten aus diversen Epochen; ich bin ein annehmbarer
Unterhalter, ich kann einige Kartentricks und Stepptanz machen und Dudelsack spielen. Das ist doch
was – oder?“, Orange wurde langsam kleinlaut.
Das Turtok schwieg gefährlich und entfernte sich einige Schritte. Nach einiger Zeit drehte es sich um
und funkelte Orange böse an: „Tok.“
„Was? Soll ich dir folgen?“
Es lief nun einfach weiter. Unsicher, in einigem Abstand, nicht wissend, ob er es richtig verstanden
hatte, folgte Orange. Sie liefen durch eintönige Wiesen am Fuße des Silberbergs, auf denen sich zum
Teil große, moosbedeckte Felsen befanden. Es war hier um diese Zeit noch empfindlich kühl und ihm
fröstelte ein wenig. Nach einer Weile kamen er und Turtok an einem Baum an. Das Pokémon rüttelte
heftig daran. Warum es das tat, verstand Orange nicht.
Turtok gab die ganze Zeit kaum einen Ton von sich und würdigte Orange keines Blickes. Orange
fragte sich, ob er nicht doch lieber umkehren sollte. Wenn er es falsch verstanden hatte und Turtok
auf einmal wütend werden würde?
Nach etwa einer halben Stunde der stillen Wanderung erreichten sie einen Eisenzaun, der
den Durchgang versperrte. Mittlerweile war es schon ziemlich dunkel geworden und der Himmel war
in dunkles Blau getaucht. Nur am Rand sah man noch einen gelblichen Abschnitt, an dem Wolken
hingen, die von der untergegangenen Sonne noch angestrahlt wurden. Man hätte den Eindruck eines
Sommerabends gewinnen können, wenn es nicht so empfindlich kalt gewesen wäre.
– 18 –
Orange konnte nur noch die Umrisse der Umgebung sehen. Er hatte zwar eine Taschenlampe mit,
traute sich aber nicht, anzuhalten und sie aus seinem Rucksack zu holen. Den großen Zaun, vor dem
sie nun standen, konnte man aber auch in der Dämmerung noch deutlich sehen. Er war etwa
anderthalb Meter hoch, so dass er Orange knapp bis zu den Schultern reichte. In dem Zaun befand
sich eine Art Türgitter, das aus einigen Eisenstäben und einem Schloss bestand. Neben dem Portal
standen links und rechts einige Eichen.
Orange schaute durch die Gitterstäbe hindurch: Auf der anderen Seite befand sich eine große Wiese
und sehr viel weiter hinten stand ein großes Haus. Rechts von der Tür entdeckt Orange ein rot
umrandetes, beleuchtetes Schild: ‚Privatgrundstück. Das Betreten durch Unbefugte ist strengstens
untersagt. Das Grundstück wird mit einem umfangreichen Überwachungssystem geschützt.
Widerrechtliche parkende Autos werden kostenpflichtig entfernt.‘
Wohin war er dem Pokémon gefolgt? Anscheinend schien hier in der beunruhigenden Einöde
tatsächlich jemand zu wohnen. Vielleicht ein Verbrecher?
Turtok drückte mit seiner Pranke gegen die Tür. Sie ging sofort auf – war sie etwa nicht
abgeschlossen gewesen?
„Turtok, ich denke nicht, dass wir hier …“
Es blickte Orange böse an, sodass dieser verstummte. Er musste folgen, wenn er nicht angegriffen
werden wollte. Immerhin wusste er nun, dass er das Pokémon richtig verstanden hatte.
Sie betraten das große Grundstück, Turtok ging in Richtung des Hauses und Orange folgte ihm. Von
der anderen Seite der Wiese schritt von irgendwo ein Despotar auf die Tür des Hauses zu und
bäumte sich davor auf. Unbeirrt lief Turtok weiter. Orange bekam Angst.
Die Rüpli, das Donphan – das waren wenigstens offensichtliche Gefahren gewesen, doch was
ihn hier erwartete, das wusste er nicht. Und vielleicht war es noch viel schlimmer. Warum hatte ihn
das Turtok hierher mitgenommen? Es schien dem ganzen eine gewisse Planung vorausgegangen zu
sein …
Orange blieb stehen, das Turtok lief weiter, bis es nach einer Weile bemerkte, dass Orange
angehalten hatte. Es blickte ihn sehr wütend an und ging schnell auf ihn zu. Angesichts dieses
grimmig aussehenden, kämpferischen Pokémons rannte Orange geradewegs wieder zum Eingang des
Grundstücks, durch den sie gekommen waren. Doch der Eingang war nun seltsamerweise
verschlossen.
Das Turtok schritt auf ihn zu. Orange blieb stehen, ohnmächtig, davonzulaufen, wie gelähmt vor
Angst. Wo sollte er auch hin? Das Grundstück war gänzlich abgeriegelt. Als Orange schon erwartete,
von dem Turtok angegriffen zu werden, blieb es vor ihm stehen – und funkelte ihn verächtlich an.
Warum war die Tür, die eben noch geöffnet war, jetzt abgeschlossen gewesen? Wollte ihn
irgendjemand gefangen nehmen? Orange wurde noch unruhiger, als er ohnehin schon war.
„Tok!“, sagte das Turtok diesmal sehr laut und in einem aufs Äußerste drohendem Befehlston. Kurz
darauf machte es kehrt und bewegte sich wieder in die Richtung des Hauseingangs. Dieses Mal
verstand Orange das eindeutige Signal. Es blieb ihm keine andere Wahl, als zu folgen, auch, wenn er
dafür an dem Despotar vorbei musste …
Turtok machte große Schritte, so dass Orange schon fast rennen musste, um hinterherzukommen.
Sie kamen bei dem Despotar an, das noch immer vor der Haustür stand und sie versperrte. Orange
erwartete, dass sich beide nun miteinander kämpfen würden, oder – noch schlimmer – ihn angreifen
würden.
Wäre er doch in seinem schönen, ruhigen Alabastia geblieben …
– 19 –
Doch das Despotar griff nicht an. Offenbar sprachen Despotar und Turtok irgendwas ab. Orange
wurde davon nicht weniger panisch, wahrscheinlich sollte er in dieses Haus rein – aber was erwartete
ihn dort?
Despotar ging tatsächlich zur Seite und machte den Weg zur Tür frei. An der Tür befand sich eine
Klingel mit einem Namensschild drauf, auf das ‚Jemand‘ gekritzelt war. Despotar klingelte und mit
einem Summen ging die Tür auf.
Turtok stellte sich hinter Orange und schob ihn als Anweisung vorauszugehen unsanft an. Er musste
durch einen dunklen Korridor. Ganz langsam schritt er voran, Unschönes erwartend. Plötzlich ging
eine Tür auf.
Orange zuckte zusammen.
————————
„Hallihallo“, rief eine Stimme.
Erschrocken drehte Orange sich um. Was er sah, entsprach überhaupt nicht seiner Erwartung. In der
Tür stand eine junge, kleine Frau mit einer Blumendusche in der Hand. Sie sprach mit freundlicher,
mädchenhafter Stimme.
„Endlich Besuch. Ich bekomme so selten Besuch. Immer nur dienstlich. Ich habe dich durch die
Kamera von meinem Turtok gesehen, anscheinend warst du in Not. Was verschlägt dich denn hierher
zum Silberberg?“
„Äh –“, Orange brauchte eine Weile um sich der neuen Situation anzupassen. Gerade eben war er
noch mit zitternden Knien in der Wildnis umhergelaufen, bedroht von einem finster dreinblickenden
Turtok, das ihn an einen unbekannten Ort brachte. Doch dieses Haus sah so freundlich und hell aus.
Die Wände hier waren in hellen Gelb- und Orangetönen gestrichen. An der Wand hing ein großes Bild
vom Silberberg beim Sonnenaufgang. Und die Frau, die ihn da begrüßt hatte, machte keinen
gefährlichen Eindruck.
„Also!“, setzte Orange an, „äh – ich wollte eigentlich gar nicht hierher kommen. Ich habe seit
vorgestern mein erstes Pokémon, ein Bisasam, und bin von einer Horde Rüpli hierher mitgenommen
worden, ganz unfreiwillig.“
„Hmm, das ist komisch“, antworte die Frau lächelnd, „das hat mir noch keiner erzählt. Einer hat mal
gesagt, dass ein Rizeros ihn aus Spaß hierher geschubst hat. Weil es ihm peinlich war, dass mein
Turtok ihn hier aufgelesen hat. Aber ich finde Rizeros sind wirklich knuffig. Es gibt sie aus Plüsch, aber
auch aus Hartplastik. Ich finde die aus Hartplastik besser, die sind viel realistischer. Aber ich habe nur
die aus Plüsch, keine Ahnung warum. Aber danke, dass du mich drauf aufmerksam gemacht hast.“
„ Habe ich doch gar nicht“, antwortete Orange, dessen Laune sich mittlerweile schlagartig gebessert
hatte. Auf den Schock folgte nun ausgesprochene Erleichterung.
Sie fuhr fort: „Aber ich freue mich, dass du da bist. Ich bekomme wie gesagt selten Besuch. Ich mag ja
die Berge und die satten Bergwiesen hier in der Einöde … und es ist auch schön, die Kuhglocken zu
hören. Also momentan stelle ich sie mir nur vor, es gibt hier keine Kuhglocken. Aber ich werde
irgendwann mal in Miltank investieren und dann in Kuhglocken. Aber so schön es hier auch ist, es
wäre auch schön, wenn hier ein Radiosendemast stände – ich mach nämlich Basejumping – und
– 20 –
vielleicht ein Einkaufszentrum und wenn mal einige Leute vorbeikommen, die ich nicht kenne. Hm,
aber du bist ja vorbeigekommen. In meine Einöde, das ist Anlass genug für einen Kuchen!“
„Warum wohnst du denn grade hier in der Einöde?“, fragte Orange, dem still und heimlich bewusst
war, dass er ja eigentlich auch in der Einöde wohnte.
„Nun, manche leben in Alabastia –“, Orange erschauderte, „ – andere leben im australischen Outback
und wieder andere in Wuppertal und ich – lebe im Niemandsland am Silberberg! Kannst du dir nicht
denken, warum?“
„Weil dir Wuppertal nicht so gefällt?“, frage Orange schüchtern.
„Nein, Wuppertal hat doch sogar eine Schwebebahn …“, sie pausiert, ehe sie Orange fragte: „Wo
kommst du eigentlich her und wie heißt du?“
„Also“, erwiderte Orange: „Ich heiße Orange und komme aus Alabastia.“
„Hm, soso – also auch aus so einem Nest“, antwortete die Frau und zwinkerte, „dort schaut
ihr doch bestimmt nur Wissenschaftssendungen mit Professor Eich.“
„Ja, die sind interessant“, warf Orange ein, „aber wir sehen auch andere Fernsehsendungen in
Alabastia. Manche schauen auch die Kulturzeit und den Silberbergdoktor. Aber jetzt sag mir doch
endlich, wer du bist!“
„Hast du schonmal was von Amelie Ouvértur gehört, Orange?“, fragte die Frau.
„Nein.“
„Amelie Ouvértur ist Radiomoderatorin auf Tohjo3 und spielt die Sieglinde in der Dokusoap ‚Stress
und Fun in Kanto‘ sowie ‚Gutes Kanto, schlechtes Kanto‘, kurz GKSK. Kennst du sie wirklich nicht?“
„Nein“, antwortete Orange ehrlich.
„Nun, ich bin Amelie Ouvértur.“
Orange hatte also jemanden getroffen, der berühmt war.
„Und deshalb wohn ich hier. Weil mich sonst solche Stalker belästigen. Hier hab ich zum Beispiel
einen Brief von jemandem, der behauptet, er wäre Professor Eich.“
„Vielleicht ist es von Eich?“, gab Orange zu bedenken.
„Jedenfalls ist es lästig“, antwortete Amelie, „Als ich noch in Orania City lebte, haben die ständig an
meiner Tür geklingelt und mich umringt. Und hier habe ich mir nun ein Sicherheitssystem gebaut.
Man muss am Ende meines Grundstücks an einem Baum rütteln. Und dann wird zwanzig Minuten
später bei mir die Tür geöffnet. Das funktioniert hydraulisch, das habe ich selbst entwickelt. Darauf
bin ich total stolz. Ach, und auf meine Linux-Distribution bin ich auch total stolz.“
„Das Turtok gehört dir?“, fragte Orange.
„Ja“, antwortete sie, „ich habe gesehen, dass es ein bisschen grob zu dir war. Das tut mir leid, aber es
führt halt alle Anweisungen von mir sofort aus und duldet keinen Zeitverzug. Ich habe nämlich
gesehen, dass du in Gefahr warst und Turtok den Auftrag gegeben, dich zu mir zu führen. Das
Despotar, was du gesehen hast, gehört übrigens auch mir.“
Orange war beeindruckt, dass sie so ein starkes Pokémon trainiert hatte, aufgrund ihres
Äußeren hätte er es ihr nicht zugetraut. Sie sah überhaupt nicht aus, wie man sich einen starken
Trainer vorgestellt hätte, doch so konnte der optische Eindruck täuschen.
„Und das dort ist mein Schneckmag.“ Sie zeigte mit einer Geste in Richtung ihres roten Sofas, auf
dem ein Schneckmag kroch. Offenbar hatte es das schon öfters getan, denn das Sofa war
mittlerweile sichtlich verschlissen.
„Ich werde mich jetzt um den Kuchen kümmern. Du kannst ja mit Schneckmag Dame spielen. Immer,
wenn Besucher kommen, spielt es mit ihnen Dame. Selbstverständlich um Geld.“
– 21 –
Orange spielte eine halbe Stunde mit dem Pokémon, das außergewöhnlich geschickt war. Erst nach
einer halben Stunde des für Orange verlustreichen Spiels hatte es keine Lust mehr und glitt davon. Es
hinterließ eine dampfende Schleimspur auf dem Sofa, die aber nach einiger Zeit verschwand.
Anschließend gab es Kuchen, bei dem Orange und Amelie sich unterhielten. Orange erfuhr, dass sie
in Orania City aufgewachsen war. Schon als Kind war Amelie fasziniert von Radio und Fernsehen. Ein
großer Traum von ihr war es damals, auf einen Radiosendemasten zu klettern. Die Hafenstadt Orania
war ihr immer zu klein gewesen. Als Kind hatte sie sich immer gefreut, wenn es zu Ausflügen nach
Saffronia City, in die große Stadt, ging. Später begann sie dann ihre Karriere, zuerst im Radio, dann im
Fernsehen. Langsam mied sie die Großstadt, wo alle sie kannten. Ihr Job machte ihr zwar immer noch
Spaß, aber umso berühmter sie wurde, umso mehr belästigten sie die Leute. Sie verlor immer mehr
das Interesse an der Großstadt. Sie hatte sie all die Jahre nebenbei Pokémon trainiert und war mit
ihnen schließlich an den Silberberg gezogen.
Anschließend erzählte Orange von seiner bisherigen Reise und sich – auch wenn es bei Letzterem,
wie er fand, nicht so viel zu erzählen gab. Orange war eher unauffällig und redete nicht gern über
sich selbst. Er war fünfzehn Jahre alt und etwas schüchtern. Er hatte etwas längeres, kupferrotes
Haar. Man übersah ihn leicht – erstens weil er nicht sonderlich groß für sein Alter war und zweitens,
weil er sich meist ziemlich unauffällig verhielt. Es war eher seine Art still zu beobachten, anstatt laute
Kritik zu äußern. Er war auch nicht mutig, sondern eher bedacht und vorsichtig – eigentlich sogar
etwas ängstlich. Orange mochte es, fremde Teile der Welt zu sehen – das war wohl auch der Grund,
weshalb er sich auf seine Reise begeben hatte. Er war gerne unter Menschen, obgleich er denen, die
er nicht mochte, aus dem Weg ging und Konflikte, soweit es ging, vermied.
Orange schilderte ausgiebig, wie er hierhergekommen war. Amelie hörte ihm aufmerksam zu und
kam zu dem Schluss, dass die Geschichte wohl doch keine Erfindung war. Spätestens beim
Kuchenessen nämlich hatte alle vorherigen Besucher ihr die Wahrheit gesagt. Amelie war fasziniert
von den Rüpli: „Ja, die habe ich schonmal gesehen, als ich noch in Orania City gelebt habe. Die sind ja
soo knuffig. Ich habe die auch schonmal gespritet!“, sie setzte ein verzücktes Gesicht auf, „Ist mir
aber leider nicht so recht gelungen, ich kann es eben nicht so recht. Na ja, man sollte es den Profis
überlassen, nicht wahr? Ich meine, ich bin viel zu schlecht für Spritewettbewerbe. Das würde mich
total frustrieren. Aber es ist ungewöhnlich, dass sie hier sind. Ich dachte immer, es wäre ihnen hier
viel zu kalt. Ich habe noch nie eins gesehen, hier.“
Orange nickte. Er blieb noch eine ganze Weile bei Amelie und half ihr dabei, die Blumen mit der
Blumendusche zu duschen. Die Blumen mochten das. Amelie bot Orange an, ihn mit nach Azuria City
zu nehmen. Sie musste dort ins Fernsehstudio, wo sie bei einem Werbespot für Diät-Erdbeermüsli
auftreten sollte. Der Privathubschrauber würde die beiden abholen. Orange freute sich. Eigentlich
hätte er nach Marmoria City gemusst, aber er hatte gehört, dass die Arenaleiterin von Azuria nicht
viel schwieriger zu bewältigen war. Sie hatten dort Wasserpokémon und mit einem
Pflanzenpokémon wie Bisasam sollte das eigentlich einfach zu schaffen sein.
