Die Stadt als Fokus gesellschaftlicher Veränderungen Prof. Dr. rer

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Die Stadt als Fokus gesellschaftlicher Veränderungen
Prof. Dr. rer. nat. Hans-Heinrich Blotevogel
http://www.motorradphilosophen.de/geographie/blotevog/stadtgeo/fokus.htm
"Suburbanisierung"
Als Prozeß in Nordamerika seit den 20er Jahren, in Deutschland im wesentlichen erst seit den 60er
Jahren beobachtet, ausgelöst durch Umzüge von Mittelschicht-Haushalten aus den Großstädten in
die zuvor ländlichen Umlandgemeinden.
Definition nach Friedrichs (1977): "Verlagerung von Nutzungen und Bevölkerung aus der Kernstadt,
dem ländlichen Raum oder anderen metropolitanen Gebieten in das städtische Umland bei
gleichzeitiger Reorganisation der Verteilung von Nutzungen und Bevölkerung in der gesamten Fläche
des metropolitanen Gebietes".
Andere kürzere (allerdings auch zirkuläre) Definition: "Intraregionale Dekonzentration" innerhalb von
Stadtregionen. Zusätzlich kann man unterscheiden:
a) absolute Dekonzentration (mit absoluter Schrumpfung der Kernstadt) und
b) relative Dekonzentration (nur relativ größeres Wachstum der Umlandgemeinden).
Diese Definition setzt voraus: Konzept der "Stadtregion", entwickelt in den 50er Jahren von Olaf
Boustedt und weiterentwickelt in den 60er Jahren von der Akademie für Raumforschung und
Landesplanung in Anlehnung an das nordamerikanische Konzept der "Metropolitan Statistical Area"
als Modell zur vergleichbaren Beschreibung von Agglomerationen, die durch das räumliche
Wachstum über die politisch-administrativen Grenzen der Kernstädte (Suburbanisierung) entstanden
sind.
Abgrenzungskriterien: a) Strukturmerkmale (Einwohner-Arbeitsplatz-Dichte),
b) Verflechtungsmerkmale (Pendlerverflechtungen).
Man unterscheidet:
a) "Bevölkerungssuburbanisierung" (zunächst ausschließlich beobachtet und untersucht),
b) "Industriesuburbanisierung",
c) "Dienstleistungssuburbanisierung".
Gründe für die Bevölkerungssuburbanisierung:
- Zunahme der privaten Einkommen (Voraussetzung für weitere Faktoren),
- Privatmotorisierung der Haushalte,
- Zunahme des Wohnflächenkonsums (größere Wohnungen, Einfamilienhaus),
- Wertewandel (Umweltsensibilität, Wunsch nach naturnahem Wohnen),
- Verdrängung von Wohnnutzung aus den Innenstädten (Push-Faktor),
- Stellung im Lebenszyklus (typischer "Suburbanit": gut verdienender Mittelschicht- aushalt mit 1-3
kleinen Kindern);
- aufgrund dieser Faktoren wird erklärlich, daß die Suburbanisierung a) konjunkturabhängig ist und b) vor allem in den sechziger bis achtziger Jahren erfolgte.
Gründe für die Industriesuburbanisierung:
- Zunahme des gewerblichen Flächenbedarfs (eingeschossige Anordnung, Bedarf an Parkplätzen,
Erweiterungsreserven usw.),
- Verdrängung aus den Kernstädten (Kosten, Erweiterungsflächen-Mangel, Umweltauflagen),
- Lockerung früherer Standortbindungen (z.B. an Eisenbahn).
Gründe für die Dienstleistungssuburbanisierung:
- wachsender Flächenbedarf (Abnahme der Flächenproduktivität im Handel),
- Veränderung, teilw. Umkehrung der Erreichbarkeitsverhältnisse Stadt-Umland,
- Zunahme der Nachfrage im suburbanen Raum (als Folge der Bev.-Suburb.),
- Auslagerung von "Back-Offices" aus Kostengründen (und teilw. wg. veränderter
Erreichbarkeit).
Folgen der Suburbanisierung:
- Rückwirkungen auf die Kernstädte: Abwanderung jüngerer Mittelschicht-Haushalte
führt zu sozialstrukturellen Verwerfungen (Zurückbleiben der 4 "A"s: Arme,
Alte, Ausländer, Arbeitslose; Folge: fiskalische Schere mit zunehmenden Sozial
ausgaben der Kommunen und sinkenden Steuereinnahmen;
- Gesamte Stadtregion dehnt sich räumlich aus mit zunehmenden Verkehrsbelastungen,
Bewertung: Verlust der Nachhaltigkeit gegenüber der "kompakten Stadt";
"Desurbanisierung" ("Counter urbanization")
Von B. Berry bereits 1973 in den USA beobachtet, in Europa erst seit den 80er Jahren.
Desurbanisierung bezeichnet im allgemeinen Sinne eine "interregionale Dekonzentration" (von
Bevölkerung und wirtschaftlichen Aktivitäten) zu Lasten der großen Städte und Stadtregionen und
zugunsten der ländlichen Regionen bzw. kleiner Gemeinden. Desurbanisierung entstand in den 70er
Jahren in einer Übergangsphase zunächst durch die räumliche Ausweitung (und das Abflachen) der
"Suburbanisierungswelle"; seit den 80er Jahren zeigen in den meisten Industrieländern aber auch die
meisten peripheren ländlichen Regionen positive Salden.
Entscheidender Unterschied zur Suburbanisierung: auch Arbeits- und Versorgungsorte im ländlichen
Raum, d.h. nicht mehr funktional auf Stadtregionskerne bezogen.
Erklärung:
- Saldo der Ballungsvor- und -nachteile kehrt sich um zugunsten der ländlichen Räume:
- Rückgang der landwirtschaftlichen Erwerbstätigkeit flacht asymptotisch ab;
- Ubiquität harter Standortfaktoren wie Verkehr, Versorgung;
- Ballungsnachteile (hohe Kosten, Umweltbelastung usw.) werden wichtiger;
- Industrialisierung der ländlichen Räume;
- Wertewandel zu Lasten urbanen und zugunsten naturnahen ländlichen Lebens.
Diese Faktoren gelten für Bevölkerung (und tendenziell auch für das produzierende Gewerbe), kaum
jedoch für metropolitane Funktionen (unternehmensorientierte Dienstleistungen).
Neuerer Trend seit den 80er Jahren: "Re-Urbanisierung" (?)
Beobachtet in den Nordamerika seit den 80er Jahren, in den 90er Jahren auch in Europa (aber
umstritten, ob es sich überhaupt um einen generellen Trend handelt).
Faktoren der Re-Urbanisierung:
- überproportionales Wachstum der stadtzentrierten Dienstleistungen (insbesondere
unternehmensorientierte Dienstleistungen, Finanzwesen usw.);
- internationale Immigration, die sich überproportional auf die Kernstädte richtet;
- "Gentrifizierung" bestimmter citynaher Wohnquartiere;
- sozio-demographischer Wandel (höherer Anteil von Single-Haushalten).
Beispielhafte Studie: Ley, David (1996): The new middle class and the remaking of the central city.
Oxford: Oxford Univ. Press. 383 S. = Oxford Geographical and Environmental Studies.
Studie über das "Embourgeoisement" (Verbürgerlichung) der citynahen Stadtbezirke, empirisch
basierend auf den großen kanadischen Städten, aber weithin verallgemeinerbar. L. bevorzugt den
Begriff "Embourgeoisement" statt des mißverständlichen metaphorischen Begriffs "Gentrification".
Dieser Prozeß wird als Teil eines umfassenderen ökonomischen, sozialen und politischen
Restrukturierungsprozesses interpretiert, wobei die ökonomischen, sozialen und politischen
Transformationen teils als Ursache, teils als Folge aufgefaßt werden.
Klassische Modelle der Sozialökologie: ältere Innenstadtviertel durchlaufen einen "Filterprozeß", so
daß ihr sozialer Status immer weiter absinkt; dies ließ sich im großen und ganzen bis zu den 60er
Jahren bestätigen.
Heute sind jedoch andere Prozesse zu beobachten: zunehmend kleine Haushalte, berufstätig im
"professional-managerial sector", meistens in der Downtown, Altersstruktur meist einerseits um die
30, andererseits "empty nesters", meist in condominiums wohnend. Der Prozeß umfaßt sowohl
"renovation" (Renovierung von Altbauten) als auch "redevelopment" (Abriß und Neubau).
Betont, daß diese Prozesse nicht ohne weiteres verallgemeinerbar sind: S. 8: "... that there is a
geography of gentrification: that the trends remaking the inner cities of Toronto, San Francisco, or
London are not shared by Winnipeg, Detroit, or Liverpool. Nor is every neighbourhood equally
susceptible to middle-class settlement."
Zusammenhänge dieses Prozesses mit:
a) ökonomischer Restrukturierung: Wachstum des professional-managerial Sektors, der heute bereits
30% der kanadischen Beschäftigung ausmacht; teils nationale Trends, teils city-spezifische Trends),
Ausbau des HEW-Komplexes (health, education, welfare; führt insb. zur Steierung der FrauenErwerbsbeteiligung);
b) Immobilienmarkt entdeckte seit den 70er Jahren die (damals) billigen innenstadtnahen Quartiere;
bauliche Prozesse: Veränderungen der Einzelhandelsstruktur, neue Branchen, Ambivalenz
postmoderner Architektur; neuer Slogan: "A city to live in and enjoy";
c) sozial-demographischer Wandel: Infragestellung der Kleinfamilie, neue Jugend- und
Protestkulturen, Single- und DINKs, innenstadtorientierte Lebensstile; "Follow the Hippies": The
cultural politics of gentrification: Jugend-Protest-Kulturen in den Städten, Künstlerkolonien; später
gefolgt von Yuppies und verschiedenen Lebensstilen;
d) politischer Wandel: Wechsel der Stadtpolitik von suburbaner Außen-Expansion zur InnenstadtEntwicklung; "The new urbanism: the neighbourhood movement": Nachbarschaftsbewegung, d.h.
Bürgerinitiativen für kleinräumige Belange, oft von Frauen getragen; neue reformorientierte Parteien
wie Gründe, von intellektuellen Mittelschichten getragen;
Folge: zunehmende sozio-ökonomische Polarisierung und Verdrängung der
einkommensschwächeren Haushalte.
Hilfreich zum Verständnis sind drei wesentliche theoretische Konzepte:
1) These der post-industriellen Gesellschaft (D. Bell);
2) Übergang zum Postfordismus (polit-ökonomische Interpretation);
3) Die postmoderne Stadt (als Ausdruck einer neuen Geschmackskultur mit veränderten
Konsumstilen und Werten).
Kontroverse Diskussion der Bedeutung des Prozesses: Einerseits haben Kritiker Recht, die vor einer
Überschätzung warnen (Berry: "Islands of renewal in seas of decay"; Bourne: Der EinkommensGradient in den kanadamischen Städten hat sich seit den 50er Jahren nicht wesentlich verändert
(aber dabei muß man Haushaltsgrößen und Frauenerwerbstätigkeit beachten!)), so daß man
Gentrification nicht als Umkehrung der anhaltend bedeutsamen Suburbanisierung mißverstehen
darf. Gentrification läßt sich auch nicht einfach mit dem traditionellen Sozialstatus-Konstrukt messen.
Kritische Auseinandersetzung mit der "Post-gentrification-These": Einige Prozesse schwächen sich
zwar ab (Wohnungsnachfrage des Baby-Booms der Nachkriegszeit; Stagnation des HEW-Komplexes
("health, education, welfare"), aber andere Prozesse, die in Richtung Gentrification wirken,
verstärken sich: Internationalisierung, Trend zur "Executive city"
Räumliche Polarisierung der Stadt als Ausdruck allgemeiner gesellschaftlicher Polarisierung:
- Modell der 'dual city' oder 'two speed city'
- Modell der dreigeteilten Stadt:
1) 'erste Stadt': international wettbewerbsfähige Stadt,
2) 'zweite Stadt': Wohn-, Arbeits- und Versorgungsstadt der Mittelschichten;
3) 'dritte Stadt': sozial marginalisierte Gruppen, insb. Ausländer, Arbeitslose, Sozialhilfeempfänger,
Alleinerziehende (sog. "A-Stadt").
- Krätke (z.B. 1995): Modell der 'quartered city' mit 5 typischen Quartieren:
1) Stadt der Herrschaft und des Luxus (Büros, Shopping-Center, Hotels),
2) gentrifizierte Wohnstadt (gentrifizierte Altbauquartiere und moderne Villen- und
Apartmentviertel) für Manager, Yuppies usw.
3) mittelständische Stadt,
4) Mieterstadt der niedrig entlohnten Arbeiterbevölkerung in unsicheren
Beschäftigungsverhältnissen,
5) aufgegebene Stadt der Verarmten und anderen Randgruppen.
Städte gleichen immer mehr einem sozio-ökonomischen 'Flickenteppich' mit Armutsinseln und
Luxusvierteln.
Soja, Edward W. (1995): Postmoderne Urbanisierung. Die sechs Restrukturierungen von Los Angeles.
In: Gotthard Fuchs, Bernhard Moltmann und Walter Prigge (Hg.): Mythos Metropole. Frankfurt a.M.:
Suhrkamp. S. 143-164. = Edition Suhrkamp 1912.
Vortrag über postmoderne Stadtentwicklung am Beispiel von Los Angeles. Sechs Prozesse bzw.
Phänomene werden als Hauptlinien der Entwicklung zur Postmoderne herausgestellt: 1)
Restrukturierung der ökonomischen Grundlagen (von der fordistischen Produktion und Konsumtion
zu flexiblen Produktionssystemenmit Neo-Industrialisierung),
2) Entwicklung zur global city,
3) Restrukturierung der urbanen Form,
4) neue kaleidoskopartige Sozialstruktur,
5) befestigte Stadt mit privaten Sicherheitssystemen,
6) radikaler Wandel der Vorstellungswelt des Urbanen, Entstehgung von Hyperräumen.
Fazit: die Stadt als Fokus gesellschaftlicher Veränderungen in der Postmoderne:
1) Fragmentierung und neue Disparitäten sowohl innerhalb der Städte als auch zwischen den Städten
als Ergebnis von zwei Prozessen:
a) Entindustrialisierung und Dienstleistungswachstum (insb. metropolitaner Funktionen),
b) Rückzug des Wohlfahrtsstaates ("Unternehmer- und Suppenküchen-Stadt");
Folge: mehrfach geteilte Stadt.
2) Allgemeine Trends und Muster verlieren an Bedeutung: Auflösung der klassischen
sozialökologischen Muster, flickenteppichartiges Nebeneinander von Sub-, Des- und
Reurbanisierung;
3) Neue Bedeutung von Kultur und Ästhetik ("Stadt als Bühne", "Fun City") anstelle des Leitbildes des
"funktionierenden und versorgenden Stadt".
Neuere Veränderungen in den Stadtzentren
Kombination von Einkaufen und animierter Freizeitgestaltung: "Urban Entertainment Center" (UEC)
Zuerst in USA entwickelt, Vorbilder: Las Vegas, Atlantic City sowie:
Umgestalteter Times Square in NY mit "E Walk": Kombination aus Hotels, Flaniermeile, Einkaufen
und Unterhaltung.
Seit 1998 in Europa in vielen Städten in Planung bzw. im Bau:
CentrO in Oberhausen: Kombination konventionelles Shopping-Center mit rudimentärem UEC.
"Erlebniscentrum Stuttgart International" ("SI") (Fa. Stella): Prototyp außerhalb der City Nähe
Autobahnkreuz und Flughafen-Zubringer mit Multiplex-Kino, Spaß- und Fitneß-Bad, Spielbank,
Souvenirshops, Hotels mit Kongreßsälen, zwei Musical-Theater.
Krystall-Palast neben Hbf in Leipzig: mit Südseestrand, Almhütte, Skater-Bahnen.
Frankfurt: ehem. Güterbahnhof zwischen Hbf und Messeglände.
Eigenschaften:
(1) inszenierte Erlebniswelten, die mit dem traditionellen Verständnis von historisch gewachsenen,
authentischen Stadträumen radikal brechen und künstliche, simulierte Stadträume ("Hyperräume")
an deren Stelle setzen.
(2) Kombination von Shopping, Entertainment, Städte-Tourismus.
Historische Stadtentwicklung
Altertum Mittelalter Frühe Neuzeit Industriezeitalter Nachkriegszeit
Altertum
Älteste Stadtkulturen entstanden nach bzw. im Zuge der sog. neolitischen Revolution (Übergang von
der extensiven und großenteils nomadischen Jäger- und Sammler-Ökonomie zur Ackerbau- und
Viehzucht-Ökonomie, nachgewiesen isnb. in Kleinasien und Mesopotamien:
1) Anatolien: Çatal Hüyük ab ca. 6000 v.Ch. (Ausgrabungen mit Zeugnissen einer Ackerbau-,
Gewerbe- und Handels-Kultur; kulturelle Symbole zeugen von der Jäger- und Sammler-Tradition).
2) Uruk-Kultur seit ca. 3300 v. Chr.; Stadt Ur Blütezeit ca. 2500-1900 v.Chr., Babylon ab ca. 1800
v.Chr.
