Roland Müller - Roland Seeheim

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Roland Seeheim
Die Schulzes
Geschichte einer Familie über 100 Jahre
Gewidmet dem 100. Geburtstag
von Elise Max, geb. Schulze
am 19. September 1995
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1. Kapitel
Margarete erzählt von ihren Großeltern
Vor zwei Jahren ist meine Mutter gestorben - im Alter von 98
Jahren. Sie war eine beeindruckende Frau gewesen,
eigensinnig und ein wenig despotisch, wie das bei wirklich
starken Persönlichkeiten häufig vorkommt, aber auch
liebenswert. Es gibt Menschen, die rasch in Vergessenheit
geraten, wenn sie gegangen sind. Sie gehört nicht zu dieser
Sorte Menschen. Denen, die sie kannten, wird sie lange in
Erinnerung bleiben. Und niemand kannte sie so gut wie meine
Schwester und ich.
In den letzten Jahren hatte meine Mutter das Haus nicht
mehr verlassen können. Gefangen in einer Welt von fünfzig
Quadratmetern waren ihr nur noch wenige Dinge geblieben:
ihre Energie, die sich nun erschöpfte in letzten großen, nicht
mehr zu verwirklichenden Plänen, ihr unbändiger Wille, am
Leben zu bleiben, und - ihre Erinnerung. Wenn ich sie
besuchen kam, verlangte sie, daß ich mich zu ihr setze und ihr
zuhöre, bis in die Nacht hinein. Sie war eine ausgezeichnete
Erzählerin. Freilich ließen sich die vielen, vielen Stunden, die
ich bei ihr saß, selbst mit einer so weitverzweigten Familie wie
der unseren nicht ausfüllen. Die Geschichten wiederholten
sich - fast wörtlich übrigens.
Nun ist sie tot, das letzte der Schulze-Kinder, und auch die
nächste, meine Generation schwindet dahin. Niemand kommt
an gegen die Allmacht der Zeit. Seit sich vor ein paar Jahren
mein Augenleiden verschlimmert hat, bin ich fast blind. Es fällt
mir schwer, diese Zeilen zu schreiben. Wer aber soll es tun,
wenn nicht ich? Ich fühle es - wenn ich jetzt nicht beginne mit
dieser Arbeit, die ich schon so lange vor mir herschiebe, wenn
ich mich jetzt nicht dazu aufraffe, dann wird niemand je etwas
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erfahren von jenen Ereignissen. Sie werden verloren sein für
immer.
Die Lexika geben Auskunft, wer vom ersten der Weltkriege
profitierte, wann und warum der Kaiser abdanken mußte, wer
welche Wahl gewonnen hat, wie die Nazis an die Macht
gekommen sind. Doch das alles sind tote Fakten, widerwillig
auswendig gelernt durch Generationen von Schülern. Mein
Buch ist kein Buch über die wenigen, welche die Politik
bestimmten, sondern eines über die vielen, die ihr ausgeliefert
waren und sich dennoch ihre Würde bewahrten, die keine
Helden werden konnten und wollten, und die dennoch inmitten
ihres Alltags so viel Heldenhaftes vollbrachten.
Die Heimat der Schulzes war die heute knapp 35.000
Einwohner zählende Stadt Köthen. Sie liegt etwa in der Mitte
zwischen Halle und Magdeburg und hat viel von ihrem
einstigen Glanz verloren, obgleich sie auch heute noch eine
Ingenieurschule beherbergt und ein Zentrum der
metallverarbeitenden und chemischen Industrie ist. Die
spätgotische Pfarrkirche St.Jacob mit ihren zwei durch eine
Brücke miteinander verbundenen, schlanken Türmen, das
stolze Renaissanceschloß, die barocke Agnuskirche mit ihrem
wertvollen Flügelaltar und die klassizistische St.Marien-Kirche
zeugen noch von den Jahrhunderten, in denen mächtige
Adelsgeschlechter in ihren Mauern residierten, zuletzt - von
1603 bis 1847 - eine Linie der Fürsten von Anhalt. 1717 berief
der kunstliebende Fürst Leopold keinen Geringeren als Johann
Sebastian Bach zum Hofkapellmeister.
1856, als mein Großvater Wilhelm August Schulze geboren
wurde, waren die Fürsten bereits verschwunden. In seiner
Kindheit wurden die ersten Fabriken gebaut. Am Stadtrand
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entstanden ausgedehnte Gärtnereien. Etliche Bewohner lebten
aber auch noch von der Landwirtschaft. Eine besondere
Schicht bildeten die Studenten, die - zumeist aus reichen
Familien stammend - ihre Zeit weniger mit Lernen verbrachten
als mit Zechgelagen oder mit den Sportarten der feinen Leute,
dem Hockey vor allem.
Inwieweit die großen politischen Umwälzungen des
ausgehenden 19. Jahrhunderts das Leben der Köthener
beeinflußten und inwieweit sie Anteil nahmen daran, läßt sich
heute nicht mehr genau sagen. Sicherlich war das von Familie
zu Familie sehr unterschiedlich.
Seine frühe Kindheit erlebte mein Großvater in den Jahren
des Kampfes um die Ergebnisse der Revolution von 1848. Es
war eine Zeit volle Widersprüche. 1864 wurde die "Erste
Internationale" der jungen Arbeitervereinigungen gegründet.
Ab 1866 einte Preußen mit Diplomatie und Waffengewalt die
deutschen Länder zur Nation. 1870 brach der Krieg gegen
Frankreich aus, an dessen Ende die Proklamation des "Zweiten
Deutschen Kaiserreiches" stand.
Was von alledem drang bis ins Bewußtsein meines
Großvaters vor? Ein weites Feld für Spekulationen! Ich
persönlich bin überzeugt davon, daß er das Geschehen in der
Welt schon zeitig mit wachem Verstand verfolgte. Wie sonst
ließe sich erklären, daß er später als erfolgreicher
Bauunternehmer in erstaunlichem Maße Idealist blieb und
typisch sozialdemokratischen Überzeugungen bis ans
Lebensende die Treue hielt? Sicher ging die Zeit der
Sozialistengesetze von 1878 nicht spurlos an ihm vorüber. Als
junger Arbeiter wußte er aus eigenem Erleben, was es mit
Schlagwörtern wie "Ausbeutung" und "Gerechter Lohn für
alle" auf sich hatte.
Doch ich will nicht zu viel vorwegnehmen sondern der
Reihe nach berichten. Der kleine Wilhelm wuchs heran in der
Gärtnerei, die seine Eltern besaßen. Das war ein Vorzug. Er
hatte viel frische Luft und den freien Blick über die weite,
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flache Felderlandschaft. Das muffige Hinderhofmilieu, in
welchem die Arbeiterkinder in den jungen Industriestädten
dahinkümmerten,
blieb
ihm
erspart - eine
wichtige
Voraussetzung dafür, daß er sich zu einem aufrechten,
selbstbewußten Menschen entwickeln konnte. Allerdings war
die Familie nicht reich. Um den Betrieb am Leben zu erhalten,
mußte jeder einzelne zupacken. Auch die Kinder blieben dabei
nicht ausgespart.
Als Erbe stand von Anfang an der älteste der Söhne fest.
Wilhelm, der Nachgeborene, mußte sich anderswo nach einem
Broterwerb umsehen und entschied sich für eine Maurerlehre.
Er hatte sich inzwischen zu einem stattlichen Burschen
entwickelt, war zwar nicht allzu groß aber breitschultrig und
kräftig. Zu seinen dunklen, drahtigen Haaren hatte er helle,
graublaue Augen - ein überraschender Kontrast, der später
einer seiner Töchter großen Liebreiz verleihen sollte.
Als Dreiundzwanzigjähriger lernte er die vier Jahre jüngere
Auguste Luise Höhne kennen. Sie litt unter der Tyrannei eines
gewalttätigen Vaters. Seit dem Tode ihrer Mutter hatte sie
niemanden mehr, an den sie sich in ihrem Kummer anlehnen
konnte. So war die schnell vereinbarte Heirat für sie geradezu
eine Erlösung. Danach brach sie zu ihrem Vater alle
Verbindungen ab.
Wilhelm liebte seine junge Frau von ganzem Herzen, und es
entsprach ganz seinem Charakter, für sie so etwas wie ein
Beschützer zu sein. Da sie auffällig klein und zierlich war, kam
das auch äußerlich zum Ausdruck. Eine wirklich romantische
Verbindung, wie sie damals noch viel seltener vorkam als
heute.
Das hieß freilich nicht, daß Auguste sich verwöhnen ließ
oder daß Wilhelm ihr dergleichen in Aussicht stellte. Die ersten
Ehejahre waren eine Periode voller Mühe und Entbehrung.
Zunächst fehlte es den beiden an so ziemlich allem, nicht
zuletzt an einer eigenen Bleibe. Als sie sich für ein paar
hundert Mark ein kleines Haus kaufen konnten, mußten sie die
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Verpflichtung eingehen, die alte Frau, die darin wohnte, bis zu
ihrem Tode zu pflegen.
Bald kam das erste Kind zur Welt, ein Mädchen, das den
Namen Minna erhielt. Franz, der erste Sohn, folgte im nächsten
Jahr. Für vier Personen war der Teil des Hauses, den die
Familie nutzen konnte, bereits zu klein. Da besann Wilhelm
sich auf seine Kenntnisse aus dem Maurerberuf und baute an.
Das konnte er selbstverständlich erst nach Feierabend tun, nach
Sonnenuntergang zumeist, im Licht einer Stallaterne, die, an
einen nahen Baum gehängt, die Baustelle mehr schlecht als
recht erhellte. Auguste, die tagsüber und nicht selten auch noch
in der Nacht die beiden Kleinkinder versorgte, übernahm die
Handlangerdienste. Niemand, der die zerbrechlich zart
erscheinende junge Frau sah, mochte glauben, welchen
Belastungen sie standhielt. Ihre innere Energie und ihre
Aufopferungsbereitschaft waren unglaublich. An einige ihrer
Kinder gab sie diese Eigenschaften weiter.
Es verging kaum ein Jahr, ohne daß bei den Schulzes ein
neues Baby in der Wiege lag. Kinder hatten damals für die
ärmeren Familien eine große Bedeutung. Sie mußten später
zum Unterhalt beitragen, und sie waren die Altersversicherung
für ihre Eltern. Vor allem die Geburt eines Sohnes galt als
großer Segen, und auch in dieser Hinsicht konnten Wilhelm
und Auguste sich über ihr Schicksal nicht beklagen.
Nacheinander wurden Karl und Paul geboren. Nur einmal traf
die Familie ein Unglück. Richard, der vierte der Söhne, starb,
noch ehe er das erste Lebensjahr erreichte, an einer
heimtückischen Krankheit.
Ein wenig Unterstützung erhielt Auguste durch ihre
Großmutter, die sich um Töchterchen Minna kümmerte und
sich schließlich sogar bereit erklärte, sie bis zur Einschulung
ganz zu sich in Pflege zu nehmen. Sie war mit ihren
fünfundsechzig Jahren noch rüstig und freute sich darüber, auf
diese Weise weiter nützlich sein zu können.
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Minna muß sich wohl gefühlt haben bei ihrer Urgroßmutter.
Immerhin war sie dort das einzige Kind und erhielt weitaus
mehr Zuwendung als ihre drei Brüder. Nach Hause kam sie
immer nur am Sonntag. Deshalb wunderte sich die Mutter, als
die inzwischen Sechsjährige eines Morgens mitten in der
Woche vor der Tür stand. Sie war ganz unruhig, spürte wohl,
daß irgend etwas Schicksalhaftes sich ereignet hatte, freilich
ohne es schon in seiner ganzen Bedeutung zu begreifen.
"Die Großmutter will nicht aufstehen", berichtete sie. "Sie
sagt auch nichts."
Die Großmutter war tot - unbegreiflich für alle, denn nichts
hatte zuvor darauf hingedeutet. Am meisten aber litt unter dem
Unglück die kleine Minna, denn für sie änderte sich mit diesem
Tag fast alles. Sie mußte zu ihren Eltern zurückkehren und
erfuhr, was es damals bedeutete, das älteste Mädchen einer
großen Familie zu sein. Mit jedem Jahr wurden ihr - zur
Entlastung
der
Mutter - weitere
der
traditionellen
Frauenpflichten übertragen. Von Auguste, die nichts anderes
kannte, als buchstäblich bis zum Umfallen zu arbeiten, konnte
sie in dieser Hinsicht kaum Mitleid erhoffen.
Minna entwickelte sich zu einer umsichtigen kleinen
Hausfrau. Vor allem die Betreuung der jüngeren Geschwister,
von denen immer noch mehr zur Welt kamen, war ihre
Aufgabe. Sie hatte Talent dafür, fand fast immer das richtige
Maß zwischen Strenge und Zärtlichkeit. Sie war geduldig,
murrte nie. Auf den ersten Blick also schien sie ganz nach der
Mutter geraten zu sein.
In ihrem Innern indes sah es ganz anders aus. Wenn sie
einmal Gelegenheit hatte, für einen Moment zu verweilen,
dann ließ sie den Blick schweifen über die schier endlosen
Felder und Gärten, hinter denen irgendwo große Städte voller
Abenteuer und Kurzweil lagen. Das Herz wurde ihr schwer vor
Sehnsucht. Sie stellte sich vor, daß sie das alles vielleicht nie
sehen würde, daß ihr vorbestimmt war, im Altenteil ihrer
Kinder zu enden, von der Arbeit krumm und kurzsichtig, ohne
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zuvor wenigstens ein einziges Mal wirklich frei gelebt zu
haben. Wenige Monate nach ihrem vierzehnten Geburtstag
hielt sie das Fernweh nicht mehr aus, und sie bedrängte ihre
Mutter so lange, bis diese ihr erlaubte, in Magdeburg eine
Anstellung als Hausmädchen anzunehmen.
Allerdings tat auch Wilhelm sehr viel mehr, als von ihm
verlangt wurde. Sobald er eine freie Minute fand, las er
Bücher, um sich ohne Unterricht bautheoretische Kenntnisse
anzueignen. Er beschäftigte sich mit Statik, mit Materialkunde,
mit besonderen Techniken des Mauerns. So lernte er in
mühevollem Selbststudium nach und nach die Kunst, Baupläne
nach eigenen Ideen selbst zu entwerfen, einschließlich aller
dazu notwendigen Berechnungen. Er hing einem Traum nach,
den er zwar zunächst noch nicht verwirklichen konnte, den er
aber fest im Auge behielt. Durch den Tod seines Vaters ergab
sich dann überraschend die große Chance. Der ältere Bruder
übernahm die Gärtnerei und Wilhelm ließ sich das ihm
zustehende "kleine Erbteil" auszahlen. Mit diesem Startkapital
wagte er den Schritt in die Selbständigkeit.
Wilhelm war nun also ein Unternehmer geworden. Er stellte
Arbeiter ein, gab ihnen Anweisungen, plante. Aber er vergaß
dabei nie, daß er als kleiner Maurer begonnen hatte, im
Gegenteil. Er war mehr den je ein überzeugter Sozialdemokrat.
Gerade in jenen Jahren hatte die Bewegung die Fesseln der
Sozialistengesetze abgeschüttelt und erlebte eine stürmische
Entwicklung. Die 1890 gegründete SPD brachte Ideen in die
Gesellschaft ein, die wenige Jahrzehnte zuvor noch
ungeheuerlich erschienen wären. Wilhelm, der träumende
Realist, wollte nicht allein den persönlichen Erfolg. Er wollte
ein Beispiel schaffen, wollte beweisen, daß es Frieden geben
kann zwischen Unternehmern und Arbeitern, wenn einer die
Bedürfnisse des anderen achtet.
Was ist geworden aus seinen Visionen? Reichtum ließ sich
nicht anhäufen mit einer solchen Grundeinstellung. Immerhin
aber konnte er sich wie kaum ein anderer Unternehmer auf
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seine Arbeiter verlassen. Fast alle von ihnen hielten zu ihm,
was auch geschah. Und ein Vermächtnis blieb erhalten bis
heute - seine Häuser, solide, mehrgeschossige Bauten aus roten
und gelben Klinkersteinen. Wenn ich mit meiner Mutter durch
die Schützenstraße oder die Antoinettenstraße ging, dann
versäumte sie niemals, sie mir zu zeigen. Voller Stolz sagte sie
dann:
"Sieh, das hat dein Großvater gebaut."
Nach dem Tod der Eltern bestand für Wilhelm die Möglichkeit,
mit der Familie in sein Geburtshaus zurückzuziehen, denn der
Bruder hatte sich in unmittelbarer Nachbarschaft in einem
Neubau eingerichtet. Das Angebot war verlockend. Auguste
konnte für einen geringen Lohn in der Gärtnerei ihres
Schwagers arbeiten und gleichzeitig den Haushalt versorgen.
Es mußte keine Miete bezahlt werden. Auch Gemüse sollte
umsonst sein. So ließ sich Wilhelm schließlich darauf ein.
Zur Familie gehörten mittlerweile sieben Personen. Minna,
die zu dieser Zeit noch im Hause lebte, war zehn Jahre alt,
Franz, der älteste der Söhne, neun. Karl und Paul sollten im
nächsten und übernächsten Jahr eingeschult werden. Die
kleine, noch im alten Haus geborene Emma lernte gerade
laufen, während das nächste Kind bereits unterwegs war - ein
weiteres Mädchen, das den Namen Martha erhielt.
Von den schon erwähnten, mit dem Umzug verbundenen
kleinen Vorteilen abgesehen, änderte sich für die Familie in
den nächsten Jahren wenig, obwohl Wilhelm immer größere
und prächtigere Projekte übernahm und erfolgreich ausführte.
Wurde für ein neues Haus nicht rasch ein Käufer gefunden,
fraßen die Lohnkosten für die Arbeiter und die Zinsen der
Bankkredite den knapp kalkulierten Gewinn beinahe
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vollständig auf. Die Kinder des Unternehmers mußten für ihren
Onkel Stachelbeeren pflücken, Petersilie zu Sträußen flechten,
Mohrrüben binden und vieles andere mehr tun. Sonst hätte das
Geld zum Leben nicht gereicht.
Auch das Schicksal überschattete die ersten Erfolge einige
Male. Karl erkrankte an Diphtherie. Das bedeutete beim
damaligen Stand der Medizin einen Kampf am Rande des
Todes, zumal wenn ein Kind betroffen war. Buchstäblich
binnen weniger Stunden schwoll der Hals so sehr an, daß er die
Luftröhre zudrückte. Der Junge drohte zu ersticken. Ein Arzt
rettete ihn in letzter Minute vor einem schrecklichen Tod,
indem er ihm eine Silberröhre einsetzte.
Noch bösartiger traf es das vierte Töchterchen. Es hieß
Agnes und litt von Geburt an unter Krämpfen. Die Anfälle
ereigneten sich unregelmäßig Tag und Nacht, und bei jedem
von ihnen hatte es den Anschein, als würde das Baby ihn nicht
überstehen. Das Gesicht verfärbte sich, die Händchen ballten
sich zu Fäusten. Das allerschlimmste für die Angehörigen
jedoch war die völlige Hilflosigkeit diesem Leid gegenüber. Es
gab kein einziges Medikament, das wirklich etwas taugte. Was
die Ärzte rieten, diente allenfalls dazu, ein wenig trügerische
Hoffnung zu wecken, das Gefühl, nicht tatenlos zuzusehen. Die
Last der nahezu pausenlosen Krankenpflege lag vor allem auf
den Schultern der inzwischen dreizehnjährigen Minna. Es war
dies ihre letzte stille Heldentat für die Familie. Wenige Monate
nachdem das Geschwisterchen trotz aller Opfer gestorben war,
ging sie nach Magdeburg.
Mit Tochter Liese, die später meine Mutter werden sollte,
kam wieder ein gesundes Kind zur Welt. Doch nicht einmal
dieses eigentlich so glückliche Ereignis blieb gänzlich frei von
Kümmernissen. Kaum nämlich waren Auguste und das
Neugeborene außer Gefahr, da geschah etwas ganz
Eigenartiges. Emma, die Sechsjährige, die niemals
Schwierigkeiten bereitet hatte und bald zur Schule gehen sollte,
sie begann plötzlich unter Lähmungen in den Beinen zu leiden.
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Sie konnte nicht mehr laufen, mußte selbst auf kurzen Wegen
getragen werden. Nach den tragischen Erfahrungen mit Agnes
versetzte das die gesamte Familie in helle Aufregung.
Diesmal jedoch wußte der alte, treue Hausarzt Rat. Instinktiv
erriet er die Ursache. Emma litt nicht am Körper sondern an
der Seele. Immer wieder mußte sie aus irgendwelchen Gründen
einem Geschwisterkind gegenüber zurückstehen, nun schon
zum dritten Mal. Seit zwei Jahren ging das nun so. Sie war mit
ihrer Geduld einfach am Ende und versuchte unbewußt, sich
ihr Recht auf Zuwendung durch Nachahmung der toten
Schwester zu erzwingen. Der Arzt riet, die Kleine nicht länger
am Rand stehen zu lassen, sondern sie gewissermaßen
auszusöhnen mit Liese, dem neuen Familienmitglied, und ihr
mehr Beachtung zu schenken. Diesen Rat befolgten dann auch
alle - neben den Eltern gleichermaßen die älteren
Geschwister - und tatsächlich verschwand die Lähmung bald,
ohne sich je im Leben zu wiederholen.
Drei Jahre vergingen. Deutschland befand sich mitten in
einer Ära, die von den Geschichtsschreibern heute die
"Wilhelminische" genannt wird - nach jenem Kaiser, auf
dessen Namensvetternschaft mein Großvater mit Sicherheit
alles andere als stolz war. Das Land trieb langsam aber stetig
einem Krieg entgegen, wie es ihn auf der Welt zuvor noch
nicht gegeben hatte. Dieser Krieg sollte auch die
sozialdemokratische Bewegung in eine neue, ernste
Zerreißprobe stürzen. Doch all diese Gefahren lauerten im
Verborgenen, kaum wahrnehmbar für die Menschen, die sich
nach einem harten Arbeitstag nicht mehr mit politischen
Spitzfindigkeiten beschäftigen mochten. Vermutlich erkannte
auch Wilhelm, der sich zeitlebens den Luxus einer Zeitung
leistete, die Zeichen der Zeit damals noch nicht.
Es gab zu viel Alltag in der Familie. Auguste hatte gerade
das vorletzte der Schulzekinder geboren - Max, einen Jungen
also nach einer Serie von vier Mädchen. Karl, Paul und Emma
besuchten inzwischen die Schule. Bei Martha stand die
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Einschulung unmittelbar bevor. In die Schule gehen zu dürfen,
empfanden fast alle Kinder als Privileg, obwohl sie keine
Ahnung davon hatten, wie wenig selbstverständlich das noch
wenige Jahrzehnte zuvor gewesen war. Diejenigen, die noch zu
Hause bleiben mußten, fühlten sich ganz einfach zurückgesetzt
gegenüber denen, die frühmorgens fortgingen und "draußen"
alle möglichen Abenteuer erlebten, von denen sie am
Nachmittag wichtigtuerisch berichteten.
Als für Martha das herbeigesehnte Ereignis endlich nahte,
konnte sie kaum schlafen. Es gab ja so viel Aufregendes in
diesen Tagen! Ein neues Kleid lag bereit für sie. Sogar eine
Zuckertüte sollte sie bekommen - gefüllt mit duftenden
Semmeln und einem bunten Ball als Krönung. Am nächsten
Morgen aber, als die ganze Familie im Sonntagsstaat zum
Aufbruch bereitstand, da war sie verschwunden. Alle riefen
nach ihr, suchten die ganze Umgebung ab - umsonst.
Schließlich glaubte man, sie habe sich vor Angst, wie Kinder
sie manchmal aus für Erwachsene unerklärlichen Gründen
empfinden, irgendwo versteckt.
Um sie wenigstens der Ordnung gemäß anzumelden, ging
Auguste allein bei der Schule vorbei. Dort erlebte sie eine
Überraschung. Ihr Töchterchen saß schon längst an ihrem Platz
in dem noch leeren Klassenzimmer. Sie hatte den großen
Augenblick nicht erwarten können. Martha blieb ihr gesamtes,
kurzes Leben lang ein ganz besonderer Mensch - bei den
schönen und großartigen Dingen ebenso wie bei den traurigen.
Aber davon wird später noch die Rede sein.
Franz war zu einem stattlichen und selbstbewußten jungen
Mann herangewachsen. Nach dem erfolgreichen Abschluß
einer Buchbinderlehre arbeitete er in Dessau. Dort lernte er die
hübsche Hertha kennen, die sich in den attraktiven Burschen
auf Anhieb verliebte. Wenn sie auf Besuch kam, brachte sie
Spielzeug und Süßigkeiten für die Kleinen mit und bemühte
sich auch eifrig um die Gunst der Eltern. Als sie dann aber zur
Heirat zu drängen versuchte, mußte sie feststellen, daß ihre
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Hoffnungen auf Sand gebaut waren. Franz, der noch große
Pläne hatte, wollte seine Freiheit so schnell nicht einbüßen. Er
nahm Hals über Kopf eine neue Stellung in Magdeburg an und
stahl sich gleichsam aus Herthas Leben.
Liese und Max, die beiden Jüngsten, wurden jeden Tag
frühmorgens eingeschlossen, wenn Auguste die Wohnung
verließ. Dann lagen vor ihnen mehrere furchtbar langweilige
Stunden, bis am Nachmittag die Geschwister aus der Schule
zurückkehrten und sie mitnahmen zur Arbeit in die Gärtnerei.
Einmal nun ereignete sich in dieser Zeit wider erwarten doch
etwas - etwas, das aufregender war, als es den beiden lieb sein
konnte. Wie immer hatte ihre Mutter die Tür abgesperrt und
dann den Schlüssel - den einzigen, den es gab - im Hausflur
unter den stets vollen Wassereimer gelegt. Wie immer
gruselten sich die Kinder ein wenig angesichts der
ungewohnten Stille um sie herum. Wie immer vertrieben sie
sich die Zeit mit ein paar Spielen. Da plötzlich klopfte jemand
kräftig an die Tür.
"Emma, bist du es?" fragte Liese.
"Ja", kam als Antwort. Doch das konnte nicht sein, denn das
war eine Männerstimme.
"Ich kann nicht aufmachen."
"Mach auf und sag mir, wo dein Vater seinen Geldschrank
hat!"
"Ich weiß nicht, wo der Geldschrank ist."
"Mach auf, oder ich komme mit Gewalt rein!"
Zum Glück wußte er nicht, daß nicht einmal einen Meter von
ihm entfernt der Schlüssel bereit lag. Eine Beruhigung aber war
das nicht. Liese nahm ihren Bruder an die Hand und verkroch
sich mit ihm hinter einem Schrank. Gerade als der Fremde die
Tür einschlagen wollte, wurde er gestört und flüchtete.
Am Abend werteten die Eltern gemeinsam mit den Kindern
den Vorfall aus. Dabei stellte sich heraus, daß Emma dem
Einbrecher ahnungslos auf der Straße nahe dem Gartentor noch
begegnet sein mußte. Sie konnte ihn ziemlich genau
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beschreiben, und dem Vater kam daraufhin ein Verdacht. Er
hatte geschäftlich hin und wieder mit einem Kaufmann zu tun,
dessen Laden sich ganz in der Nähe befand, und der nebenher
Aufträge vermittelte. Dort verkehrte seit einiger Zeit ein
ziemlich zwielichtiger Kerl, auf den die Beschreibung genau
paßte. Noch am selben Abend suchte Wilhelm zusammen mit
seiner Tochter den Kaufmann auf. Emma erkannte den
Fremden auf Anhieb wieder. Im Hinterzimmer des
Kaufmannsladens gestand er schon bald. Die Polizei freilich
erfuhr von dem Zwischenfall nie etwas. Wilhelm gab sich
zufrieden mit dem Versprechen, der Überführte werde künftig
ein ehrbares Leben führen.
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2. Kapitel
Margarete erzählt
Eigentlich hätte ich meinen Bericht erst hier beginnen dürfen,
denn in diese Jahre reichen die frühesten Erinnerungen meiner
Mutter zurück. Was sich davor abspielte, wußte auch sie nur
aus Erzählungen. Manchmal fällt es mir ein wenig schwer, sie
mir als die kleine Liese von damals vorzustellen. In einigen
Situationen freilich erkenne ich sie wieder. Da offenbarte sie
bereits die später für sie so typischen Charakterzüge.
Abenteuerlustig und ängstlich zugleich war sie, ungemein
fleißig, aber nicht leicht zu lenken, vor allem voller
Diesseitigkeit und Lebenslust.
Ich staune, mit welcher Klarheit sich meine Mutter noch mit
über neunzig Jahren an ihre Kindheit und Jugend erinnerte.
Über viele Episoden wußte sie noch die geringsten
Einzelheiten. Sie erzählte dabei keinesfalls nur über sich selbst.
Die Schulzegeschwister lebten so eng beieinander, daß sie
voneinander selbst die verborgensten Sehnsüchte und Ängste
kannten. Ein Geheimnis ließ sich nur über kurze Zeit
bewahren. So glaube ich ganz sicher, daß meine Mutter - von
ein paar kleinen, verständlichen Färbungen abgesehen - ein
guter Gewährsmann ist für die gesamte Schulzefamilie.
Liese erzählt
Kurz vor der Jahrhundertwende heiratete meine älteste
Cousine. Mein Onkel wollte nun unser Haus gern für sie und
ihre künftige Familie haben. Er kündigte uns zwar nicht
einfach so den Mietvertrag, doch wäre es gewiß nicht sehr klug
gewesen, hätten wir uns lange gesträubt. Als Vater für eines
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seiner neu gebauten Häuser keinen Mieter fand, zog er kurz
entschlossen mit uns dort ein. Ich war damals gerade fünf Jahre
alt. Vielleicht lag es daran, daß mir das Haus zunächst
riesengroß erschien. Es hatte allein im Hochparterre vier
Zimmer. Eine kleinere Wohnung im Obergeschoß brauchten
wir gar nicht und konnten sie vermieten. Das Anwesen umfaßte
zudem noch einen ausgedehnten Hof mit Stallungen und einen
Garten mit Gemüsebeeten sowie allerlei Bäumen und
Sträuchern. Ich lief staunend umher und mochte lange nicht
glauben, daß dies nun wirklich unser Zuhause werden sollte.
Das Haus lag nicht direkt in Köthen, sondern in Geuz, einem
Vorort, von dem aus man zu Fuß etwa vierzig Minuten bis zum
Marktplatz brauchte. Er wurde seinerzeit von Bauernhöfen und
Gärtnereien geprägt. Aber auch einige Pensionäre hatten sich
hier - wohl der ruhigen Lage wegen - niedergelassen und mit
ihren kleinen, schmucken Villen den Charakter ein wenig
veredelt. In den Quergassen wohnten die Landarbeiter. Die
zumeist zahlreichen Kinder halfen auf den Feldern der
Großbauern beim Rübenverziehen, Steineauflesen und
Kartoffelnernten.
Auch eine Schmiede gab es. Eine besonders wichtige
Einrichtung schließlich war die Freiwillige Feuerwehr. Das mit
viel Holz gebaute Geuz hatte schon mehrere verheerende
Großbrände erlebt. Zwei künstliche Teiche sollten die
Gefahren mindern. Die Teiche erfüllten allerdings auch noch
manch anderen Dienst. Die Pferde erfrischten sich in dem
einen. Den anderen nutzten die Knechte, um sich zu waschen.
An der Dorflinde am Anger traf sich wie seit hunderten von
Jahren abends die Jugend.
Freilich brachte der Umzug nicht nur Gutes für uns. Emma
und Martha, die weiterhin nach Köthen in die Schule gingen,
hatten nun einen ziemlich weiten Weg zu laufen. Auch Vater
kam nicht mehr so einfach zu seinen zumeist im Stadtinnern
gelegenen Baustellen. Um immer rechtzeitig an Ort und Stelle
zu sein, kaufte er sich ein Fahrrad, was damals bereits Luxus
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war. Zum Mittagessen kam er immer nach Hause, und damit er
nicht unnütz Zeit verliert, mußte auf die Minute genau zwölf
Uhr das warme Essen auf dem Tisch stehen. Ich kann mich
übrigens nicht an einen einzigen Fall erinnern, wo Mutter das
nicht schaffte.
Aber wir konnten uns dennoch nicht beklagen. Unsere Eltern
genossen an den Abenden die Ruhe des kleinen Ortes. Die
Brüder beobachteten den Schmied in seiner Werkstatt direkt
gegenüber. Wenn der Lehrjunge mit seinem Blasebalg das
Feuer anfachte, stiebten Funken in die Luft, und das gab dem
Haus etwas Gespenstisches, Abenteuerliches. Wir Mädchen
fanden rasch neue Freundinnen. Vater versuchte, uns Kindern
die Umstellung dadurch zu versüßen, daß er ab und an ein Tier
zum Spielen mitbrachte - einmal einen Raben, der im ganzen
Haus herumspazieren durfte und sogar ein paar Worte sprach,
ein andermal eine Ziege, die einen kleinen Wagen zog. Andere
Tiere wurden als Nutzvieh gehalten - Hühner vor allem, auch
ein Schwein.
Hier in Geuz kam ein Jahr später das jüngste der
Schulzekinder zur Welt - Hedwig, unser Nesthäkchen. Wir alle
hatten sie von Anfang an sehr lieb, vielleicht weil sie uns wie
ein Glücksbringer im neuen Heim erschien. Wir nannten sie
zärtlich "Hedchen", und es galt beinahe mehr als Vorzug denn
als Arbeit, sie zu betreuen.
Aber das Glück dauerte gerade sechs Wochen an. Dann
brach unvermittelt ein Schicksalsschlag über die Familie
herein, und das kam folgendermaßen. Sobald Vater einen
Rohbau fertiggestellt hatte, übernahm Mutter gemeinsam mit
den älteren Mädchen die Grobreinigung. Dabei riß sie sich
eines bösen Tages einen Splitter in den Finger. Sie nahm das
zunächst nicht besonders ernst, zog den Splitter heraus und
arbeitete weiter. Am nächsten Tag jedoch begann sich eine
Entzündung zu entwickeln. Die wurde mit Hausmitteln
behandelt, bis sich unter der Haut ein roter Streifen
abzeichnete, und die Schmerzen sich ins Unerträgliche
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steigerten. Nun endlich bestellte Vater einen Arzt. Der
diagnostizierte eine Blutvergiftung und wies Mutter in die
Universitätsklinik von Halle ein.
Im Krankenhaus begann ein Wettlauf mit dem Tode. Die
Ärzte kämpften aufopferungsvoll um ihr Leben, nicht zuletzt
weil sie wußten, daß es neun Kindern die Mutter zu erhalten
galt. Am Ende wurde sie mit knapper Not gerettet, mußte aber
mehrere Operationen über sich ergehen lassen und konnte erst
nach fast einem Jahr entlassen werden.
Vielleicht zeigte sich in diesen Monaten so wie nie zuvor
und nie wieder danach, wie sehr meine Eltern einander liebten.
Damit Mutter eine bessere Versorgung bekam und nicht in
einem der großen Säle zu liegen brauchte, ließ Vater sie in die
erste Klasse verlegen, und das obgleich die Versicherung nur
einen lächerlich geringen Teil der Kosten übernahm. Jeden
Sonntag fuhr er sie besuchen und nahm dabei jedesmal zwei
von uns Kindern mit.
Zu Hause vermißten wir die Mutter sehr. Gewiß, wir
versuchten, uns irgendwie zu behelfen, denn niemand von uns
ist verwöhnt worden. Doch wir schafften es einfach nicht.
Vater hatte mehr als genug mit seinen Baustellen zu tun und
konnte sich um den Haushalt nicht kümmern. Die älteren
Geschwister waren außer Haus. Franz und Minna lebten in
Magdeburg und konnten von dort so schnell nicht weg. Karl
hatte drei Jahre lang das Maurerhandwerk gelernt und war, wie
damals üblich, auf Wanderschaft gezogen. Der zwölfjährigen,
jäh in die Rolle der Hausfrau gestoßenen Emma aber wuchs die
Arbeit hoffnungslos über den Kopf.
Unsere ganze Hoffnung ruhte auf Karl, von dem jedoch
zunächst niemand aus der Familie so recht wußte, wo er sich
gerade aufhielt. Zum Glück bat er in einem Brief um frische
Wäsche, so daß er informiert und zurückgerufen werden
konnte. Das war natürlich eine gewaltige Umstellung für ihn,
statt mit Maurerkelle und Wasserwaage nun mit Waschzubern
und Kochtöpfen, mit Hedchens Flasche und mit unseren
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löchrigen Kleidern hantieren zu müssen. Doch schon bald
bewies er ein ganz erstaunliches Talent für die Pflichten einer
Mutter.
Wenn ich an Karl zurückdenke, erinnert er mich immer ein
wenig an Vater. Er war nicht allzu groß aber schon damals
ziemlich kräftig und breitschultrig. Allerdings hatte ich niemals
Angst vor ihm. Es gibt nicht allzu viele Männer, die so
verständnisvoll und sanft sind, wie er es war. Sogar das kleine
Hedchen fühlte sich bei ihm so geborgen wie sonst nur bei der
Mutter.
Gelang ihm einmal etwas nicht so ganz nach Wunsch, trug er
es mit Geduld und Humor. Wenn zum Beispiel Emma und
Martha über das Mittagessen maulten, weil es ihnen mißraten
schien, dann fragte er mich:
"Na, Lieschen, schmeckt es dir? Willst du noch mehr
haben?"
und ich antwortete strahlend:
"Oh ja!"
Das war kein großes Wagnis für ihn. Ich hatte immer Hunger
und aß so ziemlich alles.
Durch ihn ging der Alltag für uns fast in der gewohnten
Weise weiter. Als ich in die Schule kam, kaufte er mir ein
schmuckes neues Kleid und neue Schuhe, so daß ich meinen
Klassenkameraden nicht nachstand.