Nach zwei Tagen endlich hob der große Hubschrauber vom Dach von Amelies Haus ab. Geräuschvoll
stieg er in die Höhe und mit dem Rauschen der Rotoren kam Oranges Optimismus zurück. Nach
einigen Stunden des Flugs über die großartige Landschaft des Berglands erreichten sie die Küste.
Orange verabschiedete sich von Amelie, sie eilte zur Fernsehstation, er setzte seine Reise fort –
geradewegs in die Richtung der Arena von Azuria City.
– 22 –
Kapitel vier: An der Küste
A
zuria City war eigentlich keine echte Küstenstadt. Bademöglichkeiten gab es nur am AzuriaKap, das einige Kilometer vom Stadtgebiet entfernt lag. Dort befand sich eine kleine Bucht,
die aber nicht zu vergleichen war mit den großen, überfüllten Stränden anderer Städte. An
der Küste des Azuria-Kaps gab es nur einen schmalen Sandstreifen, der größte Teil hingegen war
bedeckt von weitem Grasland, das die Dünen säumte. An anderen Teilen des Kaps versperrten
Felsklippen den Zugang zum Meer.
Orange erinnerte sich, wie er einmal in Graphitport City in der Hoenn-Region Urlaub gemacht
hatte. Der Strand dort war riesig, wohin man auch blickte war weißer Sand und ringsum standen
bunte Sonnenschirme. An den Zugängen zum Strand befanden sich die Hütten kleiner Imbissbuden
und Kiosks, die nur Luftmatratzen, Bastmatten und bunte Zeitungen anboten. Am Ufer, in Höhe der
sich Sonnenden, versuchten Uhrenverkäufer ihre gefälschten Kostbarkeiten an die Touristen zu
verkaufen. Die Bucht von Azuria City konnte man damit kaum vergleichen. Die Bademöglichkeiten
waren eher beschaulich, aber gerade deswegen war sie bei einigen Leuten sehr beliebt. Sie war
wirklich ein Geheimtipp. Leider war das Wasser ganzjährig kalt. Zumindest stand das in Oranges
Trainerguide und der war zuverlässig. Das minderte die Freude der Gäste dort aber kaum.
Insbesondere zelteten am Kap viele ältere, rüstige Leute und nahmen Wechselbäder in kaltem und
eiskaltem Wasser. Anschließenden liefen sie zwei Kilometer zur Sauna, die noch weiter weg von der
Stadt lag und direkt an das E-Werk angeschlossen war.
Azuria City hatte auch keinen wirklich bedeutenden Hafen, nur ab und zu legten kleine Boote
und Yachten am Kap an. Wer weite Strecken reisen wollte, musste nach Orania City. Doch solche
Pläne hatte Orange noch nicht, zunächst stand erst der Weg zur Arena von Azuria City an. Wenn er
die bewältigt haben würde, könnte er vielleicht den Weg zum Kap antreten. Er war bekannt für seine
viele Trainer, die dort auf Herausforderungen warteten.
Orange nahm den Weg zur Arena mit großen Schritten. Man konnte sie schon von weitem erkennen:
Ihr Dach war tiefblau und überall befanden sich steinerne Kugeln aus Lapislazuli. Sie war von kleinen
Springbrunnen umgeben, die aber nicht angeschaltet waren. Das Wasser stand still in den großen
Granitbecken. Orange stieg die azurblauen Stufen hoch und rüttelte an der Glastür.
Sie ging nicht auf. Vielleicht klemmte sie auch nur. In Orange jedoch machte sich schon
wieder ein unangenehmes Gefühl breit, das auf nichts Angenehmes hinzudeuten schien. Aber noch
wollte er nicht aufgeben. Er rüttelte eine Weile, doch die Arena öffnete sich nicht. Endlich entdeckte
er ein Klingelschild an der Tür. Das schien die Lösung zu sein! Vielleicht war die Arenaleiterin ja
gerade beschäftigt. Sie hätte sich zum Beispiel mit dem Entfernen der Algen aus den Springbrünnen
befassen können. Aber offenbar tat sie das gerade nicht.
Orange betätigte die Klingel. Es dauerte eine ganze Weile, bis schließlich eine genervte Stimme aus
der Türsprechanlage dröhnte: „Ja? Was ist?“
„Sind Sie beschäftigt?“, frage Orange schüchtern.
„Ja, bin ich“, antwortete die Stimme erbost, „Ich drehe mir grade Lockenwickler ein.“
„Deshalb ist die Arena zu?“, hakte Orange nach.
„Nein, nicht deswegen. Das wäre aber auch ein triftiger Grund, aber darüber ließe sich noch
diskutieren … und du, lies doch einfach, meine Schwestern haben doch extra den Zettel hingehangen.
Und weißt du, in der Zeit, in der du mich jetzt genervt hast, hätte ich schon zwei tolle Locken mehr
eindrehen können.“
– 23 –
Sie legte mit einem lauten Ruck auf. Ein wenig verblüfft von dieser Ansage, drehte Orange sich um,
um nach einem Hinweis zu suchen, weswegen die Arena geschlossen war. Und tatsächlich: Da war
ein Notizkasten, in dem diverse Veranstaltungen mit Wasserpokémon angekündigt wurden. Zum
Beispiel „Lustiges Tanzen auf drolligen Fontänen mit unseren grinsenden Schiggys“. Genau darunter
war ein Zettel gepinnt, den ein amtliches Wappen schmückte:
AMTLICHER BESCHEID MIT DER KENN-NUMMER 4583
vom Amt für Kultus, Sport, Arenen, Trainer und Pokériegelbäcker
und
Azuria City Stadtverwaltung: Die Stadtverwaltung, die Sie bewegt
Dieses Schreiben betrifft die Städte Marmoria City, Azuria City, Orania City, Saffronia City und
Prismania City. Die hiesigen Behörden teilen Ihnen unfreundlich mit, dass die Arenen in den
genannten Städten unverzüglich und auf unbestimmte Zeit geschlossen werden müssen. Die
Arenaleiter/innen werden NICHT vom Dienst befreit. Sie haben in den kommenden Tagen in
blitzblanker Dienstuniform zu erscheinen und ihre Pokémon mitzubringen, um Hilfsdienste
durchzuführen. Wie Ihnen bekannt ist, sind in den letzten Tagen Gruppen von Rüpli hier
vorbeigezogen. Dadurch sind größere materielle Schäden für die Gemeinschaft und vor allem auch
für die Stadtverwaltung entstanden. Es ist Ihre Aufgabe, diese Schäden unverzüglich und
unentgeltlich zu beräumen. Melden Sie sich morgen früh um PUNKT 4.15 UHR bei ihrer
Stadtverwaltung. Seien Sie pünktlich und bringen Sie ihre Sozialversicherungskarte mit. Kosten für
Anfahrt und Verpflegung aller Beteiligten werden NICHT übernommen. Wir danken Ihnen schon jetzt
für Ihr großzügiges Verständnis. Damit auch andere von den geschlossenen Arenen in Kenntnis
gesetzt werden können, bringen Sie diese Notiz bitte deutlich sichtbar in den dafür vorgesehenen
Infokästen an. Befestigen Sie diese Zettel NICHT widerrechtlich an Stadteigentum, etwa an
Laternenmasten. Das ist verboten und kann mit einer Freiheitsstrafe von bis zu zwei Jahren geahndet
werden. Wir, die Stadtverwaltung, pflegen nicht zu scherzen.
An die Trainer und Passanten ergeht zudem noch folgende Bemerkung: Die Gefahr von
Personenschäden durch Rüpli besteht derzeit nicht, kann aber entsprechend Meinung unseres
Gutachters noch entstehen. Akut gefährdet ist das Azuria-Kap. Es besteht Zutrittsverbot. Wir raten
Ihnen Ihre Reise abzubrechen. Die Arenen werden SO SCHNELL NICHT WIEDER freigegeben. Die
Pokémon-Center stellen Kapazitäten bereit, die Sie gern benutzen können, da wir hierfür nicht
zuständig sind. Die Stadtverwaltung und überhaupt auch alle anderen Ämter übernehmen keine
Haftung für entstehende Schäden durch Missachtung dieses Hinweises und haben auch gar keine
Lust auf ihre Einwände. Beachten Sie auch, dass wir weder für Fragen noch für Beschwerden zur
Verfügung stehen. Lassen Sie es bleiben, belästigen Sie uns nicht. Rufen Sie uns auch nicht an.
Mit unfreundlichen Grüßen,
verachtungsvoll
Stadtverwaltung und Ministerium
PS: Denken Sie gar nicht daran, sich zu beschweren.
– 24 –
Das konnte doch nicht sein. Kein Arenaleiterkampf, nicht hier, nicht in Marmoria City, nicht in den
anderen Städten? Orange konnte es nicht fassen. Aber aufgeben wollte er nicht. Ein letzter Funken
Optimismus bäumte sich in ihm auf: Er klingelte noch einmal an der Arena. Wie schon zuvor dauerte
es eine ganze Weile, bis eine Stimme – die gleiche wie vorhin – ertönte.
„Wer ist jetzt schon wieder da?“, bellte die Stimme erbost aus dem Lautsprecher.
„Äh, ich noch einmal –“, Orange gab sich Mühe nicht zu frustriert zu klingen, „ich wollte nur fragen,
ob nicht vielleicht eine Ausnahme möglich wäre. Ich habe mich bis hier durchgeschlagen –“
„Nein!“, dröhnte es aus der Sprechanlage, „weißt du wie viele Leute hier vorbeikommen und
das fragen? Du bist heute schon der zweite. Ich kann es nicht mehr hören. Nun will ich dir mal was
sagen: Die Ablauffrist für Kämpfe war gestern um 23:59 Uhr. So, und danach können wir für jeden
Kampf mit 10.000 Pokédollar belangt werden. Das ist das eine. Und dann weißt du ganz genau, dass
ich mir gerade Locken eindrehe. Ich muss jetzt zum Hilfseinsatz und wenn ich im Geröll rumwühle,
will ich auch schick sein. So. Ruhe.“
Und wieder hatte sie aufgelegt.
Die Arena war also seit genau diesem Tag verschlossen. Orange wurde schwindelig vor Frustration.
Aller Optimismus verschwand mit einem Mal. Es lief alles schief. Er hatte gegen die Arenaleiterin in
Vertania City verloren. Das war ja noch okay, die Arenaleiterin war ja auch sehr stark.
Dann hatten die Rüpli ihn zum Silberberg verschleppt. Es war gefährlich, aber er hatte es geschafft,
der Situation zu entrinnen. Er wollte endlich anfangen, ein Trainer zu sein. Doch auch hier erwartete
ihn nur Frustration. Und bis in absehbarer Zeit würde er in keine Arena in der Nähe mehr
reinkommen. Und alle anderen Arenen waren viel zu weit weg und die Trainer dort viel zu stark.
Orange taumelte langsam nach vorn.
Völlig beklommen stolperte er langsam in Richtung des Pokémon-Centers der Stadt, wo er
sich ausruhen und nachdenken wollte. Die Pokémon-Center waren immer warm und die Schwester
Joys immer freundlich, zumindest hatte Orange noch nie eine unfreundliche Schwester Joy gesehen.
Er war bislang allerdings nur einmal im Pokémon-Center gewesen, nämlich in Vertania City. Zuvor
hatte er noch nie eines von innen gesehen. In Alabastia gab es so einen urbanen Kram nämlich nicht.
In den Pokémon-Centern sämtlicher Städte waren die Wände in einem hellen Rübenrot gestrichen
und strahlten eine wohlige Wärme aus. Oranges schwerer und deprimierter Schritt brachte ihn nur
langsam zum Pokémon-Center. Es dauerte eine geraume Zeit, bis er endlich angelangt war. Dort
angekommen, setzte er sich auf den ersten Stuhl, den er sah. Er beobachtete, wie die sonst so
angenehme Ruhe des Pokémoncenters heute durch aufgebrachte Trainer gestört wurde, die ständig
in das Pokémon-Center hereingewuselt kamen und sich lautstark beschwerten. Sie waren sicher in
einer ähnlichen Situation wie Orange, doch im Gegensatz zu ihm, schienen die meisten schon ein
oder zwei Orden zu haben und auch länger unterwegs zu sein. Viele ihrer Pokémon hatten sich schon
entwickelt und sahen deutlich trainierter aus, als seine Pokémon. Orange kam sich fremd vor, so als
gehörte er hier noch nicht hin. Er war überhaupt noch kein Trainer, er fühlte sich vielmehr wie ein
Tourist, der ziellos durch das Land reiste. Vielleicht sah er auch wie einer aus, denn die anderen
Trainer schienen ihn gar nicht zu beachten. Vermutlich lag das aber daran, dass sie einfach zu sehr
mit sich selbst beschäftigt waren.
Viele von ihnen hatten die Arena von Azuria schon hinter sich gelassen und wollten nun ans Kap,
andere wollten wie Orange erst noch ihren Orden hier gewinnen. Beide Gruppen waren offenbar mit
– 25 –
unfreundlichem Stadtpersonal konfrontiert worden. Sie alle saßen nun im Pokémon-Center und
überlegten sich, was sie nun tun sollten. Einige Trainer entschieden sich dafür, die Absperrung zu
umgehen. Einige wollten das Wachpersonal bestechen, andere wollten sich auf die andere Seite der
Absperrung durchgraben und wiederrum andere versuchten sich, als laufende Büsche getarnt, an
den Sicherheitsbeamten vorbeizuschmuggeln. Orange gehörte nicht zu dieser draufgängerischen Art
von Trainern. Statt kühne Pläne zu schmieden, schwieg er momentan einfach und dachte leise,
traurige Gedanken. Was nun?
Sollte er nach Alabastia zurückkehren? Dann würde er seiner Familie sagen müssen, dass er nicht
einmal einen einzigen Orden errungen hatte. Vor ihm eröffnete sich schon ein Bild seiner
enttäuschten Familie, die versuchen würde, ihm aufmunternd auf die Schulter zu klopfen. Man
müsse ja auch kein Trainer sein, nein, man kann auch so was erreichen. Aber all das würde Orange
nur noch viel mehr deprimieren. Eigentlich konnte man doch nur einmal als Trainer aufbrechen – von
Leuten, die zweimal aufgebrochen waren, hatte Orange jedenfalls noch nichts gehört. Aber Orange
wollte ein Trainer sein und er hatte auf seiner kurzen Reise auch schon einiges erlebt: Mehr als
einmal war er einmal in unheimliche, gefährliche Situationen geraten, aus denen er es geschafft
hatte. Er war sogar am Silberberg gewesen. Es hieß doch, nur Helden kommen an den Silberberg. Er
konnte nicht einfach aufgeben. Aber welche Alternativen gab es?
Er könnte ja auch einfach weiterreisen. Aber auch in Orania City und in den nächsten Städten waren
die Arenen geschlossen. Außerdem war Orange bewusst, dass er dort überhaupt keine Chance hatte.
Schon die Trainer, die hierhergekommen waren, schienen ihm meilenweit voraus. Einige der
Pokémon hier hatten sich sogar schon entwickelt. Orange hätte auch geduldig trainieren können –
aber dazu hatte er kaum noch Motivation, angesichts der aussichtlosen Situation fühlte er sich auch
gar nicht mehr in der Lage dazu.
Natürlich konnte er auch einfach hier bleiben und im Pokémon-Center schlafen und warten. Die
Standards waren mit einer Zwei-Sterne-Pension zu vergleichen. Schwester Joy wischte die kleinen
Räume, die mehr Kammern als Zimmer waren, ab und zu notdürftig durch. Das war im Grunde egal,
das war irgendwie rustikal. Doch er wusste auch nicht, wie lange er bleiben durfte. Trainer sollten
eigentlich immer nur für ein paar Tage kostenlos im Pokémon-Center übernachten. Aber weil es hier
keine Kurtaxe gab, waren die Hotels und Pensionen nicht ganz so teuer wie in anderen Orten der
Region. Azuria City war kein anerkannter Kurort, obwohl der Stadtrat immer wieder Anträge an das
Ministerium für Entspannung gestellt hatte, doch nie war eine Antwort zurückgekommen.
Siedend heiß fiel Orange plötzlich ein, dass er selbst eigentlich gar kein Geld mehr hatte. Das
schränkte seine Möglichkeiten enorm ein. Mittlerweile war es ihm fast schon egal, ob er hier bleiben
würde oder zurück nach Hause gehen würde. Er tendierte eigentlich schon dazu, nach Hause zu
fahren. Dort war es ruhig und warm und vor allem waren dort keine Rüpli. Inzwischen machte sich in
ihm eine deutlich spürbare Wut auf sie breit. Ihretwegen war er von seiner Reiseroute abgekommen
und ihretwegen war die Arena hier zu.
Oranges Arme waren schwer. Er wollte nicht mehr trainieren. Er scheute sich aber auch, nach Hause
zurückzukehren. Er hatte versagt, das sagte ihm eine Stimme in seinem Kopf. Nicht gegen einen
einzigen Trainer hatte er gewonnen (er hatte ja auch nur einmal gekämpft) und Pokémon hatte er
auch kaum gefangen. Und er hatte kein Geld mehr. Orange saß er eine ganze Zeit bedrückt da und
überlegte, was er tun sollte.
– 26 –
„Darf es was zu trinken sein?“
Eine Stimme riss Orange aus seinem Tagtraum. Trunken von seiner Enttäuschung war er fast
eingedöst. Es war Schwester Joy, die ihn angesprochen hatte. Sie lächelte ihm freundlich zu.