Gründe für Stadtentwicklung: Organisationsaufgaben der Bewässerungslandwirtschaft im
Zweistromland; dadurch berufliche und ökonomische Arbeitsteilung; Aufzeichnungen der "TempelLandwirtschaft" führten zur Entwicklung der Schrift (Keilschrift).
Sumerische Stadtkultur: Stadtstaaten inmitten von Bewässerungsland
Städte: befestigt, Mitte: Burgbezirk des Stadtfürsten mit Tempelanlagen dicht bebaute Wohnviertel
mit Sackgassen; Wohngebäude 1-2geschossig, nach außen abgeschlossen, mit offenem Innenhof.
Andere frühgeschichtliche Stadtkulturen in Ägypten, im Indus-Tiefland, in China.
Griechische Stadtkultur der Polis, Blütezeit ca. 800-338 v. Chr., insb. 510-400 v.Chr. Sparta (südl. Teil
des Peleppones), Korinth, Athen
Ökonom. Grundlage: Landwirtschaft, Grundbesitz meist im Eigentum der Bürger, Bewirtschaftung
erfolgte meist durch Sklaven. In Städten Handwerk im Besitz der Bürger und Metoiken (rechtlose
Fremde als soziale Mittelgruppe).
Griech. Stadt: Ummauerter Stadtbezirk mit zwei Polen: Burg (Akropolis mit Tempeln) und Marktplatz
(Agora)
Ausbreitung der griech. Polis: insb. nach Kleinasien (Milet, Ephesos, Priene) dann auch nach Sizilien
(Syrakus, Agrigent), Unteritalien (Tarent, Kroton, Reggio).
Unter Alexander Ausbreitung der hellenistischen Stadtkultur (um 300 v.Chr.) nach ganz Kleinasien
(Pergamon), Palästina (Antiocheia), Mesopotamien, auch Alexandria
Auf der Basis der griechischen Stadt entstand die Römerstadt (ca. 200 v.Chr. - 400 n.Chr.)
Charakteristisch: schachbrettartiger Grundriß gemäß dem Hippodamischen Schema
(geometr. Straßengrundriß von Hippodamus beim Wiederaufbau von Milet 450 v.Chr.)
Ausbreitung der Römerstadt von Italien nach Norditalien, Nordafrika (insb. Tunesien), Iberische
Halbinsel, Gallien, S- und W-Deutschland, England.
Merkmale:
- Lage meist in der Ebene, meist an Heer- u. Handelsstraßen,
- Straßengrundriß meist rechtwinklig, teilw. quadratisch
- oft 2 Hauptstraßen: via pricipalis, gekreuzt von einer zweiten (Decumanus) dadurch entstehen
"Viertel" ("Quartiere"). Bei größeren Städten werden die Blöcke zu "insulae" zusammengefaßt.
- Mittelpunkt: Forum (meist rechteckiger Marktplatz) mit öff. Gebäuden wie Gericht, Palast,
Versammlungshallen, Zunfthäuser, insb. Tempel
- weitere typ. Gebäude oft im Stadtgebiet verstreut: Tempel, Amphitheater, Thermen.
Beispiele: Rom (zusammengesetzter, komplizierter Grundriß; 1.-3. Jh. ca. 100000 Ew.),
Pompeji (infolge Vesuvausbruch 79 n.Chr. als Ruinenstadt erhalten; gutes Beispiel)
Gründungsstädte mit sehr regelhaftem Grundriß in Norditalien z.B. Aosta, Como.
In Deutschland Römerstädte südl. und westl. des Limes, oft entstanden aus Militärlagern: Castra
Regina (Regensburg), Augusta Vindelicorum (Augsburg), Argentorate (Straßburg), Mogontiacum
(Mainz), Augusta Treverorum (Trier), Antunnacum (Andernach), Bonna (Bonn), Colonia Claudia Ara
Agrippinensium (Köln), Novaesium (Neuß), Asciburgium (Moers-Asberg), Colonia Ulpia Traiana
(später Xanten).
Mit dem Zusammenbruch des Römerreichs und der Völkerwanderungen (4.-5. Jh.) schrumpften viele
Städte oder fielen gar wüst. Siedlungskontinuität bis zur mittelalterlichen Verstädterung beruhte
meist auf Bischofssitz (Burg), während die übrige Stadt großenteils verfiel (Bspe.: Köln, Mainz, Trier,
Worms, Speyer, Straßburg, Augsburg, Konstanz, Basel). In anderen Fällen entstanden die
mittelalterlichen Städte in der Nähe der römerzeitlichen Ruinenstädte, z.B. in Bonn, in Xanten
(Märtyrergrab d. Hl. Victor, Kapelle, Stift, Stiftssiedlung).
Mittelalter
Vor- und Frühformen der mittelalterlichen Stadt (8.-9. Jh.)
In dieser Zeit bestanden in Mitteleuropa praktisch keine Städte, lediglich Siedlungen mit einzelnen
städtischen Funktionen. Nur in wenigen Fällen Anknüpfungspunkte an das römerzeitliche Städtenetz;
wichtiger sind neue Wurzeln, die zur späteren Verstädterung führen:
- Bischofsburgen (Domburgen), teils der römerzeitlichen Bischofssitze, teils der karolingischen
Christianisierung; z.B. Hamburg, Bremen, Münster, Minden, Paderborn etc.,
- Klöster(burgen) z.B. in Hameln und Helmstedt,
- Königshöfe, insb. der Karolinger, und Pfalzen als militärische und wirtschaftliche Stützpunkte der
Könige und Herzöge, z.B. Duisburg, Soest usw. am Hellweg,
- Kaufmannssiedlungen (Wik), zunächst als periodische Siedlungen, dann als ständige Siedlungen (z.B.
Haithabu, Bardowiek, Dorestad), dann auch im Schutz von Burgsiedlungen entstanden, z.B. in
Münster, Soest.
Mutterstädte (ca. 1000 - 1150)
Ab etwa 1000 entwickeln sich durch die Kombination der herrschaftlich-kirchlichen Wurzel mit der
kaufmännisch-bürgerlichen Wurzel quasi "von selbst", d.h. ohne formel-len Gründungsakt, die ersten
"Städte" im vollen mittelalterlichen Sinn. Ausgehend vom Maas-Schelde-Raum (Gent, Antwerpen)
entwickelten sich "Mutterstädte" zunächst im Rheinland (Köln, Duisburg), dann auch an Weser
(Bremen, Minden), Elbe (Hamburg), Main (Frankfurt, Nürnberg) und Donau (Ulm, Regensburg).
Entscheidender ökonomischer Faktor: Entfaltung des Marktwesens, d.h. Ergänzung der
Subsistenzwirtschaft durch Fern- und Regionalhandel. Neben dem Adel wurden die Kaufleute die
bestimmende soziale Schicht. Daneben entstand eine breite Handwerker-schaft, die für den Markt,
d.h. auch für den überörtlichen Absatz, produzierte.
Dies führte insbes. im 12. Jh. zu einem starken Städtewachstum, z.B. Köln 1106 erweitert von 120 auf
236 ha, dann 1180 auf 400 ha!
Frühe Gründungsstädte (1120-1220)
Im Gegensatz zu den "gewachsenen" Städten entstanden ab 1120 Gründungsstädte, die meist durch
einen geplanten Grundriß und einen formellen Gründungsakt des Landes-herrn gekennzeichnet sind.
Sie sind am Vorbild der Mutterstädte orientiert und sind zugleich ein Instrument kaiserlicher und
fürstlicher Machtpolitik.
Bedeutende frühe Gründungsstädte: Freiburg i.B. (1118/20 durch Zähringer), Leipzig (1150), Lübeck
(1158), München (1158), Lippstadt (1170).
Grundriß: im Gegensatz zu der unregelmäßigen Struktur der Mutterstädte meist Planform,
z.B. Freiburg: Achsenkreuz von zwei Hauptstraßen, davon eine als Straßenmarkt,
z.B. Lübeck und Lippstadt: Rippenform, d.h. zwei parallele Kaufmannstraßen mit Marktplatz
entweder zwischen den beiden Rippen oder an einer der beiden Hauptstraßen.
Mutterstädte und frühe Gründungsstädte bilden gemeinsam den Typ der mittelalter-lichen Stadt am
klarsten heraus:
Merkmale:
- äußere Abgrenzung durch Mauer und oft Graben,
- kompakte Siedlungsform,
- Mittelpunkt: Markt mit Rathaus, Kaufmannshäusern und Bürgerkirche, oft in Oppo-sition zur
landesherrlichen Burg mit Burgkirche bzw. Bischofsbezirk,
- soziale und räumliche Differenzierung der Stadtbevölkerung: Kaufleute am Markt, Tagelöhner und
niedere Handwerker an der Stadtmauer, Mittelschicht, dazwischen; dem entspricht eine zentralperiphere Abstufung der Gebäude,
- rechtliche Sonderstellung: städtische Selbstverwaltung und eigene Gerichtsbarkeit, Bürgerrecht
("Stadtluft macht frei"),
- ökonomische Funktion: Handel (Fern- und Nahhandel) und Güterproduktion (insb. bei kleinen
Städten aber oft auch Landwirtschaft, sog. "Ackerbürger").
Gründungsstädte des Hochmittelalters (1220-1320)
Diese Zeit wird durch ein allgemeines Wirtschafts- und Städtewachstum gekennzeich-net, aber auch
durch die endgültige Herausbildung der Territorialherrschaften. Die Städtegründungen dieser Zeit
führten prinzipiell die Entwicklung des vorangehenden Zeitabschnitts fort; doch da die besten Lagen
vielfach schon "besetzt" waren, entstanden meist nur kleinere Städte, z.B. Dorsten, Dinslaken,
Ratingen, aber auch Düsseldorf (1288).
Während bei den frühen Gründungsstädten zumeist macht- und wirtschaftspolitische
Gründungsmotive nebeneinander stehen, rücken bei den späten Gründungen oft militärischmachtpolitische Gründe in den Vordergrund. Im Zeitalter der sich ausbil-denden Flächenterritorien
und häufigen Fehden dienen Städte dazu, die Territorial-ansprüche der Landesherrn - auch
militärisch - zu sichern. Städte deshalb oft in Spornlage (mit landesherrlicher Burg).
In den großen Städten kommt es häufig zu Machtkämpfen zwischen dem Bürgertum (führende
Schicht meist Kaufleute) und dem Landesherrn. Viele Städte bilden Städte-bünde (z.B. Hanse,
Rheinischer Bund) und erreichen eine mehr oder weniger große Selbständigkeit gegenüber dem
Landesherrn, teilw. sogar als Freie Reichsstädte: z.B. Köln, Aachen, Dortmund, Bremen, Goslar,
Wetzlar, Frankfurt, Nürnberg, Rothenburg, Dinkelsbühl, Augsburg, Ulm, Eßlingen.
Gründungsstädte des Spätmittelalters (1320-1500)
Trotz allgemeiner wirtschaftlicher Stagnation gehen die landesherrlichen Städtegrün-dungen weiter;
es entstehen allerdings meist nur noch Klein- und Kümmerformen, oft aus militär- und
machtpolitischen Motiven, desh. oft in Sporn- und Grenzlagen.
Beispiele: Isselburg, Ruhrort, Zons. Meist nur ca. 5-10 ha, wenige 100 Ew.
"Minderstädte" (H. Stoob), oft "Freiheit" oder in Westfalen "Wigbold" genannt, sind Kümmerformen
des Spätmittelalters. Als Städte minderen Rechts besitzen sie nur einen Teil der Merkmale des
mittelalterlichen Stadttypus.
Städtesystem Mitteleuropas um 1500 als Ergebnis der mittelalterlichen Urbani-sierung: Führende
Schicht: große Handels- und Gewerbestädte, dies sind meist Freie Reichsstädte: größte Stadt: Köln
(ca. 40 000 Ew), weitere Städte über 10 000 Ew, also "Großstädte": Lübeck, Hamburg, Bremen,
Magdeburg, Braunschweig, Münster, Soest, Aachen, Frankfurt, Nürnberg, Augsburg, Ulm, Straßburg.
Oft sind dies die ältesten Städte (Bischofsburgen mit Kaufmannswik oder frühe Gründung)!
Phasen der Stadtentstehung nach H. Stoob 1956:
Häufigkeitsdiagramm verdeutlicht die Bedeutung der mittelalterlichen Urbanisierung:
Ca. 2/3 aller deutigen Städte entstanden zwischen 1150 und 1450! Maximum zwischen 1220 und
1350; allerdings waren die wenigen frühen Gründungen viel bedeutender.
Zwischen 1450 und 1800: "Städtetal" (H. Stoob). Nur wenige, aber interessante neue Städte
entstanden in dieser Phase der Frühen Neuzeit. Erst im 19. und 20. Jh. wieder mehr neue Städte,
aber längst nicht soviel wie im Mittelalter.
Frühe Neuzeit
Zeit des "Städtetals": In den 350 Jahren zwischen 1450 und 1800 wurden nur halb soviel Städte
gegründet wie zwischen 1250 und 1300! Gründe: große Dichte des mittelalterlichen Städtenetzes,
Stagnation durch Kriege, insb. 30jähr. Krieg.
Mit dem Übergang zur frühen Neuzeit zugleich Übergang von der mittelalterlichen Stadt zur
Renaissance-Stadt (16.-17. Jh.) mit den Prinzipien:
- Gründung durch Landesherrn,
- geplante Anlage durch Stadt- bzw. Festungs-Baumeister im staatlichen Dienst,
- neue ästhetische Prinzipien durch italienische Renaissance (strenge Geometrien;
Einfluß von Ideal-Städten, z.B. Plan von Dürer).
Neben Ausläufern mittelalterlicher Stadttypen (insb. weiterhin "Minderstädte") einige neue
Stadttypen:
Bergstädte des 15.-17. Jh., insb. im 16 Jh.
= landesfürstliche Gründungen auf der Grundlage des Erzbergbaus in den Mittel-gebirgen und in den
Alpen, insb. im Harz, Erzgebirge, Böhmerwald, Schwarzwald.
Beispiele:
Clausthal (1530), Zellerfeld (1526), Andreasberg, Altenau, Lauterberg (Harz),
Annaberg, Schneeberg, Joachimsthal (Erzgebirge)
Schwaz, Rattenberg, Sterzing, Kitzbühel, Schladming (Alpen)
Exulantenstädte (Glaubensflüchtlingsstädte) des 16.-18. Jh.
= Gründungen protestantischer Fürsten zur Aufnahme und Ansiedlung von evangeli-schen
Glaubensflüchtlingen aus den Gebieten der Gegenreformation.
Wichtigste Gruppen:
Französische Hugenotten (nach der Aufhebung des Edikts v. Nantes 1685), insb. in Brandenburg
(Berlin, Erlangen), Hessen (Karlshafen, Homburg, Neu-Isenburg).
Kalvinisten und Mennoniten aus den Niederlanden (insb. aus Wallonien und Flandern) in Krefeld und
Altona (Mennoniten), in Wesel, Friedrichstadt, Glückstadt, Neuwied, Frankenthal.
Lutheraner (z.B. Salzburger Exulanten) in Schlesien und Sachsen (z.B. Johanngeorgen-stadt) und in
Freudenstadt (württemberg. Gründung im Schwarzwald).
Weitere Gruppen: süddeutsche Hutterer in Mähren, Böhmische Brüder, Waldenser.
Festungsstädte des 16. und 17. Jh.
Neugründungen insb. durch Vauban in der zweiten Hälfte des 17. Jh. in Frankreich (Bsp. Neu-Breisach
1698). Daneben häufig Umgestaltung bestehender Städte durch Anlage eines Bastionssystems mit
großem freien Schußfeld (Rayon), z.B. Wesel.
Residenzstädte des 17. und 18. Jh.
Sie verkörpern besonders klar den Typus der "Fürstenstädte", zu dem man die Einzel-typen der
Exulanten-, Festungs- und Residenzstädte auch zusammenfaßt.
Residenzstadt als Ausdruck der absolutistischen Staatsauffassung; Mittelpunkt: Schloß;
sozialräumliche Gliederung der Stadt als Ausdruck der ständischen Gesellschaft.
Vorbild: Versailles als Residenzstadt Ludwigs XIV (1661-ca. 1700); nach diesem Vorbild gegründet:
Karlsruhe (1715), Ludwigsburg (1718).
Häufiger: Erweiterung bestehender Städte um barocke Residenzviertel mit Schloß, z.B.: BerlinCharlottenburg, München-Nymphenburg, Hannover-Herrenhausen, Bonn-Poppelsdorf, Düsseldorf.
Aber auch Bau von Barockschlössern unmittelbar am Rand der bestehenden Stadt, oft anstelle einer
ehem. Zitadelle: Münster, Mannheim, Würzburg, Stuttgart, Koblenz, Dresden, Detmold.
Residenzstädte entwickelten sich oft zu Verwaltungs- und Kulturzentren.
Städtebauliche Prinzipien der Fürstenstädte:
Beeinflußt von den italienischen Renaissance-Stadtplänen mit klaren, streng geometrischen Grundund Aufrissen, oft quadratisch, z.B. Palmanova.