Minna arbeitete zu dieser Zeit noch immer als Hausmädchen
in Magdeburg und war gewiß nicht unzufrieden darüber, daß
ihr Bruder für sie einsprang, als die Mutter ersetzt werden
mußte. Sie hatte sich inzwischen zu einer ansehnlichen jungen
Frau gemausert. Wie die Mutter war sie recht klein. Den
Schönheitsnachteil, dabei nicht so zierlich zu sein wie diese,
glichen ihre blonden, schulzeuntypischen Haare wieder aus.
Auf jeden Fall gewann sie durch ihr offenes, fröhliches Wesen.
Nach der Arbeit und vor allem am Sonntag genoß sie die
Möglichkeiten der großen Stadt. Irgendwo gab es immer einen
Saal, wo eine Kapelle zum Tanzen aufspielte, und sie
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bedauerte, daß sie nicht alle Veranstaltungen gleichzeitig
besuchen konnte. Das war es, wonach sie sich in Köthen vor
Sehnsucht verzehrt hatte. Eine innere Unruhe trieb sie umher.
Sie glich einem Ausgehungerten, der plötzlich vor einem reich
gedeckten Tisch steht und unbeherrscht alles in sich
hineinschlingt, was er zu fassen bekommt.
Mit der Familie blieb Minna durch gelegentliche Briefe und
-mehr noch - durch regelmäßige Besuche verbunden. Die
älteren Geschwister mochten sie gern. Emma und Martha
waren als Babys von ihr betreut worden und erinnerten sich
noch immer mit einer gewissen Dankbarkeit daran. Mir blieb
sie ein wenig fremd. Ich kannte sie zu wenig, und was sie
erzählte, das verstand ich damals noch nicht.
Eines Tages lag ein merkwürdiger Brief im Kasten. Darin
bestellte Minnas Arbeitgeber den Vater nach Magdeburg. Was
hatte das zu bedeuten? Minna war ehrlich und zuverlässig,
dabei stets kerngesund und selbständig. Es hatte nie Anlaß
gegeben, sich um sie zu sorgen. Was also war geschehen?
Vater brach sofort auf und erfuhr, daß es seiner Tochter seit
einiger Zeit aus unerfindlichen Gründen nicht mehr gut ging.
Sie hustete ständig und wurde immer blasser. Zwar behauptete
sie selbst, mit ihr sei alles in Ordnung. Sie erledige ihre Arbeit
wie eh und je und sei nur vorübergehend ein wenig leidend. Es
bestehe auch überhaupt kein Grund, zum Arzt zu gehen. Vater
jedoch glaubte ihr nicht, kündigte den Arbeitsvertrag für sie
und nahm sie sofort mit nach Köthen.
Leider verbesserte sich ihr Zustand zu Hause nicht. Im
Gegenteil. Kaum eine Woche später war sie zu schwach, um
ohne Hilfe das Bett zu verlassen. Bei jedem Atemzug quälte sie
ein Brennen in der Brust. Der Hausarzt ließ sie sofort ins
Krankenhaus einliefern. Doch selbst dort konnte man nur
feststellen, daß alle Hilfe zu spät kam. Der linke Lungenflügel
war bereits vollständig zerstört, der rechte stark angegriffen.
Vier Wochen lang kämpften die Ärzte noch gegen die
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Krankheit, dann starb Minna im Alter von gerade
dreiundzwanzig Jahren.
Im Nachhinein wurden viele Vermutungen angestellt
darüber, wie es zu dieser Tragödie hatte kommen können. Der
Hausarzt meinte, daß sie vielleicht einmal bei einer
Tanzveranstaltung erhitzt ins Freie gelaufen war und sich dabei
erkältet hatte. Wird eine schwere Erkältung verschleppt, kann
sie sich leicht zur Lungenentzündung entwickeln. Möglicher
Weise war sie aber auch, ohne es zu wissen, an einer der
bösartigsten Volksseuchen jener Zeit, der Tuberkulose,
erkrankt.
Endlich kehrte Mutter zurück. Das Unglück jedoch hatte seine
Spuren bei ihr hinterlassen. Ihre bei den Operationen mehrfach
zerschnittene Hand konnte sie kaum noch benutzen. Sie
brauchte Hilfe bei den täglichen Verrichtungen im Haus. Karl
stand dafür nicht mehr zur Verfügung. Schon während Mutters
Krankenhausaufenthalt hatte sich das Militär wiederholt bei
ihm gemeldet. Jetzt gab es endgültig kein Argument mehr, ihn
zurückstellen zu lassen, und so blieb ihm nichts anderes übrig,
als seine Dienstzeit bei der Truppe abzuleisten.
Die zusätzliche Arbeit mußte unter die noch zu Hause
lebenden Kinder aufgeteilt werden. Vor allem für Emma,
Martha und mich brachte das eine gehörige Umstellung mit
sich. Bevor wir zur Schule gingen, halfen wir der Mutter beim
Anziehen und beim Aufstecken der Haare. Außerdem war ein
großer Eimer Kartoffeln zu schälen. Am Nachmittag gab es
andere Aufgaben. Wenn große Wäsche anstand, fielen sogar
die freien Stunden am Sonntag weg.
Von Paul war inzwischen Lehrling bei einem Fleischer. Wir
wußten wenig von ihm, was vor allem daran lag, daß er bei
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seinem Meister ständig wohnte und nur am Sonntag für ein
paar Stunden zu seiner Familie auf Besuch gehen durfte. War
er bei uns, dann redete er nicht viel. Ein bißchen sonderbar
finde ich es jetzt im nachhinein aber dennoch, daß wir ihn so
sehr aus den Augen verloren, denn die Metzgerei, in der er
immerhin zwei Jahre lang arbeitete und wohnte, befand sich
nicht im fernen Ausland sondern nur vierzig Wegminuten
entfernt in Köthen. Warum war es nie jemandem eingefallen,
ihn zu fragen, ob er Kummer hat, wenn er auch von sich aus
nichts davon erzählte?
Vor allem unsere Eltern machten sich später bittere
Vorhaltungen für diese Oberflächlichkeit. Ich möchte sie
jedoch ein wenig in Schutz nehmen. Sie hatten mit ihrer großen
Familie Sorgen in Hülle und Fülle. Wie wir alle dachten sie
immer vor allem an das Nächstliegende. Es waren letztlich die
rauhen Zeiten, die einen stillen Jungen, der glaubte, mit seinen
Schwierigkeiten ganz allein fertig werden zu müssen, in
Vergessenheit geraten ließen.
Eines Sonntags verhielt Paul sich anders als sonst. Bevor er
um die Ecke bog, drehte er sich noch einmal um und winkte
seiner Mutter lange zu. Die wunderte sich und sagte sofort zu
mir:
"Liese! Paul scheint das Weggehen heute besonders schwer
zu fallen. Schnell, lauf ihm nach und begleite ihn noch ein
Stück!"
Das tat ich dann auch. Montagabend aber kam der
Fleischermeister und fragte erbost, wo sein Lehrjunge bleibe.
Paul war verschwunden. Ein paar Tage lang hofften wir noch,
er werde ganz von selbst wieder zurückkommen, jedoch er
blieb verschwunden. Erst neun Jahre später unter
merkwürdigen Umständen sollten wir wieder etwas von ihm
erfahren.
Obwohl es dafür im Grunde zu spät war, versuchte Vater
herauszufinden, was meinen Bruder zu dieser Flucht getrieben
hatte. Er erkundigte sich bei den Nachbarn des Metzgers und
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erfuhr, daß der Junge von frühmorgens um drei Uhr an bis zum
späten Abend fast ohne Pausen hatte arbeiten müssen. Bei der
kleinsten Nachlässigkeit war er mit Schlägen traktiert worden.
Vater dachte kurz darüber nach, ob er gegen den Meister etwas
unternehmen sollte. Er ließ es aber schließlich bleiben. Wem
nutzte es noch?
Vielleicht dachten unsere Eltern im Stillen an Paul bei einem
Erlebnis, das sie einige Zeit später hatten. Auf unserem Hof
stand eine Schüssel mit Futter für die Hühner. Damit keine
Ratten herbeigelockt wurden, deckten wir diese Schüssel jeden
Abend sorgfältig ab. Eines Morgens aber war das Futter
dennoch verschwunden. Wir dachten uns: ‘Wahrscheinlich
haben wir das Auffüllen vergessen’. Indes, am nächsten Tage
geschah genau das selbe. Die Schüssel war noch immer
abgedeckt doch ganz und gar leer. Wie konnte so etwas
geschehen?
Am vierten Tag legte Mutter sich nach Einbruch der
Dunkelheit auf die Lauer. Sie rechnete mit einem besonders
geschickten Tier. Plötzlich aber bemerkte sie auf dem Hof eine
menschliche Gestalt. Erschrocken wollte sie schon davonlaufen
und Hilfe holen, da sah sie, daß es sich bei dem vermeintlichen
Einbrecher um ein Kind handelte. Sie trat nun hervor aus ihrem
Versteck und gab sich zu erkennen. Da erschrak sie ein zweites
mal. Vor ihr stand der zwölfjährige Nachbarsjunge und zwar in
einem wirklich erbarmungswürdigen Zustand. Er wimmerte
und war völlig verstört.
Mutter nahm ihn mit hinauf in die Wohnung. Weil er sich
seit Tagen nicht mehr gewaschen hatte, steckte sie ihn erst
einmal in einen Zuber mit Wasser. Dabei fand sie etliche
Spuren schwerer Mißhandlungen an ihm. Dann gab sie ihm
etwas zum Essen. Während sie ihn durch behutsame
Zuwendungen allmählich beruhigte, wurde er nach und nach
aufgeschlossener. Er fühlte, daß da ein Mensch war, dem er
vertrauen konnte. Schließlich begann er zögernd, auf Mutters
Fragen zu antworten. Dabei stellte sich dann das ganze
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Ausmaß dessen heraus, was er in den vergangenen Jahren
erlitten hatte. Es muß die Hölle auf Erden gewesen sein.
Die Nachbarin gehörte zu den eigenartigsten Menschen des
Ortes. Sie lebte völlig zurückgezogen und niemand wollte
etwas mit ihr zu schaffen haben. Das ging so weit, daß sich
auch niemand darum kümmerte, wenn sie die alte, behinderte
Frau, die in der Dachkammer ihres Hauses wohnte, anschrie
und sogar ganz offen bedrohte. Erst recht sahen die Leute weg,
wenn sie ihr Kind schlug. Aus Feigheit wollten sie sich lieber
nicht einmischen und taten so, als wüßten sie von nichts.
Auch unsere Eltern redeten lange miteinander darüber, was
sie tun konnten, um dem Jungen wirklich zu helfen. Einfach
behalten konnten sie ihn ja nicht. Am nächsten Morgen aber
packte meinen Vater plötzlich die Wut. Er brachte das Kind
persönlich ins Nachbarhaus und verprügelte die Frau
kurzerhand.
"Wenn Sie ihn noch einmal mißhandeln, möchte ich nicht in
Ihrer Haut stecken", drohte er am Schluß. "Und glauben Sie
nicht, daß ich nicht merke, was bei Ihnen vorgeht!"
Dieser Auftritt des kräftigen Bauunternehmers beeindruckte
sie denn doch gehörig, und sie beherrschte sich von da an.
Wenn Franz zu Besuch kam, war das immer ein besonderes
Ereignis. Ihm haftete ein Stück der großen, weiten Welt an,
und wenn er erzählte, hörten wir alle staunend zu. Zweifellos
hätte ich damals vor dem König in leibhaftiger Person kaum
mehr Ehrfurcht empfinden können als vor meinem eigenen
großen Bruder. Er war immerhin ein richtiger Herr geworden.
Größer noch als Vater, stattlich, mit einer kleinen Tendenz zur
Beleibtheit sehe ich ihn noch ganz deutlich vor mir. Er trug
stets einen tadellos sauberen schwarzen Anzug und weiße
Manschetten. Sogar den heimatlichen Dialekt hatte er
weitestgehend abgelegt. Aber nicht nur für uns Kinder sondern
auch für Mutter war er der Stolz der Familie. Sobald er die
Schwelle des Hauses überschritt, drehte das ganze Leben sich
nur noch um ihn. Beim Essen bekam er die besten Bissen, und
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es wäre gewissermaßen ein Sakrileg gewesen, sie ihm nicht zu
gönnen.
Chancen bei Frauen hatte Franz nun natürlich mehr denn je.
Es war nur eine Frage der Zeit gewesen, bis er unseren Eltern
eine neue feste Freundin vorstellen konnte. Sie hieß Charlotte
und lebte seit dem Tod ihrer Eltern bei einem verheirateten
Bruder. Wie Hertha, ihre Vorgängerin, versuchte auch sie, der
Familie zu gefallen, allerdings auf andere Art. Gleich nach der
Begrüßung nahm sie sich eine Schürze vom Haken und half
unserer Mutter dabei, das Essen zuzubereiten. Mit uns Kindern
spielte sie im Garten. Wir mochten sie deshalb sehr und
wünschten sie uns als Tante. Franz jedoch blieb auch ihr nicht
treu. Als sie ein Baby von ihm erwartete, machte er sich nach
Dänemark aus dem Staube. Von dort aus reiste er weiter nach
Norwegen.
Bei der Geburt starb Charlotte. Vater hätte seinen ersten
Enkel gern nach Geuz geholt. Davon jedoch wollte Charlottes
Bruder aus verständlichen Gründen nichts wissen. Das Baby
blieb in Magdeburg, und was aus ihm geworden ist, das weiß
ich nicht. Franz erfuhr von alledem erst viel später. Mutter
schrieb es ihm nicht, um ihn nicht unnütz zu beunruhigen, wie
sie sagte.
Zu Ostern 1904 war für Emma die Schulzeit zu Ende, und
sie ging wie die meisten Mädchen zu dieser Zeit in Stellung.
Ihre Arbeit bestand darin, eine alte, blinde Dame zu betreuen.
Da schwer körperbehinderte Menschen bekanntlich
mißtrauisch und launisch sind, hatte sie damit kein leichtes Los
gezogen. Mindestens ein Dutzend mal am Tage mußte sie zum
Lehnstuhl gehen und befühlen lassen, was sie gerade in der
Hand hielt. Sie selbst wurde bei dieser Gelegenheit meistens
gleich mit abgetastet - zur Prüfung ob sie ihr Haar ordentlich
aufgesteckt hatte, ob sie richtig angezogen war, und natürlich
ob sie etwas Gestohlenes bei sich trug. Um ganz sicher zu
gehen, ließ die Frau ihr Personal sich sogar gegenseitig
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kontrollieren. Emma zum Beispiel mußte regelmäßig Bericht
erstatten, was die Haushälterin gerade tat.
Erstaunlicher Weise gelang es Emma tatsächlich, die
eigenwillige Dame zufrieden zu stellen. Sie war nach der
Mutter geraten, körperlich wie auch charakterlich. Die
mittelblonden Haare hatte sie ebenso geerbt wie die Zähigkeit.
Weil sie aber ein wenig größer war, wirkte sie nicht nur
schlank sondern beinahe hager. Diese Tendenz verstärkte sich
im Laufe der Jahre sogar noch. Die alte Frau erkannte bald, daß
sie ein arbeitsameres und pflichtbewußteres Dienstmädchen
schwerlich bekommen konnte. Deshalb sparte sie nicht mit
Lob, wenn die Eltern sich erkundigen kamen.
Im Unterschied zu Emma ähnelte Martha ihrem Vater. Von
ihm hatte sie die dichten, schwarzen Haare, die ihr schwer wie
Brokat auf die Schultern fielen, wenn keine Frisur sie hielt, von
ihm auch die graublauen Augen, die dazu kontrastierten wie
Sterne an einem klaren Sommernachthimmel. Jetzt, da sie
dreizehn Jahre alt war, begann ihre Schönheit aufzublühen. Die
Leute im Ort nannten sie "Schulzes Schwarze", was sie in ihrer
derben Sprechweise durchaus freundlich meinten, und was
zweifellos eher eine Hervorhebung denn eine bloße
Unterscheidung bedeutete. Schon begannen die jungen Männer
sich für sie zu interessieren, wenngleich sie es vorerst bei
harmlosen Neckereien bewenden ließen.
Martha hatte aber von Vater nicht nur Äußerlichkeiten
geerbt. Wer sie genauer kannte und sich nicht täuschen ließ
durch die charmant-kokette Fröhlichkeit, mit der sie sich in der
Öffentlichkeit zumeist darzustellen pflegte, der entdeckte sie
als ein hochintelligentes, ungewöhnlich wißbegieriges
Mädchen. Manchmal verfiel sie aus äußerster Ausgelassenheit
heraus urplötzlich in tiefernste Stimmung. Dann starrte sie vor
sich hin und schien etwas zu sehen, was allen anderen
verborgen blieb. Tatsächlich verblüffte sie wiederholt mit
erstaunlichen Bemerkungen.
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Naturgemäß war Martha Vaters Lieblingstochter. Sie
verband eine tiefe Vertrautheit, die beide nicht hätten
begründen können. Bei bestimmten Beschäftigungen duldete er
nur sie in seiner Nähe, beim Zeitunglesen zum Beispiel.
Zuweilen redete er mit ihr sogar über Politik. Dann hing sie
voller Begeisterung an seinen Lippen und merkte sich jedes
Wort. Dabei galten politische Themen seinerzeit als für ein
Mädchen recht unschicklich. Nicht eine einzige ihrer
Freundinnen befaßte sich damit. Vater jedoch dachte gar nicht
daran, seine Tochter zurückzuhalten. Ich glaube, er ahnte, daß
die neue Zeit, die er vorhersah, auch den Frauen eine neue
Stellung bringen mußte, und er war stolz, in seiner großen
Kinderschaar auch ein so blitzgescheites, selbstbewußtes
Prachtmädel zu haben.
Freilich - so wie der Vater unsere Mutter nicht verwöhnte, so
sehr er sie auch liebte und verehrte, so schonte er auch Martha
nicht. Noch während der Schulzeit betraute er sie mit einer
besonderen, nicht ganz leichten und nicht einmal besonders
ehreverheißenden Aufgabe. Er hatte eines seiner Häuser an
eine alleinstehende Frau verkauft. Als er nun erfuhr, daß diese
Frau für einen vierzigjährigen, geistig behinderten Sohn und
eine schwerkranke Tochter sorgen mußte, plagte ihn das
schlechte Gewissen. Um sich nicht länger als Schuft fühlen zu
müssen, schickte er Martha jeden Tag nach der Schule zu ihr
als Haushaltsgehilfin. Dafür nahm er keinen Pfennig Lohn an,
obwohl die dankbare Frau ihn regelrecht damit bedrängte.
Die Uneigennützigkeit unseres Vaters hatte freilich nicht nur
Folgen für meine Schwester sondern auch für mich. Jemand
mußte schließlich unsere Mutter im Haushalt unterstützen.
Zwar vermochte sie ihre verkrüppelte Hand in erstaunlichem
Maße wieder zu benutzen, doch schaffte sie die Arbeit dennoch
nicht allein. Ich war damals aber gerade erst neun Jahre alt und
gehörte nicht einmal zu den Größten. Beim Wäschewaschen
mußte eine Fußbank an die Wanne herangeschoben werden,
damit ich mich über das Waschbrett beugen konnte.
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Unter diesen Umständen wäre es sicher verständlich, hätte
ich Vater gegrollt. Was nutzt es, wenn er sich fremder Leute
Sorgen annimmt und dafür seine eigene Familie leiden läßt!
Das hätte ich denken können. Eigenartiger Weise jedoch kam
ich auf diese Idee niemals. Nein, ich empfand meine neuen
Pflichten wirklich nicht als Last. Ich fühlte vielmehr, daß ich
gewissermaßen einen neuen Rang erreicht hatte, und war
mächtig stolz darauf.
Welch wichtige Rolle ich plötzlich spielte, das merkte ich
vor allem daran, daß Mutter mich lobte. Mutter lobte sehr
selten jemanden. Sie hatte ihr Leben lang so hohe Ansprüche
an sich selbst gestellt, daß es für jeden schwer war, sie zu
beeindrucken. So ruhig und ernst, so frei von Leidenschaften
schritt sie durchs Leben, daß sie groß und erhaben wirkte - und
unerreichbar. Ich glaube, wir Kinder verehrten sie mehr, als
daß wir sie liebten. Aber ich kleiner Fratz, ich kleines
Mädchen, das nicht einmal an das Waschbrett heranreichte, ich
wurde von ihr gelobt und zwar nicht nur einmal sondern immer
wieder.
Ein wenig neidisch war ich nur auf Max, meinen zwei Jahre
jüngeren Bruder, der viel mehr Freizeit hatte als ich, nach
Herzenslust spielen durfte und obendrein vor den Nachbarn als
Wunderkind herausgestellt wurde. Er ähnelte in seiner Neugier
und seiner schnellen Auffassungsgabe seiner Schwester
Martha. Allerdings war er viel verschlossener, empfindlicher
und schwieriger als sie. Wenn ihn nichts störte und aus dem
seelischen Gleichgewicht warf, vollbrachte er die
erstaunlichsten Leistungen. Schreiben lernte er schon, bevor er
in die Schule kam. Rechnen übte er, indem er kleine Steine zu
Häufchen ordnete. Seine Freunde suchte er sich zumeist unter
älteren Kindern. Es war also kein Wunder, daß sich Vater viel
von ihm versprach. Allerdings hatte sein Leben ja gerade erst
so richtig begonnen. Es warteten auf ihn noch viele Erlebnisse,
die seinen Weg beeinflussen sollten. Noch litt er nicht unter
den Erwartungen, die auf ihm lasteten.
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Hedchen war zu dieser Zeit erst vier Jahre alt und durfte
noch ganz und gar unbeschwert ihr Kindsein genießen. Wenn
die großen Geschwister einmal nach Hause kamen und Zeit
übrig hatten, versäumten sie niemals, mit ihr zu spielen.
Sonntags nach dem Kaffeetrinken unternahm Vater mit ihr
Ausflüge. Dabei zeigte und erklärte er ihr die Tiere und
Pflanzen, die sie zu sehen bekamen. Zwischendurch rastete er
mit ihr in einer kleinen Gaststätte und spendierte ihr dort eine
Limonade. Leider vergaß er im Eifer, daß er ein kleines,
zierliches Mädchen an der Hand führte und nicht einen seiner
Arbeiter. Er scheuchte Hedchen dermaßen, daß ihr die so
gutgemeinten Ausflüge schließlich gründlich verleidet waren.
Wenn die Rüben zu verziehen waren und während der
Erntezeit brauchte man auf den großen Gutshöfen der
Umgebung Hilfskräfte. Ein Inspektor kam dann ins Dorf und
verkündete, wieviele Leute er für welche Arbeit suchte. Da
sich die meisten Familien den Nebenverdienst nicht entgehen
lassen wollten, hatte er die freie Wahl und konnte die Löhne
niedrig halten. Am billigsten waren natürlich Kinder. Die nahm
er besonders gern. Ich mochte ihn nie gut leiden. Er behandelte
uns herablassend wie ein Sklavenhändler. Anderseits wußte
ich, daß ich mir - der Eltern wegen - das nicht anmerken lassen
durfte. Mit wenigen Ausnahmen hatte jedes Jahr wenigstens
eines von uns Schulzekindern zu den Ausgewählten
gehört - zuerst Emma, dann Martha, schließlich ich.
Die Arbeit war schwer und machte auch keinen Spaß. Immer
stand ein Aufseher in der Nähe und wachte darüber, daß jeder
die Norm schaffte. Wem das nicht gelang, sei es aus Trägheit,
sei es aus Ungeschicklichkeit, auf den ließ er seine lange
Lederpeitsche herabsausen. Das hatte nichts, aber auch gar
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nichts gemein mit der Arbeit für Mutter in der Küche und im
Waschhaus. Nur wenn Martha, die große Schwester, mich
begleitete, dann fand ich es halbwegs erträglich auf den
Gutshoffeldern.
Auch zahlreiche polnische Arbeiter wurden für diese
Wochen
angeheuert.
Sie
wohnten
in
großen
Gemeinschaftsunterkünften,
den
sogenannten
Schnitterkasernen. Am Sonntag besuchten wir deutschen
Kinder und Jugendlichen sie dort. Das war aufregend und
lustig zugleich. Manches von dem, was wir hörten und sahen,
empfanden wir als ein wenig fremd. Aber wir lernten es besser
verstehen. Ich denke, daß alle Menschen sich besser
miteinander vertragen, sobald sie mehr voneinander wissen.
Spätestens, wenn zum Tanz aufgespielt wurde, war alles
Trennende vergessen. Wir amüsierten uns prächtig, die etwas
älteren auf ihre, wir Kinder am Rande auf unsere Weise. Für
die Musik sorgten die polnischen Arbeiter übrigens immer
selbst.
Einiger der Frauen hatten ihre Babys mitgebracht. Weil sie
die Kleinen weder allein lassen noch mit zur Arbeit nehmen
konnten, gaben sie sie Leuten aus Geuz zur Pflege. Zu denen,
die sich dazu bereiterklärt hatten, gehörte auch Mutter. Sie
nahm für diese Gefälligkeit nicht einmal Geld an sondern
allenfalls ein wenig Lebensmittel als Dankeschön. Dabei war
das durchaus mit Umständen verbunden. Die noch nicht
entwöhnten Säuglinge mußten zum Stillen hinaus aufs Feld
gebracht werden.
Den Bauern aus dem eigenen Ort halfen wir nicht nur des
Lohnes wegen. Während der Ernte zeigte sich deutlich wie
selten, daß die Geuzer im Grunde eine einzige Großfamilie
bildeten. Auch bei diesen Einsätzen mußte hart gearbeitet
werden, doch das taten wir gern. Die Stimmung war immer
ausgezeichnet. Lustige Bemerkungen flogen hin und her. Wir
merkten kaum, wie die Zeit verging. Am Nachmittag brachten
die Mägde der Bauern Körbe mit Butterbroten und Krüge voll
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Milch zur Vesper aufs Feld. Am Abend beim Heimweg auf
dem Leiterwagen sangen wir gemeinsam. Zum Erntedankfest
schließlich - am Ende aller Mühe - gab es für alle, die geholfen
hatten, selbstgebackenen Kuchen von großen Blechen. Die
Erwachsenen bekamen im Dorfgasthof Freibier spendiert.
Nicht zuletzt durch die gemeinsame Arbeit wurde Martha
meine Lieblingsschwester, und wir verbrachten fortan auch viel
Freizeit miteinander. Wenn es am Sonntag nichts Besonderes
zu erledigen gab, durften wir uns in Geuz und manchmal auch
in Köthen vergnügen. Nach den Vorstellungen unserer Mutter
sollten wir sittsam spazieren gehen. Sie steckte uns zu diesem
Zweck in schmucke Kleider und stattete uns mit bunten
Sonnenschirmen aus. Wir dachten freilich an sehr viel
aufregendere Erlebnisse - an solche, bei denen die guten
Kleider, die auf keinen Fall schmutzig werden durften, eher
hinderlich waren. Sobald wir um die nächste Hausecke bogen,
genossen wir die Freiheit. Voller Übermut nahmen wir dann
unsere Sonnenschirme und fochten damit. Da wurde Martha
unvermittelt wieder zum Kind. Unsere Eltern wären wohl
erschüttert gewesen, hätten sie uns so ertappt.
Alle Dörfer haben Traditionen. Das sind zumeist bestimmte
Feste, die in überlieferter, mitunter recht eigentümlicher Art
und Weise gefeiert werden, und an die niemand zu rühren
wagt. Auch in Geuz gab es solche Bräuche. Einer davon war
der jährliche Schulausflug. Wir Kinder freuten uns darauf
immer schon Wochen vorher. Die Bauern stellten Fuhrwerke
dafür zur Verfügung. In den Wagen wurden Bretter als
Sitzbänke festmontiert. Grüne Zweige dienten als Schmuck.
Gleich nach Sonnenaufgang brachen wir in Begleitung
einiger Erwachsener auf. Den Tag verbrachten wir mit allerlei
Spielen an irgend einem schönen Fleck in der Umgebung. Die
Lehrer, die den Ausflug in ihrer Freizeit organisierten, gaben
sich viel Mühe, um uns mit wenig Aufwand möglichst viel
Kurzweil zu bieten. Erst am späten Nachmittag kehrten wir
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zurück und hielten singend Einzug auf der Dorfstraße, wo
unsere Eltern uns schon erwarteten.
Große Aufregung herrschte, wenn Soldaten zur
Einquartierung kamen. Die Dorfbewohner mochten die
Soldaten. Das lag wohl vor allem daran, daß viele Familien
selbst Söhne beim Militär hatten - so wie wir Schulzes unseren
Karl. Eltern sahen in den fremden Jungen ihre eigenen Kinder.
Die Mütter bewunderten sie in ihren schmucken Uniformen
und umsorgten sie. Die Väter wiederum meinten, daß ein
richtiger Mann nur werden könne, wer gedient hat. Immer
standen viel mehr Übernachtungsplätze zur Verfügung, als
notwendig waren. In jenen Friedenszeiten dachte kaum jemand
daran, welche Gefahren mit dem Soldatsein verbunden waren.
Uns Kindern, Jungen wie Mädchen, hatten es vor allem die
Waffen angetan. Wenn sie auseinandergenommen und geputzt
wurden, blieben wir in der Nähe stehen und verfolgten jeden
Handgriff. Die etwas älteren Mädchen gingen zum
Soldatenball. Für die hübsche Martha war das ein Riesenspaß.
Obwohl sie noch keinerlei Interesse an einem festen Freund
hatte, spürte sie natürlich sehr wohl, daß sie schon die Blicke
der jungen Männer auf sich zog. Zum Schein ließ sie sich
manchmal bis zu einer gewissen Grenze auf die Flirts ein.
Dabei verliebte einer der Soldaten sich geradezu unsterblich in
sie. Nicht einmal die Eröffnung, daß sie gerade erst vierzehn
war, vermochte ihn abzuschrecken. Er werde geduldig auf sie
warten, solange es sein müsse, schwor er ihr hoch und heilig.
Am nächsten Tag im Kreise ihrer Freundinnen erzählte Martha
dann von ihren kleinen Triumphen, und alle amüsierten sich
köstlich. Wenn die Truppe weiterzog, folgten wir Kinder und
Jugendlichen ihnen kilometerweit. Die Mutigsten kamen dabei
bis Bernburg, wo sie bei der ersten Rast manchmal noch etwas
vom Proviant abbekamen.
Die meiste Zeit über war Mutter recht streng zu uns. Es gab
aber Momente, da lernten wir ganz andere Seiten von ihr
kennen. Sie wirkte dann wie ausgewechselt. Ich erinnere mich
33
dabei vor allem an die "Dämmerstunde". Das war damals für
uns nicht einfach nur eine bestimmte Tageszeit sondern
vielmehr eine besondere Familientradition, fast schon ein
Ritual. Wir setzten uns dazu um die Mutter herum. Dann
sangen wir mit ihr gemeinsam alte Volkslieder oder hörten uns
von ihr Geschichten an. Manchmal gab sie uns auch Rätsel auf.
Solche Szenen sind auf einigen romantischen Bildern zu sehen.
Ich habe sie in der Wirklichkeit erlebt. Übrigens waren bei der
Dämmerstunde auch die Größeren dabei, ohne sich deshalb zu
schämen.
Ein wenig an ein Ritual erinnerte auch das Verlesen der
Briefe von Franz mittags am Küchentisch. Franz saß irgendwo
im Norden und schrieb uns, was er dort sah und erlebte.
Ehrfurchtsvoll hörten wir jüngeren Geschwister Berichte von
Dingen, die wir uns kaum vorzustellen vermochten, die aber
für ihn allem Anschein nach ganz selbstverständlich waren.
Lediglich Vater hielt sich bei den Ausrufen der Bewunderung
zurück. Er wirkte zuweilen sogar beinahe mißgestimmt und
blieb wohl nur Mutter zuliebe auf seinem Platz.
Wenn Martha mich am Sonntag nicht mitnehmen wollte,
weil sie etwas vorhatte, wozu sie eine kleine Schwester nicht
gebrauchen konnte, vertrieb ich mir die Zeit mit
Spielkameraden aus Geuz. Wir bildeten eine richtige Clique
und heckten gemeinsam so manchen Streich aus. Ich muß
gestehen, manchen Unfug höchstselbst angezettelt und auf
diesem Wege meinen Freundinnen die zugehörige Tracht
Prügel eingebrockt zu haben. Selbstverständlich kassierte auch
ich etliche wohlverdiente Maulschellen, aber das störte mich
immer nur kurzzeitig. Ich war eine ziemlich wilde Range, und
die Erwachsenen hatten es zweifellos nicht gerade leicht mit
mir.
Einmal gerieten wir mit einem älteren Jungen in Streit, und
weil er viel stärker war als wir, löste er das Problem schließlich
mit ein paar kräftigen Nasenstübern. Es tat eigentlich nicht
allzusehr weh, aber dennoch bebte ich vor Wut. Erwachsene
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hatten das Recht, mich zu schlagen. Das war nun einmal so.
Ein anderes Kind aber durfte das nicht! Ich sann auf Rache und
hatte schon bald eine Idee, eine glänzende Idee, wie ich fand.
Ich gewann eine meine Freundinnen für den Plan. Mit ihr
zusammen schlich ich mich eines Nachts zum Haus dieses
Grobians. Mitgebracht hatte ich dazu einen Topf schwarze
Farbe und einen großen Pinsel. Es war nicht allzu schwierig
gewesen, das eine wie das andere unbemerkt von Vater zu
entwenden. Nun schrieben wir an die schneeweiße Wand mit
großen Buchstaben einen saftigen Spruch.
Natürlich blieb unser Streich nicht ohne Folgen. Der Bauer,
dem das Haus gehörte, beschwerte sich wutentbrannt beim
Lehrer. Dieser wiederum brauchte nicht allzu lange, um uns als
die Übeltäterinnen zu ermitteln. Die Strafe, die er sich dann
ausdachte, war ziemlich originell - wir mußten den zum Glück
mit Wasserfarbe geschriebenen Spruch eigenhändig wieder
abwaschen und zwar am frühen Morgen, als die
Landarbeiterfrauen sich zusammenfanden, um aufs Feld
hinauszufahren. Die Schande, in dieser Weise vor dem ganzen
Dorf bloßgestellt zu sein, traf uns letztlich mehr, als die sonst
übliche Züchtigung es getan hätte.
Freilich galten damals in mancherlei Hinsicht ganz andere
Maßstäbe als heute. Sicherlich hätte ich weitaus weniger Ärger
gehabt, wäre ich ein paar Jahrzehnte später auf die Welt
gekommen. An einem heißen Sommertag überredete ich meine
Freundinnen zu einem kleinen Erfrischungsbad im Dorfteich.
Wir zogen uns aus bis aufs Hemd und stiegen frohgemut ins
Wasser. Nun hielten sich aber zur selben Zeit auch ein paar
Jungen dort auf. Als ein Lehrer zufällig vorbeikam, gelangte
der Vorfall ans Licht der Öffentlichkeit, und durchs Dorf ging
ein Schrei der Empörung über das von uns gegebene Beispiel
um sich greifender Sittenlosigkeit.
Wenn Martha mich nicht mitnahm, ging sie zumeist mit ein
paar Freundinnen ihres Alters ins Köthener Zentrum. Dort
trafen sie die Stadtschüler, die ihnen mit ihren flotten, bunten
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Mützen und ihrem weltmännischen Gehabe sehr viel
begehrenswerter erschienen als die Jungen aus Geuz, dem
Dorf. Martha hatte nun schon den einen oder anderen nicht
mehr ganz so unschuldigen Traum. Da sie jedoch nicht nur
hübsch war sondern auch klug, wußte sie ziemlich genau, wie
weit sie gehen durfte. Auf eine beständige Freundschaft mit
einem Jungen ließ sie sich auch weiterhin nicht ein. Das hätte
nur Verdruß eingebracht.
Obwohl wir beide nun also mehr und mehr eigene Wege
gingen, blieb unsere innige Schwesternfreundschaft ungetrübt.
Martha war sogar mehr den je mein großes Vorbild. Ich
bewunderte sie ihrer Abenteuer wegen, auch wenn ich nicht so
recht verstand, worum es eigentlich ging bei diesen Sachen, für
die ich angeblich noch zu klein war. Plagte ich mich mit irgend
einer heiklen Frage herum, holte ich mir Auskunft nur bei ihr.
Die Antworten, die ich dann erhielt, galten mir als
unumstößliche Wahrheiten. Nur als sie mich über die Herkunft
der Babys aufzuklären versuchte, glaubte ich ihr nicht. Das war
mir denn doch zu ungeheuerlich.
Max hatte sich unterdessen zu einem Musterschüler
entwickelt. Sein Lehrer empfahl den Eltern, ihn - ungeachtet
der damit verbundenen Kosten - auf eine höhere Schule zu
schicken, damit seine Begabung sich entfalten könne.
Allerdings setzte er seinen regen Verstand auch außerhalb der
Schule ein und zwar sehr zu seinem Vorteil. Manchmal nutzte
er zum Beispiel die Gelegenheit einer kleinen Besorgung dazu
aus, sich ein paar Stunden zusätzlicher Freizeit zu verschaffen.
Bei der Rückkehr war er um eine glaubwürdige Ausrede
niemals verlegen. Er erzählte dann nämlich eine Geschichte.
Dabei stotterte er nicht etwa wie andere Kinder, denen das
schlechte Gewissen zusetzt. Nein - er sah vor sich, was er
erzählte, mit allen Einzelheiten. Eigentlich erzählte er gar
nicht, er berichtete. Und er berichtete mit solcher Leidenschaft
und solcher Dramatik, daß Mutter ihm jedes Wort glaubte.
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Auch seine Spielkameraden beeindruckte er auf diese Weise.