„Hm – vielleicht etwas Tomatensaft“, sagte Orange. Komischerweise bekamen die Leute im
Pokémon-Center immer Appetit auf Tomatensaft.
„Okay, kann ich dir sonst vielleicht noch helfen?“, fragte Joy.
In der Tat konnte Orange Hilfe gebrauchen. Er hatte seinen Entschluss gefasst: Er würde nach
Alabastia zurückreisen. Doch dafür brauchte er Geld.
„Können Sie mir einen Job vermitteln?“
„Aber natürlich, komm doch mit.“
Sie gingen durch eine Tür in einen großen Korridor. Orange wusste gar nicht, dass das PokémonCenter so groß war. Überall standen Pflanzen rum. Sie waren zwar etwas staubig, schienen aber gut
gegossen. Endlich erreichten sie ein Zimmer.
„So“, sagte Schwester Joy, „das hier ist das Jobvermittlungszimmer“
Orange blickte sich um. Hier saßen noch zwei weitere Leute.
„Bitte ziehe eine Nummer – oh, du hast Nummer 2 erwischt. Hm, die ist jetzt dran. Schade für euch
Anderen!“
Joy setzte ein mysteriöses Lächeln auf und blickte auf die beiden noch Dasitzenden, die hier wohl
schon recht lange warteten und einen kratzigen Dreitagebart entwickelt hatten. Überhaupt machten
sie einen ziemlich verwahrlosten Eindruck.
Es stellte sich jedoch heraus, dass Joy ziemlich kompetent war, weil sie eine teure Weiterbildung für
die Nebentätigkeit als Jobvermittlerin belegt hatte. Eine Urkunde an der Wand zeugte davon. Sie
vermittelte ihm tatsächlich einen Job, indem sie Orange Prospekt in die Hand drückte. Darauf stand
die Adresse eines Doktor Frank Drewechs, der Tagesjobs anbot.
Wir führen die Seife zum Erfolg!
Reinigung und Technischer Service Orania
Kanalreinigung, Straßenputzen, Mülltonnen entleeren usw.
Vorsitz und ausführender Manager:
Dr. Dr. Frank Drewech
Privat:
Gurkensalatallee 27, Orania City.
E-Mail:
[email protected]
Tel.:
0190 –232327 (0,50€/Min aus dem DTAG-Netz, mobil viel höher!)
Klingeln Sie im Tunnelpfad am Klingelschild, wo Drewech draufsteht. Und waschen Sie sich erstmal.
Dann kriegen Sie auch einen Job. Vielleicht.
Eine dreckige Kehrschaufel im Hintergrund zierte das Prospekt.
Weil in seinem polizeilichen Führungszeugnis keine negativen Vermerke waren, konnte Orange
vielleicht schon morgen anfangen, wenn er sich beeilen würde. Und das würde er. Er brach gleich am
frühen Morgen auf.
– 27 –
Bis zum Tunnelpfad war es nicht sehr weit. Ein lustiger Lageplan, der auf der Visitenkarte abgebildet
war, behauptete dies zumindest. Kurz hinter der Stadtgrenze von Azuria konnte man demzufolge in
einen großen Tunnel gelangen. Dort durften die Fußgänger in drei Spuren laufen und einander so
gegenseitig überholen. Neben dem Kap war dies eine der wenigen Touristenattraktionen Azuria
Citys.
Die nächste Touristenattraktion, die Gurkensalatallee, befand sich gleich daneben. Statt Blumen
hatte man hier Gurken, Zucchini und Pfefferpflanzen auf der einen Seite und Disteln, Bärlauch, Raps
und Sesam auf der anderen Seite eingepflanzt. Ein großer Bürgersteig verband die beiden Seiten der
Allee. Orange wusste jedoch nicht, warum gerade diese Pflanzen hier standen, wirklich dekorativ
fand er sie nicht. Ohne weiter darüber nachzudenken betrat er den Tunnelpfad.
Irgendwo im Tunnelpfad sollte der Doktor wohnen. Angeblich befand sich, wie Schwester Joy
ihm gesagt hatte, mitten in der Wand eine unscheinbare Tür. Wie die Visitenkarte bemerkte, sollte es
jedoch auch ein Klingelschild geben. Nach einigem Suchen fand Orange es. Es war leider ziemlich
hässlich. Orange machte sich nichts draus und klingelte bei Dr. Dr. Drewech.
Es knackte laut in der Sprechanlage. Eine kurze Zeit passierte nichts. Plötzlich begann es zu
krachen und knallen. Dann schien eine Art großer Riegel einzurasten. Nach einigen Sekunden der
Stille schließlich, ertönte eine laute und ruppige Stimme am anderen Ende:
„So ein Quatsch. Diese dämlichen Sprechanlagen machen mich noch irre. Hör zu, ich werde dich noch
reklamieren. Dann stehst du wieder im Praktiker, dann kannst du sehen, wo du bleibst. Du bist
reduziert und keiner wird dich kaufen. Und ich bestimmt auch nicht! Ich würde mir nicht erlauben,
hier noch einmal zu knacken!“
Der Mann schien sich sehr wütend über seine Sprechanlage aufzuregen. Er betonte jede zweite Silbe.
Sein Sprechrhytmus war verwirrend.
„Äh, hallo?“, sprach Orange fragend in die Anlage hinein.
Wieder begann es zu ächzen.
„Was? Ist da etwa irgendeiner dran?“, fragte es von der anderen Seite grob.
„Ja, hallo“, antwortete Orange, der froh war, endlich bemerkt zu werden.
„Also mit ‚Hallo‘ brauchst du mir schonmal gar nicht zu kommen, das heißt immer noch ‚Guten Tag!‘
– ich bin nicht dein Kindergarten und auch nicht die Zahnfee. Was willst du?“
„Eigentlich hätte ich gern nur einen Job“, antwortete Orange, der sich mittlerweile von forschen
Ansagen auch nicht mehr allzu sehr verängstigen ließ. Das hatte er auf seiner kurzen Trainerreise
gelernt.
Dann knackte es wieder. Offenbar hatte der Mann einfach aufgelegt. Orange würde einfach die Tür
belagern.
Er hatte sie nur wenige Sekunden belagert, da ging sie schon auf. Offenbar war der Mann gleich
heruntergeeilt. Er schien Orange etwas seltsam.
„Spar dir die Worte“, rief er, „Du brauchst Geld, das seh ich gleich. Du bist schlecht angezogen, dein
Rucksack ist abgewrackt, du hast überhaupt nicht die richtigen Arbeitsklamotten. Aber das ist mir
doch egal. Hauptsache, deine Moral ist gut und wenn nicht, dann werden wir die schon
hinbekommen. Für wie lang soll‘s denn sein?“
„Bis ich mir die Fähre nach Alabastia leisten kann“, antwortete Orange.
„So kurz?“
„Ja.“
– 28 –
Anscheinend war es eine rhetorische Frage gewesen, denn eine Antwort war unerwünscht. „RUHE!“,
schrie Dr. Drewech, „ich stelle mich dir nun vor. Konzentriere dich! Ich bin Doktor Doktor Drewech
und habe ZWEIMAL in Militärwissenschaften promoviert! Heute werden wir im Innenbereich
operieren! Hast du das verstanden?“
„Ja, hab ich!“, antwortete Orange, der nun erheitert von der schroffen Art des Doktors war.
„Ich habe ein Arbeitsangebot für dich. Schrauben EISKALT sortieren! Du musst Zylinderschrauben mit
Innensechskant; Sechskantschrauben, Sechskant-HV-Schrauben für Stahlbaukonstruktionen;
Gewindestifte mit Innensechskant und Kegelkuppe; Gewindestifte mit Innensechskant und Zapfen;
Gewinde-Schneidschrauben und Flachrundschrauben sortieren? Du musst sie alle in verschiedene
Behälter legen, damit mal Ordnung reinkommt! Denkst du, dass du das kannst?“
„Ähm … ehrlich gesagt, nein“, gab Orange zu, „haben Sie nicht nochwas Einfacheres?“
„Hm, noch einfacher?“, fragte Dr. Dr. Drewech, der sich anscheinend kurzzeitig gefasst hatte. „Hör
zu, das sind doch schon alles Hilfsarbeiten für unqualifizierte Tagelöhner, aber lass mich überlegen –
ja! Ich habe noch was Einfacheres! Macht dir sicher viel Spaß. Das Geld hättest du dann in wenigen
Stunden zusammen. Klingt zünftig, NICHT WAHR?“
„Kann schon sein“, antwortete Orange, der ja noch nicht mal wusste, worum es sich beim zweiten
Angebot handelte. Aber der Doktor ließ ihn nicht lange im Unklaren.
„Dann geht es jetzt los! Das –“, sagte Dr. Drewech und reichte Orange einen Besen, „ist ein BESEN!
Damit werden wir nun diesen Exerzierplatz kehren!“
„Ist das nicht eigentlich ein Tunnelpfad“, wandte Orange ein, „und kein Exerzierplatz?“
Der Doktor überging ihn einfach. Er nahm eine Wasserwaage und schien irgendetwas auszumessen,
obwohl es augenscheinlich keinen Anlass dafür gab. Alles war hier unten gerade.
„Weißt du“, sagte er plötzlich verträumt und leise, „ich wollte eigentlich Ingenieur werden, eigentlich
bin ich immer Ingenieur gewesen. Hach, dieser Tunnelpfad, er ist ein Kunstwerk. Er wurde vor vielen
Jahren gebaut.“
Er seufzte laut und schwieg dann.
Obwohl das Kehren einseitig und anstrengend war, fand Orange auf irgendeine Weise Gefallen dran.
Es lenkte ihn jedenfalls von seiner unmöglichen Situation ab. Außerdem fand er viele Items und Dr.
Dr. Drewech gestatte ihm, sie alle zu behalten. Darunter waren leere Bierdosen, einmal Superschutz,
Pokéballsticker, Amrenabeeren, einen goldenen Kugelschreiber von der Kreissparkasse und eine
Zeitung von gestern. Es war die KantINE – „Kantos Illustrierte mit Neuigkeiten und Extras“ – das
Boulevardblatt der Region. Orange schaute sich das Titelblatt an. Es zeigte wie immer eine
skandalträchtige Geschichte: „PF und PE: Fusionieren sie jetzt etwa?“ Orange hätte diese Frage auch
gern beantwortet gewusst, aber ihm blieb nicht die Zeit zum Lesen.
Er kehrte den halben Tag lang, sodass ihm am Abend die Finger weh taten. Später verkaufte die
meisten der gefundenen Items, er behielt nur die alte KantINE (die noch sehr gut zum Broteinwickeln
war) und den Kreissparkassen-Kugelschreiber.
Der Doktor stand daneben und kontrollierte die Arbeit, rief immer mal wütend dazwischen und
schwärmte von seiner Zeit als Ingenieur, in der er selbst eine Vielzahl verschiedener Dinge entwickelt
hatte. Erst gegen Abend war Orange mit allen Arbeiten fertig und bekam sein Geld. Noch ehe er sich
von Dr. Drewech verabschieden konnte, war dieser bereits verschwunden.
————————
– 29 –
Orange, der indes ziemlich geschafft war, machte sich nun trotzdem noch auf den Weg nach Orania
City. Es waren nur noch wenige hundert Meter von hier und so dauerte es nicht lang, bis er Orania
erreichte.
Die Stadt besaß ein romantisches Flair, überall orangefarbene Ziegeldächer und Häuser aus dickem
Holz und an jeder Ecke Blumenkästen. Auf diese Weise schien die doch recht große Stadt
kleinbürgerlich und fast etwas dörflich. Die untergehende Sonne tauchte sie in ein tiefes Gold.
Und die Stadt war so unglaublich sauber. Alle Bürgersteige waren poliert und es roch nach
frisch geteertem Asphalt. Die Gullideckel klebten feinsäuberlich über der Kanalisation und kein
einziger ausgespuckter Kaugummi war zu sehen. Am Ende der Straße saßen drei dicke Männer und
schrubbten Graffitis von Wänden. An allen Ecken sah man frisch geputzte Fenster, in denen sich
Oranges trauriges Gesicht widerspiegelte. Mittlerweile war seine unglückliche Stimmung wieder
zurückgekehrt, die er während der Arbeit schon fast verdrängt hatte. Immer wieder ging ihm durch
den Kopf, dass er versagt hätte. Er ging geradewegs zum Hafen, setzte sich auf eine Bank und ging
seine Reise gedanklich noch ein weiteres Mal durch. Die vielen Niederlagen, die er einstecken
musste …
Er wäre am liebsten einfach sitzengeblieben auf der Bank. Egal, wie lange. Es war ihm zum Heulen
zumute. Und es fehlte nicht viel dazu. In sich versackt saß Orange eine ganze Weile so da.
Nach einigen Minuten setzte sich ein älterer Mann neben ihn. Er hatte fast eine Glatze. Sie war frisch
poliert, glänzte aber nicht ganz so, wie alles andere in Orania City. Deshalb konnte man davon
ausgehen, dass er nicht von hier war. Er roch auch etwas wässrig, aber auch ein bisschen provinziell.
Und nach einem Fahrradladen. Den einzigen Fahrradladen der Region gab es in Azuria City. Also
konnte man sich sicher sein, dass dieser Mann von dort kam, allerdings nur, wenn man eine
außerordentlich scharfe Wahrnehmung gehabt hätte. Orange hingegen bemerkte dies alles nicht. Er
sah den Mann nicht einmal, weil er völlig in sich und seine missglückte Reise versunken war.
Der ältere Herr saß erst eine ganze Weile so da. Nur am Rand seines Kopfes sprossen einige
mattgraue Haare. Dies verhinderte, dass er ein Glatzkopf war. Er wäre auch ungern einer gewesen.
Schließlich holte er eine Zeitung aus seiner Tasche und schlug sie auf. Schweigend las er eine Weile
darin und runzelte einige Male die Stirn. Etwas später schlug er sie zu und blickte ins Leere, bis er
Orange ansprach, welcher leicht zusammenzuckte:
„Hallo, Junge. Du siehst so bedrückt aus. Vielleicht kann ich dich aufmuntern.
Außerdem habe ich Langeweile, da ich auf mein Schiff warte. Lass uns ein wenig reden – bist du ein
Trainer?“
Orange empfand diese spontane Ansprache als recht ungewöhnlich, so würde er nicht auf jemanden
zugehen. Schon gar nicht in seiner Situation. Aber vielleicht würde ihn ein Gespräch aber auf andere
Gedanken bringen: „Ich denke schon“, antwortete er, unsicher, ob er sich noch als Trainer
bezeichnen sollte und ob er überhaupt jemals ein richtiger Trainer gewesen war.
„Ich rede gerne mit Trainern, da kann man immer Neues erfahren, gerade was meinen Beruf angeht
Ah ja … Mein Name ist Heinz-Eberhard Grozing, aber man nennt mich schlicht den Pensionsleiter. Das
liegt daran, dass ich auch Pensionsleiter von Azuria City bin.“
„ Ich heiße Orange“, erwiderte Orange. Von der Azuriapension hatte er schon gehört. Es war ein
kleiner Familienbetrieb, in dem Trainer ihre Pokémon vorübergehend zur Aufzucht geben lassen
konnten.
„Das ist ein hübscher Name, hat irgendwas Buntes!“, antwortete schließlich der Pensionsleiter. Er
pausierte, ehe er fortfuhr: „Nun ja, ich warte hier grade auf mein Schiff.“
– 30 –
„Wohin soll es denn gehen?“, fragte Orange. Er war eigentlich ganz froh, dass jemand mit ihm redete
und er nicht die ganze Zeit vor sich hin grübeln musste.
„Na ja, ich möchte nach Eiland Vier verreisen, zu meinem Cousin. Wie lange, das weiß ich noch nicht.
Hoffentlich nicht so lange. Eigentlich will ich meine Pension nicht so lange alleine lassen. Hm, mal
sehen … Trainer sind ja so geschäftige Menschen! Ich kenne einen, der wollte vor Jahren aus
Kandiszucker Sonderbonbons herstellen, ist aber nicht gelungen. Tust du das auch? Erzähl mir doch,
was du hier machst.“
Unglücklich berichtete Orange von dem, was ihm passiert war. Er verkürzte die Geschichte ziemlich,
weil er nicht alles noch einmal gedanklich durchgehen wollte. Es hatte ihn genug frustriert. Eigentlich
sagte er nur, dass er auf dem Weg nach Hause war, wegen den Rüpli. Mehr wollte er nicht erzählen.
„Oh ja, die Rüpli.“, sagte der Pensionsleiter schließlich und runzelte erneut die Stirn.
„Also, wenn du mal Pokémon aufziehen willst, es müssen ja nicht unbedingt Rüpli sein“, er lachte
zaghaft, „dann kannst du gerne zu mir kommen. Allerdings nicht jetzt, wenn ich auf Eiland Vier bin.
Ah … mein Schiff kommt. Na ja, hier hast du ein paar Visitenkarten von mir und einen Lolly.“
Er drückte Orange einen Dauerlutscher und einen dicken Stapel Visitenkarten in die Hand, auf dem
seine Adresse stand. Vorsorglich, weil der Pensionsleiter ja jetzt auf nicht auf Arbeit war, hatte
jemand auf alle Karten unsanft „GESCHLOSSEN!!“ hingekritzelt.
„Schade!“, rief der Pensionsleiter, „ich hätte mich gern noch länger unterhalten! Na ja, ich hab’s ein
bisschen eilig, will nicht noch länger hier rumdumpern.“
Er sprang ohne weiter zu zögern auf und hastete zu der Landungsbrücke. Orange sah dem
Pensionsleiter niedergeschlagen zu, wie er auf das Schiff eilte. Mit einem tiefen Signalton
verabschiedete es sich und trat die Reise nach Eiland Vier an.