Grundriß: planvolle Anlage mit quadratischen oder rechteckigen Baublöcken (z.B. Mannheim). Die
fächerförmige Straßenanlage Karlsruhes symbolisiert das absoluti-stische Prinzip. Planvolle Anlage
durch fürstliche Baumeister; Eigentumshoheit des Landesherrn.
Aufriß: durch strenge Bauvorschriften gleichförmige, teilweise monotone Gestaltung
Bauliche Staffelung der Geschoßzahlen bringt ständische Gesellschaft zum Ausdruck. Einheitliche
Gestaltung der Fassaden, der Fenster-, Gesims- und Dachformen durch Vorschriften, meist
traufständig!
Städtesystem Mitteleuropas um 1800 als Ergebnis der frühneuzeitlichen Stadtent-wicklung: Die
wenigen Neugründungen bleiben meist klein (Ausnahme: Karlsruhe).
Wichtiger ist die Umgestaltung des bestehenden Städtesystems:
Stark gewachsen sind die großen Fürstenstädte, insb. die großen Residenzstädte als Hauptstädte der
großen deutschen Territorien: Preußen, Österreich, Bayern, Sachsen usw.
Nur wenige der großen alten Handelszentren haben mithalten können: Hamburg, Bremen, Leipzig,
Köln, Frankfurt, Nürnberg. Viele kleinere Reichsstädte stagnierten und wurden von benachbarten
Territorialhauptstädten überflügelt (z.B. Eßlingen, Augsburg, Rothenburg, Dortmund, Goslar).
Insgesamt nur relativ bescheidenes Städtewachstum zwischen 1500 und 1800. Die
Großstadtschwelle hat sich von etwa 10 000 auf etwa 20 000 Ew. verschoben (bis 1900 auf etwa 100
000).
Industriezeitalter (ca. 1800 - 1945)
Das "Industriezeitalter" (19. und erste Hälfte des 20. Jhs.) ist in zweifacher Hinsicht ein
entscheidender Wendepunkt der Stadtentwicklung:
a) Urbanisierung bis hin zur "verstädterten Gesellschaft". Grund: Flächengebundene Agrarproduktion
tritt zurück hinter die industrielle Produktionsweise mit Standortkonzentration vor allem in den
Städten und Revieren.
b) Insbes. in Deutschland: Kriegszerstörungen im 2. Weltkrieg.
Nur relativ wenige Stadtgründungen (vgl. Diagramm von Stoob):
Wichtigste Beispiele: Bremerhaven 1927, Oberhausen 1861, Ludwigshafen 1863, Marl 1936,
Wolfsburg 1938.
Viel wichtiger: Erweiterung bestehender Städte einschl. ihrer Umgestaltung. Charakteristische
Merkmale der industriezeitlichen Stadtentwicklung (in Anlehnung an Schöller 1967):
- Entstehung industrieller Siedlungsagglomerationen, insb. in Montanrevieren (Ruhrgebiet,
Oberschlesien, Saar)
1. Dezentrale Zechenstandorte mit Zechenkolonien in der Nähe,
2. Eisenhütten und Stahlwerke meist in der Nähe bestehender Siedlungen,
3. Bestehende Siedlungskerne werden zu zentralen Orten (insb. Hellwegstädte).
- Insg. wichtiger: industrielle Erweiterungsviertel in bestehenden Städten;
meist ungeplanter Prozeß: Anlage von Fabriken "vor den Toren" der Altstadt. Entstehung von
Arbeitervierteln in deren Nähe. Erst mit der Entwicklung neuer Massenverkehrsmittel ab ca. 18801900 verstärktes Außenwachstum, oft entlang der neuen Verkehrsachsen (S-Bahn).
Rückwirkungen auf die Alt- bzw. Innenstadt: Citybildung, allmähliche Umkehrung des alten,
vorindustriellen zentral-peripheren Sozialgefälles, da die einkommensstarken Haushalte die
Innenstädte verlassen und an den Rand ziehen (neue Villenviertel) und einkommensschwache
Haushalte in die dicht bebauten Innenstadtquartiere nachfolgen (baulich-soziale Abwertung).
- Vereinheitlichung regionaler Bautraditionen
Frühe Neuzeit: Nebeneinander regionaler Baustile (innerhalb und neben Renaissance und Barock)
Industriezeitalter: Angleichung der Regionalstile; regionale Tradition gilt als Provinzialismus, Berlin
wird Vorbild; aber schon um 1900 Gegenbewegung: "Heimatschutz"
Bleibende Regionaltradition: z.B. Backsteinbau und Durchfensterung in Norddeutschland, geringere
Dachneigung in Süddeutschland.
- "Primat des technischen Städtebaus"
= große Leistung des Städtebaus des 19. Jh.: Straßenbeleuchtung und -pflasterung, Bürgersteige von
Fahrbahnen getrennt, Schwemmkanalisation, Gas- und Elektrizitätsversorgung,
Massenverkehrsmittel wie Pferdebahnen, Straßenbahnen, S- und U-Bahnen.
Neue Bauaufgaben ohne Vorbild: Bahnhöfe, Postämter, Brücken, Wassertürme, Fabriken,
Markthallen, Schlachthöfe, Krankenhäuser, Schulen, Museen, Kirchen etc.
- Umgestaltung der Kernstadt
"Citybildung" in großen Städten ab ca. 1880 (Berlin); Regel: Citybildung im Altstadtkern oder
zwischen Altstadt und Bahnhof ("Bahnhofs-City"). Dadurch Verdrängung der Wohnbevölkerung aus
den Innenstädten in die Vororte und räumliche Trennung von Wohn- und Arbeitsstätten.
Nur in großen Städte: Funktionale Differenzierung der City (Regierungs-, Banken- etc. -viertel).
- Umgestaltung der städtischen Wohngebiete
Altstadtviertel sinken in der Regel baulich und sozial ab; es entstehen neue ErweiterungsWohnviertel, zunächst ungeplant, dann nach "Bebauungsplänen", die insb. das Straßennetz und
damit die Fluchtlinien vorgeben ("Fluchtlinienplan"), berühmtes Bsp.: Berliner Bebauungsplan von
James Hobrecht 1862.
Neue Wohnviertel entstehen meist mit klarer sozialer Segregation:
(1) Arbeiterwohngebiete in der Nähe der Fabriken mit geschlossener Bebauung (mehrgeschossige
"Großmietshäuser" mit mehr als 12 und "Mietskasernen" mit mehr als 20 Wohnungen;
(2) Kleinbürgerliche und gemischte Viertel mit geschlossener, mehrgeschossiger Mietshausbebauung
(oft noch mit vertikaler Segregation wie in vorindustrieller Zeit);
(3) Bürgerlich-großbürgerliche Viertel mir offener Bauweise (Villenviertel oft mit Stadtpark).
Entwicklungsphasen:
1. Phase 1800 - ca. 1850
Städtewachstum noch relativ gemäßigt; erste, meist planlose Erweiterungen vor den oft noch durch
Mauer und Tore abgegrenzten Altstädte.
2. Phase: ca. 1850 - 1875
Städtewachstum beschleunigt sich; Fabriken und Arbeiterwohnviertel entstehen.
Städte und/oder staatliche Regierungen entwerfen für diese Viertel "Bebauungs-" oder
"Fluchtlinienpläne", die jedoch staatlich (z.B. vom preußischen Innenministerium) polizeilich
genehmigt werden müssen. Rechtsgrundlage: Allg. Preuß. Landrecht. Demnach kann der
Grundeigentümer im Prinzip sein Grundstück bebauen wie er will. Auflagen lediglich: Fluchtlinie
vorgegeben, feuerpolizeiliche Anforderungen.
Probleme der Städte: Zwar Enteignungsrecht für Anlegung neuer Straßen und Umlegung, aber
Entschädigungszwang und Kosten für Straßenbau.
Straßengrundrisse: meist regelhaft, rechteckig, teilw. begrünte Plätze ausgespart.
Berühmter Berliner Bebauungsplan von James Hobrecht 1862:
Breite, repräsentative Straßen; große Baublöcke führten zur berüchtigten Hinterhofbebauung.
Erschließung und Bebauung durch "Terraingesellschaften" führte zu maximal zulässiger Überbauung:
Hinterhöfe oft nur 6x6 m für Sprungtuch und Wenden der Feuerspritze!
3. Phase: 1875 - 1918
1875: Preußisches "Fluchtliniengesetz" (= Stadtplanungsgesetz). Die Aufstellung von
Bebauungsplänen wird kommunale Angelegenheit und damit vereinfacht; neue
Entschädigungsregeln: Anlieger können zum Straßen- und Kanalbau herangezogen werden.
Entstehung der "gründerzeitlichen" oder "wilhelminischen" Wohngürtel insb. in Berlin, Wien, Leipzig
u.a. großen Städten durch private Investoren (Bauunternehmer, Handwerker, Terraingesellschaften).
Wichtige Gebäudetypen: mehrgeschossiges (4-5 Geschosse) Mietshaus, oft "Großmietshaus" (über
12) oder "Mietskaserne" (über 20 Wohnungen); meist Kleinwohnungen! Beispielsweise Berlin 1875:
53 % Einzimmer- und 25 % Zweizimmer-Wohnungen! (Ruhrgebiet nur 28 % bzw. 36 %; d.h. West-OstGefälle im Deutschen Reich).
Erhebliche regionale Differenzierungen: Mietskaserne insb. in Berlin, Leipzig, Dresden, Prag, Wien
und generell in Ostdeutschland.
Dagegen Ruhrgebiet: hoher Werkswohnungsanteil (Kolonien);
Norddeutsche Küstenstädte: hoher Anteil von Reihenhäusern wie in England;
West- und Süddeutschland: oft Mietshäuser mit 6-12 Wohnungen;
Gründe: verschiedene Investoren; Einkommensgefälle; regionale Traditionen.
Ab ca. 1900: Gegenbewegung gegen großstädtischen Mietwohnungsbau:
(1) wissenschaftlicher Städtebau (J. Stübben, C. Sitte): Versuche zu Reformen durch
Bauzonenordnungen, durch Auflockerung der strengen, monotonen rechteckigen Straßengrundrisse:
mehr Plätze, gewundene Straßenführungen, Durchgrünung (Sitte: "vom dekorativen zum sanitären
Grün") Versuche, durch Parzellierung die Hinterhofbebauung zu vermeiden.
(2) Gartenstadtbewegung
beeinflußt von E. Howard ("Garden-Cities of To-Morrow", 1898) und englische Reformsiedlungen (G.
Cadbury: Bournville b. Birmingham; Lever: Port Sunlight b. Liverpool) erste Gartenstädte in England:
Letchworth (1903ff.), Welwyn Garden City (1920ff.).
Kernthesen: Verbindung der positiven Seiten urbanen und ländlichen Lebens; gesunde Auflockerung
der städtischen Steinwüsten; räumliche Nähe von Wohn- und Arbeitsstätten, genossenschaftliches
Eigentum.
1902 Gründung der Deutschen Gartenstadtgesellschaft. In Deutschland entstanden allerdings keine
selbständigen Gartenstädte, sondern nur von der Gartenstadt-Idee mehr oder weniger stark
beeinflußte Siedlungen am Rand bestehender größerer Städte. Am ehesten: Dresden-Hellerau und
Karlsruhe-Rüppur als genossenschaftliche Siedlungen. Jedoch indirekt starker Einfluß auf Städtebau:
insb. auf Werkssiedlungen von Krupp (E-Margarethenhöhe, DU-Margarethenhof, BO-Dahlhauser
Heide, Datteln-Beisenkamp); schließlich wurden fast alle Wohnsiedlungen mit offener, durchgrünter
Bauweise "Gartenstadt" genannt.
4. Phase: 1918 - 1933
Aufnahme der Reformideen durch (nunmehr oft sozialdemokratische) Stadtplanung.
Zahlreiche Modelle eines neuen, modernen Städtebaus mit neuen experimentellen Grund- und
Aufrißformen.
Große Bedeutung des kommunalen bzw. genossenschaftlichen Wohnungsbaus; viele
Genossenschaften entstanden um 1900, als immer deutlicher wurde, daß der Wohnungsmangel der
schnell wachsenden gründerzeitlichen Städte durch den freien Markt und private Investoren nicht
gedeckt werden konnte; desh. viele berufsständische und kommunale Wohnungsgenossenschaften,
die nach 1918 verstärkt von den Kommunen unterstützt werden und zu Instrumenten der
kommunalen Wohnungspolitik wurden.
Städtebauliche Leitbilder: Nebeneinander divergierender Strömungen:
einerseits konservativer (und häufig antiurbaner) 'Heimatstil' mit dem Versuch, regionalistische
ländliche Bautraditionen im Städtebau zu erhalten bzw. wiederzubeleben,
andererseits: Städtebauliches Leitbild der "Moderne" als Antithese zur gründerzeitlichen
(Mietskasernen-)Stadt:
- Gliederung und Auflockerung durch Licht, Luft, Grün,
- Absonderung störender Nutzungen,
- Begrenzung der Wohndichte,
- Orientierung an öffentlichen Nahverkehrsmitteln,
- "Nachbarschaftseinheiten" gegen großstädtische Anonymität,
- Städtebau und Wohnungsbau als kommunale Aufgabe.
Äußerliches Merkmal: Aufgabe der geschlossenen Blockrandbebauung zugunsten einer halboffenen
und offenen Bauweise, z.B. in Zeilenbauweise.
"Funktionalismus" in Architektur und Städtebau. Ziel: "Funktionaler Umbau der Stadt". Wichtigste
Impulse des modernen Städtebaus gingen aus von:
1) Bauhaus 1919-1933 Weimar/Dessau, dann aufgelöst, wichtige Architekten und Städtebauer
emigrierten nach Nordamerika, z.B. Walter Gropius und Bruno Taut, Mies van der Rohe u.a.; Ziel:
klare funktionale Formensprache, gegen zweckfreie Ornamentik ("Schön ist das, was funktional ist,
nämlich die reine Form", z.B. für Flachdach, kubische Hausform).
2) CIAM ("Congrès International d'Architecture Moderne") 1928ff. Hauptvertreter: Le Corbusier: Er
veranlaßte die berühmte "Charta von Athen" 1933 mit Forderungen:
- Forderung nach Bodenreform aus kollektivem Interesse,
- strikte Trennung der 4 Funktionen "Wohnen", "Arbeiten", "sich erholen" und "sich bewegen".
Weitreichender Einfluß auf die "moderne" Stadtplanung.
5. Phase: 1933 - 1945
Nationalsozialistische Stadtideologie:
Einerseits gegen "großstädtische Entartung" und für bodenverbundene Kleinsiedlung (im Heimatstil);
damit verbunden weitreichende Pläne zu einer Re-Agrarisierung der Bevölkerung und zur Auflösung
der Städte ("Brutstätten des Industrialismus und Sozialismus"). Diese Pläne (stammend aus dem
ideologischen Reservoir des antimodernen agrarromantisierenden konservativen Bürgertums)
wurden jedoch nie ernsthaft realisiert, zumal bald die (in den Städten, vor allem im Ruhrgebiet
lokalisierte) Kriegswirtschaft absolute Priorität genoß.
Andererseits: monumentale Umgestaltung der Städte als den Symbolen der "neuen Ordnung": z.B.
Umbau Berlins zur "Hauptstadt Europas" mit 10 Mio Ew; ferner der Städte, die in der NS-Bewegung
eine besondere Bedeutung hatten wie Linz, München, Nürnberg und Hamburg, ferner auch der
(übrigen) Gauhauptstädte. Geplant: große Straßenachsen und Plätze mit monumentalen
Großbauten, Großhallen, Triumphbögen usw. und geeignet für Aufmärsche und andere
Massenveranstaltungen. Von diesen Plänen, die vor allem von Speer koordiniert wurden und die
häufig Hitler persönlich eingriff, wurde jedoch nur ein kleiner Teil realisiert (z.B. Linz, BerlinTempelhof).
Baustil: entschiedene Ablehnung der "Bauhaus-Moderne", einerseits Heimatstil, andererseits
Monumentalbau.
Die "völlige Umgestaltung der deutschen Städte" kam aber ganz anders: nämlich durch den Zweiten
Weltkrieg. Zunächst nur strategische Ziele, dann auch flächenhafte Bombardierung. Insg. ca. 1/3 aller
Wohnungen zerstört; in großen Städten und manchen kleinen oft über 70 %.
Nachkriegszeit (1945 - heute)
unter besonderer Berücksichtigung des Vergleichs BRD/DDR
2.5.1 Wiederaufbau 1945 - ca. 1960
Ganz im Vordergrund stand zunächst der Wiederaufbau der kriegszerstörten Städte und die
Schaffung von viel billigem Wohnraum zur Unterbringung der Bevölkerung. Wiederaufbau setzte
nach der Währungsreform insb ab 1949/50 ein. Dabei grundlegend unterschiedliche Entwicklung
BRD/DDR:
BRD: Relativ höherer Grad der Kriegszerstörungen: in Großstädten rund 1/2, in Mittelstädten rund
1/3 und in Kleinstädten rund ¼ des Wohnungsbestandes zerstört. Ein Großteil der Stadtbevölkerung
war auf dem Lande untergebracht ("Evakuierte"). Die Wohnungsnot wurde dramatisch verschärft
durch den Zustrom von rund 10 Mio. Flüchtlingen (auch aus der SBZ/DDR) und Vertriebenen (aus den
ehem. deutschen Ostgebieten).