Den nicht existierenden reichen Onkel aus Amerika kannte
bald jeder von ihnen. Alle wußten von dessen heimlichen
Besuchen in Geuz, und von den Geschenken, die er mitbrachte.
Wenn wir Geschwister den Geschichten widersprachen und
unseren Bruder einen Spinner nannten, hatten wir keine
Chance.
"Ihr wollt bloß nichts von den Geschenken abgeben!"
bekamen wir zu hören.
Im Mai fand in Köthen traditionell ein Viehmarkt statt. In
diesem Jahr wollte Vater die Gelegenheit nutzen, um ein
kleines Schwein zu kaufen. Das sollte bis zum Herbst fett
gefüttert und dann geschlachtet werden. Ich bekam unterdessen
ein paar Groschen in die Hand gedrückt, um mich mit Max und
Hedwig auf dem gleich nebenan aufgebauten Rummel zu
amüsieren. Wir verlebten also einen wirklich lustigen Tag und
kehrten - viel später als unsere Eltern - erst im Dunkeln nach
Hause zurück. Als wir uns durch den Vorgarten tasteten,
dachte ich noch immer an nichts Böses. Auf dem Hof aber
hörte ich plötzlich ein verdächtiges Geräusch.
Ich geriet sofort in helle Aufregung, denn trotz meiner
Wildheit war ich in gruseligen Situationen ein rechter
Hasenfuß. Mutter allerdings lachte nur über meine Angst,
zumal Max nachdrücklich versicherte, er habe nichts bemerkt.
In Geuz kamen Einbrüche selten vor, so selten, daß die Leute
ihre Haustüren nicht abschlossen. Niemand hörte auf mich.
Wenig später aber flogen plötzlich Steine gegen das Fenster,
und im Hof huschten Schatten hin und her. Es wollten uns also
doch irgend welche finstere Gesellen behelligen! Vermutlich
hatten sie es auf unser Schwein abgesehen. Freilich mochte ich
37
mich nicht so recht darüber freuen, daß ich recht behielt. Ich
stand senkrecht im Bett und war vor Angst ganz durcheinander.
Was ich mir in diesem Moment dachte und ob ich überhaupt
noch klar denken konnte, das weiß ich nicht mehr. Ich weiß nur
noch, daß ich mir - wodurch auch immer getrieben - meinen
Wollrock überwarf und mit den Worten:
"Ich hole Hilfe!"
einfach loslief. Ehe Mutter mich zurückhalten konnte, war
ich schon wie ein Geist vorbei an den ungebetenen Gästen über
den stockdunklen Hof hinaus auf die Straße gehuscht. Dort
begab ich mich auf die Suche nach dem Nachtwächter. Dessen
Dienst begann allerdings erst um Mitternacht, weshalb er sich
nur mit Mühe überreden ließ, mir zu folgen.
Was nun geschah, war eine wilde Jagt - fast so wie in einem
billigen Film. Der Nachtwächter, Vater und ein Nachbar
versuchten gemeinsam, der Eindringlinge habhaft zu werden.
Diese aber entschlüpften ihnen im Schutz der Dunkelheit
immer wieder und warfen mit Steinen. Es dauerte fast zwei
Stunden, bis die Drei sie wenigstens vertrieben hatten.
Die Gefahr war so erst einmal glücklich gebannt. Und jetzt,
jetzt, da es eigentlich gar keinen Grund mehr dafür gab, jetzt
packte mich wieder die Angst und zwar gleich so übermächtig,
daß kein Zureden mich dazu bewegen konnte, mich wieder ins
Bett zu legen. Ich blieb bis zum frühen Morgen an der Seite
des Nachtwächters, von dem ich mich einigermaßen beschützt
fühlte.
Noch ein zweites Mal hatten wir Schulzes Glück im
Unglück. Vater suchte einen Käufer für eine gerade
fertiggestellte Villa. Eine Maklerin stellte ihm eine interessierte
Frau vor. Das war eine vornehm wirkende Dame in schwarzer
Witwentracht. Der Tod ihres Mannes habe sie, wie sie
versicherte, schwer angegriffen. Sie war ständig einer
Ohnmacht nahe. Als sich die Verhandlungen hinzogen und am
selben Tag nicht mehr zum Abschluß kamen, bot Vater ihr
voller Mitgefühl an, bei uns zu übernachten. Das wiederum
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ließ die Maklerin nicht zu. Nein, ihre Pflicht sei es, der armen
Frau ein Quartier und ein wenig Trost zu gewähren. Am Tag
darauf war die trauernde Witwe verschwunden - offenbar
wieder in bester Verfassung - mitsamt dem Geld und dem
Schmuck der Maklerin. Sie hatte nur zuzugreifen brauchen,
denn einem Ehrengast wie ihr stand natürlich das beste Zimmer
zu, das, worin alles Wertvolle aufbewahrt wurde.
Emma betreute die alte, blinde Frau mehr als zwei Jahre lang
bis zu ihrem Tode. Danach vermittelte eine Bekannte der
verstorbenen Dame sie auf ein Rittergut. Darin drückte sich
eine besondere Wertschätzung aus. Die Stelle versprach recht
guten Lohn, und es wurde dafür ausdrücklich eine ganz
besonders zuverlässige Person gesucht.
Zu Emmas Leidwesen erwies sich die neue Aufgabe als
kaum weniger schwierig als die vorhergehende. Ein
sechsjähriger Junge war zu betreuen, der einzige Sohn der
Herrschaftsfamilie, ein maßlos verwöhntes, eigensinniges
Früchtchen. Selbst nachts hatte das geplagte Dienstmädchen
keine Ruhe mit ihm. Er stand manchmal urplötzlich auf und
verschwand. So war Emma erleichtert, als er in ein Pensionat
gesteckt wurde.
Die Gutsherrin vermittelte das Mädchen weiter zu ihren
Eltern nach Dessau. Emmas Stellung dort entsprach in etwa der
einer Zofe. Das war im Grunde keine große Belastung.
Allerdings herrschte Unfriede im Haus. Der Mann hatte einst
als General kommandiert und tyrannisierte nun seine Familie.
Nicht selten kam es dabei so weit, daß er seine Frau schlug.
Emma litt darunter, obwohl sie selbst zumeist nicht unmittelbar
betroffen war, und suchte nach Wegen, zu einer anderen
Herrschaften zu kommen. Nach knapp zwei Jahren fand sie
schließlich eine Anstellung in Berlin.
Martha ging nach Beendigung der Schule nicht in Stellung
wie ihre beiden älteren Schwestern sondern wurde Arbeiterin
in der Köthener Schokoladefabrik. Sie fand sich dort schnell
zurecht und war wegen ihrer aufgeschlossen-freundlichen
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Wesensart einerseits und ihrer Geschicklichkeit andererseits
sehr gut angesehen. Dennoch war sie überrascht, als sie zwei
Jahre später nach dem Tode des Fabrikbesitzers von dessen
Witwe ein ganz besonderes Angebot erhielt. Die Frau bestellte
sie ins Büro und eröffnete ihr dort, daß sie das Werk verkaufen
werde, um sich nach Düsseldorf zurückzuziehen. Sie wolle
aber nicht gern allein dorthin gehen, sondern sich von
jemandem begleiten lassen, den sie kennt und dem sie vertraut.
Über die Bezahlung könne man reden. Es lasse sich gewiß ein
Übereinkommen finden.
Martha beriet sich mit Vater, und als der ihr zuriet, nahm sie
das Angebot an. Sie brach in bester Stimmung auf und
versprach sich viel von der großen Stadt. Natürlich fielen ihr
sofort die atemberaubenden Geschichten ein, die Minna und
Franz von Magdeburg erzählt hatten. Wirklichkeit und Traum
jedoch sind immer zweierlei. Martha merkte in der Fremde mit
einem Mal, wievieles sie an ihre Heimat, an ihr Köthen band.
Sie vermißte ihre Freundinnen, sie vermißte den vertrauten
Dialekt der Anhaltiner, sie vermißte die hundertmal besuchten,
erinnerungsbehafteten Orte - Kleinigkeiten, über die sie noch
nie zuvor nachgedacht hatte, und die sie erst wichtig nahm, seit
sie auf sie verzichten mußte. Sie merkte, daß sie von anderem
Schlage war als Franz, ihr Bruder. Es tröstete sie schließlich
nicht einmal mehr, daß die ehemalige Fabrikbesitzerin sie nach
wie vor mochte und alles tat, um sie zu halten. Nach einem
Jahr war das Heimweh so stark, daß sie nach Köthen
zurückkehrte.
In jenem Jahr, als Martha in Düsseldorf lebte, stellte Vater
einen jungen Zimmermann ein. Er hieß Willi und hatte keine
Eltern mehr. Als dann auch noch seine Großmutter starb, gab
es praktisch niemanden mehr, bei dem er Halt finden konnte.
Das war wohl der Grund, weshalb er sich an seinen
Arbeitgeber viel enger anschloß, als seine Kollegen das taten.
Umgekehrt begann Vater ihn wie einen eigenen Sohn zu
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mögen. Bald ging er in unserem Hause ein und aus und saß
beim Mittagessen mit am Tisch.
Willi war ein angenehmes Familienmitglied. Mit seinem
Fleiß, seiner Ehrlichkeit und seiner Gewissenhaftigkeit hatte er
sich schon auf den Baustellen manches Lob verdient. Nach
Feierabend aber erwies er sich zudem als lustig und
unkompliziert. Er nahm das Leben nicht so schwer und fand
auch in schwierigen Situationen immer noch irgend eine
heitere Bemerkung. Das tat dem Klima bei den Schulzes gut.
Als Martha aus Düsseldorf zurückkam, entdeckte sie an ihm
sogar noch einen dritten Vorzug - er sah auch gut aus. Er war
groß, hatte blondes, weiches Haar und dazu blaue, immer
strahlende Augen. Schon bei ihrer ersten Begegnung mit ihm
wußte sie, daß er ihre erste große Liebe sein würde. Gerade
aber weil er ihr soviel bedeutete, wollte sie mit ihm nichts
überstürzen. Sie ließ sich von ihm ins Kino einladen, freute
sich über die kleinen Geschenke, mit denen er sie regelmäßig
überraschte, bremste ihn aber sofort, wenn er mehr von ihr
wollte als das. Dadurch konnte zwischen ihnen eine zarte,
geradezu unschuldige Liebesbeziehung aufkeimen und
allmählich zu einem starken Gefühl heranreifen.
Im Jahre 1910 war auch für mich die Schulzeit zu Ende. Ich
bedauerte es nicht, und ich freute mich auch nicht darüber. Ich
empfand es als etwas ganz Natürliches. Auch, daß ich danach
in Stellung ging, war nichts Besonderes für mich. Ich kannte
das ja durch meine Schwester Emma. Meine neue Aufgabe
bestand darin, das drei Monate alte Kind eines an der Köthener
Hochschule studierenden russischen Ehepaars zu betreuen.
Damit hatte ich kein allzu schweres Los gezogen. Die beiden
waren ruhige, freundliche Leute, und wenn mich überhaupt
etwas an ihnen störte, dann höchstens ihre ständige
Besorgtheit.
Einmal hatten sie etwas in Berlin zu erledigen. Als ich
erfuhr, daß sie mich dorthin mitnehmen wollten, war ich
überglücklich. Berlin - wieviel hatte ich schon davon gehört!
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Das alles sollte ich nun mit eigenen Augen sehen! Schon malte
ich mir die staunenden Mienen meiner Freundinnen bei
meinem Bericht nach der Rückkehr aus. Aber da war eben die
Sorge meiner Dienstherren. Selbst wenn sie sich im Hotel
aufhielten und mich eigentlich gut hätten entbehren können,
ließen sie mich nicht fort. Die große Stadt berge für ein
unerfahrenes junges Mädchen wie mich zu viele Gefahren,
behaupteten sie. Alles Maulen half nichts - ich lernte zunächst
von Berlin nur genau das kennen, was vom Fenster aus zu
sehen war.
Aber dann, als ich schon gar nicht mehr darauf rechnete,
bekam ich doch noch meine Chance auf ein Abenteuer. Meine
Dienstherren hatten Butter zu kaufen vergessen und schickten
mich, ein Stück aus dem Geschäft gleich an der Ecke zu holen.
Sie waren zweifellos überzeugt, daß mir auf einem so kurzen
Wegstück nichts Verhängnisvolles widerfahren könne. Freilich
vergaßen sie dabei, wie sehr ich auf diesen Moment der
Freiheit gewartet hatte. Schon im Hausflur wußte ich nicht
mehr, was ich eigentlich tun sollte. Ganz krank vor Neugier lief
ich von einem Schaufenster zum nächsten. Die schillernde,
flimmernde Welt, in die ich so unversehens hineingepurzelt
war, hatte mich einem Strudel gleich rettungslos in ihren Bann
gezogen. Ich lief und lief - bis ich nicht mehr wußte, wo ich
mich befand.
Mag mich niemand fragen, wie ich wieder zum Hotel
gelangt bin! Es muß so gegen neun Uhr abends gewesen sein,
als ich dort eintrudelte, ohne Butter und ziemlich kleinlaut. Das
Russische Ehepaar hatte natürlich mit dem Allerschlimmsten
gerechnet. Daß ich nun bis zur Abreise keinen Schritt mehr
ohne Aufsicht gehen durfte, brauche ich sicherlich nicht zu
betonen.
Ein Jahr später kehrten die beiden in ihre Heimat zurück.
Eigentlich wollten sie mich dorthin mitnehmen, doch das ließ
Mutter nicht zu. Sie befürchtete, mich dann völlig aus den
Augen zu verlieren, und hatte damit sicher nicht ganz unrecht.
42
Ich selbst jedoch wäre gern ein wenig mehr in der Welt
herumgekommen. Es wurde mir allmählich langweilig in dem
kleinen Geuz. Eines Tages verfiel ich deshalb auf einen
tollkühnen Plan.
Ich hatte noch eine Rechnung offen, denn ich war in Berlin
gewesen und kannte es trotzdem noch so gut wie gar nicht. Das
sollte nicht so bleiben. Ich kaufte mir heimlich von meinem
ersparten Geld eine Fahrkarte und verstaute meine
Arbeitssachen sowie ein paar Schuhe in einem Pappkarton. Nur
die kleine Hedwig weihte ich ein während meiner
Vorbereitungen, und die mußte mir hoch und heilig
versprechen, zu schweigen wie ein Grab.
Der große Tag rückte heran, und ich fuhr los. Zunächst
landete ich bei einer Arbeitsvermittlung in der Nähe des
Bahnhofs Friedrichstraße. Die Adresse kannte ich durch eine
Freundin. Da Mädchen aus der Provinz als fleißig und
anspruchslos galten, fand ich sofort eine Stelle. Kaum hatte ich
den Raum betreten, stürzten schon mehrere Frauen auf mich
zu. Eine von ihnen nahm mich gleich mit. So löste sich auch
die Frage nach dem ersten Nachtquartier praktisch von selbst.
Die Frau betrieb eine Pension und hatte noch ein zweites
junges Mädchen in Stellung. Das war angenehm für mich, denn
dadurch hatte ich gleich eine Gefährtin, die sich auskannte und
mich in das Berliner Leben einführen konnte. Sonntags gingen
wir tanzen. In einem Saal ganz in der Nähe spielte dann eine
Blaskapelle, und wir amüsierten uns jedesmal prächtig. Meinen
Eltern und Geschwistern schrieb ich, daß ich zwar wisse, wie
sich jeder um mich gesorgt habe, daß ich aber glücklich sei und
ausgezeichnet zurecht komme.
Doch dann beendete ein schlimmer Zwischenfall abrupt
diese schöne Zeit. Im Erdgeschoß des Hauses wohnte ein
alleinstehender Bankbeamter, der einen Dackel hielt. Diesen
Hund liebte die Mutter der Pensionsinhaberin leidenschaftlich.
Sie war an den Rollstuhl gefesselt und wollte sich kein eigenes
Tier zumuten. Eine meiner Aufgaben bestand nun darin, den
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Dackel jeden Abend für eine Stunde zu der Frau zu bringen
und ihn anschließend wieder dem Besitzer zurückzugeben.
Dadurch kannte ich den Mann recht gut. Eines Tages hallte ein
Knall durch das Haus. Erschrocken liefen wir alle nach unten.
Dort fanden wir den Beamten tot am Boden liegen. Er hatte
sich selbst erschossen. Den Anblick werde ich nie vergessen.
Ich war so schockiert, daß ich unter keinen Umständen weiter
in der Pension arbeiten wollte. Weil mein Vertrag mich noch
band und meine Dienstherrin mich nicht ohne Weiteres gehen
ließ, stahl ich mich heimlich davon.
Wieder bewarb ich mich bei der Arbeitsvermittlung an der
Friedrichstraße und wieder fand ich rasch eine Anstellung,
diesmal in einem Milchgeschäft. Dort mußte ich jeden Morgen
gegen vier Uhr die Milch austragen. Das bedeutete nicht nur,
zeitig aufzustehen, sondern auch, reichlich Treppen
hochzusteigen, denn die Häuser im Viertel waren zumeist
mehrstöckig. Die einzige Erleichterung, die ich mir dabei
verschaffen konnte, beruhte auf einem Abkommen mit dem
Bäckersjungen, der gewissermaßen mein Schicksal teilte. In
der einen Hälfte der Häuser nahm ich seine Brötchen mit, in
der anderen Hälfte er meine Milch.
Allerdings hatte die neue Arbeitsstelle für mich auch
Vorteile. Wenn ich gegen sechs Uhr von meiner Tour
zurückkam, stand das Frühstück auf dem Tisch - dampfender
Kaffee, Wurst in mehreren Sorten, auch Käse. Von all diesen
guten Dingen durfte sich jeder nehmen, soviel er wollte. Wenn
ich reichlich zu Essen bekam, war ich schon recht zufrieden
mit meinem Schicksal. In dieser Hinsicht glich ich noch ganz
jenem Lieschen, das Karls Essen gegen die Geschwister
verteidigt hatte.
Tagsüber half ich im Laden oder ging mit den beiden
Kindern des Inhaberehepaars spazieren. Vom späten
Nachmittag an konnte ich über meine Zeit frei verfügen.
Inzwischen hatte ich eine neue Freundin kennengelernt, ein
junges Mädchen aus Köthen, das bei einem Schneidermeister
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lernte. Mit ihr zusammen verbrachte ich manchen Abend und
manches Wochenende. Allein mochte ich nicht tanzen gehen.
Ein wenig gruselte es mich nämlich noch immer im
Großstadtdickicht, obwohl andrerseits die unterschwellige
Gefahr gerade jenen Reiz auf mich ausübte, der mich dort
festhielt.
So ganz ungefährlich war das Berlin jener Jahre übrigens
tatsächlich nicht, zumal für ein junges Mädchen wie mich.
Gerade erregte der Fall des Massenmörders Haarmann die
Gemüter. Der Fleischersmeister hatte jahrelang Menschen zu
Wurst verarbeitet. Nun suchte die Polizei fieberhaft nach ihm,
und den Gerüchten nach tauchte er mal in diesem, mal in jenem
Viertel auf. Wenn ich frühmorgens in der Dunkelheit mit
meiner Milch durch die noch leeren Straßen lief, argwöhnte ich
hinter jeder Häuserecke eine finstere Gestalt.
Ein unangenehmes Erlebnis widerfuhr mir übrigens auch
ganz persönlich. Ich wollte in einem Schreibwarenladen eine
Ansichtskarte kaufen. Während ich mir nun am Ständer eine
passende aussuchte, kam der Inhaber und schloß plötzlich die
Eingangstür zu. Ich begriff sofort, daß ich in der Falle saß, und
spähte verzweifelt nach Rettungsmöglichkeiten aus. Vor dem
Schaufenster hielt sich leider gerade niemand auf, dem ich
hätte Zeichen geben können. Der Mann kam von hinten immer
dichter an mich heran, und sein keuchender Atem ließ keinen
Zweifel daran, woran er dachte. Ich schrie, war mir aber nicht
sicher, ob mich jemand hörte. Schon hatte er mich in eine Ecke
getrieben und setzte zum Sprung an, um mich zu packen - da
kam buchstäblich in letzter Minute von hinten eine Frau herein.
Der gestörte Ladenbesitzer beeilte sich nun, die Eingangstür
wieder aufzuschließen, und ich fand die Gelegenheit zur
Flucht.
In Köthen war ich seit meinem heimlichen Aufbruch nicht
mehr gewesen, und obwohl ich das ungebundene Leben in der
Hauptstadt nach wie vor in vollen Zügen genoß, bekam ich
allmählich Heimweh. Auch plagte mich zunehmend das
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schlechte Gewissen. Als ich für drei Tage Urlaub bekam, fuhr
ich sofort los zu den Eltern nach Geuz. Zu meiner
Überraschung wurde ich dort sogar ohne Vorwürfe empfangen.
Freilich war Mutter nicht so recht froh über das, was ich in
Berlin trieb. Vor allem wegen der Milchtouren zu früher
Stunde sorgte sie sich. Am Abend des dritten Tages schließlich
hatte sie mich überredet, die Stelle aufzugeben - trotz des guten
Lohnes, den Trinkgelder noch beträchtlich aufbesserten.
Mein Entschluß ließ sich aber nicht ohne weiteres in die Tat
umsetzen. Meine Arbeitgeberin war zufrieden mit mir und
wollte mich nicht gehen lassen. Auf jeden Fall bestand sie auf
der vertraglich vereinbarten, vierwöchigen Kündigungsfrist.
Ein anderes Mädchen hätte das wahrscheinlich als
unvermeidlich akzeptiert. Ich jedoch war nicht der Typ, mich
so einfach in die Gegebenheiten zu schicken. Ich flüchtete
abermals mitten in der Nacht, wobei ich meine Sachen in
einem Korb verstaute und aus dem Fenster warf. Der
Bäckersjunge begleitete mich bis zum Bahnhof.
Diesmal aber hatte die Flucht noch ein Nachspiel. Die
erboste Milchhändlerin ging zur Polizei und erwirkte ein
Bußgeld von drei Mark wegen "böswilligen Verlassens des
Arbeitsplatzes". Das war immerhin der Lohn für vierzehn
Tage. Ähnlich turbulent, wie mein Berlinabenteuer begonnen
hatte, endete es also auch.
In Köthen suchte ich mir eine Stelle in einem großen Kaffee.
Während der Besitzer im Keller in der Backstube feine Torten
buk und seine Frau im Lokal die Leute bediente, blieb mir die
Besorgung des Haushalts überlassen. Da war zunächst einmal
Essen zu kochen. Dann mußten zwei Kinder in die Schule
geschickt werden. Auch der Abwasch für das Lokal gehörte zu
meinem Bereich. Das schmutzige Geschirr wurde mit einem
Aufzug in die Wohnung hinauftransportiert und gelangte
sauber auf dem selben Wege wieder zurück. Hin und wieder
fielen zudem Botengänge verschiedener Art an.
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Einmal mußte ich eine prächtig verzierte Torte zu einem
Kunden nach Hause bringen. Ich gab mir unsäglich viel Mühe,
das Kunstwerk heil ans Ziel zu bringen. Um jedoch den
Klingelknopf drücken zu können, mußte ich den Teller für
einen Moment auf einer Hand balancieren - und da geschah das
Unglück. Die Torte geriet ins Rutschen. Meine Versuche, sie
noch zu retten, verschlimmerten alles nur noch. Das Kunstwerk
verwandelte
sich
blitzschnell
in
einen
fettigen,
scherbendurchsetzten Haufen. Sekunden später öffnete sich die
Tür, und ich wünschte inständig, augenblicklich im Boden zu
versinken.
Abgesehen von diesem Mißgeschick hatte mein neuer
Arbeitgeber aber kaum Grund zum Klagen. Mochte ich
manchmal auch ein wenig eigensinnig sein, mein Arbeitseifer
war immer vorbildlich. Was man mir auftrug, erledigte ich
sofort, oft gründlicher als gefordert. Umgekehrt bot das Kaffee
einen Vorteil, den wohl kaum jemand so wie ich zu schätzen
wußte. Sobald das Buffet frisch aufgefüllt wurde, blieben
zahlreiche Stücken Torte übrig, und jeder der Angestellten
konnte davon essen, soviel er mochte.
Hedwig war neunjährig, als ich bei dem Russischen
Studentenehepaar Kindermädchen wurde. Das heißt, sie
übernahm die Aufgabe, Mutter bei der Hausarbeit zu helfen,
fast genau im selben Alter wie ich. Allerdings hatte sie es dabei
zweifellos noch schwerer als ich seinerzeit, denn sie war von
Natur aus klein und zierlich. Darum tat sie uns allen ein wenig
leid, vor allem am Anfang. Da sie aber nun einmal das letzte
noch bei den Eltern lebende Mädchen war, half ihr das wenig.
Immerhin hatte sie von Mutter nicht nur die Konstitution
geerbt sondern auch die innere Energie und die bedingungslose
Opferbereitschaft. Tapfer fügte sie sich in ihr Schicksal, und es
kam ganz selten vor, daß sie sich bei uns Geschwistern
beklagte. Ob sie trotzdem unglücklich war, oder ob sie einen
ähnlichen Stolz empfand wie ich, das kann ich nicht mit
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Bestimmtheit sagen. Wirklich schätzen lernte ich ihre Leistung
erst Jahre später aus einem gewissen Abstand.
Was Max anging, befolgten unsere Eltern den Rat der Lehrer
und schickten ihn auf ein Gymnasium. Vor allem Vater setzte
große Hoffnungen in ihn. Er konnte sich noch gut daran
erinnern, wie schwer es ihm gefallen war, sich vom
Gärtnerssohn zum Bauunternehmer hochzuarbeiten. Er wußte
auch, daß jedes Studium halbherzig bleiben muß, wenn es nur
nach Feierabend betrieben werden kann. Bei Max nun sollte
das alles ganz anders sein. Er sollte unter besten Bedingungen
lernen und am Ende all das erreichen, was dem Vater verwehrt
blieb.
Allerdings war die Umschulung mit vielen Kosten
verbunden. Max benötigte besondere Unterrichtsmittel. Auch
bessere Kleidung bekam er. Schließlich sollte er sich von
seinen Mitschülern nicht durch ein besonders ärmliches
Aussehen unterscheiden. Es wurde also sehr viel mehr
Aufwand mit ihm getrieben als mit uns anderen Geschwistern.
Würde ich behaupten, daß wir alle ihm das von Herzen
gönnten, wäre das gewiß eine Lüge. Allerdings hielt sich der
Neid in Grenzen, denn wir glaubten ebenso wie Vater an seine
Begabung. Wenn er unsere Familie dort am Gymnasium gut
vertrat, so brachte das immerhin auch uns ein wenig Ehre ein.
Max hatte tatsächlich keine Mühe, dem Unterricht zu folgen.
Dennoch fiel es ihm schwer, sich in der neuen Umgebung zu
behaupten. Seine Mitschüler stammten durchweg aus reichen
Familien. Sie gingen in ihrer Freizeit reiten, spielten Tennis
oder bekamen Musikunterricht. Max versuchte, sich wieder mit
Hilfe seiner Phantasie zu retten. Unglücklicher Weise hatte er
es jetzt aber nicht mehr mit leichtgläubigen Dorfkindern zu tun
sondern mit überheblichen Gymnasiasten, die seinen
Geschichten mißtrauten und rasch die Wahrheit herausfanden.
Als notorischer Lügner überführt, sank sein Ansehen in der
Klasse noch tiefer.
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Allmählich verlor er jedes Interesse an der Schule. Er ging
zwar nach wie vor frühmorgens pünktlich aus dem Haus, nahm
aber kaum noch am Unterricht teil, sondern trieb sich irgendwo
in Köthen herum. Es dauerte nun nicht mehr lange, da bestellte
der Direktor den Vater zu sich. Der war von seinem Sohn so
enttäuscht, daß er ihn sofort vom Gymnasium nahm und in eine
Schlosserlehre gab.
So nahm Maxens Aufstieg, der einmal so steil begonnen
hatte, ein jähes Ende. Er erreichte niemals im Leben annähernd
das, was man ihm seinen Talenten nach zutrauen mußte. Was
wäre wohl aus ihm geworden, hätte er unter anderen
Bedingungen gelebt, in einer anderen Familie, in einer anderen
Zeit, unter einem verständnisvolleren, idealistischen Lehrer?
Ein erfolgreicher Schriftsteller vielleicht, ein Journalist bei
einem der großen Magazine? Es ist müßig, darüber zu
spekulieren.
In
Wahrheit
blieb
er
immer
der
Geschichtenerfinder,
der
an
Stammtischen
seine
atemberaubenden Storys zum Besten gab, dem leichtgläubige
Gemüter mit offenem Mund zuhörten und der von allen
anderen als weltfremder Träumer belächelt wurde.
In den Jahren vor dem Ersten Weltkrieg erreichte die
Widersprüchlichkeit der Wilhelminischen Ära ihren
Höhepunkt. Nie zuvor hatten die größten Hoffnungen und die
schlimmsten Gefahren so dicht beieinandergelegen. 1912
wurde die SPD zur stärksten Fraktion im Reichstag. Das gab
ihr zwar noch keinen entscheidenden Einfluß auf die Politik,
weil die Macht noch fast ausschließlich beim Kaiser und
dessen nächsten Vertrauten konzentriert war, zeigte aber, wie
tiefgreifend sich die Stimmung in der Bevölkerung gewandelt
hatte. Erinnerungen an die Revolution von 1848 wurden wach.
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Anderseits schmiedeten die europäischen Herrscher emsig an
Bündnissystemen. Konflikte zwischen kleinen Staaten
eskalierten, weil Großmächte sich einmischten, so zum
Beispiel auf dem Balkan. Es war ein doppeltes Wetterleuchten
zu sehen am Horizont, und niemand vermochte zu sagen,
welches Gewitter sich zuerst entladen würde.
Eines Sonntags - es muß am frühen Vormittag gewesen
sein - stürmte meine Schwester Martha freudestrahlend ins
Zimmer und rief:
"Komm schnell! Wir gehen nach Köthen! August Bebel wird
sprechen!"
Ich muß zu meiner Schande gestehen, daß ich damals mit
dem Namen August Bebel recht wenig anzufangen wußte. Nun
ja, das war so ein Politiker, einer von diesen Linken. Ich
interessierte mich für dergleichen nicht. Wenn aber Martha vor
Begeisterung ganz außer sich geriet, dann mußte es mit diesem
Bebel etwas Besonderes auf sich haben. Ich zog mich also an
und folgte ihr.
Auf dem Bahnhofsvorplatz hatte sich bereits eine gewaltige
Menschenmenge eingefunden. Viele Arbeiter der Köthener
Fabriken waren demonstrativ in ihrer Berufskleidung
erschienen. Das gab ihnen eine Gefühl der Verbundenheit.
Zugleich ließen sie sich dadurch zuordnen. Vorn, direkt
gegenüber der Bahnhofshalle bildeten die Männer aus der
Maschinenfabrik "Wagner" mit ihren blau-weiß gestreiften
Hemden einen kompakten Block. Rechts von ihnen mischten
sich die baumlangen Hünen aus der Zuckerfabrik mit den
Druckereiarbeitern. Martha indes wandte sich mit mir nach
links, wo sie ihre Kolleginnen aus der Farbenfabrik "Musche"
entdeckt hatte. Sie war dort seit ihrer Rückkehr aus Düsseldorf
in der Verpackungsabteilung angestellt.
Eigentlich galt ich als ein ziemlich freches Mädchen. Im
Vergleich mit Emma und Hedwig war ich das wohl auch. Den
Fabrikarbeiterinnen gegenüber aber kam ich mir ausgesprochen
brav vor. Die hatten ein ganz anderes Selbstbewußtsein als wir,
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die wir bei Herrschaftsleuten als Hausmädchen dienten. Daß
manch einer über sie die Nase rümpfte und ihnen alle
möglichen Schlechtigkeiten unterstellte, schien sie wenig zu
stören.
Unmittelbar vor uns nahmen uns die Männer aus der
Leimfabrik ein wenig die Sicht. Mir war, als haftete ihnen auch
jetzt am Sonntag noch der atemberaubende Gestank ihrer
Bottiche an. Etwas abseits warteten jene Arbeiter, die den Malz
für die Bierherstellung produzierten. Das große, rote Gebäude,
das sie jeden Morgen verschluckte, erinnerte mich jedesmal,
wenn ich an ihm vorbeigehen mußte, an ein Gefängnis. Martha
lenkte meine Aufmerksamkeit auf eine Gruppe von Frauen
schräg hinter uns. Das war die Belegschaft der
Schokoladefabrik, unter denen sie noch etliche Freundinnen
hatte.
Deren
Nachbarn
wiederum
waren
die
Zigarrendreherinnen. Die Zigarrenherstellung wurde gut
bezahlt, erforderte jedoch viel Geschicklichkeit. Wer diese
Kunst beherrschte, genoß eine Menge Ansehen.
Aber diese großen Gruppen bildeten zusammen nur etwa die
Hälfte der Kundgebungsteilnehmer. Die Lücken zwischen
ihnen füllten die Mauerer und Zimmerleute der zahlreichen
Baustellen, die Handwerker aus den kleinen Familienbetrieben
der Stadt, die Verkäuferinnen, die Gärtner und die Tagelöhner.
Hinzu kamen noch etliche Schaulustige.
Während ich mich so umsah, breitete sich plötzlich eine
Begeisterungswelle von der Bahnhofshalle beginnend aus. Ich
reckte mich in die Höhe, vermochte jedoch noch nichts zu
erkennen. Den Frauen in meiner Nähe ging es zweifellos kaum
anders. Dennoch schlossen sie sich den Rufen an. Etwas später
kam Bewegung in die Reihen der Maschinenbauer. Zwei
kräftige Schlosser hoben einen Mann auf die Schultern und
trugen ihn unter immer neuen, sich fortpflanzenden
Beifallsstürmen durch die Menge. Für einen Moment sah ich
ihn aus verhältnismäßig geringer Entfernung. Dabei bemerkte
ich verwundert, daß er auf den ersten Blick kaum etwas
51
Besonderes an sich hatte. Er war schon ziemlich alt und wirkte
ein wenig abgehärmt. Bei der Versammlung dann jedoch
änderte ich meine Meinung über ihn. Seine kräftige Stimme,
die Energie und Entschlossenheit die er ausstrahlte, als er auf
der Bühne stand, die Klarheit, mit der er selbst komplizierte
politische Zusammenhänge erläuterte, das alles überzeugte
schließlich auch mich.
Das großartige Gefühl jenes Nachmittags blieb nicht allzu
lange erhalten. Im nun folgenden Jahrzehnt sollten sich die
Ereignisse überschlagen, für die Welt und auch für unsere
Familie. Spurlos ging sie jedoch nicht vorüber, die Zeit des
Aufbruchs und der Illusionen. In gewisser Hinsicht reichen ihre
Auswirkungen bis in unsere Tage hinein. Auch das gilt für die
große Politik ebenso wie für die Schulzes und ihre
Nachkommen.
Emma lebte noch immer in Berlin. Dort lernte sie bei einer
Tanzveranstaltung den Eisenbahner Gustav Schatz kennen.
Gustav war ein attraktiver junger Mann, groß und kräftig,
dunkelhaarig. Seine braunen Augen verliehen ihm eine
vertrauenerweckende Ausstrahlung, ohne daß er etwas dafür
tun mußte. Sein Temperament wiederum gab ihm einen Hauch
südländischer Wesensart, wie viele Deutsche Frauen es mögen.
Allerdings hätte die ordnungsliebende Emma sich wohl trotz
allem nicht in ihn verliebt, wäre er nicht auch in der Lage
gewesen, bei gegebenem Anlaß als ein Herr mit vorbildlichen
Manieren aufzutreten.
Das bewies er unter anderem, als sie ihn zum ersten mal mit
nach Köthen brachte und unseren Eltern vorstellte. Da
überreichte er Mutter einen gewaltigen Blumenstrauß und
brachte sie durch seine zuvorkommende Art im Handumdrehen
auf seine Seite. Damit war die Entscheidung gefallen. Emma
pflegte nicht lange zu zaudern, wenn sie sich zu etwas
entschlossen hatte. Bereits beim nächsten Besuch wurde ein
Hochzeitstermin vereinbart.
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Die beiden Verlobten bereiteten sich getrennt auf den großen
Tag vor. Emma brachte ihre Wäsche und ihre Kleider in
Ordnung, um nicht als schlechte Hausfrau dazustehen. Gustav
deutete an, daß er sich etwas ganz Besonderes ausgedacht habe
und daß alle staunen werden, verriet aber bis zuletzt nicht,
worum es sich handelte. Um so größer war dann die
Überraschung. Am Vorabend der Hochzeit präsentierte er
seiner
Braut
eine
vollständig
eingerichtete
Zweizimmerwohnung. Es fehlte an nichts - im Küchenschrank
standen Töpfe und Pfannen, an den Wänden hingen Bilder, und
die Betten im Schlafzimmer waren mit seidenen Decken
überzogen. Gustav hatte sein ererbtes, kleines Vermögen dafür
geopfert. Emma war überglücklich.
Zur Hochzeit nach Berlin fuhren neben unseren Eltern auch
Martha, Willi und ich. Max und Hedwig mußten zu Hause
bleiben, um die Tiere zu versorgen. Wie schon bei der
Wohnung sparte Gustav auch bei der Feier nicht. Sie war eines
jener Ereignisse, über die wir redeten, wenn uns der Alltag aufs
Gemüt drückte, und wir uns mit irgend einer angenehmen
Erinnerung aufzumuntern versuchten.
Martha mochte sich nicht so rasch festlegen wie ihre
Schwester. Die Heirat mit Willi, über die nicht nur in der
Familie sondern auch im Ort längst jeder sprach, schob sie
immer wieder vor sich her. Sie zweifelte keineswegs daran,
daß sie mit ihm den Mann fürs Leben gefunden hatte. In all
ihren Zukunftsplänen kam er in ganz natürlicher Weise vor. Sie
verspürte aber keine Lust, Ehefrau zu werden. Sie wäre sich
gleich um zehn Jahre älter vorgekommen.