Währenddessen saß Orange noch immer auf der Bank am Hafen von Orania City und beobachtete die
langsam untergehende Sonne. Er würde die letzte Nacht seiner Reise im Pokémoncenter verbringen.
– 31 –
Kapitel fünf: An Bord
D
as nächste Schiff nach Alabastia fuhr gleich am frühen Morgen los. Orange saß auf
derselben Bank wie schon bei der Begegnung mit dem Pensionsleiter und wartete. Er
beobachtete wie große Frachtschiffe und luxuriöse Dampfer Passagiere oder Waren
aufnahmen, vom Bootssteg ablegten und sich langsam entfernten und auf dem schimmernden Meer
immer kleiner wurden, bis man sie schließlich nicht mehr sehen konnte. Weitere Schiffe trafen ein,
einige aus fernen Gegenden, nur um erneut Passagiere und Fracht aufzunehmen. Aus manchen
wurden große Kisten und Container herausgeholt. Einige davon wurden in Warenlager gebracht,
andere neu verladen. Es dauerte nicht lange, bis auch das Schiff nach Alabastia am Hafen ankam: Es
war ein kleiner, etwas schäbiger Küstendampfer, nicht sehr hoch, aber recht lang. Maximal
fünfundzwanzig winzig kleine Kabinen würden wohl hineinpassen.
Orange kaufte sich eine Fahrkarte und ging an Bord. Er hatte keine Lust, sich in eine enge Kabine zu
quetschen. Deswegen blieb er auf dem Deck und setzte sich auf einen Plastikstuhl, der sich in einer
Sitzgruppe nebst Plastiktisch befand. Da die Stuhlbeine nicht gleich hoch waren, wippte der Stuhl mit
jeder Bewegung. Zügig und ohne große Verzögerung trafen weitere Gäste ein. Orange sah wippend
zu, wie das Schiff dann langsam ablegte. Laut dröhnend verließ es den Hafen. Auch Orange schien
damit seine Reise hinter sich zu lassen. Hier an Deck war es gemütlich. Eine frische Brise wehte
Orange um die Nase. Die Wellen hoben sich langsam, bildeten schaumige Kämme und rollten
spritzend gegen das Schiff. Orange sah ihnen zu, wie sie rhythmisch wieder und wieder gegen das
Schiff schlugen. Unsanft wurde er aus seinem Tagtraum gerissen, als kurz nach Beginn der Fahrt die
Lausprecherdurchsage einer sonoren Stimme durch das gesamte Schiff dröhnte:
„Liebe Gäste! Ich möchte fast sagen, ich freue mich Sie hier begrüßen zu dürfen.“
Eine erwartungsvolle Pause entstand, bevor die Stimme weiterredete.
„Ich bin Kapitän Kantig und möchte Ihnen hier etwas mitteilen. Damit ich zufrieden bleibe,
hören Sie nun erstmal ein paar Infos, Verhaltenshinweis und Verbrauchertipps. Ich bitte Sie um Ihre
Aufmerksamkeit. Hören Sie zu und passen Sie auf. Die Regeln folgen jetzt. Ich wiederhole: Die Regeln
folgen jetzt. Dies ist wichtig. Wenn Sie mir nicht zuhören, wird Ihnen keine Versicherung im
Schadensfalle irgend auch nur einen Pokédollar zahlen, zum Beispiel, wenn Ihre hässliche gefälschte
Rolex ins Wasser fällt! Also! Bitte stellen Sie Ihre Kinder still, packen Sie Ihre Haustiere in die Tasche,
legen Sie Ihre Sudokus weg und hören Sie die nachfolgenden Regeln. Dann fang ich jetzt also an, ja?
So, also: Rote Beete ist an Bord verboten, dagegen bin ich im Dunstkreis von zweihundert Metern
allergisch, ansonsten können Sie essen, was Sie wollen. Ich hab hier auch eine überteuerte Bar, wenn
Sie möchten, können Sie dort Longdrinks kaufen oder Smoothies, die unglaublich smooth sind. Ich
spreche da nicht aus eigener Erfahrung, habe mir das aber sagen lassen.
Dann noch … Lehnen Sie sich nicht gegen die Reling und betreten Sie bitte nicht die Kabinen der
Anderen. Da wir ein sehr billiger Kutter sind, gibt es keine Schlüssel. Darum folgender Hinweis: Es ist
eine Unsitte, wenn Trainer auf Passagierschiffen Pokémonkämpfe durchführen. Also lassen Sie das
sein! Putzen Sie sich Ihre Schuhe ab, wenn Sie von draußen kommen. Fußabstreicher finden Sie
selbstverständlich an Bord, gegen ein kleines Pfand können Sie auch welche vor Ihre Kabine legen.
Wenn frisch gewischt ist, bitte vorsichtig sein. Unsere Putzkolonne stellt dann Schilder auf, die sie auf
die Tatsache des frischen Wischens hinweisen wollen. Für Analphabeten, dazu zähle ich auch Ihre
Kinder, sind lustige Piktogramme abgebildet. Weiterhin – mit dem Kapitän während der Fahrt nicht
– 32 –
sprechen, es sei denn, ich spreche Sie an und wünsche explizit eine Antwort. Fahrräder und Dreiräder
gegen Kaution an Bord, bitte nur an Deck benutzen und nicht, wenn gewischt ist. Fernseher sind an
Bord, Fernbedienungen gibt es nicht, die werden immer so fettig, weil alle Chips essen. Das können
Sie ja machen, sofern es keine Chips mit roter Beete sind, aber die Fernbedienungen, da hab ich
schlechte Erfahrungen mit. Fernseher kann man ja auch anders bedienen. Bezüglich Mülltrennung:
Die Sachen mit dem grünen Punkt bitte in die gelbe Tonne ...“
Orange gähnte. Der Stuhl, auf dem er saß, wippte schaukelnd nach vorn. Nach einer Sekunde wippte
er wieder zurück.
„Flaschen wieder mitnehmen, wir haben hier keine Container, weder für Braunglas, noch für
Grünglas, noch für Weißglas. Die können wir uns nicht leisten, aber wir versuchen grade, zu
expandieren. Ja? Bioabfall wie gewohnt auf den Schiffskomposthaufen entsorgen. Müllträger bieten
Ihnen gegen ein paar Pokédollar an, Ihren Biomüll zum Kompost zu tragen. Restmüll bitte in die
Restmülltonnen, keine heiße Asche einfüllen.“
Orange gähnte erneut. Sein Stuhl wippte dieses Mal nicht.
„Pfandflaschen können Sie auch gerne hierlassen, wir freuen uns immer über etwas Trinkgeld. Nun
zur Route, wie Sie sicher wissen, sind wir in Orania City gestartet, Brücke fünf. Wetter ist mild, Luft ist
salzig, aus Richtung Südsüdwest. Wir kommen vorbei an der Bucht bei Prismania, die Skyline können
Sie dann vielleicht sehen. Tatsächlich sieht man zum Beispiel das riesige Einkaufszentrum, in dem Sie
viele Dinge kaufen können, wenn Sie mal wieder dort sind. In der Drogerie zum Beispiel, oder
vielleicht mal eine Erfrischung auf dem Dachgarten? Wär das was? Tut mir ja leid, wenn ich Sie damit
nerve, aber ich kriege Provision dafür. Eigentlich können Sie diesen Teil des Kapitels dieser Fanfiction
auch überspringen, wenn es Ihnen nicht gefällt! – Wo war ich? Ach ja!“
Neben Orange setzte sich ein Mann, der desinteressiert eine Zeitung aufschlug und gähnte. Auch sein
Stuhl schien zu wippen. Offenbar wippten hier alle Stühle.
„Wir haben hier Fernglasautomaten, einmal gucken kostet einige Pokédollar. Lohnt sich aber bei
Prismania City. Empfehl ich Ihnen. An Bord befindet sich eine Tupperware-Verkäuferin, wenn Sie ihre
Tomaten frisch halten wollen. Das geht wirklich, ich hab‘s ausprobiert. Erstaunlich. Und … wo war
ich? Ah, in Prismania City! Da geht’s durch die Fahrradbrücke durch. Da kann man mit dem Fahrrad
drüberfahren, direkt nach Fuchsania City. Fahrräder gibt’s, wenn Sie wollen, in Azuria City, im
Fahrradladen. Unsere Bord-Fahrräder nur an Bord benutzen, haben Sie gehört? Und auch nicht,
wenn frisch gewischt ist, da machen Fahrräder keine Ausnahme. So, anschließend sind wir nahe dem
Dickichtwald, wo wir einige schwarzwaldhafte Dörfer sehen können. Sie sehen, die Route ist mit
Sehenswürdigkeiten gespickt. Pittoreske Orte, wo wir vorbei kommen. Gehen Sie also ruhig auf Deck,
ihre Kabinen sind nicht schön, nur meine Kajüte ist schön, aber da kommen sie nicht rein. Also
genießen Sie die Aussicht auf den Dickichtwald. Dann sind wir schon …“
Der Mann, der neben Orange saß, hustete verkrampft.
„... an der Alabaster-Halbinsel, wo Alabastia liegt, dort steigen dann alle aus, außer mir. Ich
ess dort ein paar Fritten. So, weitere Verbindungen zu den Seeschauminseln mit Schnellbooten,
– 33 –
Linie 3 mit mir – Rabatt, wenn Sie jetzt gleich bei mir kaufen. Zinnoberinsel mit einem Kollegen,
Schnellboot, Linie 5. Was wollt ich jetzt noch gleich? Warten Sie … Ah, ab jetzt können Sie die
nächsten Seemeilen wahrscheinliche kleine, unheimlich nüüdliche, kulleräugige, schnuckelige
Schwärme süßer Karpador …“
Eine Anzahl weiblicher Teenager stürzte plötzlich an Deck des Schiffes, ging in Richtung Reling und
kreischte verzückt. Weil sie alle so schnell von ihren Stühlen aufgestanden waren, ging ein Wippen
über das Deck.
„ … beobachten. Wir haben hier auch ein Karpador an Bord.“
Die Menge kreischte wieder.
„Mit dem Sie sich für läppische neunhundert-ääh-tausend Pokédollar fotografieren lassen können!“
Wieder ging ein Kreischen über das Deck. Der Mann neben Orange riss erbost ein Loch in seine
Zeitung. Er war neben Orange offenbar der einzige, der sich nicht für 900.000 Pokédollar mit einem
Karpador fotografieren lassen wollte.
„Und nun? Wollte ich noch was sagen? Ich erinnere Sie noch einmal an die Tupperware und
daran, den Müll zu trennen. Alles klar? Fein. Ich bin Kapitän Kantig, viel Spaß an Bord! Genießen Sie
die Fahrt, atmen Sie die Luft ein, betrachten Sie, wie die Wellen an das Schiff schlagen und stellen Sie
sich vor, wie die Tide den Sand in den Buchten umspült. Ich höre bei dieser Vorstellung immer den
Sand zwischen meinen Zähnen knirschen. Wenn Sie noch Fragen haben, wenden Sie sich an jemand
anderen und lassen Sie mich gefälligst in Ruh!“
Die Menge drängte sich an der Reling entlang um die Karpador zu sehen. Kreischend und klatschend
schauten sie in das Meer hinein. Weil er wenigstens irgendetwas tun wollte, suchte Orange sich eine
Lücke und beobachtete die Karpador. Sie schwammen teilnahmslos im Wasser, doch Orange bekam
den Eindruck, dass sie irgendwie total knuffig waren. Wirklich total knuffig.
„Duhuu, guck mal, das orangefarbene Dingsi im Wasser, is‘ das ein Schwimmärmel?“, hörte Orange
ein Kind seine Mutter fragen.
„Ja, kann sein“, antwortete sie, „ich frage mich, ob der CE-zertifiziert ist.“
„Du bist komisch.“, gluckste das Kind.
„Aber so eine Zertifizierung ist doch äußerst –“
Plötzlich sprang der Schwimmärmel in die Luft. Aber es war kein Schwimmärmel. Es war ein Rüpli.
„Nein“, dachte Orange, „das kann nicht sein. Ein Rüpli im Wasser?“
Doch dann schaute er noch einmal hin. Da war nicht nur ein Rüpli im Wasser. Tatsächlich
schwammen überall Rüpli, nach und nach wurden es immer mehr. Sie waren viel größer, als er es
gewohnt war. Die Rüpli, die er bislang gesehen hatte, waren etwa fünfundzwanzig Zentimeter lang
und hatten einen kleinen Durchmesser. Diese Rüpli aber sahen aufgebläht aus und waren fast einen
halben Meter lang und wahrscheinlich genauso dick.
Noch immer gleichermaßen teilnahmslos tauchten die Karpador durch die Rüpli hindurch.
Anscheinend störten sie sich nicht aneinander.
– 34 –
Orange, der noch immer von den Rüpli genug hatte, setzte sich bebend zurück auf den Plastikstuhl,
der daraufhin krachend umfiel. Orange, der davon erschrocken war, rappelte sich mühsam auf und
beobachtete schockiert die Situation:
Auf einmal schnellten etwa zwanzig übergroße Rüpli von beiden Seiten aus dem Wasser
hervor und sprangen auf das Schiff. Die Menschenmasse kreischte, dieses Mal jedoch nicht vor
Entzückung. Die Rüpli rannten wild über das Deck und sprangen zum Teil Menschen an. Sie
verhielten sich viel aggressiver als bei Oranges vorherigen Begegnungen. Ein Mann versuchte ein
festgebissenes Rüpli von seinem Rucksack zu entfernen. Er schrie laut und rannte fuchtelnd umher,
dabei hatte das Rüpli nicht ihn gebissen, sondern nur seinen Rucksack.
Nach einigen langen Sekunden der allgemeinen Panik ertönte die dröhnende Stimme vom
Kapitän erneut: „Hi, hier ist Kapitän Kantig. Ich wollte Ihnen mitteilen, dass Sie sich keine Sorgen
machen brauchen: Es geht mir gut! Was Sie angeht: Bleiben Sie ruhig, diese beißenden
Schwimmärmel sind Rüpli. Ich wiederhole: Rüpli. Sie sind für Sie sicher unangenehm aber
ungefährlich. Verlassen Sie nicht das Boot. Es gibt keine Rettungsringe an Bord.“
Die Durchsage minderte die Panik trotz Kantigs beruhigender Stimme nur ein wenig, sodass noch
immer Menschen quer über das Deck rannten, im Versuch, die Rüpli abzuschütteln. Ob sie gefährlich
waren, oder nicht: Orange wollte sie nicht mehr sehen und ging zügig in seine Kabine.
Auch in der Kabine konnte er noch die dumpfen Schreie der Passagiere an Bord hören. Ungeachtet
dessen schaute er sich das Zimmer an: Wie er erwartet hatte, war es winzig. Es gab ein Bett und
einen Nachttisch. Außerdem war da noch ein Fernseher und wie der Kapitän angekündigt hatte, gab
es dazu keine Fernbedienung. Orange wollte ihn einschalten und ging zu ihm, um ihn per Hand zu
bedienen. Plötzlich erschrak er.
Auf dem Fernseher saß ein Rüpli, das genau wie die anderen an Bord ziemlich groß war. Es blickte ihn
fragend an, mit demselben Blick, den Orange wahrgenommen hatte, als er Rübenstechen gewesen
war und sein erstes Rüpli herausgezogen hatte.
„Nein“, sagte Orange nun ärgerlich, „geh weg.“
„Rüpli?“, es sah ihn etwas traurig an. Eigentlich waren die Rüpli ja ganz niedlich, doch Orange
berührte das kein bisschen. Wobei. Ein bisschen berührte es ihn schon. Es war eigentlich ziemlich
niedlich. Eigentlich so sehr, dass Orange ihm gerne etwas Futter gegeben hätte. Was es wohl fraß?
Aber es war ein Rüpli! Orange durfte sich nicht einlullen lassen.
„Rüpli?“
Orange löste sich aus den Klammern dieses Blickes. „Nein“, sagte er, „ich erteile dir Hausverbot!
Verlasse mein Zimmer!“
Orange legte sich auf das Bett. Das Rüpli schien seine Aufforderung zu ignorieren und sah Orange
noch immer fragend an. Plötzlich sprang es vom Fernseher herunter und ging in seine Richtung. Es
ging zu seinem Rucksack und schnüffelte.
„Lass das.“
Auf einmal blähte es sich auf und griff Orange mit einem Bodyslam an. Das war tatsächlich ziemlich
schmerzhaft. Wütend nahm Orange den Pokéball und ließ Bisasam heraus. Als es merkte, dass es
kämpfen sollte, war es leicht zu überreden. Doch das Rüpli war stärker als Bisasam und während das
wilde Pokémon kaum etwas eingesteckt hatte, war Bisasam schon fast kampfunfähig. Verbissen
versuchte es durchzuhalten.
– 35 –
Orange fiel ein, dass Bisasam noch immer nur drei Attacken beherrschte: Tackle, Heuler und
Egelsamen. Es war maximal im achten Level. Dabei kam es ihm vor, als wäre er vor langer Zeit von zu
Hause aufgebrochen.
Bisasam stand nur noch wackelig auf seinen Beinen, weigerte sich jedoch, aufzugeben. Das
Rüpli rannte grade auf Bisasam zu, um einen Bodycheck einzusetzen, als es plötzlich stehen blieb.
Fragend blickte es in die Luft, machte kehrt und verließ Oranges Kabine. Würde es jetzt etwa
Verstärkung holen?