1950 Wohnungsbaugesetz; Schwerpunkt: Bau von Sozialwohnungen, insb. in Städten in 3-4geschossigen Mietshäusern; in ländlichen Räumen meist als 1-Fam.-Häuser ("Kleinsiedler" mit großen
Nutzgärten zur Selbstversorgung).
DDR: Wohnungsnot war etwas geringer (außer in Berlin), da geringere Kriegszerstörungen und
weniger Bevölkerung; Schwerpunkt der staatlichen Investitionspolitik: Wiederaufbau der zerstörten
bzw. demontierten Industrieanlagen.
Z.B. im Jahr 1955 in der BRD 563.000, in der DDR nur 33.000 Neubauwohnungen!
1950 Aufbaugesetz: sozialistische Bodenordnung mit Aufhebung des freien Bodenmarktes und
weitgehendem Enteignungsrecht für staatliche Planung.
Städtebauliche Prinzipien nach sowjetischem Vorbild:
- Hauptmagistralen (z.B. Stalinallee = Karl-Marx-Allee in Ostberlin)
- große, zentrale Plätze (z.B. Alexanderplatz)
- städtebauliche Dominanten: repräsentative Gebäude der Massenorganisationen, Kultur etc.
Städte als Ausdruck der neuen gesellschaftlichen Ordnung (nicht Kommerz und Banken, sondern
öffentliche Gebäude im Zentrum, auch Wohnungen, z.B. Leipziger Str.).
BRD: Wiederaufbau der zerstörten Innenstädte in mehr oder weniger starker Anlehnung an
Vorkriegsstruktur; dabei unterschiedliche Typen:
- völlige Neuordnung des Stadtkerns mit Umlegung und neuem Straßennetz: Wesel, Hannover;
- partielle Neuordnung mit teilw. Umlegung und mit Durchbruch von Verkehrsachsen: z.B. Duisburg,
Essen, Dortmund, Düsseldorf, Köln, Bonn, Hamburg usw.;
- Wiederaufbau ohne größere Neuordnung in wenig zerstörten Städten, z.B. Wuppertal.
Persistenzfaktoren:
- Parzellengliederung und oft unklare Eigentumsverhältnisse;
- bestehende Ver- und Entsorgungssysteme ("unterirdischer Städtebau");
- wenig Zeit und Geld für umfassende Neuplanungskonzepte;
- Traditionsbewußtsein der Bevölkerung (insb. in Bürgerstädten wie Münster.
Andererseits: großer Idealismus, etwas Neues zu schaffen und alte Fehler zu vermeiden.
Problem: Neubauten oft monoton, nur wenig städtebauliche Individualität, aber auch hohe
städtebauliche Qualität in Anbetracht der bescheidenen Geldmittel und im Vergleich zum Städtebau
der 60er und 70er Jahre.
Wohngebiete: neben der Wiederauffüllung kriegszerstörter Baulücken Bau neuer Wohnsiedlungen
meist mit Sozialwohnungen; oft dort gebaut, wo zusammenhängende Fläche verfügbar war, d.h. am
Stadtrand; meist anspruchslose mehrgeschossige Mietwohnhäuser in offener Zeilenbauweise mit
kleinen, komfortarmen Wohnungen, jedoch mit großzügiger Durchgrünung.
Leitbild: "die gegliederte, aufgelockerte Stadt", d.h. Leitbild des "modernen Städtebaus", wieder
anknüpfend an Weimarer Zeit).
Neue Städte: Satelliten- und Trabantenstädte nach dem Modell der Gartenstädte und der "New
Towns", z.B. Sennestadt b. Bielefeld 1957ff.
Wachstumsphase 1960-1975
DDR: weiterhin verzögerter Wiederaufbau, daneben stärkere Neubautätigkeit in offener, 5- bis 10geschossiger Zeilenbauweise (industrielle Fertigbauteile, Standardtypen)
Sozialistischer Wohnkomplex: Neubauviertel mit ca. 10.000-30.000 Ew., durchgrünte, offene
Hochhauszeilen, Zentrum. insb. öffentliche Einrichtungen wie Schulen, Sportanlagen, Ambulatorium,
daneben auch Kaufhalle, Gaststätte, Dienstleistungsgebäude (staatl.)
BRD:
1960 Bundesbaugesetz, 1965 Raumordnungsgesetz, ferner Landesplanungsgesetze.
Zeit hochfliegender Stadtentwicklungs- und Stadterweiterungsprojekte, scheinbar grenzenloses
Wachstum der Wirtschaft und Steuereinnahmen sowie der Ansprüche an Wohnungsgröße und qualität und an Infrastrukturleistungen:
Um 1960 zunehmende Kritik am Leitbild der gegliederten und aufgelockerten Stadt, z.B.: Jane Jacobs
1963, H. P. Bahrdt 1961, Alexander Mitscherlich 1965.
Neue Leitbilder: intensives und vielgestaltiges Leben, 'Dichte und Urbanität' (bzw. in extremer
Variante: 'Urbanität durch Dichte') und 'verkehrsgerechte Stadt'. Damit z.T. Rehabilitation der
gründerzeitlichen Stadt, in der Realität wurde allerdings häufig nur Dichte ohne Nutzungsvielfalt (und
damit Urbanität) geschaffen! Hochzeit der wissenschaftlichen Stadtplanung; Vorstellung, man könne
mit wissenschaftlichen Methoden die Lebensbedürfnisse der Menschen optimal erfüllen; Ziel:
umfassende Stadtentwicklungsplanung auf wissenschaftlicher Grundlage.
Bau von Großwohnsiedlungen (Trabantensiedlungen) z.B. Märkisches Viertel, Garath, Chorweiler und
von Satellitenstädten z.B. Wulfen, Erkrath-Hochdahl, Meckenheim-Merl.
Städtebauliches Leitbild: "Urbanität durch Verdichtung"
= Modifizierung des vorherigen Leitbildes der "aufgelockerten gegliederten Stadt"
Vielgeschossige, dichte Bebauung und hohe Fremdkapitalfinanzierung führen teilweise zu geringer
Attraktivität, desh. später teilw. hohe Leerstände, hohe Fluktuation und soziale Desintegration.
Bestehende Wohnviertel: Stagnation, oft durch zunehmende Verkehrsbelastung aber auch
"Sanierung" mit hohen (auch öffentlichen) Investitionen: Flächen-/Totalsanierung, partielle
Sanierung, Objektsanierung
Innenstädte: horizontale und vertikale Ausweitung der Geschäfts- und Verwaltungszentren als Folge
der wirtschaftlichen Prosperität ("Citybildung" mit hohen Bodenpreissteigerungen und Dominanz der
profitabelsten Nutzungen), dadurch Verdrängung der Wohnbevölkerung aus den Innenstädten.
Wichtiger Faktor der Stadtentwicklung: Privatmotorisierung.
Innenstädte: teilw. Abwertung, teilw. Bau von innerstädtischen Schnellstraßen, z.B. in Hoch- und
Tieflagen wie in Essen, Duisburg, Düsseldorf, Köln.
Außenbereiche: Umwälzung der Erreichbarkeitsverhältnisse führte zur räumlichen Auflockerung der
Stadt: Trabantensiedlungen und Suburbanisierung.
Gegenwart: seit 1975 (Postmoderne?)
Ab ca. 1975 veränderte Rahmenbedingungen: Bevölkerungsstagnation und -rückgang,
Abschwächung des Wirtschaftswachstums, Stagnation der privaten Einkommen, Wertewandel (u.a.
Umweltsensibilisierung), Ausdifferenzierung der Lebensstile.
einige wichtige Trends:
- weiterhin Suburbanisierung, getragen durch privaten Eigenheimbau; kleinteiliges Wachstum im
Umland der Städte anstelle von Großwohnsiedlungen;
- krisenhafte Probleme der Ballungskernstädte durch Abwanderung von Mittelschichtbevölkerungs
und Gewerbe, dadurch Rückgang der Steuereinnahmen bei wachsenden Sozialausgaben;
- Umorientierung der Stadtplanung: erhaltende, "sanfte" Modernisierung, Wohnumfeldverbesserung
z.B. durch Verkehrsberuhigung; Kehrtwende der Verkehrsplanung;
- Tertiärisierung der ökonomischen Basis (auch innerhalb der Industrie): Dominanz der
Dienstleistungsberufe; neue stadtorientierte Mittelschicht führt teilw. zur "Gentrification"
zunehmende Entwicklungsunterschiede zwischen Industrie- und Dienstleistungsstädten.
Veränderung der städtebaulichen Leitbilder:
1. Stadterneuerung und Denkmalpflege,
2. die Stadt als Bühne, Stadtkultur und Stadt-Marketing (damit de facto Aufgabe der sozial
integrierten Stadt!),
3. die ökologische Stadt ("nachhaltige" Stadtentwicklung).
Damit charakteristisch für die postmoderne Stadtplanung: Leitbildvielfalt und Inkaufnahme der
Stadt-Fragmentierung!
Baustil: Postmoderne (Ästhetisierung des Stadtbildes, Rehabilitation der funktionslosen Ornamentik,
Stilzitate).
Die Binnenperspektive: Die innere Struktur der Stadt
Verschiedene Betrachtungsweisen nach Heineberg:
- Morphologische Stadtgliederung
- Morphogenetische Stadtgliederung
- Flächen- und Gebäudenutzungen ("Funktionale" Stadtgliederung)
- Bodenrentenmodelle
- Sozialräumliche Stadtgliederung
- "Social area analysis"
- Faktorialökologische Stadtgliederung
- Aktions- und wahrnehmungsräumliche Stadtstrukturanalyse
Morphologische Strukturanalyse, physiognomische Strukturanalyse
= Beschreibung, Erfassung und Deutung der "Stadtlandschaft", d.h. der physiognomisch
wahrnehmbaren "dinglich erfüllten Erdoberfläche"; weiterentwickelt zur Stadtbildanalyse
Elemente der Stadtlandschaft:
- Grundrißgestaltung: Straßennetz, Parzellengliederung, horizontale Anordnung der Bauten
- Aufrißgestaltung: Geschoßzahl, Fassadengestaltung, Dachformen
Ziel: ganzheitliche Gestaltwahrnehmung der Stadtlandschaft ("Erfassung und Deutung") meist
verknüpft mit genetischer Deutung und regionaler Typisierung, z.B. Siegfried Passarge:
Stadtlandschaften der Erde. Hamburg 1930;
Peter Schöller: Die deutschen Städte. Wiesbaden 1967 (behandelt vor allem regionale
Bautraditionen).
Kritik: Der traditionelle physiognomische Ansatz erschöpfte sich meist in einer teilweise
oberflächlichen Beschreibung von Bauformen. Gefahr: Ausklammerung sozialer und politischer
Zusammenhänge.
Andererseits: Dieser Ansatz ist auch heute noch (bzw. wieder) bedeutsam, wenn der methodische
Ansatz reflektiert wird. So läßt sich die Stadtlandschaft als ein Ensemble von "Zeichen" auffassen und
die morphologische Stadtgeographie hätte die Aufgabe, die Sinngehalte dieser Zeichen zu verstehen
und zu interpretieren.
= "Lesen der Stadtlandschaft als Text"; "Semiologie der Stadtlandschaft". Dies wäre ein
geisteswissenschaftlicher (bzw. kunstwissenschaftlicher) Ansatz in der Stadtgeographie. Heute erhält
dieser Ansatz im Zuge der Wiederentdeckung ästhetischer Stadtbildqualitäten in der Ära der
Postmoderne eine neue Aktualität. Außerdem behält der morphologische Ansatz seinen didaktischen
Wert, z.B. im Rahmen von Exkursionen.
Morphogenetische Stadtgliederung
Ansatz: Genetische Deutung der Stadtform und -gestalt; Deutung der Stadtlandschaft als
"Palimpsest" (d.h. wie eine mehrfach überschriebene Handschrift); Ziel u.a.: Gliederung der Stadt in
historisch relativ einheitlich gestaltete Gebiete.
= dominante Betrachtungsweise in der vom Historismus beeinflußten Phase der Kulturgeographie,
d.h. etwa zwischen 1900 und 1950. Methodologie: nicht Erklärung nach dem Vorbild der
positivistischen Naturwissenschaften, sondern "Verstehen" des Gegenstands als Ergebnis historischer
Prozesse.
Heute neue Aktualität wegen der Renaissance der hermeneutischer Methodologie und wegen der
praktischen Bedeutung der Ergebnisse für Stadterhaltung und Denkmalschutz.
Methoden:
- Kartierung und historisch-genetische Einordnung von Gebäuden, Gebäude-Ensembles und der
ganzen Stadtlandschaft;
- Vergleich mit historischen Karten, insb. mit dem Urkataster, d.h. der ersten exakten Vermessung
und Kartierung aus der ersten Hälfte des 19. Jh. (d.h. im wesentlichen vor den tiefgreifenden
Veränderungen der Industrialisierung!);
- Auswertung von archivalischen Quellen (insb. Bürgerbücher, Steuerregister) zur Rekonstruktion der
Gebäude- und Sozialtopographie teilw. bis zum Mittelalter.
Warum gerade Verknüpfung von morphologischer und genetischer Betrachtung?
- Wissenschaftsgeschtliche Entwicklung: Landschaftskonzept der Geographie und Historismus der
Kulturwissenschaften trafen zusammen;
- aber auch sachlich begründet: hohe Persistenz der baulichen Struktur;
- Wiederentdeckung der ästhetischen Stadtbildqualität in der Postmoderne (s.u.).
Bsp. Hameln
- historische Grundrißanalyse (Straßenführung, Tore, Parzellengliederung);
- historische Aufrißanalyse (ältere Schicht meist giebelständig; Barock: überwiegend traufständig; 19.
Jh.: häufig Traufhaus mit Zwerchgiebel);
Konsequenzen für Altstadtsanierung: Silhouette mit Kirchtürmen, Sichtbeziehungen zu bedeutenden
Einzelbauwerken, raumbildende Wände an Straßen und Plätzen, Geschlossenheit von
Straßenräumen durch "Visierbrüche", Ensemblewirkung von Gebäuden auch ohne
baugeschichtlichen Rang.
Wiederentdeckung der historisch gewachsenen Stadtbilder in der postmodernen Stadt:
z.B. Architekturtheoretiker Ungers: große Städte werden zum "Städtearchipel"; d.h. sie sind
zusammengesetzt aus Stadtteilen mit einer spezifischen Identität, die sich vor allem in der
Morphologie dokumentiert: Blockrandbebauung, offene Zeilenbauweise, Aufriß, Geschoßzahlen usw.
Einheitlich gebaute Städte wären ein Alptraum, gerade die Komplexität aufgrund der Vielfalt der
"Städte in der Stadt", die sich aus der historischen Entwicklung ergibt, macht den Reiz der
europäischen Städte aus. Solche Stadtinseln mit einem bestimmten Charakter sollten nicht ständig
dem Zeitgeschmack angepaßt werden, sondern ihre Identität bewahren und pflegen.
Flächen und Gebäudenutzungen ("Funktionale" Stadtgliederung)
= Beschreibung und Darstellungen der Flächen- und Gebäudenutzungen und Erklärung ihrer
räumlichen Verteilung und Anordnung (Nutzung auch = Raum"funktion").
Methodologisch: Abkehr vom Historismus; Hinwendung zum szientifischen Fachverständnis
("Beschreibung und Erklärung"); Blütezeit: ca. 1950-1980.
Methode: Beschreibung und Dokumentation der Flächen- und Gebäudenutzungen mit Hilfe von
Kartierungen (häufig aufwendige Farbkartographie). Damit kann die räumliche Anordnung der
Nutzungen im Stadtraum dargestellt werden.
Ziele: a) Gliederung (Regionalisierung) des Stadtraums in "funktionale Einheiten"
(= traditioneller landschaftskundlicher Ansatz),
b) Ausgangspunkt für Theoriebildung zur Erklärung der Nutzungsstruktur
(= neuerer szientifischer Ansatz).
Eine allgemein verbindliche und universell geeignete Klassifikation von Flächen- und
Gebäudenutzungen gibt es nicht. Diese muß je nach spezifischer Fragestellung entwickelt werden!
Häufig benutzte Kategorien in Anlehnung an die BauNVO "Art der baulichen Nutzung":
Wohnbauflächen, gemischte Bauflächen, gewerbliche Bauflächen, Sonderbauflächen,
Verkehrsflächen, Flächen für Versorgungsanlagen, Grünflächen, Wasserflächen, Flächen für
Aufschüttungen, Abgrabungen etc., Flächen für die Landwirtschaft u. Forstwirtschaft. (Die Darstellung dieser Nutzungen in den Planungskarten ist durch die Planzeichen-VO geregelt.)
Für andere wissenschaftliche Zwecke sind aber i.d.R. andere bzw. meist problemspezifisch
differentiertere Systeme möglich und sinnvoll!