Allmählich begann Mutter sie aber zu einer Entscheidung zu
drängen. Da verschaffte ihr Willis Einberufung zum
Militärdienst unverhofft Aufschub. Der Gestellungsbefehl
wurde übrigens noch immer keinesfalls als Unglück angesehen.
Noch immer wollte niemand an den nahenden Krieg glauben.
Willi meldete sich freiwillig zur Marine. Wenn er in seiner
schmucken Matrosenuniform zu Besuch kam, dann war Martha
53
mächtig stolz auf ihn, und ihre Freundinnen bestärkten sie
darin mit ihrem unterschwelligen Neid.
Bei der Frage "Glauben Sie an übernatürliche Dinge?"
scheiden sich die Geister. Die einen behaupten, alles, was in
der Welt geschieht, habe eine natürliche Ursache, und es gebe
keinen Gott, keine Engel und keine Dämonen. Auch jede über
die Aufnahmefähigkeit der bekannten Sinnesorgane
hinausgehende Wahnehmung sei nichts als Betrug oder
Einbildung. Die anderen verfechten ebenso vehement das glatte
Gegenteil. Interessanter Weise hat die Wissenschaft den Streit
nicht beigelegt sondern vielmehr mit neuen Argumenten auf
beiden Seiten bereichert. Ich persönlich neige eher zu den
Skeptikern, möchte mich aber an der Auseinandersetzung
lieber nicht beteiligen, schon gar nicht in einem Bericht wie
diesem. Immerhin wäre ja auch möglich, daß beide Parteien
gleich weit von der Wahrheit entfernt sind. Wie können wir
uns unserer Erkenntnisse denn so sicher sein, da doch fast
täglich irgend etwas entdeckt wird, das zumindest auf einem
begrenzten Gebiet alles bisher als wahr Geltende in Frage
stellt?
Auch in meinen Erinnerungen gibt es Ereignisse, die ich mir
nicht erklären kann. Sie hängen fast alle mit Martha
zusammen. Da sie meine Lieblingsschwester war, kannte ich
sie so gut wie kaum einen Menschen sonst. Hin und wieder
geschah es, daß sie plötzlich aufmerkte, als habe eine uns
anderen verborgene Stimme sie gerufen. Sie wirkte einen
Moment lang völlig verändert. Dann schreckte sie hoch wie aus
einem Traum und murmelte ein paar Sätze, wobei sie selbst zu
zweifeln schien an dem, was sich ihr da aufgedrängt hatte.
Dann war sie wieder wie immer - fröhlich, aufmerksam und
realistisch. Häufiger noch erschienen ihr derlei Gesichte in der
Nacht.
Zu diesen Geheimnissen um Martha gehört auch die
folgende Episode. Eines Morgens sagte sie beim Erwachen:
54
"Ich habe heute Nacht geträumt, daß der Paul wieder bei uns
ist."
Das war eigentlich ein schöner Traum, doch niemand von
uns vermochte, sich darüber zu freuen. Der Name unseres
Bruders riß eine Wunde auf.
"Ach, den Paul, den werden wir wohl niemals wiedersehen",
erwiderte Mutter traurig.
Paul hatte sich nach seiner Flucht vor dem hartherzigen
Fleischermeister nicht wieder gemeldet. Seit acht Jahren war er
verschollen, und jeder im Ort glaubte, er sei ausgewandert oder
gar gestorben. So schob auch Martha den Gedanken an ihn
wieder beiseite. Am Abend des selben Tages aber wurde sie
plötzlich in Köthen auf der Flaniermeile von einem jungen
Mann angesprochen.
"Guten Abend, Martha!"
Weil er ihr unbekannt vorkam, argwöhnte sie, jemand der
ihren Namen durch irgend einen Zufall wußte, wollte mit ihr
anbändeln. Sie ließ ihn einfach stehen. Er kam aber wieder. Da
fragte sie, fast ein wenig grob:
"Was wollen Sie denn von mir?"
"Erkennst du mich denn nicht?" erwiderte er.
Da erst sah sie ihn sich genauer an und - fiel ihm mit einem
Freudenschrei um den Hals. Paul war tatsächlich
zurückgekehrt. Aus dem kleinen, schmächtigen Jungen aber
hatte sich ein großer, kräftiger Mann mit breiten Schultern
entwickelt.
"Wie werden sich unsere Eltern freuen!" rief Martha
begeistert aus. "Komm! Laß uns gleich zu ihnen hingehen!"
Er indes wehrte ab:
"Ich kann doch jetzt dort nicht einfach so ins Zimmer treten,
nach all den Jahren, nach allem, was geschehen ist!"
"Natürlich kannst du das!" beharrte sie. "Du mußt sogar."
Sie hängte sich an ihn und hielt ihn ganz fest, damit er ja
nicht wieder davonliefe, und brachte ihn schließlich dazu, mit
ihr nach Geuz hinüberzugehen.
55
Vater und Mutter lasen gerade Zeitung. Als die jungen Leute
sie begrüßten, blickten sie nur kurz auf. Martha brachte öfter
Freunde mit. Sie duldeten das, denn dadurch lernten sie den
Umgang ihrer Tochter kennen und konnten einigermaßen
kontrollieren, was sich da abspielte. Sie wurden erst
aufmerksam, als der junge Mann mit Nachdruck sagte:
"Guten Abend, Mutter!"
Vater glaubte immer noch, ein Betrüger wollte ihn
überlisten. Allmählich aber begriffen sie beide nun, daß ihr
kleiner Paul sich tatsächlich so sehr verändert hatte.
Später erzählte er uns von seinem Schicksal seit der Flucht
aus Köthen. Zunächst war er nach Hamburg gefahren und hatte
dort in einem Hotel gearbeitet, am Ende als Liftboy. Das
befriedigte ihn aber nicht. Nach Feierabend blickte er oft im
Hafen sehnsüchtig den Ozeanriesen nach, wenn sie in See
stachen. Schließlich heuerte er auf einem Handelsschiff als
Heizer an. Das war Knochenarbeit, und zudem fühlte er sich
dort tief unten im Schiffsbauch wie ein Gefangener.
"Wenn es ein Unglück gibt, ertrinken wir Heizer hier unten
wie die Ratten", dachte er manches Mal bei sich.
Wenn er aber in der Freizeit auf dem Deck stand, die herbe
Meeresluft durch die Nase zog und den weiten Sternenhimmel
betrachtete, dann sagte er sich:
"Ich werde mich umsehen in der Welt, und ich werde Vater
beweisen, daß ich nicht aus Feigheit ausgerissen bin."
Er schwor sich, ein richtiger Mann zu werden, einer auf den
die Eltern stolz sein könnten. Diesen Schwur vergaß er niemals
während seiner Odyssee. Manchmal überkam ihn in den
fremden Häfen der Wunsch, sich eines der hübschen Mädchen
dort zur Frau zu nehmen und Deutschland den Rücken zu
kehren. Sobald das Schiff dann aber ablegte, war er wieder an
Bord. Nachdem er mit der Seefahrt aufgehört hatte, war er
noch ein paar Jahre lang Bergmann gewesen - weil man dort
viel Geld verdienen konnte, und weil er nicht arm und
56
abgerissen wie ein verlorener Sohn in seine Heimatstadt
zurückkehren wollte.
Nun hatte er sein Ziel erreicht. Seine Eltern sahen ihn mit
anderen Augen. Er war nicht mehr der mißhandelte Junge,
dessentwegen sie sich Vorwürfe machen mußten, sondern ein
würdiger Schulzesohn. Vater und Mutter umarmten ihn noch
einmal, und es fiel kein einziges Wort des Vorwurfs.
Seit ich wieder in Köthen arbeitete, unternahm ich wie in der
Kindheit vieles mit Martha gemeinsam. Die Zeit, da wir
altersbedingt verschiedene Interessen gehabt hatten, war
vorbei. Wir fühlten beide, daß uns nicht mehr viel Zeit blieb,
um die Ungebundenheit zu genießen. So stürzten wir uns mit
Heißhunger in alle Vergnügungen hinein, welche eine kleine
Stadt wie Köthen uns bieten konnte. Sehr schnell fanden wir
dabei Gleichgesinnte.
Zu der Gruppe, der ich mich anschloß, gehörten je vier
Jungen und Mädchen. Wir sahen uns nicht nur am Sonntag
zum Tanzen sondern trafen uns auch noch einmal innerhalb der
Woche. Einer der Jungen stellte seine Wohnung für diese
geselligen Abende zur Verfügung. Er lebte mit seiner Mutter
allein dort.
Marthas Treue zu Willi stand dabei nie in Frage. Wenn er
Urlaub hatte, brachte sie ihn mit. Kam sie ohne ihn, wußte sie
immer genau, wie weit sie gehen durfte. Das respektierten auch
die anderen. Jeder konnte sich leicht ausrechnen, daß er gegen
den schmucken Matrosen wenig Chancen hatte.
Es gab allerdings einen jungen Mann, der sich trotzdem um
Martha bemühte. Willis kräftigen Fäuste konnten ihn zwar auf
Distanz halten, nicht aber seine Hoffnungen zerstören. Mit
einer Beharrlichkeit, wie sie sonst fast nur in Romanen
vorkommt, wartete er auf den Tag, an dem sich seine
Aussichten verbessern würden. Er gehörte nicht zu unserer
Gruppe. Da er sich aber als Musiker recht und schlecht durchs
Leben schlug, trafen wir ihn häufig bei den
Tanzveranstaltungen. Übrigens war er Willi verblüffend
57
ähnlich, angefangen von den blonden Haaren über die blauen
Augen bis hin zu der unbeschwerten, fast leichtsinnigen Art,
durchs Leben zu gehen.
Auch ich hatte bald einen Verehrer. Ich lernte ihn kennen,
als er mit Paul an der Theke stand und ein Bier trank. Die
beiden kannten sich von Hamburg her. Mein Bruder stellte uns
beiden einander vor, und es entwickelte sich eine Liebelei von
jener Oberflächlichkeit, wie sie in unserer Gruppe üblich war.
Der junge Mann hatte einen etwas sonderbaren Namen - Ernst
Max. Er war charakterlich ein ruhiger, fast zurückhaltender
Typ, besaß aber viele Freunde. Wirklich ernst nahmen wir
unsere Beziehung zu dieser Zeit beide nicht. Immerhin aber
begleitete er mich ab und an von Köthen nach Geuz bis vor die
Haustür.
Das Nachhausegebrachtwerden hatte eine besondere
Bewandtnis. Auf den am späten Abend stockdunklen
Landstraßen und in den unübersichtlichen Parks spielten sich
zuweilen gruselige Dinge ab. Manche Geschichten erzählte
man sich nur, andere konnte man aber tatsächlich erleben. Wir
Mädchen suchten also nicht nur Unterhaltung für den
langweiligen Rückweg, sondern auch einen Beschützer.
Als Martha einmal mit Willi auf einer Bank im
Fasanenbusch saß, einer bei Verliebten sehr beliebten
Grünanlage, da tauchte plötzlich aus dem Gebüsch ein Mann
mit geschwärztem Gesicht auf. Er trug seine Schuhe in der
Hand und hatte es offenbar sehr eilig. Nachdem er die beiden
jungen Leute kurz starr angesehen hatte, verschwand er wieder
in der Dunkelheit. Willi wollte ihn verfolgen, doch Martha
hinderte ihn daran, um nicht allein zurückzubleiben. Mir und
Ernst passierte es einmal, daß uns jemand von hinten ein Lasso
überwarf. Wir konnten es rechtzeitig wieder abstreifen. Ob das
nur ein Streich von Kindern war oder einen ernsteren
Hintergrund hatte, fanden wir nie heraus.
Wenn ich es gewollt hätte, wäre ich in den Genuß eines ganz
besonderen Schutzes gekommen. Zu unserer Gruppe gehörte
58
auch ein wahrhaft hünenhafter Bursche mit Namen Fritz
Heinemann. Sein Respekt war so groß, daß er mühelos
Prügeleien schlichten konnte. Er nahm die Kampfhähne
einfach beim Kragen und schüttelte sie durch. Zugleich aber
war er gutmütig wie ein Bernhardiner. Dieser Fritz begann sich
eines Tages für mich zu interessieren. Ich wollte ihn aber nicht,
weil er nicht tanzen konnte und es auch nicht lernen wollte.
Das war mir damals furchtbar wichtig. So nahm er sich an
meiner Stelle eine andere und zog mit ihr fort. Erst Jahre später
hörte ich durch Zufall wieder von ihm. Eine Frau aus dem
Nachbardorf erzählte mir:
"Oh, Heinemanns Fritz! Der ist jetzt unser Bürgermeister.
Dem geht es gut. Der hat zwei gesunde Kinder und wohnt in
einem wunderschönen Haus."
Eine verpaßte Gelegenheit.
Franz war inzwischen nach Deutschland zurückgekehrt. Er
arbeitete in Hannover bei einer Buchdruckerei, wo er sich in
wenigen Jahren bis zum Abteilungsleiter hinaufgearbeitet
hatte. In eine der ihm unterstellten Frauen verliebte er sich. Sie
hieß Henny, war recht hübsch, hatte allerdings bereits ein
uneheliches Kind.
Sei es nun, daß er sich nach den Abenteuern der
zurückliegenden Jahre nach Geborgenheit sehnte, sei es, daß
ihm tatsächlich endlich die wirklich zu ihm passende Partnerin
begegnet war - er verhielt sich diesmal anders als zuvor bei
Hertha, Charlotte und den anderen Freundinnen, die er sich
jeweils nur für eine mehr oder minder kurze Zeitspanne
genommen hatte. Schon während seines ersten Besuchs bei
Hennys Familie kam das Gespräch wie selbstverständlich auf
das Thema Heirat, und Franz, der immer so sehr auf seine
Freiheit bedacht gewesen war, ließ sich überrumpeln.
Die Hochzeit fiel weit weniger prächtig aus als jene von
Gustav und Emma, vielleicht weil die Brauteltern eingedenk
des unehelichen Kindes Peinlichkeiten vermeiden wollten. Von
den Schulzes fuhren lediglich die Eltern nach Hannover. Der
59
Ehe schadete das aber keineswegs. Franz zog sofort mit in die
große Wohnung der Schwiegereltern und fühlte sich durchaus
wohl dort.
60
3. Kapitel
Liese erzählt
Es war ein Sonntag, ein schöner Tag, ein ruhiger Tag. Willi
hatte für eine Woche Urlaub bekommen und spielte mit Vater
und Karl am Stubentisch Karten. Paul werkelte unten im
Keller. Max, der sich seit seinem Mißerfolg am Gymnasium
immer öfter absonderte, saß allein in der Küche und las in
einem Buch. Martha hatte sich mit ihren Freunden auf der
Köthener Flaniermeile verabredet, denn es war Anfang August,
die beste Zeit also für die kleinen, wichtigen Abenteuer junger
Mädchen. Auch ich wollte dorthin gehen. Weil ich mich aber
zwischen zwei Kleidern nicht entscheiden konnte, wurde ich
nicht fertig mit dem Anziehen. Wo Hedwig steckte, wußte
niemand. Dreizehnjährig hatte sie inzwischen ebenso wie wir
Geschwister ihre Geheimnisse. Mutter schließlich, die niemals
sein konnte, ohne etwas Nützliches zu tun, besserte Kleider
aus, wobei sie ihre verkrüppelte Hand erstaunlich geschickt zu
gebrauchen wußte. Ab und an warf sie einen Blick hinüber zu
den kartenspielenden Männern, denen sie übrigens ihren
Müßiggang durchaus gönnte.
Inmitten dieser friedlichen Stimmung wurde plötzlich die
Tür aufgerissen. Martha kam hereingestürzt, blaß und in heller
Aufregung. In der Hand hielt sie eine Zeitung.
"Das Extrablatt!" keuchte sie, außer Atem vom schnellen
Laufen.
Fünf Augenpaare hefteten sich verwundert auf sie.
"Was steht denn drin in dem Extrablatt?"
Martha hatte sich ein wenig gefaßt, trat an Vater heran und
breitete die Zeitung vor ihm aus.
"Es ist Krieg!"
Wilhelm las schweigend den Leitartikel.
61
"Warum nur?" sagte er schließlich und trat ans Fenster, so
als hoffte er, draußen vor dem Haus die Antwort auf seine
Frage zu finden. Er dachte angestrengt nach, wobei der Blick
seiner klar-blauen Augen nicht nur bis zu dem Baum auf der
Straße gerichtet war sondern sehr viel weiter. Kerzengerade
stand er da wie ein Kapitän, der fühlt, daß sein Schiff
unterzugehen droht, der ratlos ist und nicht frei von
Schuldgefühlen aber entschlossen, auf der Kommandobrücke
auszuharren bis zuletzt.
Mit wieviel Hoffnung hatte alles angefangen, damals vor 24
Jahren nach den Sozialistengesetzen! Und wieviel war erreicht
worden! Wilhelm hatte fest daran geglaubt, daß nichts mehr die
neue Zeit würde aufhalten können. Eine Ära der Vernunft und
der Eintracht, der Arbeit und der Gerechtigkeit! Und nun dieser
Krieg! Was wird er übrig lassen von all dem so mühsam
Errungenen?
Martha war zu Willi gegangen und strich ihm zärtlich über
den Kopf.
"Du mußt jetzt zurück aufs Schiff, nicht wahr?"
"Ja, sicher!" antwortete er gereizt.
Die gedrückte Stimmung behagte ihm nicht. Sie widersprach
seiner Natur, denn er war ein fröhlicher Bursche, der die
traurigen Dinge gern rasch verdrängte.
"Ach, was ihr nur gleich wieder denkt! Ja - es ist Krieg!
Aber er muß ja nicht wieder so schlimm werden wie der von
1870. Der Spuk geht bestimmt in ein paar Wochen vorbei. Wir
gewinnen und ..."
"Gewinnen?" unterbrach ihn Karl, der sich wie unter Schock
bisher nicht gerührt hatte, den Blick starr auf die Zeitung
fixiert. "Gewinnen? Gegen wen denn? Du bekommst ein
Gewehr in die Hand gedrückt, und damit sollst du dann auf
Leute schießen, die du überhaupt nicht kennst, die dir nichts
getan haben. Das kann doch nicht richtig sein!"
Nun wußte selbst Willi nichts mehr zu entgegnen, und es
breitete sich eine für alle nahezu unerträgliche Stille aus.
62
Durchbrochen wurde sie erst durch Mutter, die in ihrer
praktischen Art die Flickarbeit beiseite legte und zum Schrank
ging mit den Worten:
"Es hilft ja alles nichts! Ich packe euch eure Sachen
zusammen."
Einige Tage nachdem Willi auf sein Schiff zurückgekehrt
war, bekam Karl seinen Einberufungsbefehl. Paul, der noch
nicht gedient hatte, sollte sich bei einer Ausbildungseinheit
melden. Es nutzte ihm nichts, daß er sich versteckte. Die
Gendarmerie suchte ihn, spürte ihn rasch auf und brachte ihn
auf direktem Wege in die Kaserne. Neben Max, der noch zu
jung war, blieb von den Schulzesöhnen lediglich Franz
verschont, wegen seiner starken Kurzsichtigkeit.
Der Krieg brauchte Soldaten, Tausende und Abertausende in
kürzester Zeit. Noch im August unternahmen fünf deutsche
Armeen den sogenannten "Schwenkungsangriff" durch Belgien
nach Frankreich. Anfang September tobte die Schlacht an der
Marne. Die Angehörigen im Hinterland litten währenddessen
unter der ständigen Ungewißheit. Die Feldpostbriefe trafen
unregelmäßig ein und enthielten - der Geheimhaltung
wegen - oft nur unbestimmte Angaben. Die Siegesmeldungen,
die bis in den Herbst hinein noch reichlich eintrafen, konnten
uns nicht recht freuen, denn jeder gewonnene Hektar Land
vergrößerte die Zahl der Gefallenen.
Endlich traf wenigstens von Karl ein Lebenszeichen ein. Er
schrieb:
"Liebe Eltern, liebe Geschwister! Es geht mir gut. Morgen
werden wir an die Westfront verlegt. Wenn ihr lange nichts
mehr von mir hört, braucht ihr euch keine Sorgen zu machen.
Es wir alles gut."
Das war eine rätselhafte Nachricht. Offenbar wollte er uns
zwischen den Zeilen irgend etwas mitteilen, was er nicht offen
ausdrücken durfte. Martha vermutete, er plane, sich gefangen
nehmen zu lassen, und erinnerte uns daran, wie er auf die
Nachricht vom Kriegsausbruch reagiert hatte. Aber das war nur
63
eine Spekulation. Wir hörten tatsächlich lange Zeit nichts mehr
von ihm.
Je mehr sich das Jahr seinem Ende entgegenneigte, desto
deutlicher zeigte der Krieg sein wahres Gesicht. Auch an Willi
ging er nicht so vorüber, wie er erwartet hatte. Eine erste
Seeschlacht fand bei Helgoland statt. Bei den Falklandinseln
gingen am achten Dezember die Kreuzer "Karlsruhe", "Emden"
und "Königsberg" verloren. Auf dem Lande kam unterdessen
der deutsche Angriff zum Stehen. Unter gewaltigen Opfern
versuchte von nun an mal die eine, mal die andere Seite irgend
einen strategisch wichtigen Berg oder irgend ein Dorf zu
erobern.
Durch den Krieg wurde alles anders, vor allem natürlich für
die jungen Männer, die ihr Leben aufs Spiel setzen mußten,
aber auch für uns jungen Mädchen, die wir im Hinterland
bleiben konnten und von den schrecklichen Geschehnissen an
der Front nur aus der Zeitung erfuhren. Die Zeit unbeschwerter
Vergnügungen war vorbei. Ich hatte das Glück, daß mein
Liebster noch nicht die Uniform trug. Doch das bedeutete nur
Aufschub. Ernst war gesund und mußte täglich mit der
Einberufung rechnen. So bekamen die Stunden, die wir
miteinander verbrachten, ein ganz anderes Gewicht. Wir
alberten seltener, redeten dafür öfter über wichtige Dinge. Als
Ernst den Weg ins Dessauer Ausbildungslager antrat, waren
wir ein vertrautes Paar und schworen uns, spätestens nach dem
Krieg zu heiraten. Da wußten wir noch nicht einmal, daß sich
dafür neben unserer Zuneigung noch ein zusätzliches Motiv
anbahnte.
Jetzt wird es Zeit, daß ich die Familie meines späteren
Ehemanns beschreibe. Sein Vater Friedrich Max hatte sich als
Beamter bei der Bahn zu einem verhältnismäßig hohen Posten
hinaufgearbeitet und galt bereits als ein angesehener Mann, als
er sich entschloß zu heiraten. Deshalb waren alle, die ihn
kannten, sehr verwundert, als er sich - anstatt auf eine gute
Partie zu warten - für die mittellose und zudem bescheidene,
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unauffällige Marie Ziegenhals entschied. Er hatte sich aber
durchaus überlegt, was er tat. Ihm ging es nicht um Reichtum
sondern um ein bequemes Leben. Die kleine, zierliche Frau
war ohne Mutter unter der Zucht eines strengen Vaters
aufgewachsen. Friedrich fiel es nicht schwer, sie sich zu
unterwerfen und fortan zumindest in seiner Wohnung zu
regieren wie ein orientalischer Pascha.
Für Marie brachte die Ehe wenig Gutes. Die vier Söhne, die
sie ihrem Mann gebar, nahmen, von ihrem Vater darin bestärkt,
die Wohltaten, die sie empfingen, mit gleichgültiger
Gelassenheit hin. Nur einer von ihnen war zarteren Gemüts und
fühlte, daß er seiner Mutter Dank schuldete. Als einziger
überraschte er sie zu ihrem Geburtstag und zu Weihnachten mit
kleinen Geschenken. Schon äußerlich unterschied er sich von
Mariens anderen Söhnen. Er hatte ein zartes Mädchengesicht,
feingliedrige Hände und dunkle, verträumte Augen.
Als der Krieg begann, war Paul - er trug den selben Namen
wie mein Bruder - knapp neunzehn Jahre alt. Er wurde sofort
einberufen und nach einer kurzen Ausbildung an die Westfront
geschickt. Von dort traf wenige Wochen später die Nachricht
ein:
"Auf dem Felde der Ehre gefallen."
Als Marie die lakonische Mitteilung las, verzog sie keine
Miene. Sie weinte nicht, erledigte ihre Arbeit wie sonst und
legte sich ins Bett, als wäre nichts geschehen. Über Nacht aber
wurden ihre dunklen Haare vollständig weiß.
Auch die Schulzes bekamen die Schrecken des Krieges zu
spüren. Auch sie erhielten nach den Schlachten des Herbstes
eine jener patriotisch-verlogenen Todesbotschaften. Unser Karl
war "für Kaiser und Vaterland" in Frankreich gestorben. Über
die Umstände seines Todes erfuhren wir allerdings zunächst
nichts. Die amtlichen Stellen verweigerten uns jede Auskunft.
Gegen Ende des Jahres 1914 kehrten die ersten Soldaten von
der Westfront für ein paar Tage Erholung in die Heimat
zurück. Sobald sie die Straße betraten, wurden sie umringt und
65
mußten unzählige Fragen beantworten, denn Tausende wollten
so wie wir etwas über das Schicksal verschollener Söhne oder
Brüder erfahren. Auf diesem Wege gelangte auch die Wahrheit
über Karl zu uns.
Er hatte sich an seinen Schwur gehalten und tatsächlich
niemals auf einen Menschen geschossen. Als man seine Einheit
an die Front verlegte, unternahm er einen Fluchtversuch. Zu
seinem Unglück lief er dabei jedoch einer Patrouille in die
Arme. In normalen Zeiten wäre er nun als Vaterlandsverräter
vor ein Kriegsgericht gestellt worden. Da die Front indes jeden
Mann brauchte, versetzte man ihn in eine Strafkompanie.
Deren Aufgabe bestand darin, in vorderster Linie nach Minen
zu suchen. Bei einem der Einsätze wurde er in Stücke gerissen.
In die Statistik ging er als Held ein. Fahnenflüchtige konnte die
Propaganda nicht gebrauchen.
Von Paul wußten wir monatelang noch weniger. Wir
erhielten keinen Brief von ihm, aber es deutete auch nichts
eindeutig darauf hin, daß er nicht mehr leben würde. Hin- und
hergerissen zwischen Bangen und Hoffnung fragten wir jeden
Uniformierten, dem wir begegneten. Niemand wußte etwas von
einem Paul Schulze. Dann hörte ich beim Einkaufen zufällig,
wie sich zwei Frauen über ihn unterhielten. Ich stellte mich
sofort zu ihnen und erfuhr so, wie es ihm ergangen war.
Nach Abschluß der Ausbildung brachte man die frisch
zusammengestellte Einheit mit der Bahn bis wenige Kilometer
vor die Front. Offensichtlich war die Truppenbewegung jedoch
von gegnerischen Aufklärern bemerkt worden. Kaum hatte der
Zug den Behelfsbahnhof erreicht, da setzte heftiger
Granatenbeschuß ein. Mehr als die Hälfte der Soldaten fand
keine Zeit mehr, sich in Sicherheit zu bringen. Die Waggons
zersplitterten. Zentnerschwere, stählerne Achsen wirbelten wie
Kreisel durch die Luft. Ein Hagel von Einschlägen wühlte die
Erde um. In diesem Inferno ging jede Ordnung verloren. Die
Sanitäter waren hoffnungslos überfordert und rannten - selbst
halb irre vor Angst - kopflos umher. Paul blieb mit
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aufgerissenem Bauch liegen. Er starb einsam unter unsäglichen
Schmerzen.
Pauls Tod traf unsere Eltern besonders hart, denn sie hatten
ihn gewissermaßen ein zweites Mal verloren. Einmal wurde ich
im Nebenraum zufällig Zeuge eines Gesprächs zwischen
beiden.
"Warum nur trifft es uns schon wieder?" fragte Vater.
"Vielleicht, weil du nicht zur Kirche gehst", versetzte
Mutter.
Zu einem anderen Zeitpunkt hätte Vater darauf wohl mit
einer ironischen Bemerkung reagiert. Vielleicht wäre er sogar
ärgerlich geworden. Diesmal jedoch blieb er nachdenklich.
"Nein, ich glaube nicht an Gott. Ich glaube also auch nicht
daran, daß er uns bestrafen kann. Die Frage war dumm gestellt
von mir. Der Zufall ist blind. Aber vielleicht hätten wir mehr
für unsere Kinder tun müssen, solange sie noch am Leben
waren. Verstehst du, was ich meine, Auguste? Wir dachten
immer: Sie sollen es einmal besser haben als wir. Nun sind sie
tot, und es nutzt ihnen nichts mehr, wenn es den Schulzes eines
Tages einmal so richtig gut gehen sollte."
"Was willst du? Sie hatten satt zu essen. Sie hatten
ordentliche Kleidung. Sie brauchten sich nicht zu schämen."
"Vielleicht reicht das nicht. Erinnerst du dich denn nicht
mehr? Paul ist nicht zu uns gekommen, als er nicht mehr weiter
wußte. Er hat uns nicht vertraut. Auch später, als Matrose ist er
uns nicht besuchen gekommen."
"Er hatte eben seinen Stolz."
"Ja - der verdammte Stolz der Schulzes! Wir wollen immer
vorn mit dabei sein, immer zu den Besten gehören, keine
halben Sachen machen. Keiner von uns wird je eine Schwäche
zugeben. Wir beiden haben uns niemals beklagt, und unsere
Kinder tun es auch nicht. Hoffentlich wird uns das nicht eines
Tages zum Verhängnis. Der Stolz hat nämlich bösartige
Geschwister - Einsamkeit, Kälte, Machtbessenheit ..."
Er seufzte, und damit war das Gespräch beendet.
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Je mehr der Krieg sich in die Länge zog, desto mehr geriet
auch das Hinterland mit in seinen Strudel hinein. Gustav,
Emmas Mann, hatte es dabei noch recht gut. Weil er als
Eisenbahner unabkömmlich war, brauchte er nicht an die Front.
Seine Arbeit veränderte sich kaum, sieht man einmal davon ab,
daß er jetzt hauptsächlich für den Transport von Soldaten,
Waffen und Munition Sorge trug.
Auch Vater arbeitete weiter in seinem Beruf, denn die
Kriegsindustrie brauchte neue Werkhallen, und für die
Gefangenen mußten Unterkünfte aus dem Boden gestampft
werden. Aber er hatte keine Freude daran. Zum einen war ihm
der Verwendungszweck seiner neuen Häuser zuwider, zum
anderen litt er darunter, daß er wegen der irrwitzig kurzen
Termine statt der in Köthen fast sprichwörtlichen Schulzeschen
Qualität nur noch Pfusch übergab.
Max wurde in den etwa fünfzehn Kilometer von Köthen
entfernten Braunkohlentagebau von Edderitz dienstverpflichtet.
Dort mußten die Halbwüchsigen an die Stelle der zur Front
geschickten Männer treten. Wie es ihm dort erging, das weiß
ich nicht genau, denn er redete kaum noch mit uns. Sicher fiel
ihm die schwere Arbeit nicht leicht, denn er war zwar groß,
aber schlank und keineswegs so kräftig wie seine Brüder.
Sicher fühlte er sich auch nicht glücklich, wenn er zum
Feierabend in die als Unterkunft dienenden, überfüllten
Baracken zurückkehrte. Alles in allem aber biß er sich offenbar
recht tapfer durch.
Ich arbeitete zu dieser Zeit in der Köthener Maschinenfabrik,
in der nun Granaten gedreht wurden. Die monotone Arbeit, bei
der wir nicht reden durften, bedrückte mich sehr, denn während
meine Hände wie im Reflex immer wieder die selben
Bewegungen ausführten, war der Kopf frei für endlose
Grübeleien. Was tat Ernst gerade? Dachte er oft an mich oder
nur manchmal? Hatte man ihn womöglich schon an die Front
versetzt? Wird er sich freuen, wenn er erfährt, daß ich ein Kind
von ihm erwarte? Oh, dieses Kind! Warum mußte es
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ausgerechnet in diesen schlimmen Zeiten auf die Welt kommen
wollen?! Noch wußte niemand von meiner Schwangerschaft.
Wie lange aber würde sie sich noch verheimlichen lassen?
Dabei war es nicht einmal die "Schande", vor der ich mich
fürchtete. Ich hatte vor allem Angst, sitzengelassen zu werden
und dann blamiert wie ein dummes Ding dazustehen.
Am schlimmsten freilich traf es Martha. Sie mußte in einer
Fabrik arbeiten, die mit hochgiftigen Chemikalien
Schwarzpulver produzierte. Ihr schönes, schwarzes Haar
bekam eine eigenartige, rötliche Färbung. Dann begann sie zu
husten, und schon nach zwölf Wochen war sie ernsthaft krank.
Sie magerte in erschreckendem Tempo ab und spuckte Blut.
Spätestens nun wußte Vater , daß ihn der Krieg ein drittes Kind
kosten würde, wenn er nichts unternähme.
Es war ein harter Kampf, den er nun auszutragen hatte, denn
den Behörden galt ein Menschenleben nicht mehr gar zu viel.
Er ließ aber nicht locker und erreichte endlich die
Dienstentbindung aus gesundheitlichen Gründen. Martha durfte
zurückkehren in die Farbenfabrik Musche, wo sie sich zum
Glück rasch wieder erholte.
Von Willi trafen mit erstaunlicher Regelmäßigkeit Briefe
ein, in denen er versicherte, daß es ihm gut gehe, daß er mit
einem baldigen Kriegsende rechne, und natürlich daß er
immerzu an seine daheimgebliebene Liebste denke. Das war
immerhin ein Trost. Dennoch litt Martha unter der Einsamkeit.
Das wiederum hatte ihr Verehrer, dem es irgendwie gelungen
war, sich sowohl vor dem Soldatsein als auch vor dem
Arbeitsdienst zu drücken, schon bald erkannt. Und diesmal war
er erfolgreich. Ohne daß ihr dabei einfiel, ihrem Willi wirklich
untreu zu werden, klammerte Martha sich mehr und mehr an
diesen Lebenskünstler fest. In einem Kriegswinter, in dem alle
nur noch von Tod und Verwundung redeten, riß er
unbekümmert seine Witze wie eh und je. Seine
Unbeschwertheit hielt sie für Optimismus.
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Eines Tages aber nahm Vater sie sich zu einem Gespräch
unter vier Augen beiseite. Zweifellos sagte er ihr dabei nicht
viel mehr, als ihr andere zuvor schon oft genug gesagt hatten.
Was sie denn suche bei solch einem Bruder Leichtfuß. Ob sie
nicht zu alt sei für derlei Kindereien. Ob sie für die
Albernheiten eines dummen Jungen ihr Glück aufs Spiel setzen
wolle. Wenn Vater das sagte, war das jedoch etwas ganz
anderes, zumindest für Martha, die ihn mehr liebte als jeden
anderen sonst. Schon am nächsten Wochenende erklärte sie
ihrem Verehrer, daß aus ihm und ihr nie ein Paar werden
könne, und daß es deshalb besser sei, erst gar nicht miteinander
anzubändeln. Er nahm das zwar nur als weiteren Aufschub
seiner Pläne zur Kenntnis, bedrängte sie aber in der Folgezeit
nicht mehr gar so sehr.
Am 24. Januar des neuen Jahres erhielt Martha von ihrem Willi
Glückwünsche zum Geburtstag. Bis dahin waren allerdings
noch immerhin sechs Tage Zeit. Er entschuldigte sich damit,
daß er wahrscheinlich in der kommenden Woche keine
Gelegenheit zum Schreiben haben werde und lieber zu früh als
zu spät gratulieren wolle.
Als Martha Tags darauf zur Arbeit in die Farbenfabrik ging,
empfing sie ihr Chef bereits am Werkstor.
"Haben Sie das Extrablatt schon gelesen?" fragte er.
"Nein", entgegnete sie zögernd. "Warum?"
"Gehen Sie zum Zeitungsverlag! Dort hängt es aus."
"Jetzt gleich? Sie meinen ... ?"
"Gehen Sie nur! Ich stelle Sie für heute frei."
Es kam selten vor, daß jemand von der Arbeit freigestellt
wurde, obwohl er gesund war. Dafür mußte ein gewichtiger
Grund vorhanden sein. Martha lief die Strecke bis zum
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Verlagsgebäude so schnell, daß sie ganz außer Atem kam.
Schon von Weitem sah sie, daß sich vor den Schaukästen eine
ungewöhnlich große Menschenmenge drängte. Als jemand die
junge Frau erkannte, ging ein Tuscheln durch die Reihen. Dann
gaben die Leute ihr den Weg frei. Spätestens jetzt bestand kein
Zweifel mehr, daß sie unmittelbar betroffen war von dem, was
sich da ereignet hatte.
"Panzerkreuzer Blücher gesunken!" konnte Martha noch
lesen, dann wurde ihr schwindlig.
Trotz des Todes ihrer beiden Brüder hatte sie niemals für
möglich gehalten, daß es auch Willi eines Tages treffen könnte.
Zu optimistisch waren seine Briefe immer gewesen. Die ab und
an in ihr aufflammende Angst hatte sie jedes mal verdrängt.
Nun half kein Selbstbetrug mehr. Wie sie nach Hause
gekommen war, konnte sie später nicht mehr sagen.
Erst am Abend fühlte sie sich stark genug, um sich den
Hergang erzählen zu lassen. Vater hatte inzwischen
Einzelheiten erfahren. An der Doggerbank, einer etwa dreißig
Kilometer langen und hundert Kilometer breiten Untiefe mitten
in der Nordsee, ankerte ein größerer englischer Flottenverband.