Orange wollte nichts mehr davon wissen. Obwohl es noch Vormittag war, war Orange müde.
„Bisasam, es ist weg“, Orange versuchte sich ein Lächeln abzuringen –
„Und wir fahren jetzt nach Hause.“ Bisasam nickte traurig, wohlwissend, dass sie gescheitert waren.
Orange ließ es zurück in den Ball und drehte sich um. Er schaffte es, einzuschlafen.
————————
„Hier ist Kapitän Kantig!“,
dröhnte es irgendwann wieder aus dem Lautsprecher. Orange schreckte hoch.
„Ich wiederhole, hier ist Kapitän Kantig, Kapitän Kantig. Ich muss Ihnen etwas Wichtiges mitteilen.
Die Rüpli haben unsere Kohlevorräte angefressen, mit denen wir unser Schiff antreiben. Das ist kein
Grund zur Panik, ich wiederhole, kein Grund zur Panik. Es ist nur so, dass wir grade auf dem Meer
stehen geblieben sind. Das bringt den ganzen Fahrplan durcheinander. Ein anderes Schiff könnte uns
rammen. Stellen Sie sich das mal vor! Aber keine Panik, meine Kajüte ist sicher! Wir versuchen im
Moment übrigens, eine Lösung zu finden. Wir haben hier einen Mechaniker an Bord, glaub ich.“
KLACK!
Orange zuckte ein weiteres Mal zusammen. Unmittelbar nach dieser Durchsage hatte jemand die
Tür aufgerissen. „Sind Sie der Mechaniker an Bord? Oh, Sie sind ja noch ein Kind.“ Die Tür wurde
wieder zugeschmettert. Orange hörte fern wie im Flur wieder eine Tür aufgerissen wurde und die
Frage Zimmer für Zimmer erneut ertönte. Immer leiser war es zu hören, anscheinend wurde jede Tür
aufgerissen, den ganzen Flur entlang in immer demselben gleichgültigen Ton:
„Sind Sie der Mechaniker an Bord? Oh, Sie sind ja eine Frau.“
„Sind Sie der Mechaniker an Bord? Oh, Sie sind ja Rentner.“
„Sind Sie der Mechaniker an Bord? Oh, Sie sehen ja aus wie ein Arbeitsloser.“
„Sind Sie der Mechaniker an Bord? Ach, Sie sind ja schwarz.“ – „Aber ich bin der Mechaniker. Denken
Sie, ich kann keiner sein? Sie haben wohl auch die Vorurteile mit ihrem Babybrei genascht. Ich habe
promoviert. Sehen Sie sich doch mal an, Sie Bleichgesicht. Was machen Sie denn den ganzen Tag
noch, als Leute fragen, ob sie Mechaniker sind. Und sowas wird auch noch bezahlt, tss. Leute wie Sie
gehen ins Solarium, damit Sie so aussehen wie ich! Und dann beleidigen Sie mich, nur, weil ich das
nicht nötig habe! Ich sorge hier dafür, dass die Quote erfüllt wird und Sie behandeln mich so abfällig,
Sie sind ja wohl mal völlig verzogen von ihren Kolonialisteneltern!“
Obwohl das Gespräch am Ende des Gangs stattfand, konnte Orange es laut und deutlich hören.
Schließlich hörte er Schritte, die durch den Gang hallten und lustige kleine afrikanische Glöckchen,
die parallel zu den Schritten klingelten.
– 36 –
Bald darauf sprangen die Lautsprecher wieder an. Orange war diesmal schon vorbereitet.
„Kantig am Apparat! Hier spricht Ihr Kapitän. Der Kapitän spricht hier. Mögen Sie das, wenn
ich das sage? ich weiß, ich klinge so unglaublich dynamisch. So, was wollt ich doch gleich … Ah! Wir
haben eine Lösung für das Rüpliproblem! Wir haben nämlich einen Mechaniker an Bord, der
Hybridautos baut. In seiner Tasche hat er etliche Bauteile, die er uns netterweise zur Verfügung stellt.
Das bringt ihm gleich eine nette Provision ein. Beziehungsweise darf er sich mit einem Karpador
fotografieren lassen, ohne 900.000 Pokédollar zu zahlen!“
Ein empörtes Kreischen, das durch die Wände durch zu hören war, ging über Bord.
„Ruhe!“, setzte Kapitän Kantig seine Rede energisch fort, „Der Mechaniker wird unserem Schiff eine
schickes zehn Meter hohes Windrad auf den Bug bauen, dass unseren Antrieb antreiben wird und
dazu noch eine Photovoltaik-Anlage, weil – er sagt, wenn eh schon die Sonne scheint, kann man die
ja auch nutzen, das machen die in Afrika auch so. Nun, okay, das wird schon. Also, keine Panik. Die
Rüpli sind übrigens wieder verschwunden. Einfach ins Wasser gesprungen. Viel Spaß also noch bei
der Überfahrt. Wenn Sie etwas durchgeschüttelt werden, fragen Sie meine Assistenten, die stellen
Ihnen bedarfsmäßig Spucktüten bereit. Wenn sie wollen, signiere ich Sie Ihnen gegen eine kleine
Gebühr. Das war es dann auch schon.“
Schließlich trat wieder Stille ein und setzte sich die restliche Fahrt fort. So schnell, wie die Rüpli
gekommen waren, so schnell waren sie auch wieder verschwunden. Es blieb ruhig.
Stattdessen langweilte Orange sich in seiner Kabine und holte Bisasam aus dem Pokéball, um sich, zu
dessen Freude, mit ihm zu unterhalten. Er hätte auch gerne Dame mit ihm gespielt, aber Bisasams
Level war dafür zu niedrig. Bisasam schien die Situation schnell verstanden zu haben und sah nicht
allzu glücklich aus, obwohl es sich Mühe gab, Orange aufzuheitern.
Nach sieben Stunden der ruhigen und langsamen Fahrt kam das Schiff in Alabastia an. Die weiteren
Passagiere reisten anscheinend ausnahmslos weiter. Die Truppe der kreischenden Mädchen stieg in
mehrere Helikopter ein; der Mann, der sich neben Orange gesetzt hatte, stieg auf ein anderes Schiff,
um die Anschlussstelle Zinnoberinsel zu nutzen, ebenso der Mechaniker. Er hatte einen großen
Koffer und einen Hut und schien in eine weit entfernte Gegend reisen zu wollen.
————————
Es war es schön wieder zu Hause zu sein, die vertraute Luft zu riechen, die kleinen und größeren
Gärten zu sehen. Die breiten, sandigen Wege, die alten Häuser und Höfe, die über die großen,
hellgrünen Grasflächen verstreut waren. Das alles hatte er, wie ihm jetzt klar wurde, auf seiner Reise
vermisst und das, obwohl sie nur wenige Tage gedauert hatte. Die Luft hier war hier immer so
angenehm und die Blumen des Vorfrühlings steuerten sanft ihren beruhigenden Duft hinzu. Ein
heimatliches Gefühl machte sich in Orange breit. Einen Moment lang fühlte sich Orange frei und
glücklich. Er war wieder zu Hause.
Doch bald wurde Orange klar, dass neben seiner Freude noch immer die tiefe Beklemmung nistete.
Orange fühlte sich als Versager. Er hatte sein Ziel, ein respektabler Trainer zu werden, nicht erreicht.
Er war eigentlich überhaupt kein Trainer geworden, sondern nur ein Reisender, der allerlei Strapazen
hinter sich gebracht hatte
Orange würde seiner Familie und den Leuten hier ausgiebig schildern müssen, was passiert war.
Seine Familie würde ihn versuchen aufzuheitern, aber es würde ihm trotzdem peinlich sein. Das
– 37 –
behagte ihm gar nicht. Er stellte sich vor, dass sich vor Peinlichkeit eine große rote Pustel auf seiner
Stirn bilden würde. Das war zwar nicht so, es war aber trotzdem eine sehr unangenehme Vorstellung.
Orange lief als Einziger die leeren Straßen Alabastias entlang, in die Richtung seines Zuhauses.
Es schien fast so, als ob in diesem Dorf keiner mehr wohnte: Orange sah nicht einen Passanten. Das
war selbst für das eher kleine Alabastia ungewöhnlich. Zwar drängten sich normalerweise keine
Menschenmassen durch den Ort, doch waren eigentlich immer einige Leute zu sehen. Es schien fast
so, als ob in diesem Dorf keiner mehr wohnte. Auch sonst war der kleine Ort nicht sehr geschäftig,
doch das gar keiner auf den Straßen war, das war selbst für das eher kleine Alabastia ungewöhnlich.
Einige Leute waren eigentlich immer zu sehen. Heute nicht, das war seltsam. Vielleicht war ja heute
ein besonderer Tag? Orange wusste nichts davon. Ein wenig verwundert ging er weiter. Eigentlich
war es ihm sogar Recht, dass er grade keinen sah.
Schließlich führten die kurvigen Wege ihn in das Haus, wo er und seine Eltern wohnten. Er stand
einige Zeit vor der Tür, bis er sich gefasst hatte und zögerlich klingelte. Lange Sekunden verstrichen,
ohne dass jemand öffnete. Aus den Sekunden wurden schließlich Minuten und Orange begann, sich
zu wundern. Vielleicht waren seine Eltern unterwegs? Er hätte vielleicht vorher anrufen sollen.
Ihm fiel ein, dass der Nachbar nebenan einen Ersatzschlüssel hatte. Orange klingelte an seinem Haus
und wartete wieder. Doch auch hier öffnete niemand die Tür.
Orange klingelte an der nächsten und übernächsten Tür, doch auch sie blieben verschlossen. Was
war bloß mit Alabastia passiert? Panisch rannte Orange den einen Kilometer langen Weg zu Eichs
Labor und klopfte keuchend an. Orange hörte Schritte aus dem Inneren des Gebäudes.
Und endlich drückte jemand die Klinke herunter und öffnete die Tür.
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Kapitel sechs: Im Labor
E
s war Ormal, der die Tür geöffnet hatte. Unter seinen Augen waren große dunkle Ringe und
er sah blass aus, so als wäre er etwas fiebrig. Seine Haut war fahl und seine Erscheinung, die
ohnehin nie sehr imposant war, wirkte jetzt besonders schwächlich und ausgezerrt. Ohne
einen Ausdruck großer Verwunderung in der Stimme, begrüßte er Orange matt: „Hallo Orange. Freut
mich, dich wiederzusehen. Komm doch rein.“
Orange betrat das große Labor und fühlte sich für einen Moment melancholisch an den Beginn seiner
kurzen Reise erinnert. Ihm fiel wieder ein, wie glücklich er sich gefühlt hatte, nachdem er hier sein
erstes Pokémon bekommen hatte und auf seine Reise aufbrach. Und nun war er gescheitert. Er
würde das Ormal später erzählen, wenn er danach fragte. Doch vorerst schien er das nicht im Sinn zu
haben. Müden Schrittes schlenderte er durch das Labor und machte einen merkwürdig abwesenden
Eindruck. Orange fand das alles sehr verwunderlich. Was war hier in Alabastia passiert, während der
kurzen Zeit, in der er weg gewesen war?
Er wollte gerade nachfragen, als im gleichen Moment Eich von oben in das Labor hereinkam und die
beklemmende Stille des Labors mit lautem, krächzenden Gesang erfüllte. Er schien Orange
überhaupt nicht zu bemerken und drehte sich in einer Pirouette auf Ormal zu.
„Aaah – Ormal, tanz mit mir! Es ist ein toller Tag zum Tanzen. Ormal, nicht so widerwillig, tu, was ich
dir sage …“
Ormal antwortete entscheiden: „Nein, ich werde nicht mit Ihnen tanzen!“
„Dann werf ich dich raus“, sang Eich vergnügt.
„Sie wollten mich schon gestern rauswerfen. Aber jemand muss auf Sie aufpassen, das wissen Sie
doch“, antwortete Ormal ihm und wandte sich an Orange, „weißt du, er ist ziemlich gestresst. Wir
haben in letzter Zeit einige Probleme gehabt.“
„Aber warum denn?“, fragte Orange besorgt.
Wie als Antwort tönte in diesem Moment ein dumpfes Klopfen an der Tür zum Laborgarten. Ormal
warf einen Blick auf seine dicke fette Uhr und sagte leise: „Du wirst gleich sehen, was ich meine.“
Er nahm einen großen Kanister, der mit einer dunklen Flüssigkeit gefüllt war und schüttete sie aus, in
mehrere schwere, massive Tontröge, der Orange erst jetzt auffiel. Ormal ging zur Tür und öffnete sie
einen Spalt breit. Mit bebender Stimme rief er „Essenszeit!“ und wankte dann einige Schritte zurück.
Seine Hände zitterten. So hatte Orange ihn noch nie gesehen, was nicht verwunderlich war, denn so
oft war er ja noch nicht im Labor gewesen.
Die Tür fiel mit einem Schwung zur Seite und schlug krachend an der Wand an. Eine riesige, laute
Masse, die den Blick zum Laborgarten gänzlich versperrte, brach herein.
Rüpli. Aus dem Garten kamen Rüpli.
Orange öffnete den Mund, brachte aber keinen Ton heraus und schloss ihn wieder.
Es waren Rüpli, Orange hatte sie sofort erkannt und zuckte zusammen. Auch hier?
Die Rüpli stürzten sich wild auf die schimmernde, rotbraune Flüssigkeit, die in den großen Trögen
war. Immerhin waren sie nicht so groß, wie die, die Orange auf dem Schiff gesehen hatte, doch dafür
waren es hier umso mehr. Wie ein rübenroter Teppich füllten sie fast das ganze Labor aus. Sie
– 39 –
schienen keinerlei Rücksicht auf einander zu nehmen. Ein jedes Rüpli schoss wild auf den Trog zu und
versuchte, einen Schluck abzubekommen. Diejenigen, die es geschafft hatten, versuchten noch mehr
davon zu trinken, bis sie von einem anderen Rüpli weggestoßen wurden. Orange stand fassungslos
da. Er war wie gelähmt von dem Anblick.
„Ich glaube, es ist unsere Schuld“, sagte Ormal plötzlich. Er stand hinter Orange stand und sah sich
das Schauspiel vermutlich nicht zum ersten Mal an.
Schließlich fragte er: „Was ist eure Schuld?“
„Dass es so viele sind“, gab Ormal als Antwort und kratzte sich an der Nase. „Hier in Alabastia ist es
besonders schlimm. Der Ort ist ab gestern Mittag von der Polizei evakuiert worden – das heißt, alle
außer uns. Als Forscher müssen wir hierbleiben. Zumindest ich muss das und den verrückten Eich
bekomme ich hier nicht raus. Man hätte uns bestimmt auch gar nicht rausgelassen, die Polizisten
haben zu mir gesagt, wir haben die Verantwortung für den Ort. Wir sollen gefälligst die Suppe, die
wir allen eingebrockt haben, auch selber auslöffeln. Er hat mir gesagt, das alles wird noch
Konsequenzen haben. Na ja, wie auch immer … Es gab Aushänge, um die Leute zu informieren. Viele
wollten erst nicht gehen, aber als es erste Begegnungen mit den Rüpli gab, sind sie alle freiwillig
gegangen. Deine Eltern haben versucht dich anzurufen, aber die Telefone gingen nicht mehr.“
„Wo sind sie denn jetzt?“, wollte Orange wissen.
„Oh, die sind sicher untergebracht, irgendwo in Anemonia City, am Strand. Ich habe Ihnen eine
Wertmarke für einen Strandkorb gegeben. Jaja, dort ist es sicherlich gemütlich …“
Ormal seufzte. Er wäre sicherlich auch gerne dort gewesen und damit war er nicht der einzige.
„Noch schaffe ich es, das Ganze einigermaßen in Grenzen zu halten Das was sie dort trinken, ist
teures Zeug. Ich weiß nicht, wo ich es annehmbar günstig in diesen Massen herbekommen soll. Ich
werde noch ganz krank davon. Egal, ich schaff es schon.“ Orange hätte gerne noch genauer gewusst,
wie es dazu gekommen war, dass hier so viele Rüpli waren. Er nahm sich vor, später noch
nachzufragen.
„Erzähl mir lieber, warum du eigentlich schon wieder hier bist“, sagte Ormal.
Das war die Frage, die Orange eigentlich lieber nicht gestellt bekommen hätte. Aber es war logisch,
dass sie kommen würde. Eine Antwort brauchte er jedoch noch nicht zu geben, denn plötzlich brach
eine Tür auf.
Es war die Kühlschranktür, aus der Eich singend herausfiel: „Aaaah, war das erfrischend, kann ich
jedem nur empfehlen!“
Plötzlich schien er Orange zu bemerken: „Orangen, Aprikosen, Zitronen! – Orange, du alte
Obstbaumplantage, hallo!“
„Ich weiß, warum unser Orange wieder da ist“, fuhr Eich singend fort, „Er hat sicher alle acht Orden
gewonnen! Orange, ich bin stolz auf dich!“
„Na, das kann doch gar nicht sein“, meinte Ormal, „du warst doch erst wenige Tage unterwegs. So
schnell war noch keiner.“
Orange wollte gerade darauf antworten, da wurden sie von Eich unterbrochen: „Ormal, jetzt kommt
meine Lieblingssoap! Wir müssen uns das ansehen!“
„Wir?“, fragte Ormal, „schaffen Sie das denn nicht auch alleine?“
„Nein, wir alle müssen uns das ansehen. Nur so, nicht anders. Das ist das Willkommensgeschenk vom
Fernseher an unseren Freund Orange!“
– 40 –
„Ich vermute, wir müssen wirklich“, warf Orange ein. Er war eigentlich ganz zufrieden, noch nicht von
seinen Erlebnissen berichten zu müssen. Ormal rollte mit den Augen und schaltete wiederwillig den
Fernseher ein.