Dokumentation von urbanen Flächennutzungen und funktionalen Stadtgliederungen ermöglicht eine
detaillierte Beschreibung und allenfalls eine "genetische Deutung", enthält jedoch noch keine
Erklärung der räumlichen Stadtstruktur. Wichtige Ansätze zur Erklärung:
- empirische, induktive Generalisierungen (Burgess, Hoyt, Harris & Ullman)
- Bodenrentenmodell (Alonso)
- Sozialraumanalyse (Shevky & Bell) und Faktorialökologie (Berry)
Empirische, induktive Verallgemeinerungen:
Modelle der klassischen Sozialökologie
Weitaus bedeutendster Ansatz: "Ringmodell" = "Modelle konzentrischer Ringe"
Ernest W. Burgess & Robert E. Park (Hrsg.): The city. Chicago 1925.
= sog. "Chicagoer Schule der Stadtsoziologie", u.a. beeinflußt von Georg Simmel.
Modell der konzentrischen Ringe ist im wesentlichen eine induktive Verallgemeinerung aufgrund von
Beobachtungen in nordamerikanischen Städten, insb. in Chicago.
Folgende "Ringe" werden unterschieden (in Chicago nur als Halbkreise ausgebildet wegen der Lage
am Michigan-See): 1) "Loop" ("CBD"), 2) Übergangszone, 3) Arbeiterwohnzone, 4) MittelschichtWohnzone, 5) Pendlerzone.
Begründung:
a) Wettbewerb um Bodennutzung (Analogie zur Biologie, Einfluß Darwins),
b) historische Entwicklung (Zonen als "Wachstumsringe").
Kritik: Modell ist weitgehend deskriptiv und sehr simpel, es gilt nur sehr begrenzt im historischen und
kulturellen Zusammenhang. Biologische Analogie ist problematisch.
"Sektorenmodell" von Hoymer Hoyt 1939.
Grundlage: vergleichende Mietpreisuntersuchungen in US-Städten.
Ergebnis: Es gibt allgemeine räumliche Muster, die sich nicht in das Ring-Modell pressen lassen; statt
dessen sind häufig Sektoren unterschiedlicher Mietpreishöhe zu beobachten. Dies entspricht sozialen
Gliederung nach Statusgruppen.
Begründung: Wettbewerb um Flächen und Anziehung bzw. Abstoßung von Nutzungen:
Industrienutzungen bei Eisenbahnen u. Wasserwegen; Arbeiterwohngebiete bei Industrien,
Oberschichtgebiete weit entfernt von Industrien, nahe bei Parks.
= Konstruktive Kritik des Ringmodells; dieses wird ergänzt und modifiziert.
"Mehr-Kerne-Modell" von Chauncy D. Harris und Edward L. Ullman 1945.
Entstand ebenfalls aus konstruktiver Kritik. Ausgangsthese: Die großen Städte wuchsen meist nicht
von einem einzigen Zentrum aus in unbesiedeltes Umland, sondern durch Integration von bereits
vorhandenen Kernen. Außerdem haben bestimmte Nutzungen (z.B. Schwerindustrie) bestimmte
Standortanforderungen, die sich weder in das Ringmodell noch in das Sektorenmodell pressen
lassen. Deshalb: unregelmäßige Anordnung verschiedener Nutzungen bzw. Nutzungsgebiete
("natural areas"). In der Nachkriegszeit wurde dieser Trend durch die autobahnorientierten
Shopping-Center verstärkt.
Kritik:
- Aussagekraft begrenzt, insb. auf USA und erste Hälfte des 20. Jh.
- Begrenzung der Betrachtung auf horizontale Nutzungsdifferenzierung.
- Theoriedefizit: Die Modelle haben nur eine geringe Erklärungskraft.
Vertikale Erweiterung des Ringmodells nach Harold Carter 1972
Bezieht die drei inneren Ringe (Kernzone, Übergangszone, innere Wohnzone) auch auf die vertikale
Differenzierung der Gebäudenutzungen. Zeigt damit die räumliche Überlagerung der verschiedenen
Nutzungen.
Begründung: Entscheidend für die Nutzungsdifferenzierung ist die Zugänglichkeit, die nicht nur
horizontal, sondern auch vertikal abnimmt.
Kritik: nur grobe Skizze, vertikale Nutzungsdifferenzierung ist kaum regelhaft ausgebildet (z.B. Büros).
Bodenrentenmodelle
R. V. Ratcliff 1949; Brian J. L. Berry 1959; William Alonso 1964.
= ökonomischer Ansatz zur Erklärung der räumlichen Stadtstruktur.
Kernthese: Räumliche Differenzierung von Nutzungen ist ein Ergebnis von Marktprozessen, insb. des
Bodenmarkts.
Entscheidende Größe: Fähigkeit zur Zahlung von Bodenrente. Diese Größe variiert in Abhängigkeit
von der Nutzungsart und von der Distanz zum Stadtzentrum (= "Rentenangebotsfunktion" = "bid rent
function"). Bei Überlagerung der Rentenangebotsfunktionen setzt sich die Nutzung mit der höchsten
"Lagerente" durch, so daß ähnlich wie bei dem Thünen-Modell konzentrische Ringe von
Nutzungszonen und Bodenwerten entstehen.
Dieses Modell kann weiter differenziert werden (z.B. Subzentren).
Kritik:
- setzt freien Bodenmarkt voraus (insofern historisch und kulturell begrenzt)
- vernachlässigt den öffentlichen Sektor (Stadtplanung usw.)
- reine ökonomische Theorie ist teilw. realitätsfern (irrationale Handlunge, Macht etc.)
Sozialräumliche Stadtgliederung
= Gliederung bzw. räumliche Differenzierung nach sozialen bzw. sozialökonomischen Merkmalen (=
Variablen) der Bevölkerung ("Segregation")
Dies ist ein Forschungsgebiet sowohl der Stadtgeographie als auch der Stadtsoziologie
(Segregationsforschung).
Empirische Untersuchungen hängen wesentlich ab von der Verfügbarkeit geeigneter Daten: BRD:
- amtliche Zählungen finden nur in großen Intervallen statt (wenn überhaupt);
- amtliche Zählungen berücksichtigen nicht alle relevanten Merkmale;
- Daten sind kleinräumig aufgeschlüsselt häufig nicht verfügbar.
Methodische Probleme:
- Aggregationsniveau (interne Homogenität der kleinsten Einheiten?)
- Exzessive Datenmenge (Verdichtung? Interpretation?)
Sozialraumanalyse
= "Social area analysis", 1949/55 am Bsp. von Los Angeles von E. Shevky u. W. Bell begründet.
Methodischer Ansatz: Auswahl und Interpretation der Daten muß theoriegeleitet sein.
Bezugsrahmen: "Theorie des sozialen Wandels" mit dem Grundpostulat wachsender Differenzierung
und Komplexität der städtischen Gesellschaft; daraus werden drei Grunddimensionen mit 7
Indikatoren abgeleitet:
1. Sozialer Rang 1. Anteil der Arbeiter und Handwerker
2. Anteil der Personen mit Volksschulbildung
3. Miethöhe
2. Urbanisierung 4. Fruchtbarkeitsquote
5. Anteil erwerbstätiger Frau
6. Anteil Einfamilienhäuser
3. Ethnische Segregation 7. Ausländeranteil (bzw. Nichtweiße)
Kritik:
- positiv: theoretischer Bezugsrahmen für Variablenauswahl und Interpretation; Überwindung des
induktiv-empiristischen Ansatzes;
- Deduktion der Indikatoren aus dem allgemeinen Konzept des sozialen Wandels ist nicht zwingend,
sondern eher locker und spekulativ;
- Unabhängigkeit und Gleichgewichtung der Variablen werden vorausgesetzt;
- Variablen zur Raumausstattung fehlen;
- erlaubt grobe Klassifikation, geeignet für Vergleiche.
Faktorialökologie ("Factorial ecology")
Methodischer Fortschritt: Verwendung multivariater statistischer Verfahren, insb. der sog.
"Faktorenanalyse"
Faktoren- bzw. Hauptkomponentenanalyse: mathematisch-statistisches Verfahren, basierend auf der
multiplen Regressions- und Korrelationsanalyse. Sie "bündelt" solche Variablen, die untereinander
hoch korrelieren, zu neuen abstrakten Dimensionen ("Faktoren"). Vorteil: Eine Gruppe von Variablen,
die alle etwas Ähnliches beschreiben, wird durch eine einzige neue Variable, die den größtmöglichen
Anteil der Ausgangsinformation enthält, ersetzt; die neuen Kunstvariablen sind untereinander
unabhängig (= unkorreliert), d.h. sie enthalten keine redundante Information. Vorteil:
Informationsverdichtung.
Zwei empirische Beispiele:
Ph. Rees über Chicago
J. V. O'Loughlin u. G. Glebe über Düsseldorf
Inzwischen liegt eine Fülle von faktorialökologischen Stadtstrukturanalysen aus allen Teilen der Erde
vor. Neuere Tendenz: weniger ganzheitliche Strukturuntersuchungen, sondern als Analyseschritt im
Rahmen von Untersuchungsstrategien mit spezielleren Fragestellungen.
Kritik:
- Anwendung der Faktorenanalyse bietet nur "Scheinobjektivität";
- Faktorialökologie geht überwiegend induktiv vor; zur Interpretation wird aber oft auf das ShevkyBell-Begriffsschema zurückgegriffen.
- Wirklich fruchtbar wird dieser Analyseansatz, wenn darauf weiterführende weiterführende
Untersuchungen aufbauen, z.B.
- interlokale bis interkulturelle Vergleiche,
- historische Längsschnittuntersuchungen,
- unabhängiges Variablensystem z.B. zur Analyse von Wahlen, Kriminalität usw.
Insg.: Heute werden die methodischen Probleme und die begrenzte inhaltliche Aussagekraft deutlich
gesehen; dennoch Standardrepertoire der Stadtgeographie!
Aktions- und wahrnehmungsräumliche Stadtstrukturanalyse
Hier andere Betrachtungsebenen:
Aktionsraumforschung: Individualebene des beobachtbaren menschlichen Handelns;
Perzeptionsforschung: subjektive Vorstellungsebene (als mentale Dimension des menschlichen
Handelns).
Innerstädtische Aktionsraumforschung: untersucht die räumlichen Bewegungen von Individuen im
Stadtraum.
Typologie nach Zwecken: - Arbeit, - Schule/Kindergarten, - Einkaufen, - Freizeit usw.
Einige empirische Ergebnisse:
- Versucht man, die Einzelaktivitäten zu aggregieren, so entstehen "persönliche
Kommunikationsfelder"; diese unterscheiden sich signifikant nach sozialökonomischer Lage und Alter
(vgl. Schema von Kolars u. Nystuen).
- Zentrum der Aktivitäten ist der Wohnstandort; bei suburbanen Wohnstandorten sind die
Aktionsräume in der Regel sektoral ausgebildet (vgl. Bsp. Augsburg von Poschwatta).
- Eine vertiefte Erforschung aktionsräumlicher Aktivitäten fällt eher in das Gebiet der
Sozialgeographie. So beschäftigt sich die Aktionsraumforschung mit Zeit-Budgets, strukturellen und
raumzeitlichen Handlungsschranken ("constraints") und versucht, die allgemeine sozialkulturelle
Handlungstheorie um die räumliche Dimension zu erweitern.
Zur Erklärung menschlicher Aktivitäten im Stadtraum muß die Perzeptionsebene mit einbezogen
werden, denn die physische "Umwelt" wirkt auf menschliche Handlungen nicht unmittelbar, sondern
über den sog. "Perzeptionsfilter".
Bahnbrechend: Kevin Lynch: The image of the city. Cambridge, Mass. 1960.
(dt. Übers.: Das Bild der Stadt. Braunschweig 1975)
Lynch ließ Personen ihre städtische Umwelt skizzieren, so daß "kognitive Karten"
(= "mental maps") entstanden. Seitdem hat sich eine ganze Forschungsrichtung entwickelt:
"Wahrnehmungsgeographie".
Damit wird der Ansatz der Stadtgeographie wesentlich erweitert: Nicht mehr nur der physische Raum
der Stadtlandschaft und die Verteilung von (in Gruppen oder individuell handelnden) Menschen im
Raum der Stadt werden untersucht, sondern die geistige Welt der mentalen und sozialen
Repräsentationen der physischen Welt. Man muß diese Repräsentationen jedoch kennen, um das
Handeln und Verhalten der Menschen angemessen verstehen und erklären zu können. In der "new
cultural geography" geht es denn auch immer weniger um die Stadt als physisches Objekt der
Erdoberfläche, sondern um Repräsentationen (Images von Städten und kulturelle Konstrukte als
Ergebnis von Kommunikationsprozessen und Machtverhältnissen).
Die Außenperspektive: Städtesysteme
Rang-Größe-Verteilungen ("Rank Size Rule")
Ältere Fragestellung: Warum gibt es große und kleine Städte? Gibt es Regelhaftigkeiten der
Größenverteilung?
Empirische Regelhaftigkeit: sog. Rang-Größe-Regel (Rank Size Rule).
Er = E1 . r-1 oder in verallgemeinerter Form: Er . rn = M
Zuerst entdeckt durch F. Auerbach 1913, dann auch G. K. Zipf 1941;
neuere Literatur zum Thema: Berry 1961 und Karsch 1977.
Geeignet zur Charakterisierung der Größenverteilung und ihrer Entwicklung in einem Städtesystem,
z.B. auch der empirischen Abweichungen von der Rang-Größe-Regel.
Weitergehende Hypothese (Berry 1961, El-Shaks 1972): Es gibt einen systematischen Zusammenhang
zwischen dem Entwicklungsstand eines Landes und dem Polarisierungsgrad seines Städtesystems:
niedriger Entwicklungsstand: dezentrale Struktur, mittlerer Entwicklungsstand: polarisierte Struktur,
hoher Entwicklungsstand: dezentrale Struktur.
Kritik: - Außenabgrenzung der Städte verschwimmt durch Suburbanisierung;
- Außenabgrenzung der (meist nationalen) Städtesysteme verliert an Bedeutung
(keine geschlossenen regionalen bzw. nationalen Systeme);
- Rang-Größen-Analysen klammern die räumliche Dimension (Lageaspekte)
weitgehend aus;
- Geeignet zur Beschreibung; Erklärung der Rang-Größe-Regel bis heute nicht
schlüssig gelungen; im übrigen kaum zu weitergehenden Erklärungen
geeignet (z.B. nur sehr lockerer Zusammenhang zwischen Polarisierungs-
grad und Entwicklungsstand eines Landes).
Die Organisation von Städtesystemen: Sektorale und hierarchische Funktionsspezialisierung als
komplementäre Ordnungsprinzipien
Beispiel 1: Die Entwicklung des deutschen Städtesystems 1939-1970- 1995
Beispiel 2: Das europäische Städtesystem (räumliche Integration nationaler Städtesysteme)
Beispiel 3: Das globale Städtesystem und das Konzept der "Global City"
Der Terminus "Global City" wird heute in der Fachliteratur meist in einem speziellen Sinne als
weltwirtschaftliche Steuerungs- und Kontroll-Metropole, also im Sinne einer "funktionalen
Weltstadt" verwendet. Der moderne "Global-City"-Ansatz wurde im wesentlichen in den achtziger
Jahren in den USA entwickelt (u.a. John Friedmann). Ausgangspunkt der wissenschaftlichen
Diskussion waren eine zunehmende Unzufriedenheit mit den traditionellen sozialökologischen
Erklärungsansätzen. Statt dessen rückten die weltwirtschaftlichen Verflechtungen und
Arbeitsteilungen und deren wechselseitige Zusammenhänge mit der inneren Stadtstruktur in den
Mittelpunkt des Interesses. Diese neue Perspektive, die vor allem auf die ökonomischen Beziehungen
abstellt, nennt Friedmann (1986) die "Weltstadt-Hypothese" mit 7 Einzel-Hypothesen:
(1) Die Form und das Ausmaß der Integration einer Stadt in die Weltwirtschaft und die
Funktionen einer Stadt in der neuen räumlichen Arbeitsteilung werden entscheidend
für sämtliche innerstädtischen Strukturveränderungen sein.
Schlüsselstädte in der ganzen Welt werden vom globalen Kapital als "Basispunkte" in der räumlichen
Organisation und Artikulation von Produktion und Märkten genutzt. Die daraus resultierenden
Verflechtungen ermöglichen es, die Weltstädte in eine komplexe räumliche Hierarchie einzuordnen.
Die globalen Kontrollfunktionen der Weltstädte spiegeln sich unmittelbar in der Struktur und
Dynamik ihrer Produktions- und Beschäftigungssektoren wider.
Weltstädte sind bedeutende Plätze für die Konzentration und Akkumulation des internationalen
Kapitals.
Weltstädte sind Zielorte für eine große Zahl sowohl nationaler als auch internationaler Migranten.
Die Bildung der Weltstädte lenkt die Aufmerksamkeit auf die wesentlichen Wider-
sprüche des Industriekapitalismus, u.a. die Polarisierung von Raum und Klassen.
Das Wachstum der Weltstädte verursacht soziale Kosten, die tendenziell die fiskalische Kapazität der
Staaten übersteigen.