Die deutsche Admiralität faßte daraufhin den Beschluß, diesen
Verband überraschend anzugreifen und zu vernichten. Der
Funkspruch, der den entsprechenden Befehl an die Schiffe
weiterleitete, wurde jedoch abgehört und entschlüsselt. Die
Engländer hatten dadurch genügend Zeit, sich in
Schlachtordnung aufzustellen und Verstärkung heranzuführen.
Das Überraschungsmoment in der Seeschlacht lag also nicht
wie geplant auf der Seite der Deutschen sondern auf der ihrer
Gegner. Der Angriff wandelte sich rasch in ungeordnete
Flucht. Während die kleineren und wendigeren Kreuzer mit
knapper Not entkamen, wurde die "Blücher", das schwer
gepanzerte Flaggschiff des Verbandes, von mehreren Torpedos
und Dutzenden Granaten getroffen. Zu allem Unglück war die
Nordsee an diesem Tag stürmisch. Das Schiff sank derart
schnell, daß nicht einmal mehr Zeit blieb, die Rettungsboote
71
ins Wasser zu lassen. Es gab keinerlei Versuche, die Matrosen
zu retten. Wahrscheinlich wäre angesichts des eiskalten
Wassers ohnehin jede Hilfe zu spät gekommen. Von den über
900 Besatzungsmitgliedern überlebte kein einziger.
In Frankreich standen sich die Heere Anfang 1915 in einer
völlig festgefahrenen Frontlage gegenüber. "Im Westen nichts
Neues" hieß es dazu in den Zeitungen. Aber das war eine Lüge.
Der Krieg brachte Woche für Woche perversere Waffen
hervor. Die Hirne größenwahnsinniger Generäle und
Staatenlenker erdachten sich immer skrupellosere Methoden,
um das Blatt zu ihren Gunsten zu wenden. Hatte Europa nach
dem Jahrhundert der Aufklärung die Barbarei des
Feudalzeitalter für immer überwunden gewähnt, stand im
Frühling diesen Jahres aller moralischer Fortschritt wieder in
Frage - bei Ypern, als zum ersten Mal in der Geschichte der
Menschheit ein Massenvernichtungsmittel zum Einsatz kam.
Nach Ansicht mancher Wissenschaftler und auch mancher
Künstler war es der Chemie vorbestimmt, der Motor des
Fortschritts zu sein, des Wirtschaftlichen wie auch des
Gesellschaftlichen. Nun hatte sie für alle Zeit ihre Unschuld
verloren. Eine weitere Illusion war zerplatzt in diesem
unseligen Krieg.
Im Osten, wo inzwischen auch Ernst kämpfte, unternahmen
die Deutschen gemeinsam mit ihren Verbündeten aus
Österreich nach einem Erfolg in der Schlacht bei Tarnów und
Gorlice eine Offensive auf breiter Front. Die freilich blieb
stecken, so daß auch auf diesem Kriegsschauplatz keine
Entscheidung fiel und kein rasches Ende des Sichabschlachtens
zu erhoffen war.
Eine der selten gewordenen Gründe zur Freude für unsere
Eltern war die Geburt ihres ersten Enkelkindes. (Charlottes
Sohn, den sie kaum kennengelernt hatten, zählten sie nicht.)
Emma war Mutter eines Mädchens geworden, eines
ungewöhnlich niedlichen Babys mit großen, dunklen Augen,
das jeder, der es sah, sofort ins Herz schloß. Es erhielt den
72
Namen Gretchen. Als meine Schwester mit der etwa ein
dreiviertel Jahr alten Kleinen zum ersten Mal zu Besuch nach
Geuz kam, kannte das Glück keine Grenzen. Ein so
wunderschönes Kind in so häßlicher Zeit erschien uns wie ein
Wunder, wie ein unerklärliches Leuchten in einer verfinsterten
Welt. Solche Worte klingen heute ein wenig theatralisch, wir
dachten damals aber wirklich so.
Auch nachdem die beiden wieder abgereist waren, schwang
dieses Gefühl noch in uns nach. Lediglich Martha vermochte
sich nicht zu freuen. Sie geriet wieder in jenen Zustand, bei
dem sie wie von einer fremden Macht gesteuert wirkte.
"Ich bin ganz unruhig", erklärte sie auf unsere besorgten
Fragen hin. "Es muß etwas geschehen sein, irgend etwas mit
Emmas Mädchen."
Am nächsten Tag traf die Nachricht von Gretchens Tod ein.
Emma hatte etwas zu erledigen gehabt. Wie schon mehrmals
zuvor gab sie das Baby für diese Zeit zu einer Nachbarin, die
ihm Kartoffelpuffer fütterte. Als Emma nach ein paar Stunden
ahnungslos zurückkehrte, übergab sich die Kleine und litt unter
Erstickungsanfällen. Ihr Zustand verschlimmerte sich
bltzschnell. Auf dem Wege zum Arzt starb sie.
Die wahre Todesursache wurde nie geklärt. Gretchen hatte
den Kartoffelpuffer fast ohne zu kauen heruntergeschlungen.
Vielleicht war er ihr deshalb nicht bekommen. Vielleicht
stimmte etwas mit den Zutaten nicht. Auf dem Totenschein
stand lediglich "Zahnkrämpfe", eine damals weitverbreitete
Floskel, die nichts aussagt.
Daß bereits ein weiteres Enkelkind unterwegs war, wußten
meine Eltern da noch nicht. Bald aber konnte ich mein
Geheimnis beim besten Willen nicht mehr für mich behalten.
Ich wunderte mich ohnehin schon, daß meinen Zustand noch
niemand bemerkt hatte. Wohl oder übel mußte ich also
beichten. Hinterher war ich verblüfft, wie gelassen Vater und
Mutter reagierten. Auch meine zweite Befürchtung, nämlich
73
daß Ernst mich verlassen würde, traf zum Glück nicht zu,
wenngleich er nicht gerade in Begeisterung ausbrach.
Am ersten Juni gebar ich einen Jungen, der auf Mutters
Vorschlag hin den Namen Rudolf erhielt. Im Alltag nannten
wir ihn kurz Rudi. Ernst war zu dieser Zeit in der Garnison von
Danzig stationiert. Weil in Deutschland alles seine Ordnung
braucht, befahl man ihn in voller Dienstuniform zum
Standesamt, um dort in aller Form die Vaterschaft
anzuerkennen.
Es war typisch für die Verhältnisse in der Familie Max, daß
Marie von der Geburt ihres Enkelkindes, ja über die Existenz
einer festen Freundin ihres Sohnes, erst durch Zufall über
Dritte erfuhr. Sie zögerte nun keine Minute mehr, um nach der
Familie ihrer künftigen Schwiegertochter zu suchen. Als sie
den kleinen Rudi zum ersten Mal sah, meinte sie unwillkürlich:
"Wie unser Paul als Baby."
So hatte sie ihn auf Anhieb lieb, und das blieb auch so.
Etwas später lernten meine Eltern auch Friedrich, den Vater
meines Freundes kennen. Dabei vereinbarten sie, mich und
Ernst so schnell wie möglich miteinander zu verheiraten.
Obgleich sie uns unsere Voreiligkeit niemals vorwarfen,
wollten sie doch vermeiden, in dem kleinen Ort gar zu sehr ins
Gerede zu kommen. Die Formalitäten waren schnell erledigt.
Ernst bekam ein paar Tage Sonderurlaub zugesprochen. Dann
gaben wir uns auf dem Standesamt das Jawort und besiegelten
den Bund mit einem kleinen Essen im Kreise der beteiligten
Familien. Das alles war zwar durchaus feierlich, aber
keinesfalls so erhebend, daß die Erinnerung daran lange wach
bleiben konnte.
Mir erschien das alles viel zu nüchtern. Wenn ich schon
meine Freiheit aufgab, so sollte das wenigstens mit irgend
etwas Besonderem verknüpft sein. Schließlich setzte ich mir in
den Kopf, Ernst noch ein zweites Mal zu heiraten - in der
Kirche. Dabei konnte ich freilich nicht auf die Unterstützung
meiner Eltern rechnen. Vater war aus Prinzip gegen alles
74
Religiöse, und Mutter ordnete sich ihm unter. So ging ich denn
also persönlich zum Pfarrer und überredete ihn mit hundert
guten Worten, uns wider jede Bestimmung ohne Aufgebot von
einem Tag zum anderen einen Termin zu geben.
Am nächsten Morgen schlichen wir uns wie zu einer
krummen Tour heimlich aus dem Haus, Ernst in seinem
Alltagsanzug, ich in einem gewöhnlichen Sonntagskleid. In der
Kirche gab es weder Trauzeugen noch sonstige Gäste.
Nachdem der Pfarrer uns vermählt hatte, spielte der Organist
uns einen Choral. Das war schon die ganze Zeremonie.
Dennoch freute ich mich. Ich hatte meinen Willen
durchgesetzt.
War während der erfolgreichen Offensive in Belgien noch
bei einem Teil der Bevölkerung ein gewisses Maß an
Kriegsbegeisterung vorhanden gewesen, bei der Mehrheit
zumindest Einsicht in die Notwendigkeit des Angriffs, so sank
jetzt, achtzehn Monate später, die Stimmung spürbar. In den
Zeitungen standen kaum noch Erfolgsmeldungen, dafür fast
täglich lange Listen mit Namen gefallener Soldaten.
Tanzveranstaltungen wurden verboten, die Säle zu Lazaretten
umfunktioniert.
In einem dieser neuen Lazarette meldete ich mich als
Küchenhilfe. Für die Verwundeten - es waren mehrere hundert
allein dort - mußten frühmorgens Brote geschmiert und abends
Suppen gekocht werden. Die Chefin, eine ehemalige
Gastwirtin, die bei ihrer neuen Aufgabe die Nächstenliebe mit
einem gerüttelt Maß Geschäftsinteresse verband und sich
binnen weniger Monate ein Vermögen verdiente, achtete streng
darauf, daß sich ihre Untergebenen nicht dem Müßiggang
hingaben. Sie duldete auch keinen engen Kontakt zu den
Verwundeten. Mit mir war sie offenbar zufrieden, denn sie
steckte mir ab und zu abgezweigte Lebensmittel zu, ließ mich
also gewissermaßen teilhaben an ihrem Glück. In der Tat war
diese Zusatzration ein nicht zu unterschätzendes Privileg. Die
75
Versorgung funktionierte längst nicht mehr so wie vor dem
Krieg.
Durch die Arbeit im Lazarett konnte ich mich um Rudi nur
abends und am Sonntag kümmern. In der übrigen Zeit blieb er
Mutters Obhut überlassen. Das wiederum war nur möglich,
weil sich Hedwig, nachdem sie die Schule verlassen hatte, mit
einer Halbtagsstelle begnügte und so weiterhin im Haushalt
helfen konnte.
Über fast fünfzehn Jahre hinweg war die Aufgabe, Mutter
gewissermaßen die Hand zu ersetzen, einem Staffelstab gleich
von einem Geschwisterkind zum anderen gewandert. Nun blieb
sie bei der jüngsten Tochter hängen. Man könnte freilich auch
sagen, daß sie auf diese Weise Mutters Nachfolge antrat.
Tatsächlich sollte die kleine, eher unscheinbare Hedwig mit
ihrer späteren Familie die Chronik der Schulzes und ihrer
Nachkommen wesentlich mitbestimmen. Dabei blieb vieles
nicht so wie es einmal war, und es wurde auch anders, als
Vater es sich erträumt hatte. Doch das gehört schon ins nächste
Kapitel hinein.
Das Jahr 1916 war das schrecklichste des ganzen
Krieges - nachdem die Menschen schon geglaubt hatten, die
Greuel der zurückliegenden Monate ließen sich gar nicht mehr
steigern. Am 21. Januar begann die Schlacht um Verdun. Sie
dauerte volle fünf Monate und forderte unzählige Opfer auf
beiden Seiten. Ebenso lange und kaum weniger erbittert wurde
an der Somme gekämpft. Auf See verlegte man sich nach dem
unentschieden endenden Gefecht vor dem Skagerak auf den
heimtückischen Minen- und U-Bootkrieg. Es gab kaum noch
Familien, die nicht wenigstens einen ihrer Angehörigen
verloren hatten. Und noch immer war kein Ende abzusehen.
76
In jenem Jahr gebar Emma ihren Sohn Werner. Wir alle
hatten nun natürlich Angst, daß ihm ein ähnlich trauriges
Schicksal widerfahren könnte wie seiner Schwester. Die Sorge
war nicht unbegründet. In den Geschäften gab es fast nur noch
minderwertige oder gestreckte Lebensmittel. Wie konnten die
Eltern da sicher sein, daß sie ihr Kind nicht mit dem Breichen
vergifteten? Diesmal jedoch hatten die Schulzes endlich wieder
einmal ungetrübtes Glück. Das Baby entwickelte sich trotz
aller widriger Umstände gut.
Martha erholte sich allmählich von dem nach Willis Tod
erlittenen Schock und gewann ihren Charme zurück. Da sie an
Schönheit ohnehin kaum eingebüßt hatte, geschah es schon
bald, daß sich wieder ein Mann, der auch ihr gefiel, in sie
verliebte. Er hieß Karl Poschke und gehörte zu den wenigen
Glücklichen seines Alters, die selbst jetzt, da die Behörden
kaum noch Hinderungsgründe anerkannten, nicht an die Front
geschickt wurden. Er war ein so ausgezeichneter Facharbeiter,
daß die Rüstungsfirma, die ihn eingestellt hatte, auf ihn nicht
verzichten wollte und sich für ihn einsetzte.
Nunmehr galt Martha im Ort nicht mehr länger als
bedauernswertes Geschöpf sondern ganz im Gegenteil als
Glückspilz. So schnell kann die Meinung der Leute
umschlagen! Sie wurde plötzlich nicht mehr bedauert sondern
regelrecht beneidet. Immerhin waren junge Männer knapp
geworden in Deutschland. Kämpften sie nicht als Soldaten in
Frankreich, in Rußland oder bei der Marine auf hoher See,
dann hatten sie zumeist ein Gebrechen. Dem einen fehlte ein
Arm, dem anderen ein Bein. Wieder andere hatten ihr
Augenlicht verloren.
Es gab folglich allen Grund für unsere Eltern, den neuen
Bekannten ihrer Tochter freundlich aufzunehmen. Das taten sie
dann auch. Vater meinte, es sei ein gutes Zeichen, daß es nun
wieder einen Karl in der Familie gäbe, ein Zeichen dafür
nämlich, daß das Leben weitergeht trotz Krieg. Von einer
schnellen Heirat allerdings wollte Martha nichts wissen. Die
77
Erinnerung an Willi sei noch immer zu lebendig. Karl hatte
Verständnis dafür und versprach zu warten.
Die Kämpfe der deutschen Truppen an der Ostfront im Jahre
1916 gingen als die erste bis vierte Brussilow-Offensive in die
Geschichte ein. Sie brachten Geländegewinne, weil das
Russische Heer demoralisiert auseinanderzubrechen begann.
Letztlich aber war das für den Kriegsausgang belanglos. Die
Ostfront verlor zu Gunsten der Westfront zunehmend an
Bedeutung. Eine Einheit nach der anderen wurde verlegt,
schließlich auch jene, zu der Ernst gehörte.
In Frankreich geriet er bald mitten in ein mörderisches
Gefecht hinein. Gleich zu Beginn bekam er bei einem
Erkundungsgang einen Beinschuß. Die Wunde wurde von den
Sanitätern der vordersten Linie verbunden. Es gab aber
zunächst keine Möglichkeit, die Verletzten nach hinten in
Sicherheit zu bringen. Ernst mußte also mit den anderen im
Schützengraben bleiben. Als dieser Graben unter heftigem
Granatenbeschuß einstürzte, gelang es ihm im Unterschied zu
seinen Kameraden nicht mehr, rechtzeitig herauszuspringen. Er
wurde verschüttet und erlebte die wohl schlimmsten Stunden
seines Lebens. Man fand ihn erst bei Anbruch der Dunkelheit,
als die Kämpfe abgeflaut waren und Suchtrupps das Gelände
durchstreiften. Allerdings rettete ihm sein vermeintliches
Unglück wahrscheinlich das Leben. Von seiner Kompanie
kehrte nicht ein einziger in die Heimat zurück.
In seiner Meinung über den Krieg erinnerte Ernst mich an
meinen gefallenen Bruder Karl. Allerdings ging er nicht das
Risiko einer Fahnenflucht ein, sondern verweigerte sich so, daß
die Offiziere es nicht merkte, zum Beispiel indem er beim
Schießen absichtlich falsch zielte. Er sah nie einen Sinn in den
Kämpfen und dachte weit mehr ans Überleben als ans Siegen.
Nachdem er aus dem Lazarett entlassen werden konnte,
bekam einen kurzen Genesungsurlaub. Dann schickte man ihn
nach Duisburg zur Arbeit in einer Rüstungsfabrik. Duisburg
liegt weit weg von Köthen. Ich hätte ihn dort nur alle paar
78
Wochen besuchen können. Das hielt ich nicht aus, zumal damit
zu rechnen war, daß die Militärs sich bald wieder an ihn
erinnerten und ihn zurück an die Front schickten.
Also beschloß ich, ihn im fernen Duisburg zu suchen und
alles Menschenmögliche zu unternehmen, um in seiner Nähe
bleiben zu können. Die Adresse des möblierten Zimmers, das
er zusammen mit einem Arbeitskollegen bewohnte, kannte ich.
Die Wirtin erwies sich als eine freundliche, verständnisvolle
Frau und ließ mich auf die Rückkehr der beiden Männer
warten.
Ernst war ziemlich verblüfft, als er sich mir am Abend
plötzlich gegenübersah, obwohl er ja inzwischen eigentlich an
die schnellen Entschlüsse seiner Frau hätte gewöhnt sein
müssen. Wir bummelten noch knapp zwei Stunden durch die
Stadt und plauderten miteinander. Dann verabschiedeten wir
uns bis zum nächsten Tag. An diesem nächsten Tag gab es für
mich eine Menge zu erledigen, denn ich war schließlich nicht
nur für einen kurzen Besuch gekommen. Zunächst fragte ich
bei der Rüstungsfabrik nach, ob sie dort noch Arbeitskräfte
suchten. Man brauchte tatsächlich noch Leute, und weil ich
gesund und kräftig aussah, wurde ich eingestellt.
Anschließend redete ich mit der Wirtin. Jetzt kam mir
zugute, daß ich Ernst gegen den Willen meiner Eltern auch
kirchlich geheiratet hatte. Die Frau war streng katholisch und
ließ sich auf mein Ansinnen nur ein, weil offenkundig die
rechte Moral gewahrt blieb. Alles Weitere regelte sich fast von
selbst. Der Arbeitskollege wechselte in ein Mansardenzimmer.
Ich zog zu Ernst. Wir konnten die Abende, die Nächte und die
Sonntage miteinander verbringen und sogar gemeinsam zur
Fabrik gehen. So hatten wir uns mitten im Kriegsinferno eine
Nische für unser junges Eheglück geschaffen.
Anfang 1917 verschob sich das Kräftegleichgewicht der
Kriegsparteien zu Ungunsten Deutschlands. Im Februar begann
in Frankreich der Rückzug in die sogenannten
"Siegfriedstellung". Die Generäle waren nur noch bemüht, von
79
dem über zwei Jahre zuvor eroberten Gebiet so viel wie
möglich zu behalten. Anfang April trat die USA in den Krieg
ein. Es nutzte den Deutschen nicht mehr viel, daß in Rußland
eine Revolution ausbrach und die Armee an planvollen
Operationen gegen äußere Gegner hinderte.
Spätestens jetzt, unter dem Eindruck dieser Ereignisse,
verweigerte auch das deutsche Volk mehr und mehr seinem
Kaiser die Gefolgschaft bei dessen wahnwitzigen
Weltherrschaftsplänen. So sehr die Propaganda auch dagegen
anzukämpfen versuchte, konnte doch bald jeder erkennen, daß
dieser Krieg sich nicht mehr gewinnen ließ, und daß folglich
die Tausenden Gefallenen völlig sinnlos gestorben waren. Es
gährte vor allen unter denen, die am meisten zu leiden hatten,
unter den Arbeitern und unter den Frontsoldaten.
Im Sommer feierten wir den zweiten Geburtstag des kleinen
Rudi. Er hatte inzwischen laufen gelernt und brauchte nicht
mehr Tag und Nacht betreut zu werden. Die junge Frau, an die
Vater die Wohnung im Obergeschoß vermietet hatte, nahm ihn
hin und wieder zu sich und versorgte ihn dann zusammen mit
ihrem eigenen Kind. Das alles war eine spürbare Entlastung für
Mutter, so daß sie nunmehr auf die ständige Hilfe ihrer
jüngsten Tochter verzichten konnte. Hedwig gab die
Halbtagesstelle auf und begann, wie ihre Schwester Martha in
der Köthener Farbenfabrik zu arbeiten.
Ein paar Monate später bekam sie jedoch ein anderes
Angebot. Die Frau des Fabrikbesitzers war an den Rollstuhl
gefesselt. Das Dienstmädchen, das sie bisher gepflegt hatte,
erwartete ein Kind und stand nicht mehr zur Verfügung. Bei
der Wahl für eine Nachfolgerin wollte der Unternehmer nicht
dem glücklichen Zufall vertrauen und suchte sich deshalb
jemanden aus unter seinen Arbeiterinnen. Er sprach Hedwig
an, und die erklärte sich nach kurzer Bedenkzeit einverstanden.
Freilich erwies sich die Aufgabe bald als unerwartet schwierig.
Die unheilbar kranke Frau war launisch und neigte zu
80
Depressionen. Wer mit ihr über längere Zeit gut auskommen
wollte, brauchte viel Geduld.
Als ich eines Abends mit Ernst in unser Zimmer in Duisburg
zurückkehrte, fanden wir auf dem Tisch ein amtliches
Schreiben. Da wußte ich sofort, daß die schöne Zeit, die wir
miteinander verbracht hatten, nun vorbei war. Unsere
Hoffnung, der Krieg werde rechtzeitig zu Ende sein, erfüllte
sich nicht. Ernst mußte sich schon am nächsten Tag bei seiner
neuen Einheit melden. Ich kündigte das Zimmer und setzte
mich in den nächstbesten Zug in Richtung Köthen. Vor mir
lagen neue Monate der Ungewißheit und der Angst.
Im Sommer des Jahres 1918 waren die Heere der
"Mittelmächte" Deutschland und Österreich so weit
ausgeblutet, daß sich die Niederlage endgültig nicht mehr
abwenden ließ. Darüber konnte auch der Friede von BrestLitowsk nicht hinwegtäuschen. Er kam nur zustande, weil das
junge Sowjetrußland den Frieden um nahezu jeden Preis
brauchte. Die Westfront stand unmittelbar vor dem
Zusammenbruch und hielt nur noch Dank der über Jahre
hinweg ausgebauten Verteidigungsstellungen.
Anfang Oktober unterbreitete die deutsche Regierung
Waffenstillstandsangebote an die Engländer, Franzosen und
Amerikaner, um zu retten, was längst nicht mehr zu retten war.
In den folgenden Wochen überstürzten sich die Ereignisse. Die
Meuterei in der Hochseeflotte vor Wilhelmshaven löste eine
Kette weiterer Aufstände aus. Überall im Land bildeten sich
Arbeiter- und Soldatenräte. Das war die Revolution. Am
9. November erklärte Kaiser Wilhelm II seinen Thronverzicht.
Tags darauf floh er nach Holland ins Exil. In Berlin
konstituierte sich gleichzeitig eine provisorische Regierung, die
sich aus je drei Mitgliedern der SPD und der kurz zuvor
gegründeten USPD zusammensetzte. Einen weiteren Tag
später wurde ein Waffenstillstand ausgehandelt. Er schloß die
Räumung der besetzten Westgebiete und des linken Rheinufers
sowie die Aufhebung des Vertrages von Brest-Litowsk ein.
81
Wir alle waren überglücklich über das Ende des Krieges, der
uns Schulzes so viel Leid gebracht hatte. Es war uns dabei
völlig gleichgültig, wie teuer er hatte erkauft werden müssen,
dieser Frieden. Selbst, daß die Versorgung mit Lebensmitteln
katastrophal blieb, nahmen wir gelassen hin. Wichtig war nur,
daß Ernst gesund nach Hause zurückkehrte und daß Karl nun
endgültig nicht mehr befürchten mußte, doch noch eingezogen
zu werden.
Martha sträubte sich auch nicht mehr gegen die Heirat.
Natürlich konnten wir keine prächtige Feier organisieren. Doch
nicht immer ist es der materielle Glanz, der ein Ereignis mehr
oder minder wertvoll erscheinen läßt. So auch in diesem Falle.
Wir feierten mit der Trauung zugleich den Neubeginn - im
weitesten Sinne.
82
4. Kapitel
Liese erzählt
Es herrschte wieder Frieden in Europa. Wer jedoch Ende 1918
geglaubt hatte, daß es eine leichte Sache sein würde mit diesem
Frieden, den belehrte schon der Januar des neuen Jahres eines
Schlechteren. Noch immer starben junge Deutsche mit der
Waffe in der Hand im Vertrauen, einer guten Sache zu dienen,
nur verbluteten sie nicht mehr auf den Schlachtfeldern von
Frankreich und Rußland sondern mitten im eigenen Land in
den Straßen von Berlin.
Wie hatten die Menschen auch glauben können, daß ein so
schreckliches Ereignis wie der Weltkrieg mit ein paar wenigen
Erklärungen vorüber sei und in Vergessenheit gerate. Nein, die
Geister dieses Krieges gingen noch um, und sie sollten noch
viele Jahre lang umgehen. Schon schrien die ersten nach
Vergeltung. Eine Schmach gelte es zu tilgen.
Immerhin fanden sich die maßgeblichen deutschen Parteien
in Weimar zur Nationalversammlung zusammen, um sich auf
einen Konsens zu einigen und auf diese Weise dem Land nach
dem äußeren endlich auch den inneren Frieden zu geben. Es
war am Ende eine recht halbherzige Verfassung, auf die man
sich verständigen konnte, ein Kompromiß, der künftiges
Unheil im Keime schon enthielt. Doch die meisten Leute
damals waren zufrieden damit. Friedrich Ebert, der
Sozialdemokrat, wurde zum Reichspräsidenten gewählt, und in
diesem Amte blieb er bis zum Jahre 1925.
Schon aber wehte ein Unglück ganz anderer Art heran - die
Grippeepidemie. Ganz sicher wäre sie zu anderen Zeiten weit
weniger verheerend verlaufen. Die von den Entbehrungen der
Kriegsjahre ausgezehrten Menschen jedoch besaßen nicht mehr
genügend Widerstandskraft gegen die Krankheit und starben
83
familienweise. Im Volk munkelte man, die Lungenpest sei
zurückgekehrt. In vielerlei Hinsicht erinnerte das Bild
tatsächlich an die Seuchenkatastrophen des Mittelalters. Die
Leute brachen auf der Straße zusammen und starben oft binnen
weniger Stunden. Die Leichenhäuser waren überfüllt. Viele
Tote wurden hastig in Massengräbern verscharrt. Und niemand
durfte sich gefeit fühlen gegen den allgegenwärtigen Virus.
Wüßte ich nicht genau, daß das Schicksal blind ist, so würde
ich meinen, es hätte uns Schulzes gegenüber ausgleichende
Gerechtigkeit geübt - nach den schweren Prüfungen im Kriege
verschonte es uns diesmal. Schon recht bald hielt wieder ein
gewisses Maß an Normalität Einzug bei uns. Alltag bedeutete
freilich nicht, daß es von nun an nur noch glückliche Stunden
gab. Vater hatte in den Wirren des Krieges fast sein gesamtes
Vermögen verloren. Er mußte ganz von vorn wieder beginnen,
sein Bauunternehmen praktisch neu gründen und wußte nicht,
woher er das Geld dafür nehmen sollte. Oft fehlten die
einfachsten Dinge. Nicht einmal, daß wir genügend zum Essen
hatten, war eine Selbstverständlichkeit.
Auch alte Wunden rissen wieder auf. Das Verhältnis
zwischen Vater und Max spitzte sich zu. Der eine konnte nicht
verwinden, daß sein Sohn, in den er so große Hoffnungen
gesetzt hatte, sich nun damit zufrieden gab, als ungelernter
Arbeiter sein Leben zu fristen. Der andere fühlte sich von
seinem Vater verraten und verzieh ihm seinen Mangel an
Einfühlungsvermögen nicht. Beide hatten in gewisser Weise
recht und in gewisser Weise unrecht. Max war wegen seinem
Fleiß und seiner Zuverlässigkeit auch ohne höhere Bildung gut
angesehen. Anderseits glaube ich, daß er aus reinem Trotz
schon die geringste Weiterbildung ablehnte. Indem er
Gelegenheitsarbeiten annahm, die der Vater als Schande
empfand, wurde er gewissermaßen zu einer lebendigen
Anklage. Der Kampf der beiden gegeneinander belastete am
Ende den Frieden der ganzen Familie. So waren wir - ich muß
es gestehen - recht froh, als Max sich eine kleine Wohnung
84
suchte und uns verließ. Von diesem Moment an kam er nur
noch zu Besuch, wenn er wußte, daß Vater nicht da war. Mit
Mutter verstand er sich Zeit seines Lebens gut.
Großes Glück hatte Vater dagegen, als sich für unser
Grundstück in Geuz ein Mann interessierte, der im Krieg so
reich geworden war, daß Geld für ihn keine entscheidende
Rolle mehr spielte. Der günstige Preis erlaubte ihm, zum einen
ein neues Haus zu kaufen und zum anderen den Grundstock
zum Aufbau einer neuen Existenz zu legen.
Für mich und Ernst war das der letzte Anstoß, uns nach
einem eigenen Heim umzusehen. In dem neuen Haus hätten
wir zusammen mit unserem inzwischen vierjährigen Rudi
ohnehin nicht genügend Platz gefunden. Freilich waren es nicht
allein die praktischen Gründe, die mich anspornten, recht bald
eine passende Wohnung zu finden. Ich bin ein Mensch, der
sich nicht unterordnen mag. Es hätte also früher oder später
Unfrieden mit den Eltern gegeben. Wie sich bald herausstellte,
bot schon allein die Tatsache, daß wir in der selben Stadt
wohnten und nach wie vor manches gemeinsam erledigten,
genügend Anlaß für kleinere und auch größere Streitereien.
Für uns alle hieß es also nun, Abschied zu nehmen von
unserem geliebten Geuz. Leicht fiel das wohl niemandem.
Zwanzig Jahre unseres Lebens hatten wir dort verbracht. Jedes
Zimmer, jeder Winkel des Gartens, jede Straße des kleinen
Ortes erinnerten an irgend eine Begebenheit. Wieviel Male
waren wir an heißen Tagen im Dorfteich baden gegangen?!
Diese Wand dort hatte ich seinerzeit in tiefer Empörung über
einen bösen Spielkameraden mit großen, schwarzen
Buchstaben verunziert. In jenem Haus wohnte ein Mann, der
für ein paar Wochen einmal meine große Liebe gewesen war.
Ich lief umher und mußte schmunzeln und weinen zugleich.
Die Eltern zogen gemeinsam mit Martha und Hedwig, den
beiden letzten noch bei ihnen lebenden Kindern, sowie
Schwiegersohn Karl vom Dorf gewissermaßen direkt ins Herz
Köthens, an den Schloßplatz. Seitlich des Hauses liegt das
85
ehemalige Prinzessinnenpalais. Direkt gegenüber führt eine
breite Brücke, die den Ringgraben überspannt, zum
Hauptportal des eigentlichen Schlosses. Freilich hatten sich die
altehrwürdigen Gemäuern seit dem Auszug derer von KöthenAnhalt manch demütigenden Nutzungswandel gefallen lassen
müssen. Der prächtige, im Stile des Rokoko ausgestaltete
Spiegelsaal wurde immerhin noch gelegentlich für Konzerte
genutzt. Der Marstall jedoch, ehemals Quartier edler Rösser
und schmucker Kutschen, beherbergte jetzt die Zugpferde eines
Fuhrunternehmers. In einem anderen Flügel wurden
Gymnasiasten mit mathematischen Formeln und lateinischen
Vokabeln vollgestopft. Am schlimmsten hatte es jene Gebäude
erwischt,
die
sich
zum
Amtsgericht
und
zum
Untersuchungsgefängnis degradiert sahen.
Es war also längst vorbei mit der einstigen Herrlichkeit, als
die Schulzes zum Schloßplatz zogen. Das hieß aber nicht, daß
man sich dort nicht wohl fühlen konnte. Ganz im Gegenteil!
Wer vorn aus dem Fenster blickte, der sah soviel Grün, daß er
kaum glauben mochte, inmitten einer Stadt zu sein. Die hohen
Bäume und dichten Sträucher, die sich um das Denkmal des
Fürsten Ludwig gruppierten, vertrieben rasch die Sehnsucht
nach dem Dorf.
Übrigens hat sich jener Fürst Ludwig Verdienste erworben
für die Verbesserung der deutschen Sprache. Unglücklicher
Weise sind seine Bemühungen ausgerechnet in seiner Heimat
nicht auf fruchtbaren Boden gefallen. Wer einmal in die
Gegend kommt und dabei Gelegenheit findet, sich mit
Einheimischen zu unterhalten, kann sich davon noch heute
leicht überzeugen.
Das Haus am Schloßplatz hatte eine verhältnismäßig große
Grundfläche, war jedoch deutlich niedriger als die
Nachbargebäude und wirkte dadurch ein wenig geduckt. Vater
störte das nicht, denn er wollte, sobald er genügend Geld
besäße, auf dem Grundstück ein neues, viel schöneres Haus
bauen, eines aus soliden Klinkersteinen, das sich dann nicht
86
mehr bescheiden und verschüchtert ausnehmen würde. Das
blieben allerdings Wunschträume. Das Haus steht noch heute
so wie damals an seinem Fleck und wird es wohl inzwischen
auf ein stattliches Alter von rund 300 Jahren gebracht haben.
Bekanntlich kommt es gar nicht so selten vor, daß ganz
unscheinbaren Menschen irgend ein Geheimnis innewohnt,
durch das sie schlagartig äußerst interessant erscheinen, sobald
jemand davon erfährt. Ähnlich verhält es sich mitunter auch
mit leblosen Dingen. Im Keller jenes niedrigen, grauen Hauses
begann ein Geheimgang, der direkt ins Schloß führte. Als die
Behörden von seiner Existenz erfuhren, stellten sie das
ansonsten
völlig
unbedeutende
Gebäude
unter
Denkmalsschutz, vorsorglich gewissermaßen. Später wurde der
Eingang solide zugemauert - weil vor allem Hedwig sich schier
zu Tode graulte bei der Vorstellung, die Bösewichte aus dem
Untersuchungsgefängnis könnten durch die eigene Wohnung
Fluchtversuche unternehmen. Es war damals nicht die Zeit
danach, romantischen Phantasien nachzuhängen. Ganz
vergessen allerdings konnten wir sie nie, jene mysteriöse
Verbindung. Wer mochte einst gewohnt haben in dem kleinen
Haus am Schloßplatz? Ein Geheimagent des Fürsten vielleicht?
War womöglich einmal einer der hochadligen Herren auf
diesem Wege einem Ring von Belagerern entkommen? Ich
weiß es nicht, und ich werde es wohl auch nicht mehr
herausfinden.
Obwohl die Eltern vorerst keine hohen Ansprüche stellten,
konnten sie das Haus nicht sofort nutzen, denn es war in einem
ziemlich heruntergekommenen Zustand. Hier mußte der Putz
ausgebessert, dort eine Zwischenwand neu gezogen werden.
Hinzu kamen das Malern und Tapezieren. Kaum jedoch war
die Farbe getrocknet, wurde umgezogen. Viele Arbeiten
blieben liegen und konnten erst im Laufe der Jahre nach und
nach erledigt werden.
Im Erdgeschoß waren die Räume zu beiden Seiten eines
Korridors verteilt. Links befand sich vorn die Küche. Dahinter
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lag ein Zimmer, welches Mutter und Hedwig zum wohnen und
schlafen nutzten. Gegenüber zogen Martha und Karl, die
beiden jungen Eheleute, ein. Karl, der goldene Hände besaß
und sich in fast allen Gewerken auskannte, verwandelte die
weitestgehend
abgeschlossene
Wohnung
in
ein
Schmuckkästchen. Martha unterstützte ihn dabei tatkräftig.
Das Obergeschoß bestand eigentlich aus vier Zimmern. Drei
davon jedoch waren praktisch unbewohnbar und ließen sich so
rasch auch nicht sanieren. Nur den größten der Räume brachte
Vater in Ordnung und richtete sich darin sein Büro ein.
Zumeist schlief er auch dort.
Vaters Bauunternehmen kam ganz langsam wieder in Gang.
Freilich hatte er dabei ständig mit unzähligen ungewohnten
Schwierigkeiten zu kämpfen. Das Baumaterial war zumeist
entweder minderwertig oder überteuert. Auch gute Maurer
ließen sich kaum mehr auftreiben. Zu viele von ihnen hatte der
Krieg verschlungen. Wichtig aber war vorerst nur, daß Vater
überhaupt wieder Häuser bauen und verkaufen konnte, wichtig
für ihn selbst und für die Familie.
Muß man schon das Haus am Schloßplatz bescheiden
nennen, so traf dies erst recht zu für die kleine Wohnung, in die
ich zusammen mit Ernst einzog. Auch die erste Einrichtung
war nicht gerade vom Feinsten. Mir jedoch kam es vor allem
darauf an, daß ich mein eigenes Reich hatte und darin schalten
und walten konnte, wie ich mochte.
Natürlich zögerte ich auch nicht, meinen kleinen Rudi zu mir
zu holen. Er war ein wirklich niedlicher Junge geworden, mit
zartem, feingliedrigen Gesichtchen und hellblondem, seidigem
Haar. Ich kaufte ihm die hübschesten Anziehsachen und war
richtig vernarrt in ihn. Da tat es mir schon ein wenig weh, daß
ich ihn frühmorgens in den Kindergarten geben mußte, um
arbeiten gehen zu können. Ohne meinen Zuverdienst hätte das
Geld jedoch nicht gereicht.