„Orange, was ist dir passiert?“, hakte Ormal noch einmal nach, doch Eich zischte ihn an:
„Psssschhhhht!“
Der Professor schien augenblicklich ruhig zu werden, als die durchdringende Melodie ertönte:
„Tag für Tag,
wie ich es mag!
Doch manchmal geht,
Was grad noch grade steht
Was eben richtig lief,
so richtig schiiiiief.
Ich wache morgens auf,
das Müsli ist so matschig,
die Litschi ist so latschig,
das Toast dazu ist fade
und ich find in meinem Obst ’ne Maaade …
Stress und Fun in Kanto,
Tag für Tag,
nicht immer so, wie ich es mag
Stress in Kanto, Fun in Kanto.
Fun in Kanto, Stress in Kanto
Lalalalalalalalalala
Lalalalalalalalala.“
Die Melodie und vor allem das Lalalalalalalalalala wurden noch mehrfach wiederholt und selbst als
das Lied vorbei war, schien es noch einige Sekunden im Labor nachzuklingen. Orange kam der Name
der Sendung irgendwie bekannt vor, ‚Stress und Fun in Kanto‘ – das hatte er doch schonmal irgendwo
gehört. Er überlegte lange, dann fiel es ihm schlagartig wieder ein. Hatte Amelie, die er am Silberberg
getroffen hatte, nicht gesagt, dass sie in dieser Sendung mitgespielte? Sie war doch der Star einer
Soap …
Orange fragte nach: „Spielt in dieser Serie eine Schauspielerin mit, die Amelie Ouvértur heißt?“
Eich schien mittlerweile wieder sinnvolle Sätze bilden zu können und antworte eifrig: „Oh, ja. Sie
spielt eine Hauptrolle – sie spielt so fabelhaft, ihr Mimik und ihre Gestik sind ausgezeichnet, ach, was
sag ich da, sogar sehr ausgezeichnet! Oh, sie muss sehr intelligent sein, fast so intelligent wie ich!“
„Ich denke ja“, warf Ormal ein, „Soapstars sind eher schlichte Gemüter. Aber Orange, ich dachte, du
schaust nur das Alpenpanorama auf 3Sat. Ich habe dir als du zehn warst extra den Transponder
eingestellt, damit du das auch hier in Kanto empfangen kannst. Den hab ich heute noch im Kopf! Und
das kann ich dir beweisen!“
Orange konnte sich gar nicht mehr daran erinnern, aber Ormal hatte wahrscheinlich Recht. Bevor er
zu Eich kam, war er kurze Zeit Praktikant in einem Elektrofachbetrieb gewesen.
– 41 –
„Ja“, sagte Orange, „aber ich schaue nicht nur das Alpenpanorama. Ich schaue auch früh um drei die
Space Night auf Bayern Alpha. Aber du hast schon Recht, für Soaps interessiere ich mich eigentlich
nicht. Aber diese Amelie habe ich auf meiner Reise getroffen.“
Orange hätte das vermutlich nicht gesagt, wenn er gewusst hätte was nun passieren würde.
„Waaaaas?“, rief Eich empört.
„Du hast sie getroffen und hast sie nicht gefangen genommen und mir mitgebracht? Das hätte ich
doch auch für dich getan!“
„Ich kann sie doch nicht einfach mitbringen“, rief Orange, der versuchte, gegen die Lautstärke von
Eich anzukämpfen. Der Professor ignorierte ihn.
„Du hast sie doch bestimmt irgendwo hier versteckt!“, rief er und setzte ein verstörtes Lächeln auf.
„Nein“, antwortete Orange betroffen.
„Dann hast du sie nicht getroffen!!“
Eich begann hysterisch zu kreischen: „Das kann nicht sein“, rief er laut, „Das nehm ich dir nicht ab.
Ich hätte sie getroffen, aber du doch nicht. Sag mir, wenn du sie getroffen hast, folgendes!“
Eich fuchtelte wild herum. „Etwas, das nur die Insider wissen. Welchen Kuchen isst sie am liebsten?“
„Hab ich sie danach gefragt?“, erwiderte Orange verdutzt.
„Ich hätte Sie danach gefragt. Obwohl ich es schon weiß.“ Der Professor machte einen aufgeregten
Eindruck.
Orange überlegte: „Na ja, sie hat mir einen Kuchen serviert. Einen Erdbeerkuchen, wenn ich mich
recht erinnere.“
„Erdbeerkonfitüre oder Erdbeermarmelade?“
„Mit ganzen Erdbeeren!“
„Ah, das ist richtig. Du kannst dieses Interview nicht gelesen haben. Ich habe mir alle Hefte gekauft,
von dem Magazin, in dem das drinstand – damit ich ein Insider bin. Ganze Erdbeeren, ganze
Erdbeeren – Argh, du hast sie getroffen!“
Eich sah äußerst aufgebracht aus, doch gleich beruhigte sich seine Miene und er wurde ganz
freundlich und ruhig: „Du hast doch sicher ein Autogramm mitgebracht!“
„Nein, tut mir leid“ –
Das schien das Fass zum Überlaufen zu bringen.
„Wie kannst du es nur wagen!“, schrie Eich plötzlich wütend, „mir kein Autogramm mit
zubringen. Ich habe dir dein erstes Pokémon ausgehändigt, ich bin mit dir Rübenstechen gegangen
und du –“
„Ich dachte, Sie wollten Rübenstechen gehen. Sie sind doch nicht meinetwegen dorthin …“
„Hör auf mich zu unterbrechen!“, rief Eich, „du hättest mir ein Autogramm mitbringen müssen!“
„Aber Sie haben mir das doch nie gesagt.“, erwiderte Orange verdutzt.
„Ich wusste ja nicht, dass du sie triffst. Und außerdem habe ich es im Prinzip schon gesagt. Ich habe
es stillschweigend gesagt, stillschweigend vorausgesetzt, dass du –“
Eich begann wild zu gestikulieren und rannte durch das Zimmer.
Orange wusste nicht, was er dazu sagen sollte. Hätte er gewusst, dass Eich so ein großer Fan war,
hätte er ihm bestimmt auch ein Autogramm mitgebracht.
„Da hast du wohl die Wirkung vom Vorspann der Soap kaputt gemacht“, sagte Ormal zu Orange,
„Naja, egal. Nimm es ihm nicht übel, dass er so reagiert hat. Er kriegt nichts mehr auf die Reihe. Die
Soaps helfen nur kurzfristig. Ich versuche es immer, wenn ich hier nicht mehr klar komme mit dem
– 42 –
ganzen Kram. Aber ständig fängt er wieder an zu singen und ganz seltsam zu werden – egal. Warum
bist du denn nun eigentlich schon wieder zurück?“
Orange erzählte Ormal die ganze Geschichte und während er so redete, fand er sie überhaupt nicht
mehr schlimm. Die Lage hier in Alabastia schien Oranges frustrierenden Reisebericht regelrecht
seicht wirken.
„Dann waren es bei dir also auch die Rüpli. Das dacht ich mir schon“, meinte Ormal.
„Neiiiin, es war Versagen!“, sang Eich, der plötzlich vor ihnen aufgetaucht und durch das Labor
tanzte.
„Wollten Sie nicht ihre komische Sendung gucken?“, fragte Ormal etwas gereizt.
„Oh“, rief Eich, „ist es etwa schon so spät?“
„Ja, eben noch haben Sie die Startmelodie mitgesungen.“, erinnerte Ormal ihn.
„Oh ja, ich erinnere mich dumpf.“ Eich schlenderte sichtlich beruhigt zum Sofa.
„Ach, die Rüpli“, sagte Ormal und seufzte. „Sie haben sich überall in Kanto ausgebreitet und
es werden nicht weniger. Auch hier bei uns nicht.“
Orange fand, dass das nun eine halbwegs passende Gelegenheit war, um nochmal nachzuhaken:
„Warum denkst du eigentlich, dass sie sich so sehr ausgebreitet haben?“, fragte er.
„Also …“, sagte Ormal und holte tief Luft, „das Ganze fing damit an, dass ihr Rübenstechen
gegangen seid. Ihr beiden hattet ja ein paar kleine Rüpli davon mitgebracht.“
Also hatte wohl alles begonnen, kurz bevor Orange zu seiner Reise aufgebrochen war und sogar er
selbst war daran beteiligt, wenn auch nicht sehr unmittelbar.
„Eich hat behauptet, dass er die Rüpli studieren will“, fuhr Ormal fort, „und er hat dann einige
Untersuchungen angestellt, unter welchen Bedingungen sie sich am besten vermehren und sowas.
Wir haben einige Tests durchgeführt.“
„Was habt ihr denn gemacht?“, hakte Orange nach. Unter Experimenten konnte man sich ja
Vieles vorstellen.
„Ach, na ja, eigentlich nichts weiter. Wir haben sie verschiedenen Umweltbedingungen ausgesetzt,
ihnen verschiedene Futtermittel angeboten und so weiter. Nichts Gefährliches halt, dachte ich
zumindest. Ich war übrigens für die Pflege der Rüpli und die Protokolle zuständig. Ich mag ja
Verhaltensstudien mit Pokémon und Eich gab mir netterweise den Auftrag, einige der Tests
durchzuführen, damit ich nicht immer nur Unterlagen kopieren muss. Unterlagen kopieren ist
nämlich langweilig.“
„Unterlagen kopieren ist cool!“, rief Eich dazwischen, der sich inzwischen eine Sonnenbrille
aufgesetzt hatte.
„Jaja“, sagte Ormal und fuhr fort: „Da waren also diese drei Rüpli: Sie waren so niedlich und sie sahen
so schwach aus. Und ich dachte, ich könnte sie stärker machen und gab ihnen viele teure Präparate:
KP-Plus, Zink, Kalzium und solche Sachen. Na ja, ich fütterte sie und schrieb auf, wie stark sie sich je
vermehrten. Es wurden von Stunde zu Stunde mehr.“
Ormal machte eine kurze Pause, bevor er weiterredete. „Aber die Rüpli waren so niedlich. Ich wollte
sie einfach füttern. Dann merkte ich irgendwann, dass die Nahrung nicht mehr ausreichte. Sie nagten
dann alles an, was sie in ihrer Umgebung grade fanden. Sie fraßen an Tischen, Maschinen, sie bissen
sich sogar ins Mauerwerk von Gebäuden.“
„… ins Mauerwerk von Gebäuden?“, fragte Orange fassungslos. Er konnte sich gar nicht vorstellen,
dass diese Pokémon so ein Material aufnehmen konnten.
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„Ja“, antwortete Ormal knapp, „ein Haus in Alabastia ist eingestürzt, weil die Rüpli das Fundament
untergraben hatten. Es wurde niemand großartig verletzt, aber es ist gefährlich geworden und wir
konnten das Ganze nicht mehr unter Kontrolle halten. Jedenfalls waren sie schon einen Tag nach
unseren ersten Versuchen in ganz Kanto. Wir konnten in den Nachrichten regelrecht verfolgen, wie
mehrere Wellen über Kanto hinwegzubrechen schienen.“
„Und du denkst wirklich, dass sich die Rüpli von Alabastia ausgebreitet haben?“, fragte Orange. Es
waren doch bestimmt nicht Eichs und Ormals Versuche, wegen denen es in ganz Kanto so viele
geworden waren – oder doch?
„Ich weiß es doch auch nicht“, erwiderte Ormal resigniert, „hier waren es wohl immer die
meisten. Mittlerweile haben wir hier mehrere Zehntausend, denke ich. Auch, als schon ganz viele im
Rest von Kanto waren, hatten wir hier in Alabastia einen Schwerpunkt.“
Ormal erzählte weiter: „Jedenfalls reichte ihnen bald das Futter nicht mehr und ich konnte doch nicht
zulassen, dass hier noch mehr passierte. Die Rüpli wurden einfach nicht mehr satt. Dann fiel mir ein,
dass in den Tests eines unserer Mittel sie besonders gesättigt zu haben schien: Hochkonzentriertes
Carbon.“
„Und das ist diese Flüssigkeit, die du erst in die Tröge geschüttet hast?“, wollte Orange
wissen.
„Ja, genau – es besteht aus hochkonzentriertem Kohlenstoff und man bekommt sie nur im
Fachhandel. Als ich den Rüpli nun also das Carbon gegeben hatte, schienen sie sich erstmal zu
beruhigen, aber dann wurde es bloß noch schlimmer. Sie wurden immer wilder und aggressiver und
griffen uns dann auch an. Weder ich noch Eich konnten die Lage wirklich einschätzen. Er hat dann
angefangen zu singen und hat seit dem kaum noch ein richtiges Wort über die Rüpli mit mir geredet.
Am Tag darauf wurde Alabastia evakuiert.“
Ormal hielt inne und blickte starr in die Ferne. Erst nach einiger Zeit sprach er weiter: „In Prismania
City legst du für ein Fläschchen Carbon ein kleines Vermögen hin. Ich kaufe das Zeug literweise und
hab schon Schulden gemacht deswegen, aber die Rüpli“, er wies auf die Pokémon, „vermehren sich
immer noch. Sie sind auch nicht mehr so träge und viel schneller geworden – das liegt bestimmt auch
an dem Carbon. Aber das scheint das einzige zu sein, was noch funktioniert. Als ich aufgehört habe,
ihnen Carbon zu geben, haben sie mich angefallen. Aber selbst mit dem Carbon scheinen nicht mehr
richtig satt zu werden. Ich kann auch mit nichts anderen mehr füttern – wenn ich Amrenabeeren
nehme würde, müsste ich sicher ganze Container füllen. Und ich weiß auch nicht, was passiert, wenn
das Carbon aufgebraucht ist.“
„Willst du denn wirklich hier bleiben?“, fragte Orange ernst.
„Flüchten wäre unverantwortlich und wir dürfen es wie gesagt auch nicht, haben die Polizisten
gesagt. Und sie haben ja auch Recht: Die Rüpli würden die ganzen Häuser hier zerstören und Eichs
Unterlagen – hier stehen wissenschaftliche Datenbanken, die Millionen wert sind. Es reicht schon,
wenn sie wegen uns ganz Kanto beschlagnahmen.“
Plötzlich kam Eich auf zwei Wischtüchern angeschlittert und sagte laut: „Nein!“
Orange wusste nicht, wie er Ormal helfen sollte. Dass er keine Orden gewonnen hatte, schien ihm
jetzt völlig unwichtig. Aber die Situation hier in Alabastia war wirklich bedrückend und Ormal tat ihm
sehr leid. Er bekam von dem ziemlich verwirrten Professor kaum noch Hilfe. Konnte es wirklich sein,
dass der Professor und sein Assistent ganz Kanto in Aufruhr versetzt hatten? Hatte Professor Eich das
geplant? Orange wusste nicht so recht, was er davon halten sollte.
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„Also, Orange“, sagte Ormal, „nun zu dir. Ich finde, dass du flüchten solltest zu deinen Eltern nach
Anemonia!“ Orange wollte sich erst weigern, aber Ormal bestand drauf und Orange sah es ein.
Vielleicht wäre es wirklich das Beste, wenn auch er nach Anemonia reisen würde. Er wollte Ormal
nicht alleinlassen, aber andererseits – wie sollte er ihm helfen? Orange wollte nicht noch länger mit
ihm und Eich bei den Rüpli ausharren. Er war nicht erpicht auf ein Abenteuer dieser Art. Ein Urlaub
am Strand wäre da schon besser.
Ormal wühlte in seiner Tasche, „Ich habe mal ein unheimlich großes tolles Luxusreise und esspaket gewonnen im Wert von 48.000 Pokédollar. Damit fährst du einen Monat durch ganz Kanto
und schlägst dir den Bauch voll und dann setzen sie dich in Anemonia City ab. Also, ich kann es dir
schenken. Oder aber, ich schenk es dir und du schenkst mir 48.000 Pokédollar. Dann kann ich hier
wieder ein bisschen in Futter für die Rüpli investieren. Also, ich finde, das wäre eine tolle Idee.“
Orange holte sein altes, zerschlissenes Portemonnaie aus seiner Jackentasche. „Ja, ich könnte dir
Geld geben – ich schau mal, ob ich’s passend habe. Aha, aha, aha.“
Orange zählte das Geld gewissenhaft und verzählte sich nicht.
„Nun“, sprach er, „ich habe leider nur noch zwei Pokédollar, die ich dir schenken kann.“
„Na, das hilft mir nicht so sehr weiter“, antwortete Ormal enttäuscht, „hm, was soll ich sagen, die
Gutscheine für die Luxusreise. Also.“ Er überlegte. Indes kam Eich vorbei und wischte den Fußboden,
dann verschwand er wieder.
„Nun, ich schenk sie dir trotzdem“, sagte Ormal und drehte mit den Augen, „sie sind leider schon
abgelaufen. Hier hast du sie.“
„Und was machen wir nun?“, fragte Orange.
„Na ja“, Ormal kratzte sich am Kopf.