Die in der zweiten These angesprochene Hierarchie von Weltstädten definiert Friedmann anhand der
folgenden Kriterien: Hauptverwaltungen von transnationalen Unternehmen, internationale politische
Organisationen, Umfang und Dynamik des unternehmensorientierten Dienstleistungssektors,
Industriezentrum, Verkehrsknoten, Bevölkerungsgröße. Als "primäre Weltstädte" identifiziert
Friedmann London, Paris, Rotterdam, Frankfurt, Zürich, New York, Chicago, Los Angeles und Tokyo
sowie ferner als einzige in der Semiperipherie Sao Paulo und Singapur.
Zu den wenigen substanziellen deutschsprachigen Untersuchungen zur Frage einer globalen
Städtehierarchie gehört die vor allem empirisch sehr gehaltvolle Studie von Dieter Rebitzer über die
"Internationalen Steuerungszentralen" (1995). Rebitzer wählt eine "systemtheoretische Perspektive"
mit einer Zerlegung des globalen Städtesystems in die funktionalen Subsysteme (1) Weltproduktion,
(2) Weltfinanzwesen, (3) Welthandel und -verkehr sowie (4) Weltpolitik. Im empirischen Teil werden
dann die drei Triadenregionen Nordamerika, Europa und Japan/Ostasien mit umfangreichem
empirischen Material behandelt.
In den letzten Jahren hat sich vor allem Saskia Sassen um eine weitere Konkretisierung des Ansatzes
bemüht. Aufgrund ihrer weltweit viel beachteten Arbeiten hat sich inzwischen der Terminus "Global
City" weitgehend durchgesetzt. Sassen zielt weniger auf die globale Hierarchie des Städtesystems als
vielmehr auf die innerstädtischen Restrukturierungsprozesse, die mit der Weltstadt-Funktion
wechselseitig (!) kausal verknüpft sind. Ihr wichtigstes Untersuchungsfeld ist New York, aber auch
London und Tokyo. Kernthesen: Geht aus von drei wesentlichen Prozessen der Reorganisation der
ökonomischen Basis, speziell seit den 80er Jahren beobachtet:
1) Wachstum der höherwertigen Dienstleistungen, insb. bedingt durch Wachstum des global
orientierten Finanzsektors, ausgeprägt in modernen Büro-Hochhäusern,
2) De-Industrialisierung, neue Krise der suburbanen Wohngebiete der unteren Mittel- schichten,
3) Wachstum der informellen Ökonomie, parallel: Dritte-Welt-Stadt in New York; dies nicht nur
Ergebnis individueller Überlebensstrategien, sondern Ausdruck struktureller Reorganisation der
Gesellschaft.
Als Folge wachsender weltwirtschaftlicher Verflechtungen und der politischen Deregulierungen
speziell seit den 80er Jahren überproportionales Wachstum der globalen Finanzmärkte. Diese sind
komplex, wettbewerbsorientiert, innovativ und riskant; sie erfordern eine umfangreiche Infrastruktur
von hochspezialisierten Diensten und eine Kommunikation mit Face-to-face-Kontakten. Diese
Dienste sind typischerweise nicht über das Städtesystem verstreut, sondern konzentriert, z.B. in
London mit 31% der nationalen Producer-Dienstleistungs-Beschäftigten. London, New York und
Tokyo sind die drei globalen Zentren.
Die tiefgreifenden Veränderungen der ökonomischen Basis der Weltstädte führen zu
innerstädtischen Restrukturierungen. Das Wachstum des Finanz-/Dienstleistungs-Komplexes
übersteigt die Aufnahmekapazität des traditionellen CBDs (Central Business Districts) und läßt
sekundäre Zentren in der metropolitanen Region entstehen. Die Entindustrialisierung und die
zunehmende Qualifikations- und Lohn-Spreizung auf den Teil-Arbeitsmärkten des
Dienstleistungssektors führen zu einer tiefgreifenden sozialen Segmentierung. Die Gewinner dieses
Prozesses sind die höherqualifizierten Dienstleistungsbeschäftigten ("urban professionals"), die
Verlierer hingegen die traditionell im schrumpfenden Produktionskern beschäftigten unteren
Mittelschichten sowie generell die Erwerbstätigen mit geringen beruflichen Qualifikationen, darunter
vor allem Angehörige ethnischer Minderheiten und Immigranten. Ein weiterer Aspekt der
polarisierenden Restrukturierung der Weltstädte ist das Wachstum der informellen Ökonomie und
die damit einhergehende Entwicklung einer Dritte-Welt-Stadt in New York.
Die Thesen von Saskia Sassen sind nicht ohne Widerspruch geblieben. Chris Hamnett (1994) hat
beispielsweise darauf hingewiesen, daß es unzulässig ist, die für New York geltenden Befunde ohne
weiteres zu verallgemeinern. Die Entwicklung einer Stadt zur Global City sei keineswegs zwingend mit
einer sozialen Polarisierung verbunden. Beispielsweise habe in der Randstad Holland anstelle einer
Polarisierung eine generelle Professionalisierung der Beschäftigungsstruktur (gemessen an Bildung
und Berufsgruppen) stattgefunden. An der Polarisierungsthese von Sassen kritisiert Hamnett, daß sie
zu pauschal formuliert wurde und daß die Befunde für New York (und möglicherweise auch für
London) auf spezielle Randbedingungen (Zahl und Zusammensetzung der Immigranten, Politik,
Sozialsystem, Arbeitsmarkt usw.) zurückzuführen sind.
Allgemeine Bedeutung des Global City-Ansatzes:
Betont die enormen Wachstumspotentiale des global orientierten Finanz/Dienstleistungs-Komplexes,
der sich von der regionalen Produktionsbasis räumlich immer mehr abkoppelt.
Das Wachstum dieses Finanz-/Dienstleistungskomplexes wird getragen von einem räumlich
konzentrierten Netzwerk untereinander verflochtener, hochspezialisierter Dienstleistungen. Diese
benötigen nicht die Nähe zu Kunden (und schon gar nicht die Nähe zu Produktionsbetrieben),
sondern entwickeln sich in landschaftlich und städtebaulich hochwertigen, innovativen und kreativen
Milieus.
Das Wachstum des global orientierten Finanz-/Dienstleistungskomplexes geht in der Regel - aber
nicht notwendig (!) - einher mit einer ökonomischen, sozialen und räumlichen Polarisierung der
städtischen Ökonomie und Gesellschaft. Um ein Auseinanderdriften von Bevölkerungsgruppen und
Stadtteilen bzw. Städten zu verhindern, ist an Stelle einer undifferenzierten Liberalisierung eine
ökonomisch, sozial und räumlich ausgleichende Politik erforderlich.
Theoretische Interpretationen von Städtesystemen: Die neoklassisch- systemtheoretische Sicht und
die regulationstheoretische Sicht
Regulationstheoretische Interpretation der Entwicklungsprozesse in Städtesystemen:
Zweidimensionale Hierarchie von Städtesystemen
Kontrollkapazität
Konzentration innovativer Produktionsstrukturen
traditioneller Produktionsstrukturen Defizit an Industriekapazitäten
Produktionsstruktur
Konzentration von internationalen Kontroll- und Finanzkapazitäten
Typ 1 "Global cities"
Konzentration von europaweiten Kontroll- und Finanzkapazitäten
Typ 2a Europäische metropolitane Stadtregionen
Typ 2b Europäische metropolitane Stadtregionen
Konzentration von national bedeutsamen Kontroll- und Finanzkapazitäten
Typ3a National bedeutsame Städte
Typ3b National bedeutsame Städte
Metropolen der "Dritten Welt"
Konzentration
Ohne Konzentration von bedeutenden Kontroll- und Finanzkapazitäten
Typ 4 Städte mit innovativen Produktionsstrukturen
Typ 5 Städte mit fordistischen Produktionsstrukturen
Typ 6 Marginalisierte Städte
Nach Krätke 1992, S. 40 (verändert)
Wichtigste Veränderungen
- erstens der "Aufstieg" von Stadtregionen mit innovativen Produktionsstrukturen (günstige regionale
Verflechtungsstrukturen, hoher F&E-Besatz) von national bedeutsamen zu europaweit bedeutsamen
Kontroll- und Steuerungszentren (Beispiel: München);
- zweitens der "Abstieg" von Stadtregionen mit fordistischen Produktionsstrukturen
(großbetriebliche Massenproduktion) aufgrund des Verlustes ihrer ehemals national bedeutsamen
Kontroll- und Steuerungsfunktion (Beispiel: Liverpool);
- drittens die "Marginalisierung" von Städten mit fordistischen Produktionsstrukturen aufgrund des
Wegbrechens ihrer industriellen Basis (Beispiel: Bitterfeld).
Stadtstruktur und Stadtentwicklung im interkulturellen Vergleich
Die angloamerikanische , lateinamerikanische , schwarzafrikanische , orientalische , chinesische oder
japanische Stadt
Literatur:
Bähr, Jürgen und Günter Mertins (1995): Die lateinamerikanische Großstadt. Darmstadt: Wiss.
Buchges. 238 S. = Erträge d. Forsch. 288.
Ehlers, Eckart (Hg.) (1992): Modelling the city. Cross-cultural perspectives. Bonn: Dümmler. 132 S. =
Colloquium Geographicum 22.
Hofmeister, Burkhard (1980/96): Die Stadtstruktur. Ihre Ausprägung in den verschiedenen
Kulturräumen der Erde. Darmstadt: Wiss. Buchges. 3. Aufl. 1996 (11980). 194 S. = Erträge d. Forsch.
132.
Holzner, Lutz (1981): Die kultur-genetische Forschungsrichtung in der Stadtgeographie - eine nichtpositivistische Auffassung. In: Die Erde 112, S. 173-184.
Lichtenberger, Elisabeth (1986/91): Stadtgeographie. Bd. 1: Begriffe, Konzepte, Modelle, Prozesse.
Stuttgart: Teubner 2. Aufl. 1991 (1. Aufl. 1986). 303 S. = Teubner Studienbücher d. Geogr.
Knox, Paul L. und Peter J. Taylor (Hg.) (1995): World cities in a world-system. Cambridge: Cambridge
Univ. Press. 335 S.
Sassen, Saskia (1994): Cities in a world economy. Thousand Oaks, Cal.: Pine Forge. 157 S. = Sociology
for a New Century. (Schlechte) deutsche Übers.: Metropolen des Weltmarkts. Die neue Rolle der
Global Cities. Frankfurt a.M.: Campus 1996. 188 S.
Das Konzept der globalen Gliederung des Städtewesens in Kulturerdteile bzw. "Zivilisationen"
Forschungsansatz versteht sich als Alternative zur positivistisch-nomologischen Stadtgeographie und
betont die regionalen Eigenarten von Städten. Diese werden zunächst im Sinne des morphologischen
Forschungsansatzes beschrieben und dann als Ergebnis histo-risch-kultureller Prägekräfte (einschl.
sozialer, wirtschaftlicher und politischer Faktoren) erklärt bzw. interpretiert. Die dabei verwendete
Typologie knüpft meist an das Konzept der "Kulturerdteile" von Albert Kolb an und unterscheidet
meist 10 Typen bzw. Regionen von Städten:
Europa (Mittel-, Nord-, West-, Südeuropa; nicht: Osteuropa);
Sowjetunion (Rußland/GUS/ehem. sozialistische Staaten; Stellung der ostmittel-europäischen Länder
und der mittelasiatischen Länder umstritten);
Vorderer Orient (Nordafrika und Südwest-Asien);
Südasien (Indien, Pakistan, Bangladesch);
Ostasien (China, Japan, Korea);
Südostasien;
Australien, Neuseeland, Südpazifischer Raum;
Subsaharisches Afrika (Tropisch-Afrika und Südafrika);
Nordamerika bzw. Angloamerika (USA, Kanada);
Iberoamerika (Südamerika, Mittelamerika).
(Hofmeister nennt 12 Regionen; er unterscheidet zusätzlich zwischen Tropisch-Afrika und Südafrika
sowie zwischen China und Japan).
Dies ist eigentlich ein ziemlich traditioneller Ansatz, der bereits vor dem Zweiten Weltkrieg
entwickelt wurde (z.B. S. Passarge: Stadtlandschaften der Erde, 1930). In den 60er und 70er Jahren
geriet er in die Kritik mit dem Argument: Solche kulturgenetisch gedeuteten morphologischen
Unterschiede seien nur verblassende historische Reminiszenzen (wenn nicht gar Konstrukte von
Wissenschaftlern, die mit der Realität kaum etwas zu tun haben). Dies ist die sog. "KonvergenzThese", die vor allem von modernisierungstheoretisch orientierten Sozialwissenschaftlern, insb. aus
Nordamerika vorgebracht wurde:
Schnore, L. F. (1965): On the spatial structure of cities in the two Americas. In: Hauser u. Schnore
(Hg.): The study of urbanization, 1965.
Hawley, A. H. (1971): Urban society: an ecological approach, 1971.
Stewig, R. (1983): Die Stadt in Industrie- und Entwicklungsländern, 1983.
Die wesentlichen Prozesse der Stadtentwicklung zeigten statt dessen ganz andere Trends:
Eine globale Homogenisierung in Richtung weltweit einheitlicher Muster (nomologischer Ansatz der
Stadtstrukturforschung in der Tradition der nordamerikanischen Sozialökologie mit dem Modell der
nordamerikanischen Stadt als Entwicklungsziel).
Beobachtbare Unterschiede sind zu erklären: a) als unterschiedliche historische Ausgangssituationen,
die aber verblassen und b) durch unterschiedliche Stadien der Entwicklung (vorindustrielle Stadt,
Stadt im Übergang, Industriestadt der Moderne); dies bedeutet eine modernisierungstheoretische
Differenzierung zwischen den Städten der Industrieländer und den Städten der Entwicklungsländer.
Im übrigen sei die wichtigste großregionale Differenzierung diejenige zwischen der kapitalistischen
Welt und der sozialistischen Welt (Auswirkungen der unterschied-lichen sozioökonomischen
Systeme). Damit könne man im Grunde unterscheiden:
1) Städte der ersten (= westlichen) Welt,
2) Städte der zweiten (= sozialistischen) Welt,
3) Städte der sog. Dritten Welt.
In der Auseinandersetzung um die Divergenz- bzw. Konvergenz-Hypothese nimmt u.a. E.
Lichtenberger eine vermittelnde, genauer: eine differenzierende Position ein. Sie unterscheidet
zwischen varianten (kulturraumspezifischen) und invarianten (global wirkenden) Faktoren:
Invarianzen: Technologien der Produktion, des Bauens, des Verkehrs, der Ver- und Entsorgung, der
Information und Kommunikation;
Varianzen: Persistenz der Stadtmorphologie, traditionelle Normen und Verhaltensweisen, politischadministrative Organisation, städtebauliche Gestaltung, politische Leitbilder.
Vgl. E. Lichtenberger: Stadtgeographie. 1991 (1. Aufl. 1986). - E. Lichtenberger: Stadtentwicklung in
Europa und Nordamerika. Kritische Anmerkungen zur Konvergenztheorie. In: R. Heyer u. M. Hommel
(Hg.): Stadt und Kulturraum. 1989, S. 113-129.
Die Sichtweise der globalen Differenzierung in die "drei Welten" ist jedoch heute aus zwei Gründen
überholt: erstens wegen der Implosion der sozialistischen Gesellschafts-ordnungen und zweitens
wegen der Einsicht, daß die sog. Dritte Welt kaum Gemeinsamkeiten aufweist (Denkfigur
"Entwicklungsländer" oder "Dritte Welt" ist ein modernisierungstheoretisches Konstrukt! Vgl. U.
Menzel: Das Ende der Dritten Welt und das Scheitern der großen Theorie, 1992).
Aber was tritt statt dessen an die Stelle der verschwundenen Weltstruktur der Nachkriegszeit? Zwei
Interpretationsangebote werden z.Zt. diskutiert, die möglicherweise konkurrieren, möglicherweise
aber auch komplementär zu verstehen sind:
These der wieder zunehmenden Bedeutung der "Zivilisationen" oder (Groß-)Kulturen etwa gemäß S.
Huntington ("Clash of civilizations", 1993) oder B. Tibi ("Krieg der Zivilisationen", 1995) und zwar
sowohl auf der realweltlichen Ebene des Denkens und Handelns der Politiker und Bevölkerungen als
auch auf der Diskursebene der Wissenschaften; Folge: Fragmentierung und Abschottung der
Kulturerdteile; regionale Sonderwege der Stadtentwicklung, anknüpfend an historische Traditionen
(denn die gebauten Städte sind immer physische Manifestationen bestimmter symbolischer
Ordnungen gewesen).