Schlimmer freilich als diese Trennung für wenige Stunden
war etwas anderes, etwas, das es schon lange gab - nicht
88
wahrgenommen von mir - und das noch lange fortwirken sollte.
Bis heute kann ich es nicht recht benennen. Ganz sicher hatte
ich irgend etwas falsch gemacht. Vielleicht war ich manchmal
ungerecht zu ihm gewesen, unbewußt. Daß das niemals in
meiner Absicht lag, das zumindest kann ich schwören.
Wie dem auch gewesen sein mochte - wir wurden einander
fremd. Zuerst merkte ich es nur daran, daß er seine Großmutter
mehr liebte als mich. Nach einem Besuch auf dem Schloßplatz
kam es vor, daß er nicht nach Hause zurückkehren wollte.
Dann wurde er widerspenstig und überempfindlich. Durch den
Krieg bedingt, war ich oft abwesend von Köthen. Vielleicht
hatte er dadurch zu lange in der Familie meiner Eltern gelebt.
Später bekam ich ein besseres Verhältnis zu ihm. Er war ein
guter Schüler, zielstrebig und verlässlich. Er half mir beim
Zeitungaustragen und betreute liebevoll seine kleinen
Geschwister.
Frieden hieß natürlich auch, daß es wieder erlaubt war, sich
in aller Öffentlichkeit zu amüsieren. Vor allem die Jugend
machte
davon
reichlich
Gebrauch.
Die
teilweise
zweckentfremdeten Tanzsäle hatte man schnell wieder
hergerichtet. Kapellen gab es ohnehin genug. Das war eine
ziemlich verrückte Zeit damals. Neue Tänze kamen auf, von
denen die älteren Leute meinten, man solle sie verbieten.
Von uns Schulzegeschwistern konnte nur Hedwig dieses
Vergnügen gänzlich auskosten, denn nur sie war noch
ungebunden. Tatsächlich brach sie fast jeden Sonntag zu irgend
einer der zahlreichen Veranstaltungen auf. Die Eltern ließen sie
gewähren.
Eines Tages wurde ein junger Mann auf sie aufmerksam. Er
stand an der Theke und trank gerade ein Glas Bier, als es über
ihn kam wie ein Blitz. Zu seinem Freund sagte er, jeden
Zweifel von vornherein ausschließend:
"Sieh mal die Kleine dort! Das wird meine Frau."
Der Freund jedoch lachte nur.
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"Nie im Leben schaffst du das!" meinte er und streckte die
Hand zur Wette aus.
Otto Bartlitz, so hieß der junge Mann, war ein kräftiger
Bursche, etwas derb aber nicht ungebildet, sehr selbstsicher im
Auftreten, kurzum ein Typ, wie viele Frauen ihn mögen. Nur
an diesem Ort gab er keine so glückliche Figur ab, denn - er
konnte nicht tanzen. Was sollte er nun tun? Verzichten? Sich
dem Gespött seines Freundes aussetzen? Nein, das war nicht
nach seiner Art. Statt dessen nötigte er seine Schwestern, ihm
in einem Schnellkurs die Grundzüge beizubringen von all dem,
was man so können mußte auf dem Tanzboden. Walzer,
Rheinländer, Polka. Er wollte alles wissen und lernte verbissen
wie ein Student vor dem Abschlußexamen.
Dann kam der große Tag. Otto zog sich seinen besten Anzug
an und trat heran an seine Liebste, die ihn noch gar nicht
kannte. Galant, wie er es vor dem Spiegel einstudiert hatte,
forderte er sie auf. Dann ließ er keinen Tanz mehr aus. Sobald
ein anderer sich in ihre Nähe wagte, trat er dazwischen. Er
bewachte sie geradezu, und da er einer war, mit dem sich
niemand gern anlegte, hatte er tatsächlich die junge Frau für
diesen Abend ganz für sich allein.
Hedwig wurde das alles allmählich ein wenig unbehaglich.
Obwohl sie leidenschaftlich gern tanzte, war sie im Grunde
scheu und schüchtern. Sobald sie spürte, daß ein Mann es ernst
mit ihr meinte, wurde sie feuerrot und suchte das Weite. Diesen
Bären jedoch wurde sie nicht so leicht wieder los. Sie
schwankte hin und her zwischen Angst und Vergnügen. Er war
wirklich drollig, wie er sich verzweifelt bemühte, so
schwerelos zu wirken wie die geübten Tänzer ringsum, und
dennoch immer wieder seiner Partnerin auf die Füße trat.
Zugleich aber brachte er einen Besitzanspruch zur Geltung, der
sich eigentlich durch nichts rechtfertigen ließ. Je länger der
Abend dauerte, desto mehr gewann die Angst die Oberhand.
Ein Gespräch kam nicht einmal im Ansatz zu Stande. Als
Hedwig endlich zu Hause in ihrem Bett lag, fühlte sie sich wie
90
aus der Gewalt eines bösen Drachen erlöst - und träumte
dennoch höchst angenehm von dem jungen Mann, für den es
auf der großen, weiten Welt offenbar nur sie gab.
Am nächsten Sonntag ging Hedwig mit klopfendem Herzen
zum Tanz. Was wünschte sie sich eigentlich? Wollte sie ihn
wiedersehen oder nicht? Im Saal brauchte sie nicht lange nach
ihm zu suchen. Er hatte auf sie gewartet und begrüßte sie schon
an der Tür. Selbstverständlich verlief der Abend wieder genau
so wie der eine Woche zuvor. Eifersüchtig gab er sie keine
Minute frei.
Bald schon wußte Otto, wo Hedwig wohnte und zu welcher
Familie sie gehörte. Er erforschte, worüber sie sich freute und
welche Sorgen sie hatte. Dabei entging ihm auch nicht, wie
schwer Mutter Schulze das Wirtschaften noch immer fiel.
Lebensmittel waren nach wie vor knapp, gute und gesunde
allemal. Das brachte ihn auf eine Idee. Er arbeitete als
Fleischer auf einem Schlachthof und kam dadurch an manches
heran, wovon viele andere nur träumen konnten.
Drei Tage später stand er mit einem dicken Paket vor dem
Haus und klopfte an die Fensterscheibe. Hedwig ging hinaus,
wurde furchtbar verlegen, als er das Geschenk überreichen
wollte, und lehnte entschieden ab. Drinnen fragte die Mutter
sie, was der fremde Herr gewollt habe.
"Auch, der verfolgt mich schon seit Wochen. Jetzt glaubt er,
daß er mich mit einem Fleischpaket ..."
"Du hast ihn doch nicht einfach so wieder weggeschickt?!"
"Natürlich habe ich das!"
"Aber Mädel! Er hat dir nichts getan, also darfst du ihn nicht
beleidigen."
Mutter sah nur die praktische Seite der Angelegenheit, und
Hedwig blieb nichts anderes übrig, als erneut nach draußen in
den Vorgarten zu gehen, wo Otto geduldig noch immer
wartete.
Die Annahme des Geschenkes bedeute nun aber auch, daß
gemäß Sitte und Anstand der Verehrer den Eltern vorgestellt
91
werden mußte. Vater führte ihn sofort hinauf ins Obergeschoß
und zeigte ihm die drei ungenutzten Räume. Wahrscheinlich
dachte er: 'Wenn er zu unserer Familie gehören will, so soll er
auch sehen, daß es bei uns viel Arbeit gibt.' Während sie von
einem Raum zum anderen schlenderten, kamen sie miteinander
ins Gespräch. Otto war zwar kein Handwerker aber ein
Praktiker und ein Mensch der Tat.
"Da kann man was draus machen", versicherte er und hatte
auch gleich etliche gute Vorschläge parat.
Die kleine Fachsimpelei wurde zum Ausgangspunkt einer
echten Männerfreundschaft. Was die beiden so fest miteinander
verband, ist nicht ganz leicht zu verstehen, vor allem wenn man
Vaters Vergangenheit mit Ottos späterer Entwicklung
vergleicht und dabei die landläufigen Wertungen zu Grunde
legt. Pauschalurteile sind aber ohnehin selten geeignet, einem
Menschen gerecht zu werden. Offensichtlich hatten die beiden
Männer eine Reihe Gemeinsamkeiten: die Tatkraft, den Mut
zum kalkulierbaren Risiko, schließlich das Talent und den
Willen zu führen und Verantwortung zu übernehmen. Damit
war nicht nur entschieden, daß Otto sein Ziel erreichen und
Hedwig heiraten würde, es war auch das künftige
Familienoberhaupt gefunden.
Die Hochzeit wurde im Kreise der Familie gefeiert. Außer
den Köthenern kamen aus Berlin Emma und Gustav mit dem
kleinen Werner sowie aus Hannover Franz und Henny, bei
denen es inzwischen einen Sohn mit Namen Kurt gab. Nach
der Feier begannen Otto und Hedwig gleich mit dem Ausbau
der Zimmer im Obergeschoß, die einmal ihre Wohnung werden
sollten. Bis es dort ähnlich gemütlich war wie im Erdgeschoß,
vergingen allerdings noch ein paar Jahre.
92
Kinder sind zweifellos der deutlichste Ausdruck der
Zuversicht. Im ganzen Land stieg in den Jahren nach dem
Krieg die Geburtenrate stark an. Die Schulzes bildeten dabei
keine Ausnahme. Bei ihnen wuchs gewissermaßen eine neue
Generation heran. Unser Rudi, Emmas Werner und Franzens
Kurt bekamen neun Geschwister, Cousins und Cousinen. Franz
nannte seine beiden jüngsten Kinder nach seinen beiden
Lieblingsgeschwistern - Karl den Jungen und Hedwig das
Mädchen. Martha und ihr Mann Karl - ein Name der sich bei
den Schulzes in einer recht verwirrenden Weise
häufte - wurden durch die Geburt der kleinen Marthe, die
eigentlich genau so hieß wie ihre Mutter, bei der man aber zur
Unterscheidung den letzten Buchstaben änderte, zu einer
vollständigen Familie.
Geburten waren freilich auch gefährlich. Zwar hatte sich die
Medizin in den zurückliegenden Jahrzehnten so entwickelt wie
in den Jahrhunderten des gesamten Mittelalters nicht, doch war
der Wissensstand anderseits noch längst nicht mit dem
heutigen vergleichbar. Bei Emma, die schon einmal ein Kind
verloren hatte, gab es Komplikationen. Trotz tagelanger
Wehen, kam das Baby nicht auf die Welt. Der Hausarzt wußte
keinen Rat mehr und zog einen Spezialisten zu Rate. Selbst der
aber sah sich bald am Ende seiner Möglichkeiten. Daß
schließlich trotzdem sowohl Mutter als auch Kind überlebten,
grenzt an ein Wunder. Emma erholte sich nur langsam wieder
von den übermenschlichen Anstrengungen und dem
furchtbaren Blutverlust. So blühend wie bei ihrer glanzvollen
Hochzeit sollte sie nie wieder aussehen. Sie blieb hager und
wirkte fortan immer kränklich. Das Baby, es war ein Mädchen,
erhielt den Namen Irmgard.
Bald nach der Geburt ihres Töchterchens wurde Martha ein
zweites Mal schwanger. Die beiden jungen Eheleute freuten
sich sehr auf ihr zweites Kind und hofften, daß es diesmal ein
Sohn sein würde. Im achten Monat jedoch wurde Martha
plötzlich krank. Anfangs hatten alle noch gehofft, daß es nicht
93
allzu schlimm und noch vor dem Entbindungstermin vorüber
sein würde. Das hohe Fieber jedoch ging nicht zurück, was
immer man auch unternahm.
Als ich meine Schwester besuchen ging, sah sie schon so
schlecht aus, daß ich erschrak. Kreidebleich und reglos lag sie
in ihrem Bett. Ihre Augen hielt sie geschlossen. Schlief sie?
War sie bewußtlos? Nicht die geringste Reaktion von ihr
verriet mir, ob sie mein Eintreten überhaupt bemerkt hatte. Ich
setzte mich zu ihr und strich ihr behutsam ein paar Strähnen
ihrer Haare aus der Stirn, jener wunderschönen schwarzen
Haare, derentwegen die Jungen verrückt nach ihr gewesen
waren. Dann drückte ich ihr behutsam die Hand. Endlich
bemerkte sie, daß sich jemand in ihrer Nähe aufhielt. Sie
behielt zwar die Augen geschlossen, wandte aber den Kopf ein
klein wenig mir zu.
"Lieschen?" fragte sie.
Ihre Stimme klang fremd. Es war, als spräche sie aus einem
tiefen Brunnen heraus. Sie ging auch mit keinem Wort ein auf
das, was ich ihr sagte - als Trost gedachte Lügen, die zu
erfinden mir unglaublich schwer fiel. Offensichtlich hing sie
einer ihrer Visionen nach. Mit ihren geschlossenen Augen
blickte sie in eine mir verschlossene Welt.
"Sieh, Lieschen - dort steht ein großer Sarg und gleich
daneben ein kleiner. Es ist schade um den kleinen Jungen."
Als ich mich wenig später hinausschlich, zitterten mir die
Knie. 'Nein, diesmal wird sie nicht recht behalten!' redete ich
mir wieder und wieder ein. 'Diesmal nicht! Diesmal nicht!'
Martha war meine Lieblingsschwester. Ich konnte mir eine
Welt ohne sie nicht vorstellen.
Drei Tage später hatte Martha ihren dreißigsten Geburtstag.
Ich kaufte eine Flasche Rotwein für sie. 'Ganz sicher geht es ihr
schon wieder besser', sagte ich zu mir. 'Durch den Wein wird
sie wieder zu Kräften kommen. Alles wird wieder gut.' Am
Schloßplatz jedoch erfuhr ich, daß in der vorangegangenen
Nacht die Wehen eingesetzt hatten und Martha nun im
94
Krankenhaus lag. Ich lief zum Krankenhaus. Eine Schwester
bat mich höflich, einen Moment im Wartezimmer Platz zu
nehmen. Nach etwa einer Viertelstunde kam Karl.
"Vor ein paar Minuten ist sie eingeschlafen", sagte er nur.
Martha war genau an ihrem dreißigsten Geburtstag
gestorben. Ihr Sohn überlebte sie nur um wenige Stunden.
Auch diese Weissagung also hatte sich erfüllt. Allerdings
bekam das Baby keinen eigenen Sarg sondern wurde mit in den
der Mutter gebettet.
Es war geplant, Martha in aller Stille nur im Beisein der
nächsten Angehörigen zu beerdigen. Die Nachricht von ihrem
Tode hatte sich jedoch in Windeseile verbreitet. Als wir zum
Friedhof kamen, war dort schon eine solche Menge von
Menschen versammelt, daß es so aussah, als gelte es, einer
hochgestellten Persönlichkeit die letzte Ehre zu erweisen. So
viele Freunde hatte sich Martha im Laufe ihres kurzen Lebens
erworben.
Selbst das Wetter schien zu trauern. Gegen Abend begann
ein erbärmlicher Regen. Es war, als hätte der Himmel all seine
Schleusen geöffnet, und alle fürchteten, daß das Wasser bis in
den Keller liefe. In dieser abscheulichen Nacht hörte Mutter
plötzlich jemanden singen. Sie ging ans Fenster und sah
verschwommen dem Haus gegenüber eine Gestalt. Ein Mann
stand dort. Der Regen durchweichte seine Kleider, doch er
wich nicht von der Stelle. Wie auf einer Bühne stand er dort
und sang inbrünstig sein Lied. Es war eine Opernarie: "Martha,
Martha, du entschwandest und mit dir mein ganzes Glück." Er
sang nicht etwa wie ein Betrunkener. Seine Stimme klang hell
und klar. Nur das Pfeifen des Windes und das Peitschen des
Regens verunstalteten sie. Es war ein schauerlicher Gesang.
Der Musiker hatte Martha niemals vergessen können, nicht
nach ihrer Heirat, nicht nach ihrer ersten Geburt, nicht einmal
nach ihrem Tode.
Allerdings war ihr Tod auch mir lange Zeit unbegreiflich.
Etwas in mir weigerte sich, ihn als Tatsache hinzunehmen.
95
Statt am Schloßplatz besuchte ich meine Lieblingsschwester
eben nun auf dem Friedhof. Alles, was ich erlebte, Freudiges
wie auch Trauriges, das erzählte ich ihr an ihrem Grabe, und
manchmal war mir so, als hätte sie mir geantwortet. So hielt
ich mich viel öfter dort auf, als die Pflege, zu der ich mich
verpflichtet hatte, es erforderte.
Die kleine Marthe wuchs bei den Poschkegroßeltern heran.
Im Laufe der Jahre verloren wir mehr und mehr den Kontakt zu
ihr. Martha, die so sehr an ihrer Familie gehangen hatte, wäre
darüber gewiß sehr traurig gewesen. Karl verheiratete sich
wieder. So recht glücklich jedoch wurde er nicht. Die
Erinnerungen überschatteten die neue Ehe. Seine Frau, die sehr
wohl fühlte, was in ihm vorging, verlangte von ihm, daß er
sämtliche Bilder von Martha aus dem Hause schaffe. Damit
erreichte sie freilich eher das Gegenteil von dem, was sie
bezweckte. Die frei gewordene Wohnung im Haus am
Schloßplatz wurde an fremde Leute vermietet.
Bevor Martha starb, hatten unsere Eltern schon fünf ihrer
Kinder verloren - Richard und Agnes als Babys, Minna durch
eine heimtückische Krankheit, Karl und Paul schließlich im
Krieg. Dennoch traf dieser letzte Verlust sie wohl am härtesten.
Dieser Tod erschien ihnen besonders sinnlos. Er war zu einem
Menschen gekommen, der durch seine Fröhlichkeit
gewissermaßen die Personifizierung des Lebens zu sein schien,
und er war gekommen zu einer Zeit, als niemand von uns mehr
mit einem solchen Schicksalsschlag rechnete. Mutter wurde
noch stiller und verschlossener, als sie ohnehin schon war.
Vater löste wenig später sein Bauunternehmen endgültig auf
und übernahm nur noch Aufträge, die er allein bewältigen
konnte.
Allerdings bedeutet dies nicht, daß am Schloßplatz nun nur
noch Trübsal geblasen wurde. Es gab bald immerhin auch
wieder einen Grund zur Freude. Hedwig und Otto wurden
Eltern eines kräftigen Jungen. Er erhielt den selben Namen wie
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sein Berliner Cousin: Werner. Eigenartiger Weise hatte er als
einziger in der Familie rotblondes Haar.
Nun wird es Zeit, daß ich von meinen eigenen Kindern
berichte. Auch Rudi bekam nämlich Geschwister. Wenige
Monate vor Marthas Tod kam die kleine Elly auf die Welt. Ich
hatte mir als zweites Kind ein Mädchen gewünscht, und mein
Wunsch war somit in Erfüllung gegangen. Meine Freude aber
wurde schon bald von Sorgen überdeckt. Mein Töchterchen
erbrach sich bei fast allem, was ich ihr fütterte. Ich lief mit ihr
von einem Arzt zum anderen. Keiner von ihnen konnte mir
einen Rat geben. Elly wurde immer schwächer und es fehlte
nicht mehr viel, daß sie mir weggestorben wäre. Buchstäblich
im letzten Moment fand ein bekannter Frauenarzt die Ursache
heraus. Die Diät, die er anordnete, bestand im Wesentlichen
aus einer mit Kalbsknochen zubereiteten Kraftbrühe und
schloß Milchnahrung in jeder Form aus.
Als die Diät Wirkung zeigte, glaubte ich, daß nun alles
überstanden sei und Elly sich künftig ganz normal entwickeln
würde. Leider war das eine verfrühte Hoffnung. Ein paar
Monate später bedeckte sich der Körper des Kindes plötzlich
mit Geschwüren. Die Kleine schrie fast ununterbrochen. Damit
sie wenigstens ab und an zum Schlafen kam, mußte ich sie in
Watte einpacken. Ernst unterstützte mich, so gut er konnte.
Dennoch war ich bald mit meinen Nerven am Ende. Ich
richtete mich innerlich schon darauf ein, meine Tochter
niemals gesund zu sehen. Dann aber verschwanden die
Geschwüre plötzlich. Die Ernährungsstörungen hörten auf,
ohne daß die Ärzte eine schlüssige Erklärung dafür wußten,
und traten auch nicht wieder auf. Elly wurde zu unserer
Erleichterung ein rechtes Pummelchen.
Margarete, unsere zweite Tochter, war wesentlich robuster.
Sonst hätte sie wahrscheinlich nicht überlebt, denn
unglücklicher Weise brach ein halbes Jahr nach ihrer Geburt
die Geldwirtschaft in Deutschland zusammen. Die Inflation
entwertete den Lohn so schnell, daß die Frauen ihre Männer
97
jeden Abend am Fabriktor abfingen und sofort einkaufen
gingen. Die Arbeiter und kleinen Angestellten traf die Krise am
härtesten. Eine Hungersnot brach aus. Wie sollte ich unter
diesen Bedingungen einem Kind all das geben, was es brauchte
für seine Entwicklung?
Die politische Entwicklung der Weimarer Republik von ihrer
Gründung 1919 bis zu ihrem Untergang 1933 ist Gegenstand
unzähliger Geschichtsbücher. Immer wieder in den
vergangenen fünfzig Jahren dachten Menschen darüber nach,
wie es zu einer so schrecklichen Erscheinung wie der
Nazidiktatur hatte kommen können. Immer wieder entzündeten
sich kontroverse Diskussionen daran. Gibt es im deutschen
Volk einen Naturdrang zum Bösen? Sind die Großkapitalisten
schuld gewesen? Trägt womöglich eine kleine Gruppe von
Abenteurern aus der Umgebung Hitlers die alleinige
Verantwortung? War alles nur Zufall, nur ein Betriebsunfall
der Geschichte?
Zu welcher Sicht jeder Einzelne neigt, hängt zweifellos von
seinen ganz persönlichen Erlebnissen ab. Manchmal stellt man
im Nachhinein fest, daß man sich geirrt hat. Hinterher ist jeder
schlauer. Wir wurden damals überrollt von den Ereignissen.
Oft kämpften wir um die nackte Existenz und trafen unsere
Entscheidungen von einem Tag auf den anderen. Wenn es
besonders schlimm für uns aussah, sehnten wir uns nach einer
einfachen Lösung. Wer sie uns versprach, dem vertrauten wir.
Ist das unmoralisch? Vielleicht. Aber wer von denen, die uns
heute verurteilen, könnte so viele Entbehrungen auf sich
nehmen wie wir damals?
Bis 1923 verging kein Jahr ohne wenigstens ein bedrohliches
Ereignis, sei es ein wirtschaftliches, sei es ein politisches. Nur
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ein paar Monate nach der Gründung der Republik gab es unter
General Kapp bereits den ersten Putschversuch. 1921 legten
die Siegermächte des Weltkriegs die von Deutschland zu
zahlende Reparation fest - 269 Milliarden Reichsmark. Das
war eine gewaltige Summe. Wie sollte unser Volk das jemals
erarbeiten? Der Vertrag von Rapallo, der die Beziehungen zu
Rußland regelte, fiel verglichen damit recht günstig aus.
Dennoch gab es radikale Gegner. Der jüdische Außenminister
Walter Rathenau wurde deswegen ermordet.
Dann kam das Krisenjahr 1923. Wir konnten die
Nachrichten gar nicht so schnell begreifen, wie sie eintrafen.
Die Inflation schuf eine Not, die mancherorts selbst die
Situation der letzten Kriegsjahre übertraf. Die Franzosen
besetzten das Ruhrgebiet. Hitler unternahm seinen ersten
Umsturzversuch, der als "Marsch auf die Feldherrenhalle" in
die Geschichte einging. Die Kommunisten lieferten sich in
Hamburg Straßenschlachten mit der Polizei. Im September
verhängte die Regierung den Ausnahmezustand über das
Reich.
In schlechten Zeiten halten die Familien enger zusammen als
in guten. Das ist eine Notwendigkeit und heißt nicht, daß alle
einander im Grunde ihres Herzens wirklich mögen. Die
Spannungen entladen sich später, wenn der Zwang zum
Gemeinsinn nicht mehr besteht. Wir drei noch lebenden
Schulzetöchter hatten inzwischen geheiratet und damit den
Namen der Eltern abgelegt. Zwischen den neuen Familien gab
es jedoch so enge Verbindungen, daß man in gewisser Hinsicht
von einer Großfamilie reden kann. Wir besuchten einander
regelmäßig. Wir erwiesen einander kleine Gefälligkeiten.
Wenn es jemandem einmal besonders schlecht ging, standen
die anderen für ihn ein. Die umfangreichen Vorhaben
bewältigten wir gemeinsam.
Die Großfamilie - die ich noch heute in Gedanken ganz
selbstverständlich "die Schulzes" nenne, obwohl das, wie
gesagt, eigentlich gar nicht berechtigt ist - bot eine gewisse
99
soziale Sicherheit. Die Ärmsten profitierten davon natürlich am
meisten, und das waren eindeutig wir, die Maxens. So recht
glücklich war ich aber dennoch nicht. Wer am meisten nimmt,
hat am wenigsten zu sagen. Ein Mensch mit einem gewissen
Maß angeborener Unterwürfigkeit im Charakter mag sich in
eine solche Rolle vielleicht noch mit Gelassenheit schicken.
Ich aber war leider von gänzlich anderer Art. Ich litt
schrecklich darunter, die arme Verwandte zu sein, kam mir oft
geradezu vor wie eine Bettlerin.
Der Mittelpunkt der Schulze-Großfamilie war das Haus am
Schloßplatz. Dort trafen wir uns, wenn es etwas Wichtiges zu
bereden gab. Dort fanden die Feiern zu Ostern und
Weihnachten statt. Dort lernten die Kinder ihre Cousins und
Cousinen kennen. Kurzum - dort spielte sich im Wesentlichen
das Gemeinschaftsleben ab. Emma kam deshalb mit ihrer
Familie wenigstens fünfmal im Jahr für ein paar Tage von
Berlin aus dorthin. Ich war fast jeden Abend dort - sofern ich
mich nicht nach einem Streit aus Protest demonstrativ fernhielt,
was ziemlich regelmäßig vorkam. Emma hatte seltener Streit
als ich. Sie bewunderte Hedwigs Mann Otto und akzeptierte
jedes seiner Worte als unumstößliches Gesetz. Für sie war das
freilich auch leicht, denn sie wohnte weit weg in Berlin.
Otto Bartlitz übernahm am Schloßplatz mehr und mehr das
Regiment. Das bedeutete, daß er zunehmend auch versuchte,
seine Vorstellungen von Familienleben durchzusetzen. So
gefiel es ihm unter anderem nicht, daß seine Frau außer Haus
arbeiten ging. Hedwig wiederum wollte sich aber nicht in die
Küche verbannen lassen. Deshalb überredete sie ihren Mann,
auf dem großen Grundstück Stallungen zu errichten. So konnte
sie Verantwortung übernehmen und zum Unterhalt der Familie
beitragen. Auch sie hatte eben ihren Stolz. In den Stallungen,
die nun entstanden, konnten zehn Schweine gehalten werden.
Das Futter brachte Otto größtenteils vom Schlachthof mit.
Waren die Tiere dann schön fett, kamen acht von ihnen auf den
100
Markt. Die übrigen beiden lieferten Fleisch und Wurst für alle
"Schulzens".
Allerdings muß im Zusammenhang mit den Veränderungen
im Haus am Schloßplatz auch gesagt werden, daß Otto und
Hedwig die Eltern weiterhin sehr in Ehren hielten. Von der
Freundschaft zwischen den beiden Männern war schon die
Rede. Hedwig kochte für alle das Essen. Dafür durfte die junge
Familie mietfrei wohnen.
Da gerade von Otto die Rede war, möchte ich die
Gelegenheit nutzen, seine Familie kurz vorzustellen. Die
Bartlitzeltern waren aus Schlesien nach Köthen gekommen.
Zur Familie gehörten neben zwei Söhnen noch vier Töchter.
Ottos Bruder Hermann hatte zunächst einige Jahre lang in einer
Fleischerei gearbeitet, wo er seine Frau Bertha kennenlernte.
Ihr Meister hielt viel von ihnen. Das Verhältnis zu ihm war
schließlich sogar so gut, daß er ihnen mit einem Kredit zu
einem eigenen Geschäft verhalf. Weil sie mit etwas Glück
ziemlich erfolgreich wirtschafteten, konnten sie den Kredit
schon bald zurückzahlen und gelangten zu einem gewissen
Wohlstand.
Ida, die älteste der Schwestern, besaß einen kleinen
Gemüseladen. Ihr Mann arbeitete als Dachdecker. Emma kann
ich nicht gut einschätzen, denn ich kenne sie praktisch nur von
Erzählungen her. Diese Erzählungen wiederum waren fast alle
recht bösartig und vermutlich zumindest zum Teil unwahr.
Offensichtlich hatte sie sich in Berlin beim Inhaber der
bekannten Firma "Osram" vom einfachen Dienstmädchen
hochgearbeitet zu einer angesehenen Hausdame. Darüber, wie
ihr das gelungen war, mag ich hier nicht spekulieren. Auf jeden
Fall ging es ihr damals ausgezeichnet. Frieda fürchteten alle ein
wenig ihrer spitzen Zunge wegen. Sie arbeitete in einer Fabrik
und brachte von dort eine Menge Selbstbewußtsein mit. Das
übertrug sich später auf ihre Tochter Hilde, deren Einfluß auf
Elly und Gretchen mir manchmal Sorgen bereitete. Sehr viel
sensibler war dagegen Elschen, das jüngste der Geschwister.
101
Als sie ein uneheliches Kind erwartete, nahm sie sich das
Leben. Sie wurde gerade zwanzig Jahre alt.
Ein Höhepunkt im Leben unserer Großfamilie war das
Schlachtfest. Zu diesem Ereignis kamen immer auch die
Berliner. Jeder packte mit an, die Kinder eingeschlossen,
sobald sie das entsprechende Alter hatten. Die schweren
Arbeiten teilten sich Otto, Gustav und Ernst. Die Frauen
mußten für saubere Schüsseln und Töpfe sorgen und halfen
beim Zubereiten der Wurst. Die Kinder schließlich wurden auf
Zuruf mal hier, mal da eingesetzt. Selbstverständlich bekam am
Ende jede Familie einen Anteil an Fleisch und Wurst. Das war
ein unschätzbarer Vorzug in jenen schlechten Zeiten. Um die
Nachbarn, die uns natürlich beneideten, ein wenig zu
versöhnen, erhielt jeder von ihnen als Geschenk einen Topf mit
einer kräftigen Suppe, in der eine Wurst schwamm.
Ein anderes Beispiel für die familienübergreifende
Arbeitsteilung waren die großen Waschtage. Da Otto auf dem
Schlachthof immer tadellos sauber gekleidet erscheinen mußte,
anderseits aber die Arbeit recht schmutzig war, fiel bei ihm
immer ein ganzer Berg Wäsche an. Ich half gern. Immerhin
gab mir das eine Gelegenheit, mich für die mir erwiesenen
Zuwendungen erkenntlich zu zeigen. Beim Wäschewaschen
kannte ich mich aus.
Ernst arbeitete Anfang der Zwanziger in der Köthener
Maschinenfabrik. Dadurch waren wir von den Unruhen jener
Jahre unmittelbar betroffen. Sobald es eine der im
Mitteldeutschen
besonders
häufigen
politische
Auseinandersetzungen gab, wurde in den großen
Industriebetrieben
gestreikt.
Das
bedeutete
nahezu
vollständigen Verdienstausfall, denn anders als heute hatten die
Gewerkschaften viel zu wenig Rücklagen, um ihren
Mitgliedern einen Ausgleich zahlen zu können. Wir mußten oft
wochenlang von dem Wenigen leben, was ich als Lohn für
meine Gelegenheitsarbeiten bekam.
102
Für die Kinder wäre es gewiß besser gewesen, wenn ich
zumindest eine gewisse Zeit lang hätte zu Hause bleiben
können.
Gleich
nachdem
Elly
sich
von
ihren
Verdauungsstörungen erholt hatte, brachte ich sie stundenweise
am Schloßplatz unter. Rudi fuhr sie frühmorgens im
Sportwagen dorthin. Nachmittags holte ich die beiden
zusammen wieder ab. Gretchen versuchte ich, so zeitig wie
möglich in den Kindergarten zu schicken. Als sie achtzehn
Monate alt war, gelang es mir, eine Erzieherin wenigstens zu
einer Probezeit zu überreden. Ich versicherte, daß die
vierjährige Elly selbständig genug sei, um auf die kleine
Schwester aufzupassen. Das wollte sie mir zuerst nicht
glauben, konnte sich dann aber überzeugen, daß es die
Wahrheit war.
Auch unsere Wohnverhältnisse in jenen Jahren waren nicht
sehr erfreulich. Am Anfang hatten wir zwei winzige Zimmer,
in denen wir uns kaum drehen konnten. Dann zogen wir in eine
Wohnung, die zwar etwas größer, dafür aber dunkel und feucht
war. Sie lag im Erdgeschoß zum Hof hin, und direkt vor einem
der Fenster befand sich ein Misthaufen.
Viel Hilfe bekamen wir von meiner Schwiegermutter. Als
Gretchen geboren wurde, nahm sie Elly für ein paar Wochen
zu sich. Die Kinder überraschte sie oft mit kleinen
Geschenken, mit Süßigkeiten oder mit von ihr selbst
gestrickten Strümpfen und Handschuhen. Manchmal schenkte
sie uns sogar Geld, was ihr Mann, der Bahnbeamte, nicht
erfahren durfte.
Welch ein gütiger Mensch sie war, zeigte sich noch
deutlicher an einer Episode, die nicht uns sondern Ernstens
Bruder Fritz betraf. Der hatte als Milchfahrer gearbeitet und
sich dabei in eine Bauerstochter verliebt. Das Verhältnis hielt
ein paar Wochen, dann mußte er zum Militärdienst, und die
beiden trennten sich. Das Mädchen aber war schwanger
geworden. Ohne Mann mit einem Kind dazustehen, brachte
damals auf einem Dorf eine Menge Nachteile mit sich. So hatte
103
die junge Mutter nicht viel übrig für dieses Kind, obwohl es ein
gesunder, hübscher Junge war. Eines Tages stand sie bei den
Eltern ihres untreuen Liebhabers vor der Tür und gab ihren
Sohn einfach dort ab. Sie behauptete zwar, ihn bald
wiederzuholen, ließ sich aber nie wieder blicken. Die
Großmutter zog den kleinen Otto groß und schenkte ihm
zweifellos mehr Liebe, als die leibliche Mutter es getan hätte.
Mitte der zwanziger Jahre verbesserte sich die wirtschaftliche
Lage in Deutschland vorübergehend. Die Währung hatte sich
wieder stabilisiert. Der Dawesplan verringerte die
Reparationsforderungen. In den Industriebetrieben wurde
wieder durchgehend gearbeitet. Die Männer brachten wie vor
dem Krieg regelmäßig ihren Lohn nach Hause. Die Familien
konnten wieder an die Zukunft denken und nach Befriedigung
der Tagesbedürfnisse ein paar Spargroschen beiseite legen.
Politisch allerdings blieben die Verhältnisse instabil. Es gab
in Deutschland leider Kräfte, die an einer endgültigen
Beruhigung nicht interessiert waren. Die Rufe nach Vergeltung
für die im Weltkrieg erlittenen Verluste hörten nicht auf,
wurden eher immer lauter. Nur der "Dolchstoß" der
Kommunisten hätte die Niederlage herbeigeführt. Gemeint war
die Novemberrevolution. Daran, daß Deutschland den Krieg
begonnen und damit das Unglück herausgefordert hatte,
wollten sich kaum noch jemand erinnern. Dabei behandelte uns
das Ausland freundlicher als zuvor. Durch die Locarnoverträge
zum Beispiel gewannen wir das Ruhrgebiet von den Franzosen
zurück.
Von rechts und links attackiert, scheiterte eine Regierung
nach der anderen. Die Minister kamen und gingen, kaum daß
man sich ihre Namen hatte einprägen können. Neue Parteien
104
schossen wie Pilze aus dem Boden. Wir verloren allmählich
jede Orientierung, kamen uns verschaukelt vor, wußten nicht
mehr, wem wir glauben sollten und wem nicht. Sicherlich ging
es vielen anderen Leuten ähnlich. Als 1925 der
sozialdemokratische Reichspräsident Friedrich Ebert starb,
wurde Hindenburg zu seinem Nachfolger gewählt.
Der Aufschwung kam natürlich auch uns, den Maxens
zugute. Ab 1924 ging es uns spürbar besser. Das ermutigte
mich, an die Verwirklichung eines schon lange im Stillen
gehegten Traumes zu gehen. Ich wünschte mir ein eigenes
Haus. Das war für mich fast so etwas wie eine fixe Idee. Bald
kam ich mir in meiner feuchten, finsteren Parterrewohnung vor
wie in einem Gefängnis. Ich meinte ersticken zu müssen im
Gestank des Misthaufens.
Endlich fand sich eine Gelegenheit. Ich entdeckte die
Verkaufsanzeige für ein Vierparteienhaus. Es sollte
1000 Reichsmark als Anzahlung kosten. Das war zwar viel
Geld, doch rechnete ich mir aus, daß ich den Betrag in wenigen
Jahren würde hereinwirtschaften können. Da wir ja nur eine der
Wohnungen für uns selbst brauchten, hätten wir
Mieteinnahmen. Ein großer Obstgarten versprach ebenfalls
Gewinn. Der Rest der Kaufsumme konnte als Hypothek stehen
bleiben.