„Du könntest mit dem Auto nach Anemonia City fahren. Eich hat da so eine Garage, ein paar hundert
Meter von hier“, sagte Ormal, „da sitzt ein schlafendes Relaxo davor und schnarcht. Das schiebst du
beiseite, oder wenn du das nicht kannst, geb ich dir ein Pokéflötenradiomodul. Damit kannst du es
wecken, dann geht es weg und gibt den Weg frei zu einem Auto. Dann nimmst du bei mir einen
Crashkurs und machst deinen Führerschein mit 15 und dann parkst du aus und fährst die nächste
links, die übernächste rechts, dann links, dann kommt ein Tunnel, da biegst du ab, dann kommt ein
geheimnisvoller Wasserfall, dort fährst du drunter durch, dann fährst du auf der Autobahn geradeaus
weiter bis zur Abfahrt Dukatia-Zentrum, schließlich biegst du in einen Kreisverkehr, nimmst dort die
dritte rechts, kaufst dir eine Mautvignette, dann fährst du halblinks weiter – dann ist dein Tank fast
leer, so dass du eine Kurve nach Nordost nimmst, wo du eine Tankstelle findest und dann fährst du
zweimal rechts und nimmst dann die kostenlose Fähre nach Anemonia City. Ich habe es genau
berechnet, du müsstest in dreieinhalb Stunden da sein, vorausgesetzt, du machst zwei Pausen á drei
Minuten, in denen du dir einen Pokériegel kaufst.“
„Okay“, sagte Orange, der eingesehen hatte, dass er hier wohl wirklich nicht mehr weiter helfen
konnte.
„Gehen wir.“
Sie gingen also gemeinsam mit dem fröhlich dreinblickenden und Witze erzählenden Eich aus dem
Haus, wo mehrere Tausend Rüpli lagerten, welche aber momentan ziemlich friedlich wirkten. Die
meisten von ihnen schliefen. Dann gingen sie zu dem Relaxo, das ebenfalls schlief, und schoben es
beiseite. In der Garage fanden sie einen alten grünen Sportwagen, der innen ziemlich vermüllt mit
Dingen aus Eichs Studentenzeit war. Orange nahm einen Crashkurs bei Ormal und bekam seinen
Führerschein mit 15. Ormal verabschiedete sich von Orange und gab ihm noch ein starkes Pokémon
mit: Es war sein eigenes Sumpex. Außerdem packte er Schutzspray in Oranges Rucksack und drückte
– 45 –
ihm noch etwas Geld für ein paar Pokériegel und einen Zettel mit der vorübergehenden Adresse in
Anemonia City in die Hand. Eich, der ebenfalls mitgekommen war, verabschiedete sich nicht. Er hatte
mittlerweile wieder begonnen zu singen und wurde stetig lauter dabei: Eben noch hatte er gesummt,
jetzt begann er ein Lied zu trällern. Es war ebenso schief wie schon zuvor.
Orange stieg in das alte Auto, glühte es vor, parkte aus und fuhr los. Er rammte die Wand, sodass ein
Seitenspiegel abflog, aber das machte nichts.
Als er jedoch vom Schotterweg auf die Straße einbiegen wollte, wurden die Rüpli munter. Schon als
er das Auto vorgeglüht hatte, waren sie unruhig geworden. Aber nun wurden sie wütend, wie Orange
das zuvor noch nicht erlebt hatte. Sie blockierten die Reifen und sprangen gegen die Fensterscheibe,
sodass sie berstete: Viele kleine, glänzende Scherben lagerten sich um das Auto herum. Die Scherben
hatten ihn nicht verletzt, aber nun ging die Gefahr von den Rüpli selbst aus. Mittlerweile waren sie
durch die offene Scheibe gehüpft und gingen dazu über, Orange anzugreifen. Er öffnete die Tür und
ergriff die Flucht. Gemeinsam mit Ormal und dem Professor (der einen Marsch sang) rannte er
zurück in das Labor, schloss die Tür und verriegelte sie. Der Lärm, den die Rüpli machten, war noch
immer zu hören.
Drinnen waren ohnehin schon genug Rüpli, die ebenfalls kamen und wütend Lärm verbreiteten.
„Was ist das?“
„Das ist das Schnauben der Rüpli. Die nächste Stufe.“
Es war kein Rauskommen mehr aus dem Labor. In dem Moment kam Eich, der das Labor wischte und
sang:
„Wir sind gefangen in unserm Labor. Möhren inhaftieren uns, yeah!“
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Kapitel sieben: In Haft
E
r war ja nicht auf die schiefe Bahn geraten. Es war ja nicht so, dass ein Kripobeamter zu Hause
angerufen, ihn in Jugendarrest geschickt und Sozialstunden angeordnet hatte. Orange hatte
nirgendwo Scheiben eingeworfen. Und trotzdem saß er in einer kleinen Zelle, die von einem
seiner Mitgefangenen die ganze Zeit durchgewischt wurde.
Es war ja auch eigentlich keine Zelle, sondern ein großes Labor mit mehreren Zimmern. Es
war alles etwas durcheinander, aber machte noch immer einen recht gepflegten Eindruck. Und
dennoch kam es Orange so vor, als wäre das schöne Alabastia zu einem Gefängnis geworden. Und
mit ihm saßen in seiner Zelle Eich, der schon durchgedreht war und Ormal, der ebenfalls langsam
durchzudrehen schien. Und so saßen sie da, drehten Däumchen, spielten Brettspiele und lösten
Sudokus. So ging das schon mehrere Tage lang. Draußen standen einige Rüpli, welche die Rolle der
Gefängniswärter wahrnahmen und lauthals schnaubten und drinnen saßen ebenfalls Rüpli, die
ihrerseits auch nicht freundlicher gesonnen waren.
Sie waren hungrig, doch es war nicht mehr ausreichend Futter für sie da. Ormal hatte zwar
einen Kredit aufgenommen, um noch etwas Carbon zu bestellen und eigentlich sollte es schon lange
angekommen sein. Aber es kam kein Postbote mehr nach Alabastia, denn hier standen die Rüpli rum
und verschreckten alle Postboten. Also war kein Carbon da und das machte die Rüpli drinnen
wütend. Sie hatten begonnen, sich auf ein paar Butterbrote zu stürzen, die in einem Schrank vor sich
hin moderten. Die Rüpli draußen hatten noch mehr Hunger und waren aus diesem Grund noch
wütender. Sie begannen, sich auf herumliegende Ziegelsteine zu stürzen, diese zu zerschlagen und
dann zu fressen, was wohl ein Indiz dafür war, dass sie wirklich ziemlich wütend oder hungrig waren.
Sie wollten gerne in das Labor, aber eine dicke, fette Stahltür versperrte ihnen den Weg. Eich hatte
sie sich in finanziell besseren Zeiten angeschafft und hatte auch eine Alarmanlage installiert, die nun,
da die Rüpli fest gegen die Türen drückten, immer wieder losging und Orange jedes Mal erschreckte.
Wenigstens im Fernsehen konnte man noch einen Sender, nämlich Kanto 1, empfangen. Auf den
anderen Kanälen war nur weißes Rauschen zu hören und man konnte sich Pixel ansehen, die um die
Wette tanzten. Auch Eichs Lieblingssender, auf dem seine Soaps ausgestrahlt wurden, ging seit
gestern nicht mehr.
Auf Kanto 1 liefen den ganzen Tag Sondersendungen. Der Aufsichtsrat freute sich schon,
denn diese Nachrichtensendungen waren relativ billig zu produzieren. Der Nachrichtensprecher
musste unbezahlte Überstunden machen und es wurde immer mal wieder Leute vor die Kamera
gezerrt, die ihre Kommentare abgeben sollten.
Auch in der Sendung, die jetzt lief, sah man einen Nachrichtensprecher, der in einem Studio stand
mit gelangweilter Miene seine Nachrichten vortrug. Er hatte eine orangefarbene Krawatte an und
wirkte fast wie eine Rübe. Er war früher mal Leierkastenmann gewesen, hatte allerdings zum
Reporter umgeschult. Er las er seine Nachrichten vom Teleprompter ab:
„… Prismania City. Gestern stürzten hier an die Tausend Rüpli hinein, fuhren mit dem
Fahrstuhl, warfen Getränkeautomaten um und plünderten die Lebensmittelabteilung. Eine Kundin
berichtet fassungslos.“
Dann wurde eine verängstigte Frau eingeblendet:
„Es war echt schlimm. Es gab einen ohrenbetäubenden Lärm und ich wollte in den Fahrstuhl
und da raus kamen die Rüpli. Da fiel mir ein, ich muss noch bezahlen, und das hab ich dann auch
gemacht, mir den Kassenbon selbst abgerissen – die Kassiererin war schon weg – und dann hab ich
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schnell das Weite gesucht. Und das Schlimme war, die Rüpli liefen mir nach und riefen ‚Rüpli! Rüpli!‘
und das war alles nicht schön, das gefiel mir gar nicht. Und dann bin ich direkt ins Auto gestiegen und
nach Hause gefahren. Und dann hab ich da meine neuen Kleider ausprobiert und aus den Taschen
kamen zwei Rüpli! Das war ein Schock! Ich bin fast ohnmächtig geworden! Aaaaargh!“
Dann wurde wieder der Nachrichtensprecher gezeigt. Seriös, aber genauso monoton wie zuvor, fing
er wieder an zu sprechen.
„Johto. Mittlerweile wurde auch hier eine deutliche Zunahme der Rüplianzahl beobachtet;
ersten Exemplaren aus Kanto gelang es, die Bergketten zwischen den beiden Präfekturen zu
überwinden und nach Johto zu ziehen. Die Lage sei allerdings noch nicht bedrohlich, so örtliche
Behörden. Man nehme die Gefahr aber selbstverständlich ernst. Experten meinen allerdings, dass
eine größere Zahl Rüpli nach Johto kommen und dort ein paar Häuser einreißen könnte. Man sollte
trotzdem zu Hause bleiben und sich möglichst ruhig verhalten. Fahrende Händler fahren umher und
verkaufen vermeintliche Schutzmittel gegen die Rüpli.
Alabastia. Hier haben die Rüpli besonders stark gewütet, mindestens ein Gebäude ist
eingefallen, wahrscheinlich aber mehr. Der Ort wurde als erster in Kanto weitgehend evakuiert, es
heißt jedoch, dass sich dort noch Leute befinden, die dableiben wollten. Darunter soll auch der
bekannte Pokémon-Professor Eich sein, wie uns Einwohner des Ortes berichteten. Die Polizei
informiert, dass die Lage in Alabastia besonders schlimm sein muss, sie aber wahrscheinlich,
vielleicht, alles im Griff hat und auch von den verbliebenen Anwohnern besonderes Engagement
fordert und darauf setzt, dass sie Ruhe bewahren. Aus strukturellen Gründen sei es leider nicht
möglich, weitere Maßnahmen zu ergreifen, allerdings fliegen immer mal Radarhubschrauber über
den Ort und versuchen abzuschätzen, wie viele Rüpli mittlerweile dort kampieren. Unabhängige
Experten schätzen, dass sich die Anzahl der Rüpli in Kanto mittlerweile um den Faktor 50 gesteigert
hat, in Alabastia befindet sich momentan der Schwerpunkt der höchsten Konzentration mit äußerst
vielen Rüpli, wie es heißt. Die genaue Zahl sei leider geheim. Das Bundeskanzleramt weist momentan
alle Anfragen ab.
Aus Kreisen ließ man verlauten, dass nicht tragbare Experimente im Labor von Eich die
Ursache für die Invasion in ganz Kanto waren.“
Eich, der die ganze Zeit gewischt hatte, hörte plötzlich auf mit Wischen und gab ein leises „Was?“ von
sich. Dann wischte er weiter.
„Wir hören Stimmen aus Kanto von Bürgern der Region.“
Eine Frau wurde eingeblendet.
„Ich finde, diesen Eich sollte man verklagen. Nein, besser noch, man sollte ihn mal versuchen
lassen, den Pokédex zu füllen! Der ruht sich doch nur aus auf seinen Forschungen. Skrupelloser Kerl ist
das. Mochte den noch nie. “
Dann wurde ein Junge gezeigt. Er hatte drei Mützen auf und trug darüber Kopfhörer.
„Ey, Sauerei ist das. Sowas kann doch nicht angehen. Ich weiß nicht, ob das der Eich war, aber
wer die Experimente durchgeführt hatte, den sollte man einsperren! Oder mal verprügeln.“
Eich wischte weiter, aber Ormal zitterte, noch stärker, als er das ohnehin schon die ganze Zeit tat.
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„… Und nun das Wetter. Über Fuchsania City zieht Tief Detlef auf und regnet sich dort so richtig ein.
Ansonsten nur Schauer und Bewölkung …“
Ormal machte den Fernseher aus. Er kritzelte sich etwas in seinen Notizblock. Die Rüpli drinnen
schnaubten mittlerweile genauso wie ihre Artgenossen draußen. Sie hatten alle Butterbrote, die in
der Küche gelegen hatten, aufgefressen – aber das reichte ihnen nicht.
Orange saß immer noch auf dem Sofa, das durch die Rüpli recht mitgenommen war. Sie
hatten hier offenbar ein Gelage veranstaltet. Orange hatte mit dem Bleistift eine neun in sein Sudoku
geschrieben, aber er merkte, dass in der einen Reihe nun schon insgesamt drei Neunen standen. Er
machte seinen Rucksack auf und suchte einen Radiergummi, denn er hatte leider keinen Bleistift auf
dem bereits ein Radiergummi angebracht war.
Er wühlte und wühlte und wühlte. Staub wirbelte aus der Tiefe seiner Tasche.
Es schien fast so, als stiebte der Staub ganzer Jahre vom Grunde seines Beutels. Der Staub
ferner Länder – Länder, die aufstrebende Trainer besichtigt hatten. Länder, die voll von Abenteuer
waren. Staub, der eine lange Reise hinter sich hatte mit Trainern voller Erfahrungen, voller Stärke. Ein
mysteriöser Staub, ein weißer Staub, wie von einer fernen Kreideküste. Ein Staub, der einen
seltsamen Eigengeruch hatte, ein Staub, der im Licht schimmerte und glitzerte und dessen feine
weiße Teilchen langsam wieder in den geöffneten Rucksack glitten. Es war wohl der Staub von
Oranges Reise. Die Rüpli im Raum betrachteten fasziniert die schwebenden Teilchen. Der Staub
setzte sich schließlich wieder auf den Boden des Rucksacks, und wirbelte dahin, wo er hergekommen
war. Und Orange wühlte und wühlte und fand schließlich einen Radiergummi.
Plötzlich begannen manche Rüpli zu schnauben, andere stießen einen hohen Ton aus. Es war
wieder das Geräusch, das Orange schon mehrere Male während seiner Reise gehört hatte, das erste
Mal, als er mit Eich zum Rübenstechen war. Sie schienen irgendetwas vorzuhaben und es schien
etwas Bedrohliches zu sein – aber das war ja nichts Besonderes mehr. Orange hatte sich mittlerweile
dran gewöhnt, dass es die Rüpli ankündigten, wenn sie sich aufgebracht nach neuer Nahrung
umsahen – unangenehm war es trotzdem.
„Stimmt das denn nun wirklich, dass die Invasion von hier kommt, wie sie das im Fernsehen
sagen?“, wandte sich Orange noch einmal an Ormal. Er konnte es immer noch nicht so recht glauben,
obwohl er diese Frage schon einmal gestellt hatte.
„Du hast gehört, was ich dir gesagt habe“, antwortete Ormal, „wir haben Experimente
durchgeführt. Und ganz kurz darauf kam es zu den ersten Invasionen der Rüpli. Ich weiß es nicht, wie
das so schnell gehen konnte. Ich frage mich das auch die ganze Zeit.“
Er öffnete sein Notizbuch. Darin stand Folgendes:
Invasion der Rüpli – wer war das?
A) Der blöde Eich hat sie, schon bevor wir es alle mitbekommen haben, absichtlich hinter
meinem Rücken in einem grauenhaften Experiment vermehrt, schon bevor ihr
Rübenstechen wart.
B) Sie haben sich nur deshalb so schnell ausgebreitet, weil ich sie falsch gefüttert habe.
C) Alle Antworten sind richtig.
– 49 –
„Aber es könnte auch doch auch jemand anders gewesen sein“, wandte Orange ein. Er wollte
einfach nicht glauben, dass die Ausbreitung der Rüpli auf Experimente von Eich und seinem
Assistenten zurückgehen sollten. Ormal antworte ihm: „Ja, es könnte auch jemand anders gewesen
sein. Du vielleicht. Schließlich warst du auch beim Rübenstechen dabei und dann bist du auf deine
Reise gegangen. Und während du gereist bist, sind dir immer wieder die Rüpli begegnet. Vielleicht
sind sie dir aus irgendeinem Grund gefolgt …“
So abwegig diese Überlegung auch zu sein schien, beunruhigte sie Orange.
„… und jetzt bist du wieder hier und die Situation scheint sich nur zu verschlimmern“, Ormal seufzte,
„– ich kann nicht mehr klar denken.“
Aber es blieb auch gar keine Zeit mehr, darüber nachzudenken. Plötzlich verstummten alle Rüpli. Eine
Sekunde lang schienen sie starr an ihrem Platz zu stehen, dann setzten sie sich in Bewegung.
Aus allen Ecken stürmten sie in Richtung Orange. Für Ormal, der etwas abseits stand, schienen sie
sich überhaupt nicht zu interessieren. Schließlich baute sich eine Wand auf. Orange war nicht mehr
zu sehen, er war bedeckt von Hunderten von Rüpli. Es war nicht zu überblicken, was sie da taten.