These der insbesondere wirtschaftlichen Hierarchisierung der Erde. Diese These hat (a) eine liberale
ökonomische Variante und (b) eine kritische polit-ökonomische Variante. Die erste betont die
weltwirtschaftliche Integration (Globalisierung) und die dadurch entstehende weltwirtschaftliche
Arbeitsteilung zwischen Ländern und Städten in einem "globalen Städtesystem" (z.B. K. Ohmae:
"Triade" und das Aufkommen von "Region states"). Die in der Tradition des marxistischen Denkens
stehende kritische polit-ökonomische Variante betont die engen Zusammenhänge zwischen
ökonomischer, politischer und kultureller Hierarchisierung der Erde, die sich auch in einer
entsprechenden Hierarchie des globalen Städtesystems ausdrücke (z.B. I. Wallerstein: "Weltsystem"-
Theorie; J. Friedmann: "World city hypothesis"; S. Sassen: Global city). Wesentliche Faktoren zum
Verständnis der Stadtentwicklung;: Form des Ver-hältnisses zum globalen Städtesystem (Integration,
Marginalisierung usw.) und die weithin daraus resultierende innere Struktur (z.B. These der "3
Stadtwelten").
In welchem Verhältnis stehen diese beiden Deutungsangebote der "großkulturellen
Regionalisierung" und der "hierarchischen Integration"? Handelt es sich um unterschiedliche,
vielleicht teilweise gegenläufige Prozesse der einen Realität und somit um komplementäre
Erklärungsansätze? Oder handelt es sich um konkurrierende, d.h. sich widersprechende
Interpretationen der einen Realität?
Die angloamerikanische Stadt
Hofmeister, Burkhard: The North American city. In: Ehlers, Eckart (Hg.): Modelling the city. Crosscultural perspectives. Bonn: Dümmler 1992. S. 54-64. = Colloquium Geographicum 22.
Holzner, Lutz (1996): Stadtland USA: die Kulturlandschaft des American Way of Life. Gotha: Perthes.
142 S. = Peterm. Geogr. Mitt., Erg.-H. 291.
Grund- und Aufriß:
- Schachbrettartiges, orthogonales Straßennetz, beruhend auf 2 Ursachen:
(1) Renaissance-klassizistischer Stil der Kolonialmächte,
(2) quadratische Landvermessung ab 1785, d.h. außerhalb der früh besiedelten Räume,
Rechteckige Baublöcke oft durch Hintergassen (alleys) mit Versorgungsleitungen geteilt. Ergänzt
durch Diagonalstraßen: diese oft Hauptstraßen(z.B. Broadway), oder sie dienen der Heraushebung
bedeutender Gebäude (z.B. in Washington).
- Weiträumige Flächenausdehnung, insb. der Wohnbebauung in das Umland ("Subur banisierung",
"urban sprawl"), bedingt durch:
- großen Anteil der 1-Fam.-Haus-Bebauung mit großen Flächenansprüchen,
- frühe Privatmotorisierung und forcierter Bau von Schnellstraßen.
- Beide Faktoren bedingt durch Wohlstand insb. der Mittelschichthaushalte und deren
sozialkulturelle Normen.
- Hochhausbebauung in den Stadtzentren (CBD), insb. für Büros, auch Geschäftszentren im
Unterschied zu den oft aus historischen Gründen geschützten Silhouetten europäischer Städte!
Prozesse:
- Schrumpfungs-/Stagnations-/Verfallsprozesse in den Innenstädten ("urban blight"):
- "Commercial blight" (Bedeutungsverlust des CBD und der anderen innerstädtischen
Geschäftszentren insb. durch Konkurrenz der Shopping Center),
- "Industrial blight" (ehem. Industriegürtel, früher auf Eisenbahn u. Pendler bezogen),
- "Residential blight" (Entwertung älterer, meist stadtnaher Wohngebiete, teilw. Slum),
- aber auch Wiederaufwertung innenstadtnaher Wohnviertel ("Gentrification"),
- Wohnsegregation weitaus stärker als in Europa, Ghettobildung, insb. von Schwarzen teilw. bedingt
durch hohe Mobilität der Bevölkerung,
- Suburbanisierung (residential, commercial, industrial),
- Bedeutungsverlust des altindustriellen Nordostens (frost-belt - sun-belt)
- "Counter urbanisation", d.h. überproportionales Wachstum kleinstädtischer Siedlungen auch in
peripheren Regionen außerhalb der großen Agglomerationen.
Die lateinamerikanische Stadt
Einheitlicher "Kulturerdteil"? Mindestens drei Teilregionen mit unterschiedlichen
Stadtentwicklungen:
a) Hispano-Amerika (weitaus größter Teil),
b) Lusitano-Amerika (Brasilien),
c) Westeuropäisch-nordamerikanisch geprägte karibische Inseln (z.B. Puerto Rico).
Stadtentwicklung Lateinamerikas geht ganz wesentlich auf die Kolonialzeit zurück. Nur in den
Regionen der indianischen Hochkulturen bestanden vorkoloniale Städte, die aber im Zuge der
spanischen Eroberung zerstört wurden. Teilweise wurden auf ihren Ruinen Kolonialstädte erbaut, so
daß eine Siedlungskontinuität (mit Persistenz von Grundrißformen) besteht: z.B. Mexico und Cuzco.
Der weitaus größte Teil der Städte sind aber koloniale Neugründungen, von denen wiederum der
größte Teil aus der ersten Phase (1520-1580) stammt; bis ca. 1630 erfolgte eine Konsolidierung mit
der Herausbildung einer Hierarchie durch die Konzentration politischer und ökonomischer
Funktionen. Bis zur Mitte des 19. Jh. kaum Veränderungen der großräumigen Gefüges. Allerdings im
18. Jh. einige neue Gründungen, wie Bergbaustädte in Mexico und militärisch motivierte Gründungen
an den "Kriegsfronten", d.h. den Kolonisationsfronten gegen die Indianer, wie z.B. Montevideo 1726).
Funktion der Gründungsstädte: bis zum 19. Jh. nicht Mittelpunkte flächenhafter Besiedlung, sondern
punktuelle Stützpunkte der politischen Eroberung und Machtsicherung und der
Ressourcenausbeutung (Edelmetalle, Zuckerrohr) durch Spanien und Portugal. Deutlicher
Unterschied zwischen:
Hispano-Amerika: Spanier gründeten Hauptstädte aus symbolischen Gründen häufig an den im
Binnenland gelegenen Standorten der indianischen Mittelpunktsiedlungen, z.B. Mexico, Bogota,
Quito; dadurch entstanden oft Städtepaare Hauptstadt-Hafenstadt, z.B. Quito-Guayaquil; SantiagoValparaiso; daneben aber auch Küstenstandorte: Havanna, Santo Domingo, Buenos Aires;
Lusitano-Amerika: fast ausschließlich Gründungen in Küstenlage als koloniale "Brückenköpfe" wie
Salvador, Rio, Belem, Recife usw.; Ausnahme: Sao Paulo.
Grundrißstruktur der spanischen Kolonialstadt:
Rechtwinkliger Straßengrundriß mit ca. 100 x 100 m großen quadratischen Baublöcken; in der Mitte
ein Quadrat als "Plaza Mayor", die zugleich als funktionalen Stadtzentrum fungiert, ausgespart. An
der Plaza liegen öffentliche Gebäude wie Rathaus, Regierung, Gericht, Polizeibehörde, Kaserne,
Kirche und Schule sowie Adelspaläste.
Klares zentral-peripheres Sozialgefälle. An der plaza mayor Adelspaläste und Bürgerhäuser, am
Stadtrand Lehmhütten der Mestizen, Mulatten und Indianer.
Dieser "Idealplan der spanischen Kolonialstadt" wurde vor allem bei Stadtgründungen auf ebenem
Relief realisiert; bei Hafen- bzw. Berglage vielfältig abgewandelt.
Ursprung: Leitbild der geometrischen Idealstädte der Renaissance, entwickelt insb. von italienischen
Stadtbaumeistern, indirekt zurückgehend auf die griechisch-römische Stadt ("Hippodamisches
Schema"). Damit nicht Übertragung traditioneller mittelalterlicher Stadtformen Spaniens, sondern
ästhetisches Prinzip des Renaissance-Städtebaus, das von Stadtbaumeistern ("praktischen
Mathematikern") entworfen und per königliche Anweisung überall angewandt wurde.
Auch die kolonialportugiesischen Städte folgten weitgehend dem Schachbrettmuster, allerdings mit
einem geringeren Schematismus. Das 1549 als Hauptstadt gegründete Sao Salvador da Bahia wurde
als Festungsstadt in Küstenlage errichtet; ähnlich Rio 1565.
Größte Städte: 16./17. Jh.: das 1546 auf dem bolivianischen Hochland gegründete Potosí mit ca. 100bis 150.000 Ew. (Silberbergbau!), im 18. Jh. zurückgehend; zu Beginn des 19. Jhs.: 3 Städte >100.000
Ew.: Mexiko, Salvador sowie nach 1808 (Verlegung des protugiesischen Hofes) auch Rio; über 50.000
Ew. zählten Havanna und Lima (ebenso wie Mexico Sitz eines spanischen Vize-Königs).
Entwicklung zur heutigen Stadt: explosionsartiges Wachstum, insb. im 20. Jh., dabei völlige
Überformung:
Alter Kern entwickelt sich zur Geschäftscity und dehnt sich aus;
beginnend in 60er Jahren und heute weiter zunehmend: Auslagerung von City-Funktionen (Büros,
Shopping-Center) in Stadtrandlagen, meist in Richtung Oberschicht-Quartiere.
Die ehem. bürgerlichen zentrennahen Wohnviertel sinken ab und werden zu innerstädt.
Elendsvierteln; deren Bedeutung nimmt jedoch aufgrund von City-Erweiterung und Stadtsanierungen
immer mehr ab.
Außerhalb der älteren Stadt entwickelt sich eine sektorale Struktur: Industrie an Eisenbahnen und
Hauptstraßen, in deren Nähe die Wohnviertel der Unter- und unteren Mittelschicht, davon getrennt
meist ein weit ins Umland ausgreifender Sektor der Oberschicht; räumlich kraß segregiert und oft
durch Sicherheitsdienste eingezäunt: weitläufige, durchgrünte Wohnviertel der Oberschicht mit
Bungalows, Parks, Golfplätzen usw.
Dieses Muster wird ergänzt durch "nuclei": Wohnviertel des sozialen Wohnungsbaus sowie illegale
und halblegale Hüttenviertel: "barrio" (Bogota), "barriada" (Lima), "favela" (Rio); diese werden oft
irreführend als "Slums" bezeichnet; man muß jedoch klar unterscheiden zwischen
"Spontansiedlungen" mit intakter Sozialstruktur, deren Bevölkerung integriert ist, und "Slums of
despair" mit hoher Kriminalität. In diesen Marginalsiedlungen leben ca. 35-50% der
Stadtbevölkerung. Der erste Typ von Marginalsiedlungen wird oft von den Bewohnern konsolidiert
und baulich aufgewertet und von den Stadtregierungen legalisiert und mit elementarer Infrastruktur
versehen.
Wanderungen: starke Land-Stadt-Wanderungen aufgrund von Push- und Pull-Faktoren; gerichtet
traditionell (bis ca. 60er Jahre) meist in die Innenstädte, von da aus in die äußeren Wohnviertel;
Land-Stadt-Wanderungen der unteren Sozialschichten richten sich seit den 70er Jahren verstärkt in
die randstädtischen Marginalsiedlungen; Wanderung oft mit sozialer Mobilität verknüpft, d.h.
Weiterwanderung in Viertel des sozialen Wohnungsbaus bzw. in Mittelschichtquartiere.
Hauptprobleme:
nicht steuerbares Wachstum der Metropolen, insb. der Marginalsiedlungen; bis in die 70er Jahre
meist bekämpft, da diese Siedlungen nicht dem Stadt- und Gesellschafts-Ideal der (aus den oberen
Mittelschichten stammenden) Planer und Politiker entsprechen; heute werden sie meist geduldet
und teilweise geplant, da die Mittel für sozialen Wohnungsbau fehlen (aber an repräsentativen Orten
der Stadt oft gewaltsam beseitigt!);
kaum noch lösbare Verkehrs- und Umweltprobleme,
schroffe sozialräumliche Zerklüftung als Abbild der gesellschaftl. Struktur der Länder,
Primatstadt-Struktur mit Übergewicht der Metropole in vielen Ländern, z.B. Argentinien, Uruguay,
Chile, Peru,
Die schwarzafrikanische (subsaharische) Stadt
Nur in einigenTeilräumen ältere Stadtkulturen (Sudanzone, Yoruba-Städte in Nigeria); in der Regel
gehen die schwarzafrikanischen Städte auf koloniale Gründungen zurück: zuerst isolierte
Handelsstützpunkte, dann als Hauptstädte der Kolonien Verwaltungs-, Militär- und Handelszentren,
insb. an den Küsten; daneben auch kleinere Regionalzentren.
Kern: ehem. Europäerviertel mit meist quadratischen bzw. rechtwinkligem Straßennetz, heute meist
zur modernen Geschäftscity mit Büros, Geschäften, modernen Apartments, daneben oft noch ältere
kolonialzeitliche Häuser erhalten.
Davon räumlich kraß getrennt:
- Oberschichtviertel mit offener Villenbebauung (meist sektoral angeordnet), afrikanische
Oberschicht + Europäer,
- traditionelle Afrikaner-Viertel, teilw. Hütten, teilw. "low-cost-houses" des öffentl. Wohnungsbaus;
Mittelpunkte: Afrikanermärkte,
- dazwischen: kleinere Mittelschichtquartiere,
- außerhalb: Spontanansiedlungen ("Squatter", "Bidonville").
Hauptprobleme: ähnlich wie bei lateinamerikanischer Stadt
- Land-Stadt-Wanderung oft, aber nicht notwendig mit sozialer Entwurzelung verbunden
("Detribalisierung"); teilweise Übertragung sozialkultureller ländlicher Lebensformen in die Städte.
- Koloniales Erbe wirkt noch sehr viel stärker nach als in Lateinamerika ("ökonomischer und
kultureller Neo-Imperialismus"); dieses wird allerdings auch von den einheimischen Regierungen und
Eliten oft als Entschuldigung für Unfähigkeit und Korruption beschworen.
- Die wirtschaftliche Stagnation der 80er und 90er Jahre hat zu einer weiteren Verarmung großer
Bevölkerungsteile und zu einer Verschärfung der innerstädtischen Segregation geführt.
Die orientalische Stadt
Ehlers, Eckart (1993): Die Stadt des Islamischen Orients. Modell und Wirklichkeit. In: Geogr. Rundsch.
45, S. 32-39.
Zusammenfassende Diskussion der zahlreichen vorliegenden Modellentwürfe; betont vor allem die
Überwucherung der traditionellen Medina und ihrer Bazarwirtschaft durch die moderne
Urbanisierung.
Verbreitung dieses Stadttyps im wesentlichen im islamisch-orientalischen Kulturkreis, d.h. zwischen
Marokko und Pakistan; jedoch sind wesentliche Merkmale vorislamisch geprägt, lediglich der Bazar
entstand im islamischen Mittelalter; desh. spricht man sinnvollerweise nicht von der "islamischen",
sondern von der "orientalischen" Stadt!
Typische Merkmale des Grundrisses:
- Verzweigtes, unübersichtliches Sackgassensystem der Straßen.
Entstehung seit der Antike in einem langen Prozeß aus einem zunächst regelhaftem Straßennetz,
dann überall verbreitet.
Gründe:
- Übergang vom antiken Wagenverkehr zum Tragtierverkehr,
- Sackgassen als halböffentliche Bereiche, d.h. Absonderung in private Sphäre der Wohnhöfe, halböff.
Sackgassen und öff. Bereiche der Bazare und Hauptstraßen.
- Wohngebäude: ummauerte Wohnhöfe (Atriumhaus) seit der Antike nur wenig verändert.
- Zentrum: Hauptmoschee und zentraler Basar.
Basar entstand seit dem Mittelalter als kommerzielles Zentrum; nach außen abschließbar, im
Inneren differenziert in Handwerkergassen, Einzelhandelsgassen nach Branchen,
"Khane" = Großhandelshöfe und teilw. Karawansereien;
- Wohnquartiere meist streng nach ethnischen/religiösen Gruppen getrennt, z.B. erkennbar an den
Kirchen/Moscheen/Synagogen, kleinere Bazare, Koranschulen, Badehäuser ("Hammam"),
Armenküchen etc.
Im 19. und 20. Jh. westliche Überprägung durch britische und französische Kolonialmächte und durch
moderne Weltwirtschaft:
Oft moderner CBD neben der traditionellen Stadt, so daß eine zweipolige Struktur entstand; teilweise
auch moderne Straßendurchbrüche und CBD-Entwicklung in der traditionellen Stadt (Ideal der
modernen westlichen Stadt als Ziel harter Modernisierungspolitik, weniger der Kolonialmächte,
sondern vor allem der einheimischen Eliten und Regierungen).
Heute ist ein differenziertes Neben- und Miteinander traditioneller und moderner Elemente
charakteristisch für die orientalische Stadt. Ehlers 1993: Einheitlichkeit des Modells fraglich, gilt
allenfalls für 19. Jh., heute vielmehr zunehmende Differenzierung.
Starkes Wachstum der Städte (hohe Geburtenraten in den muslimischen Ländern und anhaltendes
Land-Stadt-Wachstum). Folge: starkes Wachstum der Marginalsiedlungen; teilw. Entstehung von
Megastädten (Kairo, Istanbul, Teheran, Karachi).
Die chinesische Stadt
Taubmann, Wolfgang (1993): Die chinesische Stadt, GR 45, 420-428.