Um mein großes Projekt verwirklichen zu können, mußte ich
allerdings jemanden finden, der mir die 1000 Reichsmark
vorstreckte. Am Schloßplatz wußte ich schon nach den ersten
Andeutungen, daß ich erst gar nicht nachzufragen brauchte. Für
die Bartlitzens war ich die arme Verwandte, und das sollte ich
gefälligst auch bleiben. Mehr Glück hatte ich bei meinen
Schwiegereltern. Indem ich all meine Überredungskunst
aufbot, gelang es mir schließlich, den Bahnbeamten für meine
Sache zu gewinnen.
Das Haus wurde also gekauft, und ich war sehr stolz.
Allerdings sammelte ich schon recht bald einmal mehr die
bittere Erfahrung, daß bei Lichte besehen selbst die schönsten
105
Dinge ihre Schattenseite aufweisen. Am Schloßplatz verübelte
man mir, daß ich mich über die mir zugedachte Rolle erhoben
hatte, und ließ mich das gelegentlich auch fühlen. Reichlich
Ärger gab es zudem mit den Mietern. Die Familie aus der
hinteren Wohnung bediente sich heimlich aus unserem Garten.
Die Leute aus dem Dachgeschoß stellten unverschämte
Forderungen und verhielten sich auch sonst reichlich
anmaßend. Sogar das Zurückzahlen des Kredits erwies sich als
schwieriger als gedacht. Ich hatte manche Ausgaben einfach
nicht eingeplant.
Obwohl die Verhältnisse besser geworden waren, mußte ich
weiterhin hart arbeiten. Ich trug zwei verschiedene Zeitungen
aus, eine frühmorgens, eine am Nachmittag. Oft kam noch eine
dritte Arbeit dazu. Das Wochenende gehörte dem Garten. Beim
Austragen der Morgenzeitung half Elly mir, bevor sie in die
Schule ging. Einmal fragte mich ein Lehrer, woran es liege,
daß sie in den ersten Stunden immer etwas abwesend wirkte.
Sie wußte zwar eine ganze Menge, arbeitete aber nicht mit,
wollte nur ihre Ruhe haben.
Vielleicht war ich zu ehrgeizig. Rudi wirft mir das bis zum
heutigen Tage vor. Ob ich mein Leben anders gestaltet hätte
ohne die ständige Rivalität mit den erfolgreicheren
Schwestern? Immerhin ließ Otto kaum eine Gelegenheit
vorbeigehen, mich zu provozieren. Einmal ließ er mir durch
seinen Sohn Werner zu Silvester ein "Glückspaket"
überreichen. Als ich es in freudiger Erwartung auspackte, fand
ich ein totes, gerade geborenes Schweinchen. Ich ekelte mich
fast zu Tode. Otto wußte das ganz genau. So war er eben.
Emma war sehr kinderlieb und holte regelmäßig im Wechsel
ihre Nichten und Neffen zu sich nach Berlin. Für die kleinen
Jungen und Mädchen, die ansonsten nur ihr Köthen kannten,
bedeutete das jedes mal eine Zeit voller aufregender
Abenteuer. Allein schon der lärmende Verkehr auf den Straßen
war etwas Besonderes. Das Mietshaus der Tante in
Charlottenburg bestand aus Dutzenden Wohnungen. Da mußte
106
man als kleiner Fratz schon mächtig aufpassen, um immer die
richtige Tür zu erwischen.
Onkel Gustav, der noch immer bei der Eisenbahn arbeitete,
bekam zweimal im Jahr einen Familienfreifahrtschein. Damit
konnte er gemeinsam mit seiner Frau und beliebig vielen
Kindern so weit fahren, wie er mochte. Rudi kam auf diese
Weise einmal in den Genuß eines Ausflugs bis nach
Berchtesgaden. Davon erzählte er noch Jahre später mit
leuchtenden Augen.
Viel Spaß hatten die Kinder auch auf dem Grundstück, das
die Familie Schatz bei Falkensee am Rande Berlins besaß. Es
lag inmitten einer großen Kolonie. In einem Holzhäuschen
konnte man essen, kurze Regengüsse abwarten und zur Not
auch übernachten. Etliche Leute, die in der Stadt ihre Miete
nicht mehr bezahlen konnten, wohnten sogar ständig in
Kleingärten dieser Art.
Natürlich kam es auch vor, daß es einmal der Aufregung
mehr gab, als allen Beteiligten lieb sein konnte. Als Werner
Schatz zehn Jahre alt war, erhielt er den Auftrag, seine
fünfjährige Schwester Irmchen und die sechsjährige Elly auf
dem Spielplatz in der Nähe der Charlottenburger Wohnung zu
beaufsichtigen. Er hätte zwar lieber etwas anderes getan, fügte
sich dann aber murrend in sein Schicksal. Um die beiden zu
amüsieren, spielte er mit ihnen "Wilder Westen". Als Requisit
diente ein Stück Holz, das entfernt an eine Pistole erinnerte.
Einige Zeit ging das gut, dann fing Irmchen plötzlich zu
quengeln an. Sie langweile sich, zu Hause sei es viel schöner,
die Beine täten ihr weh.
Werner überraschte das nicht. Irmchen, die unter so
dramatischen Umständen auf die Welt gekommen war, wurde
von den Eltern maßlos verwöhnt. Was sie haben wollte, das
bekam sie auch. Da sie unglücklicher Weise eine nervöse,
reizbare Grundveranlagung besaß, verbog sich ihr Charakter
immer mehr. Sie war an manchen Tagen wirklich
unausstehlich.
107
Eingedenk dessen entschloß sich Werner zu einer
Radikalkur. Er richtete die Holzpistole auf seine zeternde
Schwester und herrschte sie an:
"Entweder du parierst jetzt oder ich schieße dich tot."
Irmchen konnte noch nicht so recht zwischen Spiel und
Wirklichkeit unterscheiden und erschrak so sehr, daß sie mit
gellendem Geschrei davonlief. Elly ließ sich von ihrer Panik
anstecken und folgte ihr.
Werner dachte sich zu diesem Zeitpunkt noch nichts Böses.
Er war sogar recht zufrieden mit dem erzielten Ergebnis. Erst
nach etwa einer Stunde wurde er unruhig. Warum kamen die
beiden nicht zurück? Wo steckten sie? Er suchte im nächsten
Umkreis. Vergeblich. Er lief nach Hause. Auch dort waren sie
nicht. Als er in der Nähe eines Teiches einen von Irmchens
Schuhen fand, erfuhr er am eigenen Leib, wie es ist, wenn man
Angst hat. Er schwor sich hoch und heilig, nie wieder
dergleichen Schabernack zu treiben. Eigentlich war er ja auch
alles andere als ein Rüpel. Er gehörte zu den besten Schülern
seiner Klasse und bereitete seinen Eltern fast nur Freude. Doch
das alles zählte nicht in diesem Moment. Die Dunkelheit brach
herein. Er mußte nach Hause gehen und beichten.
Emma und Gustav gerieten bei der Nachricht in helle
Aufregung und alarmierten die Polizei. Ein verständnisvoller
Diensthabenden rief sofort bei allen Revieren der Umgebung
an. Dabei hatte er schließlich Erfolg. Die beiden Mädchen
waren einer Streife aufgefallen und saßen inzwischen
wohlverwahrt auf einer Wache. Dort hatten sie den Schreck
vom Nachmittag längst überwunden und genossen es nun, mit
den freundlichen Männern in Uniform spielen zu dürfen.
Weihnachten war in jedem Jahr ein großes Ereignis. Auch
wenn es uns manchmal schwer fiel, versuchten wir zu diesem
Fest immer, den Kindern irgend eine besondere Freude zu
bereiten. Wenn wir ihnen nichts kaufen konnten, dann bastelten
wir ihnen wenigstens etwas. Immerhin steckte in diesen
einfachen Gaben mehr Liebe als in manchen teuren
108
Geschenken von heute. Umgekehrt lösten die kleinen
Spielzeuge bei den Kindern wahre Begeisterungsstürme aus
und wurden lang in Ehren gehalten. Auch das hat sich
geändert.
Die Feier fand im Haus am Schloßplatz statt. Wo auch
sonst? Die gesamte Großfamilie kam dort zusammen - die
Eltern, die Bartlitzens, die Berliner und wir Maxens. Nur Franz
fehlte. Er feierte mit der Familie seiner Frau in Hannover. Die
besondere Stimmung des Heiligen Abends glättete alle Wogen,
die im Laufe des Jahres aufgeschäumt sein mochten. Es ging
immer recht harmonisch zu.
Einmal allerdings gab es einen - zumindest für die
Kinder - ziemlich aufregenden Zwischenfall. Als wir in der
Stube beim Kaffeetrinken beieinandersaßen, ging plötzlich die
Tür auf und eine große Gestalt mit weißem Gewand und
schwarzen Stiefeln kam herein. Die Kinder kreischten auf und
versteckten sich. Selbst der sonst ziemlich freche Werner
Bartlitz krallte sich im Rock seiner Mutter fest. Lediglich Rudi,
der schon etwas älter war, hielt tapfer die Stellung. So ganz
wohl in seiner Haut fühlte freilich auch er sich nicht.
Da stand der Weihnachtsmann nun da mit seinem großen
Sack und vermochte kein Kind dazu bewegen, sich ihm
wenigstens auf einen Meter zu nähern. Am Ende blieb ihm
nichts anderes übrig, als die Geschenke auf den Tisch zu legen
und dann wieder zu gehen. Vater hatte es gut gemeint, aber in
seiner Verkleidung war er einem Gespenst sehr viel ähnlicher
als einem Weihnachtsmann.
In gewisser Hinsicht ist diese kleine Episode typisch für
Vaters Verhältnis zu seinen Enkeln. Er mochte sie eigentlich
von ganzem Herzen. Da er jedoch eine gewisse Strenge, die
das Leben ihn als Notwendigkeit gelehrt hatte, niemals ganz
abzulegen vermochte, gingen ihm die Kinder mit ehrfürchtiger
Scheu aus dem Wege.
Er war inzwischen über siebzig Jahre alt. Noch immer nahm
er hin und wieder kleine Aufträge an. Noch immer genoß er
109
einen so guten Ruf, daß er trotz der schlechten Wirtschaftslage
auch welche bekam. Doch mehr und mehr verweigerte der
Körper den Dienst. Da nutze schließlich auch die
Berufserfahrung nichts mehr, ebenso wenig wie der unbändige
Wille, der Familie nützlich zu bleiben.
Eines Tages bat Hedwig ihn, das auf kleinem Feuer
kochende Essen zu beaufsichtigen. Sie wollte die frisch
gewaschene Wäsche zur Heißmangel bringen. Nach einer
dreiviertel Stunde kehrte sie zurück. Sie fand alles ordentlich
vor. Als sie Vater jedoch zu Tisch rief, kam er nicht. Daraufhin
ging sie, noch immer nichts Schlimmes ahnend, zu ihm ins
Zimmer. Er lag auf dem Sofa ausgestreckt und sah aus, als
schliefe er. Sie Gesichtszüge waren entspannt. Hedwig rief ihn,
rüttelte ihn. Er reagierte nicht. Da erst begriff sie, daß er nicht
mehr lebte.
Vermutlich hatte er sich einen solchen Tod gewünscht. Er
war gestorben, ohne zuvor starke Schmerzen ertragen zu
müssen und ohne anderen durch langes Siechtum zur Last zu
fallen. Er verließ die Welt mit der selben Würde wie er
dreiundsiebzig Jahre darin gelebt hatte. Kaum jemand, der mit
ihm verwandt war oder ihn näher kannte, versäumte es, ihm die
letzte Ehre zu erweisen. Die Köthener Verwandten bildeten die
Spitze des langen Trauerzuges: Mutter, Hedwig, Otto und der
inzwischen siebenjährige Werner Bartlitz; dahinter Ernst und
ich mit Rudi, Elly und dem sechsjährigen Gretchen. Aus
Hannover waren Franz und Henny mit ihren drei Söhnen
gekommen, aus Berlin Emma und Gustav mit Werner Schatz
und Irmchen. Stellungslose Arbeiter erinnerten sich am Grab
jener Jahre, in denen sie noch guten Lohn verdient hatten.
Geschäftspartner verabschiedeten einen stets redlichen
Unternehmer. Auch Nachbarn waren unter den Trauergästen
auf dem Friedhof.
Aus heutiger Sicht erscheint mir das Jahr 1929 wie ein
Schicksalsjahr für die Schulzes. Am 24. Oktober, nicht lange
nach Vaters Tod, begann mit dem "Schwarzen Freitag" die
110
Weltwirtschaftskrise. Die Hochachtung vor Vater konnte nicht
ganz verdecken, daß seine Hoffnungen sich nicht erfüllt hatten,
seine Voraussagen nicht eingetroffen waren. Nach dem
Weltkrieg hatte die Sozialdemokratie immerhin die Macht
errungen - ein Erfolg, wenngleich ein viel zu teuer erkaufter.
Nun aber war auch dieser Versuch, eine bessere Gesellschaft
aufzubauen, allem Anschein nach gescheitert. Die alten Ideale
galten nicht mehr, neue gab es noch nicht. In diese Leere
drangen die Nazis ein. So ging es zweifellos nicht nur den
Schulzes. Bei uns aber war eben zur gleichen Zeit auch
derjenige gestorben, der uns jahrzehntelang ganz persönlich
Rat und Halt gegeben hatte.
111
5. Kapitel
Gretchen erzählt
Nachdem ich drei Kapitel lang meine Mutter habe berichten
lassen, werde ich ab jetzt den Erzählfaden wieder selbst
aufnehmen. Ich bin in der Handlung nunmehr sechs Jahre alt.
Um diese Zeit begann ich, bewußt wahrzunehmen, was in
meiner Umgebung geschah.
Meine frühesten Erinnerungen reichen freilich noch weiter
zurück. Zum Beispiel sehe ich ganz deutlich die Küche unserer
Parterrewohnung vor mir. Sie erscheint mir riesengroß, was
sicher ein falscher Eindruck ist. An der Tür hing eine
Petroleumlampe, vor der ich großen Respekt hatte, weil Kinder
sie unter keinen Umständen berühren durften. Einmal war ich
über eine Leiter einen Baum hinaufgeklettert. Als ich nun hoch
oben auf einem Ast saß, nahmen meine Geschwister die Leiter
weg. Dafür wurden sie dann vom Maxgroßvater tüchtig
ausgeschimpft. Ein andermal hatten wir einen Bienenschwarm
im Garten. Da kam dann der Imker mit Maske und Umhang,
um sie zurückzuholen. Weil er in seiner Arbeitskleidung so gar
nicht aussah wie ein Mensch, erschrak ich ganz furchtbar vor
ihm.
Dies alles sind aber nur Splitter ohne Zusammenhalt.
Geordnete Erinnerungen setzen erst etwa zu dem Zeitpunkt ein,
als der Schulzegroßvater starb. Ich trug ein schwarzes Kleid
und begriff nicht, wie ein so großer Mensch in eine so kleine
Urne hineingelangen konnte. Überhaupt vermochte ich mir den
Tod nicht recht vorzustellen. Ganz genau wußte ich nur, daß
der Großvater nun nicht mehr am Schloßplatz wohnte. Das
nämlich hatte mein Muttchen mir erklärt.
Selbstverständlich entging mir in jenen Jahren noch so
manches. Viele Themen wurden in Gegenwart von Kindern
112
grundsätzlich nicht angeschnitten. Damit aber die ohnehin
schon komplizierte Geschichte der Schulzefamilie nicht noch
unübersichtlicher wird, berichte ich in chronologisch richtiger
Reihenfolge auch jene Begebenheiten, von denen ich erst
später erfuhr oder deren Bedeutung ich erst später verstand.
Ein Jahr nach Großvaters Tod lernte mein Onkel Max eine
Frau kennen und wollte heiraten. Das war eines von den
Themen, bei denen man mich zum Spielen nach draußen
schickte. Zu Onkel Max pflegten wir kaum Kontakt. Wenn ich
ihm begegnete, hatte ich immer ein bißchen Angst - wegen
seiner dichten, tiefschwarzen Haare, wegen seiner buschigen,
dunklen Augenbrauen, die ihn sehr ernst erscheinen ließen, und
auch weil Muttchen ihn nicht mochte. Heute kenne ich sein
Schicksal und bereue meine Reserviertheit. Ich vermochte
mich leider nie zu überwinden, bis zu seinem Tode nicht.
Seine Frau lernte ich kaum kennen. Sie hieß Änne, war eine
Bauerstochter und hatte schon jung ihre Eltern verloren. Weil
sie einen ansehnlichen Hof erbte, stellten sich reichlich Freier
bei ihr ein. Zum Mann nahm sie sich schließlich einen, der ihr
durch sein unbeschwertes Wesen die düsteren Erinnerungen
vertrieb. Er führte sie zum Tanz und brachte sie mit lustigen
Streichen zum Lachen. Kaum jedoch war er Bauer geworden,
entpuppte er sich als notorischer Faulpelz. Bis Mittags räkelte
er sich im Bett. Am Abend zechte er mit Kumpanen im
Gasthof. Änne hielt allein den Hof in Schwung. Sie
beaufsichtigte die Dienstleute, faßte selbst mit zu. Als sie dann
aber zwei Kinder hatte, konnte sie sich beim besten Willen
nicht mehr um alles kümmern und verlor den Überblick.
Schließlich war der Hof derart verschuldet, daß er versteigert
werden mußte. Änne ließ sich scheiden, doch sie hatte
praktisch durch die Ehe ihr gesamtes Vermögen verloren.
Als Großmutter von diesem Schicksal hörte, tat Änne ihr von
Herzen leid, vor allem weil die junge Frau trotz allem sanft und
freundlich war. Deshalb rang sie sich zu etwas recht
Ungewöhnlichem durch - sie warnte vor ihrem eigenen Sohn.
113
"Er ist kein Familienmensch. Sie werden nicht glücklich sein
mit ihm."
Änne indes glaubte ihr nicht.
"Er ist fleißig, und er ist nett zu mir. Warum also soll er kein
Familienmensch sein?"
"Ich liebe ihn und gönne ihm alles erdenklich Gute. Aber es
gibt nun einmal manches, wozu er nicht geschaffen ist."
Änne nahm trotz Großmutters Abraten ihr Versprechen an
Max nicht zurück. Ihren fast schulpflichtigen Sohn ließ sie bei
einer Tante. Ihre dreijährige Tochter Ilse brachte sie mit in die
neue Ehe.
Nach wenigen Wochen merkte Änne, was ihre
Schwiegermutter gemeint hatte. Max verbrachte viel Zeit außer
Haus. Er betrank sich zwar nicht, doch er wollte die langen
Abende mit seinen alten Freunden nicht missen. Seine junge
Frau fühlte sich - nicht ganz zu Unrecht - hintangesetzt. In
einer Zeit, in der das Eheleben eigentlich noch gänzlich von
der Liebe geprägt sein müßte, kam es immer wieder zu
Streitereien zwischen den beiden.
Ännes Lebensweg ist einer von jener Art, die ein Beweis für
die Ungerechtigkeit des Schicksals zu sein scheinen. Ihre
Sanftheit wurde niemals belohnt. Als sie ein Kind von Max
bekam, erging es ihr ähnlich wie zuvor meiner Tante Martha.
Sie erkrankte im achten Schwangerschaftsmonat und starb
wenig später bei der Entbindung. Einen Unterschied allerdings
gab es - diesmal überlebte das Kind. Es war ein Mädchen und
erhielt den Namen Helga.
Ich erinnere mich gut daran, wie ich Helga zum ersten Mal
sah. Wir besuchten sie im Krankenhaus, wo sie noch ziemlich
lange bleiben mußte, weil sie sehr schwach war. Sie blickte uns
aus großen, ernsten Augen an, und es hatte den Anschein, als
wüßte sie, daß sie ohne Eltern aufwachsen würde. Offenbar
wollte sie auf den Arm genommen und geschmust werden,
doch ihre Ärmchen griffen immer wieder ins Leere.
114
Da sich niemand fand, das Baby zu betreuen - Max mußte
arbeiten und hatte auch kein rechtes Interesse, die Großmutter
traute sich mit ihrer verkrüppelten Hand eine so
verantwortungsvolle Aufgabe nicht mehr zu und Ännes
Verwandten bekamen ohnehin schon die kleine Ilse - suchte
das Jugendamt nach einer Pflegefamilie. Da Helga noch sehr
klein war, fand sich bald ein geeignetes Ehepaar. Die beiden
konnten keine eigenen Kinder bekommen und wollten das
Mädchen später adoptieren.
Die Weltwirtschaftskrise veränderte auch das Leben unserer
Familie von Grund auf. Nachdem der Streit mit ihren Mietern
ins Unerträgliche entartet war, hatte Muttchen ihr Haus wieder
verkauft und für den Erlös ein anderes, gerade fertig gebautes,
nur für zwei Parteien eingerichtetes erworben. So brauchte sie
nur noch mit einer fremden Familie unter einem Dach
auszukommen. Nun tauchten plötzlich leise Gerüchte auf, daß
mit der Baugesellschaft, die das gesamte Viertel projektiert
hatte, irgend etwas nicht mehr stimme. Daraufhin verkauften
meine Eltern das Haus wieder und zogen in eine Mietwohnung.
Wenig später brach die Gesellschaft zusammen. Das Viertel
wurde nicht fertiggestellt. Viele Leute verloren eine Menge
Geld.
Hatten wir bei dieser Sache noch Glück, so teilten wir in
anderer Hinsicht das Schicksal der meisten Arbeiterfamilien.
Vater wurde entlassen und bekam nur noch eine geringe
Unterstützung. Muttchen, deren Gelegenheitseinkommen nun
wichtiger war denn je, übernahm jede Beschäftigung, die man
ihr anbot. Als Frau wurde sie zwar erbärmlich bezahlt, hatte
aber immerhin noch hier und da Chancen. Natürlich war sie
völlig überlastet. Vater durfte ihr nicht helfen. Überall lauerten
Schnüffler. Hätte man ihn nur ein einziges mal ertappt, wäre
ihm für alle Zeit die Unterstützung gestrichen worden. Für uns
Kinder gab es dagegen keine Einschränkungen. Inzwischen
hatte auch ich das Alter, um wie meine Geschwister Zeitungen
auszutragen. Mir fiel dabei eine Nachmittagstour zu, bei der
115
ziemlich viele Treppen zu bewältigen waren. Elly ging
stundenweise zu einer alten Frau. Sie bekam dort zwar so gut
wie keinen Lohn, dafür aber Essen und Kleidung.
Die materiellen Einschränkungen waren allerdings nicht das
Schlimmste. Wir litten vor allem darunter, daß das
Familienleben völlig aus den Fugen geriet. Vater saß zu Hause
und kam sich nutzlos vor. Anfangs versuchte er, seine Frau
wenigstens in der Wohnung zu unterstützen. Den Haushalt aber
wollte Muttchen sich aus Prinzip nicht aus der Hand nehmen
lassen. Beide gerieten darüber in Streit, und es gab manch
unschöne Szene. Überhaupt war Muttchen ständig gereizt. Für
uns Kinder setzte es schon beim kleinsten Anlaß Ohrfeigen.
Anderseits hatten unsere Eltern durchaus Verständnis für uns
und versuchten gelegentlich, uns ein wenig zu entschädigen.
Wenn Schützenfest oder Jahrmarkt in Köthen war, dann gingen
sie mit uns hin, selbst wenn sich erst nach Einbruch der
Dunkelheit die Gelegenheit dafür bot. Wir durften Karussell
fahren und bekamen jeder eine Bockwurst oder eine kleine
Tüte gebrannter Mandeln.
Im Übrigen ging es nicht nur uns Maxens schlecht. In der
weiteren Umgebung von Halle und Leipzig konzentrierten sich
viele Industriebetriebe. Etliche davon gingen in der
Wirtschaftskrise bankrott. Andere reduzierten drastisch ihre
Belegschaft. Daraus ergab sich eine Arbeitslosigkeit in nie
dagewesenem Ausmaß. Mehr noch als während der Inflation
1923 suchten die Menschen verzweifelt nach einem Ausweg.
Mehr noch als damals tendierten sie zu extremen
Entscheidungen. Den kleinen Parteien vertraute kaum noch
jemand. Auch das Ansehen der SPD und des christlichen
"Zentrums" sank dramatisch. Dafür gewann Hitlers NSDAP
gewaltig an Zulauf. Da aber auch die Kommunisten stärker
wurden, bahnte sich ein erbarmungsloser Entscheidungskampf
zwischen dem äußersten linken und dem äußersten rechten
Lager an.
116
Selbst in unserer kleinen, einstmals so ruhigen Stadt Köthen
schlossen immer mehr Leute sich den verschiedenen radikalen
Organisationen an. Menschen, von denen man geglaubt hatte,
sie könnten keiner Fliege etwas zuleide tun, bewaffneten sich
plötzlich mit Schlagringen, Stöcken, Steinen und noch
schlimmeren Instrumenten und gingen damit auf
Andersdenkende los. Zu bestimmten Veranstaltungen wagten
sich friedliebende Bürger schon gar nicht mehr hin, weil mit
handfesten Krawallen zu rechnen war. Manchmal eskalierten
die Auseinandersetzungen zu regelrechten Straßenschlachten.
Es hatte den Anschein, als stände das Land kurz vor einem
Bürgerkrieg.
Allerdings dachten die Parteien auch daran, daß sie gewählt
werden mußten, um auf legalem Wege an die Macht zu
kommen. Kommunisten wie auch Nazis buhlten um die
Unentschlossenen und entfesselten jeder für sich eine
ungeheure Propagandawelle. Die Versprechungen wurden
dabei immer märchenhafter, die Beschimpfungen des Gegners
immer unflätiger. Meine Eltern gerieten einmal durch Zufall in
eine Versammlung der KPD. Gleich am Eingang begrüßte sie
jemand überaus freundlich, und weil der Saal überfüllt war,
holte man eilig zwei zusätzliche Stühle von irgendwo her.
Muttchen allerdings ließ sich mehr von den Bartlitzens
beeinflussen als von jedem noch so glänzenden Redner.
Manchmal verstand ich sie einfach nicht. Es verging kaum ein
Tag, an dem sie sich nicht über Onkel Otto oder über Tante
Hedwig oder über beide gleichzeitig bitter beklagte. Dennoch
lief sie mindestens dreimal in der Woche zum Schloßplatz und
war todunglücklich, wenn man dort eine ihrer Entscheidungen
nicht ausdrücklich guthieß.
Onkel Otto hatte eine klare Meinung zu den Ereignissen im
Land. Die Gesetze seien viel zu liberal. Jeder dürfe tun und
lassen, was er wolle. Dadurch müsse ständig draufzahlen, wer
ehrlich und fleißig ist, während leicht zu Reichtum komme,
wer betrügt und aus Faulheit auf Kosten anderer lebt.
117
"Schaut euch doch nur den Reichstag an! Da wird geredet
und geredet. Jeder Schwätzer darf da seinen Senf dazugeben.
Dabei müßten endlich mal ein paar vernünftige Gesetze
verabschiedet werden."
Damit waren im Grunde die Weichen gestellt. Gemeinsam
mit seinem Bruder Hermann trat er schon bald der NSDAP bei.
Welche Konsequenzen solche Entscheidungen einmal haben
würden, das ahnten damals meine Eltern genau so wenig wie
meine Onkels und Tanten. Ein Kind wie ich verstand die
politischen Zusammenhänge natürlich erst recht nicht. Ich
spürte aber, daß sich da etwas sehr Bedrohliches
zusammenbraute. Die Schlägereien auf der Straße verfolgten
mich bis in die Träume hinein, obwohl mir persönlich nie
jemand zu nahe trat.
Als ich einmal in Berlin bei Tante Emma zu Besuch war,
antwortete ich auf die Frage, was es denn in Köthen Neues
gebe, mit einer Aufzählung aller Krawalle, von denen ich in
der zurückliegenden Woche erfahren hatte. Die Erwachsenen
fanden das lustig. Übrigens interessierte sich Tante Emma
damals generell für Politik nicht so besonders. Ihr Mann hatte
als Eisenbahner einen krisensicheren Arbeitsplatz, so daß die
Familie keine Not zu leiden brauchte.
Vielleicht mutet es eigenartig an, wenn ich nach den
Beschreibungen der Not und der Gewalt jener Jahre jetzt
versichere, daß ausgerechnet in diese Zeit hinein das schönste
Weihnachtsfest meines ganzen Lebens fiel. Was war eigentlich
so anders an Heiligabend 1930? Wie immer stand in der Stube
ein prächtig geschmückter Tannenbaum. Wie immer saßen wir
im Kreis und sangen Lieder. Wie immer wurden Geschenke
verteilt. Wenn ich jedoch die Augen schließe, dann sehe ich
eine verzauberte Welt vor mir.
Die Kugeln am Baum sind so bunt wie nie. Das Silberpapier
glitzert und blitzt, daß es fast blendet. Kleine, rotbäckige Äpfel
lugen dazwischen hervor, spiegelblank poliert. Und auch von
den Geschenken geht ein eigenartiger Glanz aus. Vater hat ein
118
Hexenhäuschen gebastelt. Durch die Fenster schimmert
rötliches
Licht. Die Puppenstube bekommt
neue
Möbel - Schränkchen und ein winziges Tischchen mit
Stühlchen darum. Mein Bruder Rudi hat neue Kleider genäht
für meine Puppen. Das großartigste Geschenk aber ist ein
Kaufmannsladen, viel schöner als je einer in einem Geschäft
stand. Einer meiner Cousins väterlicherseits, ein Tischler von
Beruf, hat ihn aus Margarinekisten angefertigt. Die Schubladen
sind gefüllt mit Süßigkeiten - Zuckerzeug der Maxgroßmutter.
Während wir Kinder mit unseren Geschenken spielen,
bedient Vater ein altes Grammophon. Es stammt von einer
Versteigerung und ist nicht viel wert. Dauernd müssen die
Nadeln ausgewechselt werden, und wenn man nicht
gleichmäßig an der Kurbel dreht, hört sich die Musik
schauerlich an. Aber niemanden stört das. Muttchen sieht uns
eine Weile zu, dann schläft sie auf dem Sofa ein. Wir verhalten
uns mucksmäuschenstill, damit sie nicht wach wird und uns ins
Bett schickt.
Ich öffne die Augen und sehe mich um in meiner schönen
Neubauwohnung, in der es an nichts fehlt, zumindest an nichts,
was ich vermisse. Und dennoch - verglichen mit der fürstlichen
Pracht jener Erinnerung erscheint sie mir nahezu ärmlich.
Anfang 1931 tauchte am Schloßplatz ein Mann auf, der Otto
Bartlitz sprechen wollte, unter vier Augen, wie er betonte. Er
war ein Parteifreund aus der NSDAP. Die Unterredung dauerte
knapp eine Stunde. Dann ging der Mann wieder, allem
Anschein nach sehr zufrieden. Zum Abschied sagte er:
"Etwas anderes hätte ich auch gar nicht erwartet."
Drei Tage später eröffnete Otto seiner Frau, daß er der SS
beigetreten sei.
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"Wir schützen unsere Versammlungen vor Überfällen der
Kommunisten, viel mehr passiert da nicht", beschwichtigte er.
"Der Hermann macht auch mit."
Tante Hethe war dennoch zunächst nicht sonderlich
begeistert. Sie fürchtete, ihr Mann würde in gefährliche
Krawalle verwickelt und dabei womöglich ernsthaft verletzt
werden. Erst als sie ihn zum ersten mal in seiner schmucken
neuen Uniform sah, änderte sie ihre Meinung. Nun war sie
stolz auf ihn. Die Nationalsozialisten holten Deutschland aus
dem Elend heraus, und er leistete einen Beitrag dazu. Das
jedenfalls glaubte sie.
Die gemeinsamen Einsätze mit ihrer SS-Gruppe brachten die
Brüder einander näher. Sie trafen sich auch außerhalb des
Dienstes regelmäßig, meistens am Schloßplatz. Dabei redeten
sie natürlich vor allem über Politik. Darüber hinaus
schmiedeten sie aber auch erste gemeinsame Zukunftspläne.
Immerhin hatten sie den selben Beruf.
Nun sollte allerdings nicht der Eindruck entstehen, die
beiden wären einander wie Zwillinge ähnlich gewesen. Das
stimmte allenfalls, was die Statur angeht. Hermann hatte eine
sehr viel leichtere Lebenseinstellung als sein Bruder. Er nahm
es mit der ehelichen Treue nicht so genau, liebte das Abenteuer
und amüsierte sich, wie und wo er nur konnte.
Nachdem die Bartlitzmänner in die SS eingetreten waren,
dauerte es nicht mehr allzu lange, da redete auch Muttchen
ständig davon, daß Deutschland, wenn überhaupt, nur durch
Hitler und seine Partei gerettet werden könne. Dabei sah sie
jedesmal bedeutungsvoll zu Vater hinüber. Der allerdings war
von ganz anderer Art als Onkel Otto. Direkt angesprochen,
meinte er nur:
"Warum sollen wir uns da vordrängen? Wer weiß, ob das gut
geht!"
Muttchen indes ließ nicht locker.
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"Tritt wenigstens in die Partei ein! Wenn du da schon jetzt
mitmachst, gehörst du, wenn es wieder aufwärts geht mit der
Wirtschaft, gleich zu den ersten, die Arbeit kriegen."
Arbeit haben, wollte Vater gern. Mit Muttchen sich streiten,
wollte er nicht. Also ließ er sich einschreiben. Ein so strammer
Nationalsozialist freilich wie sein Schwager wurde er, zu
Muttchens Kummer, nie.
Ich konnte Vater verstehen und war froh, daß er nicht wurde
wie Onkel Otto. Den nämlich konnte ich nicht leiden. Er
ärgerte nicht nur Muttchen sondern auch mich. Wahrscheinlich
spürte er, daß ich gegen seine grobe Art kein Mittel wußte.
Wenn er seine Uniform trug, hatte ich richtig Angst vor ihm.
Ich mußte dann sofort an die Schlägereien auf den Straßen
denken.
Überhaupt war mir nicht wohl bei dem Gedanken, daß die
Männer mit den braunen Hemden bald das Sagen im Land
haben sollten. Muttchen allerdings versicherte mir, daß ich
mich überhaupt nicht zu sorgen brauche. Vater werde wieder
Arbeit bekommen. Mit den Krawallen sei es auch in ein paar
Wochen vorbei. Ich solle nur Vertrauen haben und ein wenig
Geduld. Für einen kurzen Moment beruhigte mich das. Dann
packten mich wieder die Zweifel.
An Hitlers Staatsstreich erinnere ich mich noch gut.
Muttchen ließ es sich nicht nehmen, am 30. Januar 1933 beim
großen Fackelzug in Berlin als Zuschauer dabeizusein,
obgleich wir gewiß nicht genug Geld hatten, um es zum
Fenster hinauswerfen zu können. Wahrscheinlich glaubte sie
ganz fest, daß schlagartig eine bessere Zeit anbrechen würde.
Kaum waren die Nazis an der Macht, da begannen sie gegen
die Juden zu hetzen. Auf dem Wege zur Schule kam ich an
einem Schaukasten vorbei, wo die Zeitung "Der Stürmer"
aushing. Als ich einigermaßen lesen konnte, blieb ich dort
regelmäßig stehen. Da wurde zum Beispiel davon berichtet,
wie manche Juden deutsche Arbeiter und Angestellte
ausbeuteten. Das konnte ich mir durchaus vorstellen. Es gab im
121
ganzen Land riesige Warenhäuser, die jüdischen Unternehmern
gehörten. Wenn Eltern in Köthen eines ihrer Kinder ermahnen
wollten, sich in der Schule anzustrengen, dann sagten sie
manchmal: "Wenn du nichts lernst, mußt du später bei »Cohn«
die Schaukelpferde füttern." Dann war die Rede davon, daß
jüdische Ärzte häufig deutsche Frauen unter der Narkose
vergewaltigten. Das konnte ich nicht nachprüfen. Daß
sämtliche Juden schlechte Menschen seien, ohne Unterschied,
von Geburt her schon, das mochte ich jedoch nicht recht
glauben. Immerhin kannte ich auch einige sehr nette Juden.
Letztlich machten mich diese Artikel ganz wirr im Kopf. Wäre
Muttchen zu Ohren gekommen, daß ich sie lese, hätte sie mir
das gewiß verboten. Ich erzählte ihr aber nichts davon.
Bald begnügten sich die Nazis nicht mehr mit bösartigen
Artikeln. Damit die Leute ihrem Aufruf zum Boykott jüdischer
Geschäfte auch wirklich Folge leisteten, stellten sich SAMänner davor auf. Wollte nun jemand, sei es aus alter
Gewohnheit, sei es aus Trotz, weiterhin dort einkaufen, weil er
immer dort eingekauft hatte, dann mußte er die übelsten
Beschimpfungen über sich ergehen lassen. Spätestens von nun
an taten die Juden mir leid.
Dann kam die sogenannte Reichskristallnacht. Die Synagoge
ging in Flammen auf. Geschäfte wurden zertrümmert und
geplündert. SA und SS veranstalteten regelrechte Hetzjagden.
Als Muttchen tags darauf durch die Stadt ging, erschrak sie.
Sosehr sie den Nazis auch vertraute - das konnte selbst sie
nicht verstehen.
"Das sind doch Zeitungskunden von mir gewesen", sagte sie
fassungslos. "Die haben immer pünktlich bezahlt und uns zu
Weihnachten ein Festpaket geschenkt."
Allerdings hatte sie rasch ein Argument zur
Selbstberuhigung parat:
"Davon wußte der Führer nichts. Das hätte er bestimmt nicht
zugelassen."
122
Für Onkel Otto hatte die Nacht noch ein kleines persönliches
Nachspiel. Er war am Vorabend nicht am Treffpunkt seiner SSGruppe erscheinen. Prompt stellte sich jener Herr, der ihn einst
geworben hatte, abermals am Schloßplatz ein. Diesmal dauerte
die Unterredung mehr als zwei Stunden. Onkel Otto war
freilich nicht auf den Mund gefallen. Als der Parteifreund
wieder ging, hatte er bei ihm sämtliche Zweifel an seiner
Linientreue gründlich zerstreut.