Ormal blieb wie angewurzelt stehen, während Eich um den Kreis der Rüpli wischte. Ab und an nahm
er einen Lappen und wischte vermeintlichen Staub von den Rüpli und sagte, nachdem er fertig damit
war: „Das ist schön.“
Aus dem Haufen der Rüpli schien nur ein dumpfes Grummeln zu kommen. Ormal konnte kaum ein
Wort sagen. Schließlich fragte er außer Atem, während er still dastand:
„ Was passiert hier?“
Eich wischte und sagte zu ihm: „Jetzt fressen sie den Orange auf.“
————————
Dann sagte eine Weile gar niemand etwas. Es war still geworden und auch das Grummeln aus dem
Haufen der Rüpli war verstummt. Eine stille Masse von all den Rüpli aus dem Raum konzentrierte sich
auf den Punkt, an dem Orange gestanden hatte.
Auf einmal gab es einen lauten Knall, der alle – selbst die Rüpli in dem Haufen –
zusammenzucken ließ.
Die Stahltür vor dem Labor stand offen. Hunderte von Rüpli, die soeben noch draußen
gewesen waren, hatten sich gegen das seltsam gefärbte Portal gestemmt und drangen nun mit
enormer Wucht zu den anderen Rüpli. Es sah nun mittlerweile aus, als würde eine riesige, bewegliche
und orangefarbene Pyramide, die bis zur Decke des Raums reichte, mitten im Labor stehen. Ein jedes
Rüpli schien zur Mitte der Pyramide dringen zu wollen.
Das Schweigen und die unheimliche Stille im Labor schienen ganz allmählich einem allgemeinen
Aufruhr zu weichen, der schon, obwohl noch ganz leise, durchdringend und sehr unangenehm war.
Die Rüpli begannen zu schnauben und in hohen Tönen zu fiepen. Sie waren aufgebracht und
schienen keinerlei Rücksicht aufeinander zu nehmen. Stattdessen stießen einander weg und immer
mal fiel ein Rüpli aus dem großen Haufen zur Seite. Die unangenehmen schrillen Töne, die die
Pokémon von sich gaben, erreichten eine Lautstärke, bei der der Lärm kaum noch auszuhalten war.
– 50 –
Aus dem Haufen der Rüpli schaute eine Hand hervor. Es war unverkennbar Oranges Hand.
Drumherum befanden sich die lärmenden Rüpli. Etwas entfernt in dem Haufen konnte man ein Bein
sehen. Es bewegte sich nicht.
————————
Die Rüpli hatten aufgehört zu schnauben. Sie schienen nun ganz konzentriert. Die Hand in dem
Haufen bewegte sich erst nicht, eine ganze Weile. Aber dann wackelte sie matt und schließlich heftig.
An die Hand schloss sich ein Arm an, der die Rüpli beiseite schob.
Schließlich war da ein Kopf. Es war der Kopf von Orange und schien völlig unversehrt. Dann tauchte
der Rumpf von Orange auf und schließlich sein ganzer Körper. Es war kaum, als würde er überhaupt
eine Schramme aufweisen. Orange kroch über die Rüpli drüber und ging zu Eich, der wischte, atmete
tief durch und sagte laut:
„Das war ja wie im Bällchenbad!“, dann hielt er kurz inne und schloss feierlich an: „… und ins
Bällchenbad wollte ich schon lange mal wieder, aber da lassen sie einen ja nicht rein, wenn man das
Maximalalter überschritten hat. Aber jetzt hatte ich mal wieder das Gefühl, im Bällchenbad zu sein!“
„Sie haben dich ja gar nicht aufgefressen“, sagte Ormal und sein Gesichtsausdruck war das erste Mal
seit Orange wieder im Labor war wirklich von Freude gekennzeichnet. „Haben sie dir denn überhaupt
nicht wehgetan?“
„Nein“, antwortete Orange, der jetzt ein kindliches Strahlen auf dem Gesicht hatte, „nur der
Lärmpegel war ein bisschen unangenehm.“
Alle drei standen da und beobachteten das Schauspiel der Rüpli. Sogar Eich hatte mit dem Wischen
aufgehört.
Nach einer Weile wandte sich Ormal, der ja eigentlich noch am meisten von der Situation zu
verstehen schien, fragend an die beiden anderen: „Was fressen sie da jetzt eigentlich?“
Orange schaute erst ratlos und dann trotzig auf den Haufen: „Ich denke, sie fressen meinen schönen
Rucksack – aber okay, müssen sie halt machen! Kauf ich mir halt einen neuen! Das macht mir doch
gar nichts aus! Hrmpf!“
Immer mal sprangen einige Rüpli in die Luft und schienen nach etwas zu schnappen, das kaum zu
erkennen war. Es dauerte nur wenige Minuten, die den Zuschauern aber wie eine halbe Stunde
vorkamen, da zogen die Rüpli sich zurück. Sie schienen zufrieden. Allerdings sah es so aus, als wären
sie größer geworden, als sie vorher waren.
Oranges Rucksack war wieder freigegeben. Auch da lag noch alles unversehrt da, der Rucksack war
kein bisschen zerschlissen. Es schien auch nichts vom Inhalt zu fehlen. Einzig und allein einige
Visitenkarten, die in Oranges Rucksack waren, schienen etwas angekaut. Aber es waren nicht
Oranges Visitenkarten, die angekaut waren. Diese waren völlig intakt. Vielleicht hatte sein Foto die
Rüpli abgeschreckt. Stattdessen war der Stapel der Visitenkarten angefressen, den der Pensionsleiter
Orange mitgegeben hatte. Er hatte ihn in Orania City getroffen und sie nach einem kurzen Gespräch
alle geschenkt bekommen. Der Pensionsleiter schien die Karten nicht mehr zu brauchen, vielleicht
hatte er schon neue gedruckt.
„Hm, das ist komisch“, sagte Ormal.
– 51 –
„Vielleicht mögen sie nur bestimmte Menschen? Vielleicht mögen sie mich nicht und den
Pensionsleiter schon, sodass sie die Ecken abkauen wollen“, gab Orange zu Bedenken.
Aber Ormal hielt das offenbar für unwahrscheinlich. Er schaute sich die Karten ganz genau an und
roch an ihnen: „Sie riechen unmerklich nach Moschus. Fast schon etwas eklig. Wie ein Ekelparfüm.“
„Ih, wie eklig!“, rief Eich, der sich in diesem Moment mit einem Moschusparfüm einsprühte, sodass
das ganze Labor nach Moschus roch.
„Wenn das die Rüpli anlockt“, warf Orange ein, „müssten sie sich jetzt eigentlich auf Eich
stürzen, oder?“
Ormal nickte. Aber die Rüpli stürzten sich nicht auf Eich.
„Ich meine, es ist etwas anderes. Sieh mal, die Karten sind etwas staubig.“ Ormal wischte mit dem
Finger über eine der unteren Karten. An seinen Fingern klebte ein schneeweißer Staub.
Eich öffnete einen Schrank und reichte Ormal ein Mikroskop. „Hier hast du ein Mikroskop“, Eich
wischte einmal drüber, „ich habe es soeben gewischt!“
Ormal stellte das Gerät auf einen Tisch und schaute hindurch und sagte leise „Oho!“ Dann wandte er
sich an Orange: „Das ist Carbonpulver in höchster Potenz. Das gibt es im Handel gar nicht zu kaufen,
aber es klebt an diesen Karten dran. Wie kann das sein?“
„Es stammt aus Holland!“, rief Eich und wirbelte in einen anderen Raum.
„Hm, das ist möglich“, sagte Ormal, „aber warum klebt es dann hier dran?“
Orange nahm sich eine Visitenkarte und sah sie an. Sie war recht unspektakulär, abgesehen von der
schmantigen Schicht Pulver, die auf ihr klebte. In großen Buchstaben stand als Titel „PENSION
AZURIA“ und darunter: „Liebevolle Aufzucht für Ihre Pokémon ohne Sonderbonbons“. Darunter
befand sich noch eine Telefonnummer und eine Faxnummer.
„Wollen wir da mal anrufen? Fragen wir ihn doch einfach mal“, schlug Orange vor. In dem Moment
fiel ihm ein, dass der Pensionsleiter wahrscheinlich gar nicht mehr zu Hause war, er war auf ein
fernes Eiland gereist, zumindest hatte er das gesagt. Aber Ormal hatte schon die Wählscheibe
gedreht und im Hintergrund begann ein Grammophon laute Musik zu machen.
Ormal schaltete das Telefon auf laut.
TUUUT.
TUUUUUUT.
Das Tuten hörte auf.
Jemand räusperte sich. Er hustete laut und redete dann mit einer Stimme, die eindeutig die des
netten Pensionsleiters war, diesmal aber barsch und unerfreut klang:
„Grozing, Eberhard. Azuria City Pension, wir kümmern uns LIEBEVOLL“ – das klang nicht sehr nett –
„um ihr Pokémon – aber JETZT NICHT!“, er klang aufgebracht und schrie fast.
„Und Sie verschwenden Ihre Zeit, hier spricht nämlich der Anrufbeantworter und es wird kein Piep
geben, hinter dem Sie sprechen können, ich will Ihre Nachrichten nicht hören! Ich bin jetzt im Urlaub
und die Pension ist zu. Und … Sie brauchen mir auch nicht mehr Ihre Pokémon vorbeibringen, Sie
brauchen überhaupt auch keine Rüpli mehr herbringen. Der Rüpli-Service ist beendet. Und nochwas:
Wenn Sie noch eines dieser Dinger haben, geben Sie ihm kein Carbon! Haben Sie das verstanden?
Wiederhörn, aber nicht so schnell!“
Ormal legte auf und atmete tief durch.
– 52 –
Zwischenspiel: Der geheime Plan der Safcon
I
n dieser Nacht war viel los. Ormal hämmerte die ganze Zeit hinter verschlossenen Türen
Daten in seinen Computer ein. Eich assistierte ihm und bereitete ihm Milchshakes zu. Auch
Orange und Bisasam waren dabei und versuchten das Rätsel um die Rüpli zu entschlüsseln.
Die anderen Pokébälle hatte Orange in einem Zimmer im Obergeschoss liegen gelassen, dort, wo die
Unterkunft für Gäste von Eich war. Orange hatte noch drei Safcon und ein Raupy. Auch sie schliefen
nicht in dieser Nacht, denn sie hatten einen ausgefeilten, geheimen Plan und hatten sich aus ihren
Pokébällen befreit.
Nun würden sie erst einmal ihre Panzer stählen müssen. Raupy schob Wache, am Rande der Tür,
während die Safcon Härtner einsetzten. Umso mehr sie ihre Panzer härteten, umso stärker fühlten
sie sich. Ein potentieller Angreifer würde jetzt einfach an ihrem betonharten Panzer abschmettern.
Aber keiner würde sich trauen, sich ihnen auch bloß zu nähern. Einen Angreifer würden sie schon
durch ihren Anblick in die Flucht schlagen, denn ihre Panzer glänzten wie geschliffener, rostfreier
Edelstahl.
Das stärkste Safcon, es war im Level sieben und damit der Anführer der Gruppe, hatte den geheimen
Plan ausgearbeitet. Die Pokémon hatten keine Lust mehr, die ganze Zeit in ihrem Pokéball zu sein
und mit Orange, diesem Loser, zu reisen – und der war ja wirklich gescheitert, er hatte nicht einmal
einen Orden gewonnen. Nicht nur das, er hatte überhaupt keinen Trainerkampf gewonnen. So ein
Trainer passte einfach nicht zu den eisernen Safcon, sie wären schon eher die passenden Pokémon
für den Champ der Pokémonliga. Gemeinsam mit einer Armee aus Safcon wäre er unschlagbar.
Eingeschüchtert von der mächtigen Erscheinung seiner Pokémon, würden seine Herausforderer
schnell das Weite suchen. Raupy würde den Champraum mit geschmackvollen gesponnenen Fäden
dekorieren.
Aber besonders vermissten die Safcon ihren schönen Vertania-Wald mit der erfrischenden Waldluft
und den Tautropfen, in denen sie sich spiegeln und ihren muskulösen Panzer betrachten konnten.
Die Aussicht, endlich wieder teilnahmslos in einem Baum im Vertania-Wald zu hängen, war für die
Safcon noch besser als die Vorstellung, Pokémon des Champs zu sein. Sie würden sich schließlich zu
einem anmutigen Smettbo entwickeln, mit Flügeln wie glänzender Chrom. Sie würden Windstöße
machen, die den ganzen Vertania-Wald in ein sanftes Rauschen versetzten. Aber sie würden
Rücksicht nehmen und nur so sanfte Windstöße erzeugen, sodass keine Bäume dabei entwurzelt
würden. Die drei Safcon und das Raupy hatten schon vorher den Plan miteinander besprochen – nur
Oranges Bisasam sollte nichts wissen, es war zu loyal.
Schließlich schlichen die Safcon mit ihren gehärteten Panzern gemeinsam mit dem Raupy aus dem
Zimmer. Die Tür war nicht abgeschlossen, aber selbst wenn, es wäre für diese Safcon ein Leichtes
gewesen, sie zu knacken. Still und leise bewegten sie sich an Eich vorbei, der gerade im Flur des
oberen Stockwerks einen Milchshake schüttelte. Er hatte sie bemerkt.
„Wollt ihr euch frischmachen? Möchtet ihr eine Orangenmilch?“
Raupy sprang erschrocken in die Luft und sponn verwirrt einen Faden, der aussah wie ein Schlafsack.
Die Safcon taten so, als hätten sie den Professor nicht gesehen. Sie ignorierten ihn einfach. Raupy
hatte sich in dem Faden verheddert und brauchte eine Weile um wieder rauszukommen.
„Na ja, wenn ihr einen Milchshake wollt, müsst ihr es schon sagen! Wisst ihr was, ich lass
euch einfach mal einen da.“
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Er runzelte die Stirn und ging wieder in ein anderes Zimmer. Wie es schien, hatte er sie nicht
durchschaut. Dafür hatten sie jetzt einen Orangenmilchshake, den sie zur Stärkung auf ihre Reise
mitnehmen konnten. Ein Safcon steckte ihn in seinen Beutel, dann traten sie ihren Weg durchs Labor
wieder an.
Die Pokémon hüpften die Treppe zum Labor hinunter. Ein Safcon rutschte aus und ihm entfuhr ein
leiser Schrei: „Saffffcon!“
Es fiel auf eine Jugendstilvase, die an der Treppe stand und laut scheppernd die Stufen runterfiel. Die
Safcon zuckten zusammen und begannen ihre Panzer noch einmal zu härten. Das Raupy sponn
nervös einen Faden zur Decke, hangelte sich hoch und dann wieder runter.
„Dass ihr mir ja nicht noch eine Vase kaputt macht!“, tönte es aus einem Zimmer. Weiter passierte
nichts.
Nun waren die Pokémon endlich im Labor angekommen, wo besondere Vorsicht geboten war.
Nachts waren hier, wenn alle oben in den Wohnräumen waren, Infrarotfallen aktiviert. Schließlich
wollte Eich nicht riskieren, dass ein Einbrecher eindrang und seine Fanhefte zu Stress und Fun in
Kanto klauen würde. Beiläufig wurden auch die teuren Laborgeräte dadurch geschützt.
Ein Safcon holte eine Infrarotsichtkamera hervor, die es im Vertania-Wald gefunden hatte. Auf diese
Weise konnte es die Laserstrahlen sehen, die in verschiedenen Höhen überall durch das Labor gingen
und darauf lauerten, den Alarm auszulösen. In den letzten Nächten war das desöfteren passiert, da
ständig eine Horde Rüpli mitten durch die Laser liefen. Inzwischen hatten sie aber gelernt und die
Alarme wurden seltener. Auch einige Rüpli waren wach und beobachten die Safcon mit Skepsis. Eines
wollte schon angreifen, als es merkte, dass die Safcon eine Amrenabeere dabei hatten. Doch das war
nur der Köder, den die Safcon in die Menge warfen. Die Rüpli schnaubten, aber das war nur der
gewöhnliche Lärm, den alle schon gewohnt waren. Er übertönte die Geräusche der Safcon.
Das Raupy sponn einen Faden, an dem sich die vier Pokémon entlang hangelten, um nicht in die
Infrarotstrahlen zu gelangen. Endlich erreichten sie den Ausgang, der aber mittlerweile wieder
verschlossen war. Die Rüpli hatten die Tür kaputtgemacht, doch anscheinend hatte sie irgendjemand
wieder eingebaut. Es schien eine neue Tür zu sein, denn diese hatte anders als ihre Vorgängerin ein
Bullauge, als Guckloch in die Freiheit. Nach draußen, wo schon die Morgenluft auf sie wartete. Also
warfen sich die Safcon gegen das Bullauge. Doch nichts passierte. Konnte etwa dieses popelige
Plexiglas der Wucht eines mehrere hundert Millimeter großen Safcons trotzen?
Weil sie nicht aus der Tür kamen, sponn Raupy einen Faden zum Luftschacht. Sie hangelten sich also
weiter. Kurz bevor sie ihn öffneten, ging der Alarm los.
„Ich kauf mir bald mal eine Alarmanlage, die nicht ständig losheult, nur weil irgend so ein Wicht in die
Infrarotstrahlen läuft. Das nervt total!“, rief Eich aus dem Arbeitszimmer. Dann ging die Alarmanlage
wieder aus.
Im Luftschacht war es heiß und überhaupt nicht gemütlich. Ganz anders als im Vertania-Wald, wo an
jeder Ecke sehr schöne Büsche zum Verweilen einluden. Nachdem sie durch den Schacht gekrochen
waren, kamen die Safcon und das Raupy endlich ins Freie. Schnell schlichen die Pokémon zum hohen
Gras Alabastias, in dem sie Schutz suchten. Bis zum Morgengrauen würden sie endlich wieder in
ihrem Wald sein, denn von Vertania City fuhr ein Bus.
– 54 –
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