Prägende kulturspezifische Faktoren:
1) Traditionelle Elemente der chinesischen Stadt in der Kaiserzeit
Traditionelle Elemente der chinesischen Stadt sind heute nur noch im Grundriß und in
Einzelgebäuden nachvollziehbar.
Prinzip: Die Stadt ist ein "kosmo-magisches Symbol", d.h. Abbild des Kosmos (kreisförmiger Himmel
und quadratische Erde). Gestaltungselemente: Achsialität, Symmetrie und Orientierung an
Himmelsrichtungen.
Nach konfuzianischer Gesellschaftslehre hierarchischer Aufbau:
im Zentrum Palast des Kaisers (= "Himmelssohn") oder Fürsten, daran anschließend in quadratischer
bzw. rechteckiger Anordnung die Wohnviertel mit zentral-peripherem Sozialgefälle.
Mikrokosmos der Stadt ist Abbild des Makrokosmos: hierarchisches Gefüge.
Die Stadt ist Symbol der Gesellschaft bzw. der staatlichen Ordnung und zugleich Symbol des Kosmos.
Geomantik (chines. Naturphilosophie): Kräftedualismus (yin-yang) auf den Raum übertragen: z.B.
Himmelsrichtungen: N = weiblich, passiv, dunkel,
S = männlich, aktiv, hell.
Peking: an der Südachse die wichtigsten Gebäude; im N der wenig angesehene
Handel; Gebäude sind prinzipiell nach S ausgerichtet.
Wichtigster Stadttyp: "Kreisstadt", insg. ca. 2000, immer mit Mauer, meist nur 4 Tore; typ. Elemente:
"Yamen" (Sitz des kaiserlichen siegelführenden Beamten), Tempel oft auch heute noch erkennbar;
viele Bezirke durch Mauern abgesondert.
Städte waren Stützen der feudalen Gesellschaftsordnung, kein liberales Bürgertum!
2) Ab Mitte 19. Jh. bis 1949: Einflüsse westlicher Länder und Bautraditionen, insb. in den sog.
Vertragshäfen-Städten (1842ff.) mit Konzessionsgebieten und ausländischen Handelsniederlassungen
(insb. Shanghai, Kanton/Guangzhou, Tientsin, "Kolonien" Hongkong (brit.) und Tsingtau (dt.) und Port
Arthur (russ.)). Dort zunächst räumlich abgegrenzte Ausländerbezirke, später Citybildung in
Altstadtkernen.
3) Seit Gründung der Volksrepublik China 1949: Transformation zur "sozialistischen" Stadt (Symbiose
aus traditionellen und sozialistischen Merkmalen).
Slogan: "Konsumentenstädte in Produzentenstädte umwandeln!"
Einerseits: Maoismus stadtfeindlich, andererseits: Industrialisierung nach sowjetischem Vorbild, d.h.
insb. Aufbau der Schwerindustrie z.B. westl. Beijing
z.B. 1958-76: 80 % aller staatl. Investitionen in die Industrie.
Folge: Vernachlässigung der Infrastruktur und des Wohnungsbaus.
Beseitigung der feudalen Stadtelemente: anstelle der Adelspaläste oft repräsentative öffentliche
Gebäude; Bau monotoner Wohnsiedlungen, meist in der Nähe von Industriebetrieben, teilw. auch
flächenhafte Sanierungen in den Altstädten mit monotoner Neubebauung.
Drangvolle Enge: 1965: 3,7 qm pro Person, 1991: 6,9 qm !
Wohnraum ist praktisch kostenlos; kein privater Wohnungsbau in den Städten, keine
Suburbanisierung, sondern Außenwachstum durch staatliche Industriebetriebe oder städtischen
Wohnungsbau.
4) Tendenzen seit der Reform- und Öffnungspolitik 1980ff.
Starkes Außen- und Innenwachstum, insb. Außenring mit Industrie und Wohnquartieren wachsende
Heterogenität sowohl zwischen den Städten als auch in den Städten.
Boom in Sonderwirtschaftszonen und ETDZs (Econ. a. Tech. Dev. Zones) mit westl. Städtebau und
modernen Hochhäusern (neue Millionenstadt Shenzhen zwischen Guangzhou und Hongkong);
andererseits Restauration traditioneller "Kulturstraßen" insb. für westl. Touristen.
Die japanische Stadt
Traditionelle Stadt (d.h. vor der Meiji-Restauration 1867):
Weitaus wichtigster historischer Typ: Burgstadt (Jokamachi);
rund die Hälfte aller japanischen Städte geht auf die Burgstädte zurück (1890 waren von den 43
Präfekturhauptstädten allein 29 ehem. Burgstädte); gegr. 16.-18. Jh. durch die ca. 260 japanischen
Feudalherren ("Daimyos"), vergleichbar mit den europäischen Fürstenstädten.
= Ausdruck der feudalen Gesellschaftsordnung:
Kern: Burg bzw. befestigter Palast des Daimyo, durch Gräben und Wälle geschützt;
anschließend Wohnbereiche der höheren und niederen Krieger (Samurai-Klasse);
außerhalb der Gräben und Wälle: Bürgerstadt der Handwerker und Händler; Handwerk und Handel
waren auf den Bedarf der Daimyo-Höfe ausgerichtet;
daneben einzelne "Kerne": buddhistische Tempel bzw. Klöster und shintoistische Schreine.
Nach dem Verlust der feudalen Privilegien 1867: Burgstädte werden vielfach zu Verwaltungsstädten.
Bsp: Burgstadt "Koriyama" aus Gutschow.
Burg errichtet 1586 in der Yamato-Ebene (östl. Osaka),
Lage: an einer Straße von Nara (im N) nach Kasiwara (im S)
auf einem Hügel westl. der Straße Burg des Daimyo
daran anschließend auf 3 Seiten: Samurai-Viertel
östl. und nordöstl.: "Choninmachi" d.h. Viertel der Handwerker und Händler
Andere historische Typen:
Rast-oder Stationsorte (shukuba-machi),
Hafenorte (minato-machi) (erst ab 1867 dominierend!)
Marktorte (ichiba-machi)
Kur- und Badeorte (onsen-machi)
Chinesischer Einfluß der Geomantik: N-S-Orientierung der historischen Stadtanlage.
Häuser: meist nur eingeschossige Holzhäuser, desh. ist heute nur wenig historische Substanz
erhalten.
Nach der sog. Meiji-Restauration 1867 Umwandlung zur modernen kapitalistischen Stadt:
- extreme Urbanisierung mit Land-Stadt-Wanderungen und hohen Wohndichten (15.000 Ew pro ha);
kleine Wohnungsgrößen und nur ca. 10-15 qm Wohnfläche pro Ew.;
Gründe:
- Massenwohlstand erst seit 60er Jahre,
- exorbitante Bodenpreise in den Städten,
- starke Zentralisierung der Funktionen in den Stadtkernen.
- hohe innerstädtische Verdichtungen, auch unterirdische Shopping-Center,
charakteristische Kombination: CBD bestehend aus Einzelhandel, Verwaltungen und
Vergnügungsviertel; starkes Wachstum dieser innerstädtischen Geschäfts- und Vergnügungsviertel,
teilweise unterirdisch angelegt (wg. hoher Bodenpreise);
- Nebeneinander von kleinen 1-Fam.-Häusern auf kleinen Parzellen und Hochhäusern in
Stahlskelettbauweise (wg. Erdbebengefahr früher keine dichte Bebauung),
mehrgeschossiger Mietwohnungsbau in Großwohnsiedlungen ("danchi") durch private Investoren
oft an Pendlereisenbahnstationen;
- extreme Zersiedlung der Umlandzonen bei (im Vergleich zu Europa) ineffizienter Stadtplanung,
- Mangel an innerstädtischen Freiräumen (wichtig: Parks der Tempel und der ehem. Burgen, heute
oft Funktion von öff. Stadtparks),
- große Verkehrsprobleme aufgrund der Privatmotorisierung (aber noch geringer als in Europa und
Nordamerika!) und der hohen Dichten: aber auch effizienter ÖPNV, Stadtautobahnen.
- Insg.: interessante eigenständige Symbiose autochthoner und westlicher Elemente.
Scharfer Kontrast der Planungstraditionen heraus: Während die westliche Stadtplanung von einem
starken antimetropolitanen Akzent (Mißtrauen gegen große Städte, suburbanes Ideal der
bürgerlichen Mittelschichten) gekennzeichnet werde, ist die Grundeinstellung in Japan gegenüber
Zentralismus und Metropolen uneingeschränkt positiv.
Tokyo: größte Stadtagglomeration der Erde mit ca. 32 Mio Einwohnern;
Entwicklung von Tokyo:
1590-1868 Burgstadt Edo; 1590 errichtete der mächtige Tokugawa Shogun bei einem kleinen
Fischerdorf eine Burg. Gemäß dem sog. "Sankin-kotai"-System verbrachten die Regionalfürsten
(Daimyo) mit ihrem Gefolge (insb. den Samurai) eine große Zeit des Jahres am Hof des Shoguns und
errichteten Wohnquartiere mit einer unregelmäßigen Straßenführung (im S und W des Burgbezirks;
dieser Samurai-Bezirk hieß "Yamanote", locker bebaut mit Gärten, ca. 2/3 der Stadtfläche
umfassend). Östl. der Burg siedelten sich Händler, Handwerker und Künstler an (Zentrum:
Nihonbashi); regelmäßiger geplanter Straßengrundriß mit großer Bevölkerungsdichte (ca. 15-20% der
Stadtfläche). Ferner ca. 1000 buddhistische Tempel und Shinto-Schreine in öff. Grünanlagen waren
über das Stadtgebiet verteilt (ca. 15-20% der Stadtfläche). Nach starkem Wachstum dürfte Edo
bereits Anfang des 18. Jhs. die 1-Mio-Ew-Grenze überschritten haben (und war wahrscheinlich mit
Peking die größte Stadt der Welt; bis es um 18910 von London überholt wurde; neben Edo als dem
politischen Machtzentrum Japans waren Kyoto als Kaiserstadt und symbolisches Zentrum sowie
Osaka als Handelsstadt bedeutsam). Der Adel mit Gefolge einerseits und die Bürgerstadt andererseits
umfaßten jeweils ca. 500000 Ew.
Mit der Meiji-Restauration und dem Ende des Sankin-Kotai-Systems (Samurai-Exodus) fiel die
Bevölkerungszahl Edos/Tokios vorübergehend auf ca. 500000, wuchs dann aber wieder rasch an, so
daß schon um 1910 2 Mio erreicht wurden; erst nach dem Zweiten Weltkrieg wurde in den 50er
Jahren London überholt und Tokkio zur größten Stadt der Erde.
Mit der Meiji-Modernisierung setzte eine starker Stadtumbau ein: die City wurde nach europ. Vorbild
radikal umgebaut: u.a. wurde das Ginza-Viertel ("Ginza Brick Quarters Project) 1872-77 nach europ.
Modell neu geplant und zum kommerziellen Kern; ab ca. 1890 ging die Europa-Orientierung zurück,
mächtige Privatinvestoren und die Regierung bestimmten die weitere Entwicklung. Die Investitionen
richteten sich insb. auf die City und die ehem. Samurai-Viertel (Yamanote) im S und W des
Palastbezirks.
Folge: Dreiteilung der Stadt: 1) CBD-Bezirk um Hbf (westl.: Behörden, Nihonbashi: Großhandel, Ginza:
Einzelhandel); 2) Yamanote als Mittel- und Oberklasse-Wohnviertel; 3) Shitamachi östl. d. CBD:
Handwerker, Kleingewerbe, Arbeiter. 1923 Erdbeben mit anschließendem Feuer kostete 70000
Menschenleben und 61% der Bevölkerung wurde obdachlos; Wiederaufbau berücksichtigte teilweise
Präventivmaßnahmen: Steinbau, Stahlskelettbau für Hochhäuser, Parks als Fluchträume.
Weiteres Wachstum 30er-70er Jahre: hauptsächlich nach W, SW und N; Expansion erforderte weite
Pendlerwege; Bahn erhielt Schlüsselstellung, sowohl staatl. Bahn als auch private Bahnen; sie kauften
Land auf und Bauten Satellitenstädte; Suburbanisierung wurde insb. von den Mittelschichten
getragen. Die Bahnknoten Shinjuku und Shibuya (sowie Ikebukuro und Ueno) antwickelten sich zu
eigenständigen CBD-Bezirken; d.h. Tokyo wird immer mehr zu einer polyzentrischen Metropole.
Bedeutende Unterschiede zu westlichen Metropolen:
- Traditionelle Holzbauweise und Erdbeben/Feuer resultieren in häufige Neubauten, meist 2x pro
Generation; nicht das Haus, sondern der Boden ist das Wertvolle; positive Einstellung gegenüber
Neuem.
- Hohe Dichte (überbaute Fläche, Wohndichte), extrem hohe Bodenpreise, aber auch niedrige PkwRaten; einerseits miserable Wohn- und Pendlerverhältnisse; andererseits eher "nachhaltig" als EU
und USA.
- Geringe kommunale Autonomie. Stadtplanung Tokios wurde immer stark von der Regierung
beeinflußt; wenig Kompetenzen der Stadtplanung (weder komm. Wohnungbau wie in UK noch
Flächennutzungskontrolle wie in USA; Planung wahr immer wirtschaftsfreundlich und auf
Projektlösungen ausgerichtet.
- Suburbia als eigenständige Form zwischen Stadt und Land wie in den USA und im GartenstadtModell ist weitgehend unbekannt. Ehem. Vorortsiedlungen werden im Zuge des
Wachstumsprozesses in die Stadt inkorporiert. Dahinter stehen kulturelle Unterschiede: Leben auf
dem Lande (mit intakter traditioneller Sozialkultur, "grassroot democracy" oder Ökobewußtsein) ist
in Japan unpopulär; Naturbewußtsein ist zwar stark ausgeprägt, aber eher in symbolisch-stilisierter
Form in Parks und Gärten.
Neue Wachstumsspitzen wegen der großen Entfernungen nicht nur am äußeren Rand, sondern auch:
"Teleport Town" in der Tokyo-Bucht auf Aufschüttungsgelände, verbunden mit der Stadt durch eine
Schnellstraße und eine automatische Hochbahn. Geplant seit 1989 als Investition der Stadt als
Demonstrationsprojekt für eine Ausstellung der Weltstädte gegen Ende des Jahrzehnts. Als 1991ff.
die Rezession einsetzte und sich viele private Investoren zurückzogen, geriet das Projekt in eine Krise.
Erste Amtshandlung des neugewählten Bürgermeisters im Sommer 1995: Absage der Ausstellung.
Stand 1997: Gesamte Infrastruktur steht; einzelne Gebäude stehen zwischen großen Brachflächen.
Fläche: 448 ha, Plan: 110000 Arbeitsplätze, 63000 Wohnbevölkerung.
- Mittelpunkt: 4 km lange 80 m breite Promenade (völlig ohne Tradition in Ostasien!), offiziell
begründet wegen Erdbeben-Sicherheitszone, aber funktionslos und öde.
- "Joypolis" der Fa. Sega als Spiele- und Vergnügungszentrum mit Hotels, Restaurants usw.
- 23 ha Messe-und Ausstellungsgelände (größtes in Tokyo).
Ursachen der unipolaren Konzentration auf Tokio:
- historisch weit zurückreichende straffe Zentralisierung des Landes (während der
Shogunatsregierung in der Residenz- und Regierungsstadt Edo, ebenso nach der Meiji-Restauration
1867, 1868 Verlegung der Hauptstadt von Kyoto nach Tokio);
- ökonomische Zentralisierung im Zuge der Kriegswirtschaft 1937ff. und der US-Besatzungszeit;
- Globalisierung führte seit 1980er Jahre zur Entwicklung zur Global City;
- enges Zusanmmenspiel von Wirtschaft und Politik,
- Bedeutung der Face-to-face-Kontakte für Unternehmen und Dienstleistungen u. Medien auf
hochkompetitiven Märkten;
- Prestigedenken (Standort Tokio für Karriere, Hochschulausbildung, Verwaltungsstandort usw.)
Probleme der Ballung:
- extrem hohe Boden- und Immobilienpreise (in der Bubble-Economy überhöht);
- hohe Pendlerdistanzen und Pendlerzeiten ("Pendlerhölle");
- hohe Verkehrsbelastung, zahlreiche Staus trotz Road Pricing und niedriger Motorisierung;
- hohe Umweltbelastungen;
- mangelnde Grün- und Freiflächen:
- hohes Risiko gegenüber Naturkatastrophen, insb. Erdbeben.
Soziokulturelle Voraussetzungen für die Akzeptanz der Ballung:
- traditionell positive Besetzung von Größe, Wachstum, Modernität;
- traditionell enges Zusammenleben der Menschen;
- Fähigkeit zur partiellen Verdrängung und selektiven Wahrnehmung der Umwelt;
- Fehlen der Polarisierungs- und Verfallserscheinungen von Megastädten anderer Länder (ethnisch
homogene Bevölkerung, niedrige Einkommendisparitäten, niedrige Kriminalität usw.);
- leistungsfähiger ÖPNV und Fortschritte der Umweltpolitik.
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