"Hättest du uns rechtzeitig Bescheid gesagte, wäre uns
mancher Ärger erspart geblieben."
"Alles klar! Heil Hitler!"
"Heil Hitler!"
Zu seiner Frau sagte Otto hinterher halblaut:
"Was soll dieser Unfug? Wie denken die sich das? Ich gehe
zu den Juden schlachten und verdiene dabei gutes Geld. Wer
schlägt denn seinen eigenen Kunden die Scheiben ein?"
Die Repressalien gegen die Juden gingen nun aber erst
richtig los. An den Eingängen der Grünanlagen standen
plötzlich Schilder mit der Aufschrift: "Für Juden betreten
verboten." Die großen, Juden gehörenden Warenhäuser wurden
enteignet und an "arische" Unternehmer übergeben.
Niemand konnte mehr ernsthaft glauben, daß dies alles
gegen Hitlers Willen geschehe. Auch die Juden selbst nicht.
Wer reich genug war, floh ins Ausland. Die Mehrheit hatte
diese Möglichkeit nicht und traute sich kaum noch aus dem
Haus. Bis zur systematischen Ermordung war es nur noch ein
kleiner Schritt. Die Pläne dafür lagen längst an geheimer Stelle
in Stahltresoren bereit.
Wir wurden auch Zeugen von Verhaftungen. Von manchen
der Festgenommenen wußten wir, daß sie Kommunisten
waren. Bei anderen kannten wir den Grund nicht. Wohin diese
Leute kamen, das erzählte man sich "im Vertrauen". Es gäbe
neuerdings eine besondere Art von Gefängnissen, solche in
denen die Häftlinge ans Arbeiten gewöhnt werden sollten.
123
"Für manche ist so etwas gar nicht schlecht", meinte
Muttchen.
Daß nicht nur Juden, Kommunisten und Arbeitsscheue in die
Mühlen der Faschisten geraten konnten, erfuhren wir einmal
am eigenen Leibe. Wir standen am Straßenrand und sahen zu,
wie ein SA-Trupp mit Hakenkreuzfahne vorneweg
vorbeimarschierte. Dabei vergaßen wir glatt, die Hand zum
Hitlergruß zu erheben. Als wir weitergehen wollten, versperrte
eine Frau uns den Weg und beschimpfte uns. Zum Glück zeigte
sie uns nicht an. Manch anderer wurde auf Grund ähnlicher
Bagatellen zum "Volksfeind" abgestempelt. Leider vergißt der
Mensch Szenen, die nicht in sein Wunschbild hineinpassen,
sehr schnell wieder. So war es auch bei Muttchen.
Mehr und mehr wurde der Alltag beherrscht von Ritualen,
die wir Kinder ziemlich albern fanden. Beim Betreten eines
Geschäftes mußte man einen Hitlergruß mit angewinkeltem
Arm entrichten. Hielt der Führer eine Rede, trafen sich alle
Schüler in der Turnhalle. Dort hörten wir sie uns dann
gemeinsam an. Außerhalb der Schule sollten wir bestimmten
Organisationen beitreten - die Jungen der "Hitlerjugend", die
Mädchen dem "Bund deutscher Mädchen". Dort bleute man
uns ein, daß wir ein "Volk ohne Raum" seien, und daß der
Versailler Vertrag Deutschland in unerträglicher Weise
gedemütigt habe. Uns Mädchen erzählte man, wir müßten uns
darauf einrichten, als "aufrechte, deutsche Frauen" an der Seite
"tapferer Männer" Opfer für das "Vaterland" zu bringen.
Eine sonderbare Verordnung war auch der "Eintopfsonntag",
der die "Volksgemeinschaft zusammenschweißen" sollte. Die
Familien hatten zu diesem Anlaß auf den üblichen Braten zu
verzichten und das eingesparte Geld zu spenden. Der
Blockleiter lief Mittags mit einer Sammelbüchse herum, und
wenn er ein Eifriger war, drang er bis in die Küche vor, um zu
überprüfen, ob dort auch wirklich nur Eintopf auf dem Herd
stand. Mit List und Tücke versuchten viele Leute, sich ihren
Braten zu retten. Sie bereiteten ihn am Vorabend zu,
124
versteckten ihn, lüfteten gut durch und holten ihn nach der
Kontrolle wieder hervor, um ihn aufzuwärmen und endlich zu
essen.
Nach und nach drangen die Nazis in alle Bereiche des
Lebens ein. Selbst die Kirche blieb dabei nicht ausgespart. Das
Alte Testament galt nunmehr als jüdisches Machwerk voller
Abartigkeiten und blutrünstiger Szenen. Daraus vorzulesen,
war plötzlich ein Verbrechen. An der Jacobskirche in Köthen
gab es zwei Pfarrer. Der eine unterstützte Hitler mit seinen
Predigten. Der andere stand im Verdacht, ein heimlicher
Gegner zu sein. Wahrscheinlich gehörte er der "Bekennenden
Kirche" an. Deshalb wurden seine Post und sein Telefon
ständig überwacht.
Äußerlich versuchten die Nazis, sich als vorbildliche
Christen auszugeben. Hitler schloß jede seiner Reden mit der
Bitte an Gott, ihm zu helfen. Faschistische Rassenlehre und
Evangelium aber passen nicht gut zusammen. Wahrscheinlich
dienten die religiösen Phrasen nur dazu, die wahren Ziele zu
verschleiern und beim Volk vertrauenswürdiger zu erscheinen.
1935 fand in Berlin auf dem Tempelhofer Feld eine
Großkundgebung statt. Hitler wollte aller Welt zeigen, wie sehr
das deutsche Volk hinter ihm stand. Vorgesehen war auch eine
Parade mit Hunderten Teilnehmern. Dafür ausgewählt zu
werden, galt als große Ehre. Zu den in dieser Weise
Ausgezeichneten gehörte auch Onkel Otto.
Bei der Vorbereitung des für sie ungemein wichtigen
Ereignisses scheuten die Nazis keine Kosten. Aus dem ganzen
Land wurden Busse mobilisiert, um Leute in die Hauptstadt zu
bringen. Wer mitfahren wollte, brauchte sich nur anzumelden.
Die Fahrt war unentgeltlich. Tante Hethe bestellte Plätze für
sich selbst, Muttchen, Werner Bartlitz und mich.
Alles an jenem Tag überstieg meine damalige
Vorstellungskraft, anfangs im Guten, später im Bösen. Es
begann schon damit, daß ich noch nie zuvor im Leben eine so
lange Strecke mit dem Bus gefahren war. Tante Hethe hatte für
125
alle dick mit Wurst belegte Brötchen geschmiert und auch
Thermoskannen mit Kaffee und Tee mitgebracht. Sie war ganz
außer sich vor Glück über den Auftritt ihres Mannes vor dem
Führer. Auf der Landstraße trafen wir immer wieder andere
Busse, die wie der unsere mit Fähnchen geschmückt waren und
ebenfalls Berlin als Ziel hatten. Die Leuten winkten einander
zu und lachten.
Obwohl wir verhältnismäßig zeitig auf dem Tempelhofer
Feld eintrafen, waren wir keineswegs die ersten. Nur mit
größter Mühe gelang es uns, bis in die Nähe der Ehrentribüne
vorzudringen. Und immer mehr Menschen strömten auf den
Platz. Wir wurden ausweglos eingekeilt. Als mich Muttchen
einmal hochhob, so daß ich über die Köpfe der Umstehenden
hinwegblicken konnte, kam ich mir vor wie ein winziges Schiff
inmitten des Meeres.
Als Hitler erschien, setzte ohrenbetäubender Jubel ein. Dann
sprach er mit seiner heiseren Stimme, und es wurde still auf
dem weiten Platz. Die Leute sogen jedes Wort gierig auf. In
den Pausen dröhnte "Sieg-Heil"-Gebrüll, das sich von mal zu
mal steigerte. Dann schwieg er, und es geschah etwas, das ich
nie, niemals in meinem Leben vergessen werde.
Das Tempelhofer Feld verwandelte sich in ein Inferno
tobender Menschen. Junge Frauen kreischten gellend wie
Trillerpfeifen. Die Augen traten ihnen hervor, Tränen liefen
ihnen über die Wangen. Etliche von ihnen fielen schließlich in
Ohnmacht. Sie brachen zusammen, und niemand kümmerte
sich um sie. Wohin ich mich auch wandte, überall blickte ich in
unnatürlich weit aufgerissene Münder. Einen Mann sah ich wie
irrsinnig mit den Armen fuchteln.
Was war geschehen mit diesen Leuten, die doch eine halbe
Stunde früher noch ganz gewöhnlich ausgesehen hatten? Wie
sollten wir diesem Hexenkessel jemals entkommen. Ich suchte
nach Muttchen und Tante Hethe. Daß beide noch so aussahen
wie sonst, beruhigte mich ein wenig.
126
Dann begann die Parade. Werner hatte sich einen Platz an
der Absperrung gesichert, so daß er seinen Vater gut
beobachten konnte. Ich sah die Marschblöcke nur von Weitem.
Die SS bildete den Auftakt. Bei ihrem Stechschritt dachte ich,
daß sie jeden Augenblick nach hinten umfallen müßten. Ihnen
schloß sich die SA an. Am Schluß kam die Hitlerjugend.
"Führer, wir gehören dir, wir sind dir treu bis in den Tod",
sangen die Jungen.
Später nahm er sie beim Wort.
Mitte der dreißiger Jahre verlor die kleine Helga ein zweites
Mal ihre Eltern. Das Ehepaar, das sie bisher betreut hatte, war
durch Invalidität des Mannes in eine schwierige Lage geraten.
Max weigerte sich, die Alimente zu bezahlen. Warum er sich in
dieser Situation so schäbig verhielt, weiß ich nicht. Möglicher
Weise beeinflußten ihn die Männer, mit denen er sich nach wie
vor regelmäßig abends traf und die er für seine Freunde hielt.
Obwohl die Pflegeeltern ihren Zögling sehr liebten - vielleicht
sogar gerade deshalb - wandten sie sich ans Jugendamt mit der
Bitte, nach einer besseren Lösung zu suchen. Das Jugendamt
wiederum schrieb die noch lebenden nächsten Verwandten an.
Tante Hethe erklärte sich nach langem Zögern schließlich
bereit, die Kleine erst einmal bei sich aufzunehmen. Sie
betonte aber, daß sie nur vorübergehend die Verantwortung
übernehmen könne. Neue Pflegeeltern zu finden, war nicht
leicht. Das Mädchen hatte nun schon eine gewisse
Vergangenheit. Das schreckte die adoptionswilligen Ehepaare
ab.
Genau genommen wurde Helga von Tante Hethe nur
versorgt. Die meiste Zeit des Tages verbrachte sie bei ihrer
Großmutter. Das war nicht besonders vergnüglich für sie.
127
Anstatt lachen und herumtollen zu können, wie es ein Kind in
diesem Alter nun einmal will, mußte sie sich auf die
Gewohnheiten einer alten Frau einstellen. Wenn es draußen
dunkel wurde, ging die Großmutter mit ihr zusammen ins Bett,
auch im Winter.
Als nun Tante Emma erfuhr, wie die arme Helga schon
wieder herumgestoßen wurde, bot sie sich aus Mitleid selbst als
Ersatzmutter an. Im Grunde sprach nichts dagegen, in die
Familie Schatz noch ein drittes Kind einzugliedern. An Geld
mangelte es nicht. Onkel Gustav hatte über seine Arbeitsstelle
eine neue Wohnung in einer Eisenbahnersiedlung am Stadtrand
bekommen. Dort gab es weniger Verkehr als in Charlottenburg.
Auch das Grundstück in Falkensee besaßen die Schatzens
noch.
Ganz so unbeschwert, wie man jetzt glauben könnte, lebte
Helga in Berlin aber dennoch nicht. Irmchen nämlich, die
bisher immer im Mittelpunkt gestanden hatte, wurde plötzlich
dazu angehalten, auf ein jüngeres Geschwisterkind Rücksicht
zu nehmen. Dazu war sie nicht bereit. Vielmehr setzte sie alles
daran, den ungebetenen Gast durch Niederträchtigkeiten aller
Art wieder zu vergraulen. Daß Helga, die eine ähnlich
sanftmütige Natur hatte wie ihre Mutter, sich nicht provozieren
ließ, heizte die Eifersucht noch mehr an. Zwischen dem ewig
erfolgreichen Werner, der inzwischen das Gymnasium mit
glänzenden Noten beendet und ein Studium begonnen hatte,
und der ewig braven Helga geriet das ewig böse Irmchen völlig
außer Rand und Band. Offenbar besaß Tante Emma trotz ihrer
Kinderliebe nicht das nötige pädagogische Geschick, ihrer
Problemtochter durch kleine Erfolgserlebnisse eine Motivation
zu geben, sich in die Familie einzufügen.
Als Kind dachte ich über diese Zusammenhänge noch nicht
nach. Irmchen war in Berlin meine beste Freundin. Wir
verstanden uns glänzend, und ich kann mich nicht an einen
einzigen bösartigen Streit erinnern. Auseinandersetzungen
innerhalb der Familie wurden bei den Schatzens generell nicht
128
in Gegenwart Fremder ausgetragen. Zu den Fremden zählten in
diesem Falle auch wir Köthener. Tante Emma war es wohl
peinlich, daß ihr bei Irmchens Erziehung nicht alles so gelang,
wie sie es wollte.
Daß Irmchen sich rabiat wehren konnte, wenn sie es für
notwendig hielt, das freilich wußte ich. Wegen ihrer
dunkelroten Haare wurde sie auf der Straße manchmal
gehänselt. Dann setzte es Erwiderungen, die sich gewaschen
hatten. Die Berliner Kinder waren berüchtigt für ihr großes
Mundwerk. Irmchen aber übertrumpfte sie alle. Wagte sich
jemand zu nahe an sie heran, konnte sich leicht eine regelrechte
Prügelei entwickeln. War ein Gegner körperlich überlegen,
hieß das noch längst nicht, daß Irmchen unterlag. Mit ihren
dunklen, blitzenden Augen, die wunderbar zu ihren roten
Haaren paßten, erinnerte sie mich an eine Wildkatze: wem es
gelingt, ihr Vertrauen zu gewinnen, von dem läßt sie sich alles
gefallen; wehe aber dem, der ihre Kreise stört, sie womöglich
sogar zu ärgern versucht. Ich bewunderte sie. Manchmal wäre
ich gern selbst so ein Raufbold gewesen wie sie.
Was hatte ich nicht alles für Abenteuer erlebt an ihrer Seite!
Falkensee ist umgeben von weiten Wäldern und Dutzenden
Seen. Bei unseren Streifzügen wagten wir uns mitunter so weit
weg, daß wir kaum noch vor Anbruch der Dunkelheit den
Rückweg schafften. Wir verzapften natürlich auch eine Menge
Unfug, von dem Tante Emma nichts erfahren durfte, Muttchen
schon gar nicht. Einige Male mußte uns Werner aus der
Klemme helfen. Heute staune ich, mit welcher Geduld er uns
immer wieder half. Schließlich hatten wir uns unsere
Schwierigkeiten fast immer selbst geschaffen.
Der Ort Falkensee war übrigens sehr reizvoll. Hier hatten
zahlreiche Filmschauspieler sich prächtige Villen bauen lassen.
Da viele von ihnen jüdischer Abstammung waren, lebten sie
inzwischen im Ausland. Nun gehörten die Villen hohen
Nazifunktionären. Daß grundsätzlich keine Namen an den
129
Türen standen, drängt die Vermutung auf, daß es sich um
wirklich ziemlich bedeutende Leute gehandelt hatte.
Eine Prachtvilla konnte Onkel Gustav sich selbstverständlich
nicht leisten. Er plante aber durchaus ernsthaft, eines Tages die
Gartenlaube durch ein massives Steinhaus zu ersetzen und
dann ständig dort zu leben. Manchmal erzählte er uns ganz
genau, wie das alles einmal werden sollte. Wir mochten ihn
sehr gern. Er war ein richtiger Kindernarr und schimpfte nie.
Mit Helga traf ich in den Ferien selten zusammen. Sie blieb
zumeist bei Tante Emma, wenn Irmchen mit mir loszog.
Großmutter zog sich allmählich aus der Hauswirtschaft
zurück. Sie spürte einerseits, daß Tante Hethe am Schloßplatz
gut zurecht kam, und anderseits, daß ihr selbst allmählich die
Kräfte schwanden, so daß sie, wenn sie ihre Hilfe aufdrängte,
eher behinderte als nutzte. An schönen Tagen ging sie
Nachmittags in den Schloßpark und setzte sich dort auf eine
Bank. Häufig traf sie dabei Leute, mit denen sie Erinnerungen
an längst vergangene Zeiten austauschen konnte.
Da sie ein sehr geduldiger Mensch war, hatte sie sich damit
abgefunden, nicht mehr im Mittelpunkt des Lebens zu stehen,
und begehrte nicht auf gegen ihr Schicksal. Als Heldin
empfand sie sich nicht. Deshalb erschien es ihr wie ein
schlechter Scherz, als ihr eines Tages ein NSDAP-Funktionär
mit pathetischer Geste die Einladung zu einer
Muttertagsveranstaltung überreichte. Die Nazis wollten ein
hohes Bevölkerungswachstum, und das versuchten sie zu
erreichen, indem sie bei jeder Geburt einen bestimmten Betrag
an die Eltern bezahlten und kinderreiche Familien in
besonderer Weise förderten. Der Volksmund nannte das
respektlos "Zuchtprämien". Großmutter, die elf Kinder zur
Welt gebracht und neun davon großgezogen hatte, sollte nun
im Rathaus im Beisein des Bürgermeisters in ganz besonderer
Weise geehrt werden - durch Auszeichnung mit dem
"Mutterkreuz".
130
Am Tage, als die Feierstunde stattfand, ging Großmutter wie
immer aus dem Haus. Sie schlug aber nicht den Weg zum
Rathaus ein sondern setzte sich auf ihre Bank. Während im
prunkvoll geschmückten Ratssaal ganz in der Nähe markige
Musik erklang, blickte sie unverwandt zum Schloß hinüber.
Auf ihrem von unzähligen Schicksalsschlägen zerfurchten
Gesicht ließ sich keine Gefühlsregung ablesen. In ihrem
strengen, schwarzen Kleid wirkte sie ein wenig wie eine
Statue. All ihre Freude und all ihre Trauer waren tief in ihrem
Innern eingeschlossen. Dort lebten nicht nur Franz und Max,
nicht nur Emma, Liese und Hedwig, sondern auch noch die
anderen sechs: Richard und Agnes, die sie schon als Säuglinge
verloren hatte, Minna, der sie dankte für ihre Opferbereitschaft
in den frühen Jahren, Martha, die so fröhlich und zugleich so
rätselhaft gewesen war, Karl und Paul schließlich, die der
Krieg ihr genommen hatte, deren Tod der sinnloseste war. Aus
dem Schloß, wo kein Fürst mehr residierte, kam lärmend eine
Gruppe Jungen heraus, Schüler aus dem Gymnasium. Seit jeher
nahmen die Regierenden sich das Recht heraus, den Müttern
ihre Kinder wegzunehmen, um sie für ihre persönlichen Ziele
zu benutzen.
Da im Deutschland jener Zeit mehr noch als ohnehin alles
seine Ordnung haben mußte, entging Großmutter der
fragwürdigen Ehrung trotz allem nicht. Man brachte ihr den
Orden ins Haus. Sie nahm ihn mit würdevollem Schweigen
entgegen. Was sie danach damit tat, das weiß ich nicht. Zu
Gesicht bekommen habe ich das Kreuz nie.
Nach dieser Episode lebte Großmutter ruhig weiter wie
zuvor. Sie schonte sich, nahm sich in Acht. Dennoch geschah
es, daß sie in der Küche ausrutschte und sich den Oberschenkel
brach. Das Gefährliche dabei war, daß sie nun lange liegen
mußte, was bei alten Menschen oft zu einer tödlich
verlaufenden Lungenentzündung führte.
Alle hatten große Angst um Großmutter. Sogar Onkel Franz
kam aus Hannover. Um die alte Frau nicht zu überanstrengen,
131
gingen immer nur zwei Familienmitglieder gleichzeitig sie im
Krankenhaus besuchen. Einmal ergab es sich, daß ich
gemeinsam mit Onkel Franz an der Reihe war. Weil ich ihn
kaum kannte, brachte ich anfangs vor Schüchternheit kein
Wort heraus. Er nahm mir dann aber allmählich die Scheu.
Zuerst erzählte er mir von Dänemark und Norwegen, wo er ja
einige Jahre lang gelebt hatte. Das fand ich sehr interessant.
Dann fragte er mich nach der Schule, nach meinen
Lieblingsfächern, nach meinen Freundinnen. Ich merkte gar
nicht, wie die Zeit verging. Daß er schon bald wieder abreisen
mußte, war schade. Dadurch fand das Gespräch nie eine
Fortsetzung. Großmutter erholte sich wieder. Sie konnte auch
wieder laufen, mußte aber nun immer einen Stock benutzen.
Im Frühjahr 1935 beendete ich die sechste Klasse der
Grundschule. Weil ich ziemlich gute Zensuren hatte,
veranlaßte Muttchen, daß ich in die Mittelschule kam, die
damals bis zur zehnten Klasse führte. Im Unterschied zur
Realschule, die den Jungen vorbehalten blieb, stand sie auch
Mädchen offen. Allerdings waren innerhalb der Schule Jungen
und Mädchen noch streng voneinander getrennt.
In gewissem Grade stand ich nun vor einer ähnlichen
Situation wie 25 Jahre zuvor mein Onkel Max. Die meisten
meiner Mitschülerinnen kamen aus reicheren Familien als ich.
Zudem war Muttchen generell sehr sparsam, wenn es um
Dinge ging, die sie für nicht wichtig hielt. Was ihr unwichtig
erschien, konnte aber für mich sehr wohl wichtig sein, zum
Beispiel um in der Klasse nicht in eine Außenseiterrolle zu
geraten.
Auf den Einfall, einfach die Schule zu schwänzen, kam ich
trotzdem nie. Ich versuchte vielmehr, die Nachteile durch
Erfolge beim Lernen auszugleichen. Natürlich gab es
überhebliche Gänse, die ich selbst damit nicht beeindrucken
konnte. Insgesamt aber war ich nach einiger Zeit in meiner
Klasse durchaus geachtet.
132
Übrigens mußte ich mir abfällige Bemerkungen nicht nur in
der Schule anhören. Wie zuvor bei Muttchens erstem Hauskauf
sahen auch diesmal Tante Emma und Tante Hethe nicht ein,
wieso die armen Maxens eine Tochter an einer höheren Schule
haben mußten. Daß Werner Bartlitz die Mittelschule besuchte,
das ging in Ordnung. Bei mir war das etwas ganz anderes.
Mein Verhältnis zu dem annähernd gleichaltrigen Werner
verschlechterte sich dadurch allerdings nicht. Ich spielte mit
ihm sogar ziemlich oft. Das lag daran, daß Muttchen häufig am
Abend nach der Arbeit noch zum Schloßplatz ging. Uns Kinder
nahm sie dabei mit, damit wir zu Hause keinen Unfug anstellen
konnten. Werner war um diese Zeit gerade fertig mit seiner
Arbeit im Stall. Er mußte seiner Mutter beim Füttern der Tiere
helfen, eine Pflicht, die er haßte.
Wenn sich die Frauen dann zum Plaudern ins Wohnzimmer
setzten, dann hatten wir Kinder frei und zwar gleich für ein
paar Stunden, denn so rasch wurden die beiden nicht fertig.
Rudi spielte nicht mehr mit uns. Er hatte inzwischen die Schule
beendet und ging bei einem Schneider in die Lehre. Dafür stieß
häufig Werners Cousine Hilde zu uns, ein waschechtes
Arbeiterkind, das es faustdick hinter den Ohren hatte und uns
über Zusammenhänge aufklärte, über die unsere Mütter uns
noch mindestens bis zu unserem achtzehnten Geburtstag im
Unklaren lassen wollten.
Nach Einbruch der Dunkelheit war der Schloßplatz mit
seinen vielen Bäumen und Sträuchern ziemlich gruselig.
Manchmal graulte ich mich ganz schrecklich, ließ mir aber
nichts anmerken. Vielleicht ging es den anderen ähnlich.
Anderseits hatten diese Abenteuer auch ihren Reiz. Im
Nachhinein kamen wir uns vor wie Helden aus einem Märchen.
Auch Muttchen war der Schloßpark zu später Stunde nicht
geheuer. Eigentlich sollte ja Vater sie auf dem Heimweg
begleiten. Ein paarmal hatte er das auch getan. Da die
Schwestern aber nie ein Ende finden konnten, war ihm das
schließlich zu dumm geworden. Muttchen mußte also ohne
133
männlichen Beistand auskommen. Sie rannte fast und spähte
wie ein Reh ständig rundherum nach Angreifern.
Welche Haltung zu den Nazis hatten eigentlich Franz und
Max, meine beiden damals noch lebenden Onkels? Ich weiß es
nicht. In die NSDAP traten sie beide nicht ein. Mit Otto
verstand Max sich überhaupt nicht. Wenn er seine Mutter
besuchte, wählte er einen Tag, an dem er ihm nicht über den
Weg laufen konnte, ähnlich wie zuvor bei seinem Vater.
Spielten dabei auch politische Gründe ein Rolle oder nur
persönliche? Was hätte wohl Martha gesagt zu diesem
Deutschland?
Sie
war
fast
noch
konsequenter
sozialdemokratisch gesinnt gewesen als Großvater. Aber ich
will mich nicht in Spekulationen verlieren.
Was Vaters Arbeit anging, erfüllten sich Muttchens in die
Nazis gesetzten Hoffnungen. Er fand sogar eine für ihn
geradezu ideale Anstellung. Seine Aufgabe bestand darin, im
Schichtbetrieb die Köthener Kläranlage zu überwachen. Der
Großteil der in der Stadt anfallenden Abwässer kam dort an. In
verschiedenen Becken verdunstete allmählich das Wasser und
zurück blieb ein zur Düngung gut geeigneter Schlamm, den
sich die Bauern der Umgebung für ihre Felder holten.
In der Nachtschicht war ein einziger Angestellter für die
gesamte Anlage verantwortlich. Im Unterschied zu den meisten
seiner Kollegen, gefiel Vater das außerordentlich gut. Daß er
sich nicht fürchtete, wird mir ewig ein Rätsel bleiben. Die
Anlage lag inmitten ausgedehnter Gärten weitab jeder
menschlichen Behausung. Allerdings kann ich mir vorstellen,
daß mein jüngerer Sohn die Dinge genau so wie er gesehen
hätte. Welches Gen mag wohl dafür verantwortlich sein?
Daß es im Klärwerk keine NSDAP-Parteigruppe gab, war
Vater gleichfalls sehr angenehm. Die Wohngebietsgruppe, der
er ersatzweise zugeschlagen wurde, belastete ihn nicht
sonderlich. Allerdings hatte man ihm das Amt des Kassierers
aufgedrängt. War er in dieser Funktion unterwegs, stand
Muttchen immer Ängste aus. Da seine Haltung zu den Nazis
134
sich eher zum Negativen als zum Positiven hin entwickelt
hatte, befürchtete sie, daß er die abfälligen Kommentare, die er
zu Hause abgab, auch einmal vor Fremden riskierte. Manchmal
mußte er Plaketten verkaufen. Das war eine Arbeit, die zumeist
an uns Kindern hängen blieb.
Jetzt wird es Zeit, daß ich wieder einmal über unsere
Wohnverhältnisse berichte. Muttchens Umzüge könnten gut
und gern für sich allein ein Buch füllen. Kaum hatte sie sich
irgendwo niedergelassen, da störte sie schon wieder irgend
etwas. Manchmal waren die Mieter oder die Nachbarn die
Ursache, manchmal plagte sie einfach nur der Ehrgeiz. Ich
könnte über die kuriosesten Geldbeschaffungsaktionen
berichten und sogar über Gerichtsverhandlungen. Damit würde
ich aber das Schwergewicht verschieben und die Chronik
bekäme einen anderen Charakter. So werde ich mich auf
Andeutungen beschränken.
Unser zweites Haus hatten wir aufgegeben, als die für das
Viertel verantwortliche Baugesellschaft zusammenbrach. Die
Mietwohnung, in die wir auswichen, war ziemlich klein. Als
sich die Wirtschaftslage im Land verbesserte, fand sich eine
Firma, welche die halbfertige Siedlung vervollständigte. Das
brachte Muttchen auf den Gedanken, dorthin zurückzuziehen.
Tatsächlich fand sie eines Tages ein entsprechendes Angebot in
der Zeitung und griff sofort zu. Damit sie nicht wieder mit
Dauermietern Ärger bekäme, vergab sie den entbehrlichen
Wohnraum nur noch befristet. Interessenten zu finden,
bereitete keine Schwierigkeiten. Vor allem Studenten nahmen
gern möblierte Zimmer.
Selbstverständlich ließ sich auch an jenem Haus ein Mangel
feststellen. Es lag ein wenig am Rande. Gleich hinter dem
Garten begannen die Felder. Muttchen fürchtete nun, diese
exponierte Stellung könne Einbrecher anlocken. So zogen wir
abermals in eine Mietwohnung, diesmal allerdings in eine
ziemlich große. Wir mußten uns nicht einschränken. Muttchen
konnte sogar weiterhin vermieten.
135
Mitte der dreißiger Jahre ließen die Nazis die Köthener
Maschinenfabrik beträchtlich vergrößern. Künftig sollten dort
Motoren für die Dessauer Junkers-Flugzeugwerke montiert
werden. Weil das für die Kriegsvorbereitung sehr wichtig war,
holte man Bauarbeiter von überall her. Dadurch wiederum
stieg der Bedarf an möblierten Zimmern, und wir hatten gute
Einnahmen. Dieses Geld investierte Muttchen sofort in ein
neues Projekt. Wieder einmal sollte es ein Haus sein, und zwar
ein nagelneues, eines, das erst noch gebaut werden mußte.
Dabei fielen ziemlich viel Eigenleistungen an.
Ab 1936 steuerte Deutschland immer offensichtlicher auf einen
großem Krieg zu. Ein Netz von Autobahnen für den
Truppentransport entstand. Zum selben Zweck wurde die
Eisenbahn modernisiert. Die Produktion von Rüstungsgütern
aller Art lief auf Hochtouren, angefangen von auf den ersten
Blick harmlos erscheinenden Kraftfahrzeugen bis hin zu
schweren Granaten. Auf der Suche nach Verbündeten schloß
Hitler mit Japan, Italien und Spanien den "Antikominternpakt".
Sein Name spiegelte den Franzosen, Briten und Amerikanern
vor, daß er sich ausschließlich gegen die Sowjetunion richte.
Daß das nicht stimmte, hätten die Westmächte sich eigentlich
denken können. Die Wiedereinführung der allgemeinen
Wehrpflicht in Deutschland, die einseitige Aufkündigung der
Locarno-Verträge durch die Nazis - verbunden mit dem
Einmarsch in das entmilitarisierte Rheinland - sowie der
"Anschluß" Österreichs ließen wahrhaftig nichts Gutes ahnen.
Von Politikern erwartete man Weitblick. Ist das vermessen?
Wer im Glashaus sitzt, sollte nicht mit Steinen werfen, lautet
ein Sprichwort. Von 1936 bis 1939 wütete in Spanien der
Bürgerkrieg. Daß die rechtmäßig gewählte Volksfrontregierung
136
sich gegen die putschenden Nationalisten letztlich nicht
behaupten konnte, lag zu einem wesentlichen Teil an der
massiven Einmischung anderer Länder. Von deutscher Seite
beteiligte sich die Legion Condor. Ihre Fliegerstaffeln
erlangten bei der Bombardierung Guernicas traurige
Berühmtheit. Picasso hat das schreckliche Ereignis in seinem
vielleicht berühmtesten Gemälde dokumentiert. Vor diesem
Hintergrund ist es mehr als peinlich, zugeben zu müssen, daß
die an diesem und zahlreichen anderen Verbrechen beteiligten
Flugzeuge auch vom Köthener Militärflughafen starteten und
daß wir die Piloten dort nach ihrem fragwürdigen Sieg als
Helden bejubelten. Die Kinder bekamen schulfrei. Die
Menschen standen zu Hunderten am Straßenrand und warfen
Blumen.
Die Fliegerei hatte in Köthen übrigens Tradition. Vor dem
Machtantritt der Nazis war der Flugplatz für zivile Zwecke
genutzt worden. Es gab einen Verein, in welchem Studenten
aus wohlhabenden Familien den Flugschein erwerben konnten.
Ab und zu fanden Kunstflugveranstaltungen statt. Im Rahmen
der Kriegsvorbereitung übernahm dann Göhrings Luftwaffe
das Gelände. Nun wurden eilig Kasernen und
Offiziersunterkünfte errichtet. Auch der Flugplatz selbst erhielt
etliche neue Gebäude und Einrichtungen. Die Angehörigen
dieser Truppen nannte der Volksmund etwas salopp "die
Schlipssoldaten". Tatsächlich gehörte zu ihrer Uniform eine
Krawatte. Schon das zeichnete sie als Elitesoldaten aus. Die
Luftwaffe sollte den kommenden Krieg zu Gunsten
Deutschlands entscheiden.
Nachdem Rudi seine Schneiderlehre beendet hatte, wurde er
zum "Reichsarbeitsdienst" eingezogen. Gar zu traurig war er
darüber nicht. Seines Berufes wegen brachte man ihn in einer
Kleiderkammer unter. Dort hatte er seine Ruhe. Nach
Dienstschluß amüsierte er sich in den Tanzlokalen der
Umgebung. Die Uniform stand ihm ausgezeichnet, und da er
137
auch elegant aufzutreten verstand, brauchte er sich über zu
wenig Chancen bei den Mädchen nicht zu beklagen.
Leider nahm die schöne Zeit für ihn ein jähes Ende. Der
Winter
war
streng.
Die
Wasserleitungen
des
Arbeitsdienstobjektes froren zu. Die Versorgung sicherte
ausschließlich eine Pumpe, vor der Tag und Nacht ein Feuer
brannte. Als Rudi einmal mit einem Eimer dorthin unterwegs
war, rutschte er auf der spiegelglatten Straße aus und brach
sich ein Bein. Er kam nach Dessau ins Krankenhaus. Dort
stellte sich heraus, daß es sich um einen sehr ungewöhnlichen,
schwer zu heilenden Bruch handelte. Das Bein wuchs zweimal
falsch zusammen und mußte jeweils noch einmal künstlich
gebrochen werden. Erst nach fast einem Jahr konnte Rudi das
Krankenhaus wieder verlassen.
Während der vielen Wochen, die er im Bett zubrachte, litt er
nicht nur körperlich sondern auch seelisch. Er hatte viel Zeit
zum Nachdenken. Würde er jemals wieder laufen können,
fragte er sich. Die Ärzte trösteten ihn, wagten sich aber auf
keine Prognose festzulegen. Er trauerte den Tanzabenden nach,
sah sich schon als Krüppel sein restliches Leben fristen.
Um ihn ein wenig aufzurichten, besuchten wir ihn
regelmäßig. Zumeist fuhren wir mit dem Fahrrad, manchmal
benutzten wir den Zug. Muttchen buk Kuchen für ihn und
beschenkte die Krankenschwestern, damit sie sich seiner
besonders annehmen. Nach über einem Jahr konnte er endlich
entlassen werden. Völlig gesund war er da noch immer nicht.
Das hatte aber immerhin in dieser Zeit auch einen Vorteil. Er
mußte nicht zu den regulären Truppen sondern wurde nach
Stendal versetzt, wo er nun eine Kleiderkammer leitete.
Elly begann nach Beendigung der achten Klasse eine
Blumenbinderlehre. Wenig später wurde sie plötzlich krank.
Sie bekam Fieber und Hautausschlag. Die Ärzte vermuteten
zunächst, daß sie unter einer Empfindlichkeit gegen Blumen
leide. Dann aber stellte sich heraus, daß sie sich mit Scharlach
infiziert
hatte.
Treten
Kinderkrankheiten
erst
im
138
Erwachsenenalter auf, verlaufen sie oft besonders schwer. So
war es auch bei meiner Schwester. Das Fieber, das wochenlang
nicht weichen wollte, was immer wir auch unternahmen, griff
sogar die Herzklappen an.
Nach der Genesung rieten die Ärzte zu einem Aufenthalt an
der See. Muttchen fuhr deshalb mit ihr für ein paar Tage nach
Swinemünde. Das war natürlich nur wie ein Tropfen auf den
heißen Stein. Sollte Elly für längere Zeit dort an der Küste
bleiben, brauchte sie Arbeit in der Stadt. Glückliche Umstände
bewirkten, daß sie sich bei dieser Gelegenheit sogar einen
geheimen Wunsch erfüllen konnte. Sie erhielt einen
Ausbildungsplatz im Krankenhaus.
Swinemünde war wirklich eine schöne Stadt. Zweimal
bekam ich sie selbst zu sehen, beide Male im Zusammenhang
mit einem Besuche bei Elly. Am Strand standen ganze Ketten
von Hotels für Kurgäste. Über die breite Promenade flanierten
vornehm gekleidete Leute. Im Hafen bewunderte ich die
großen Hochseeschiffe, die einer Landratte wie mir wie
Ungetüme von einem anderen Stern vorkamen. Einmal sah ich
sogar ein Kriegsschiff.
Ein freudiges Ereignis gab es am Schloßplatz. Werner
Bartlitz bekam mit fünfzehn Jahren noch einen kleinen Bruder,
der den Namen Heinz erhielt. Innerhalb meiner Generation von
Schulzekindern sollte er das jüngste Mitglied bleiben. Seine
ersten Lebensmonaten verliefen ziemlich dramatisch. Im
achten Schwangerschaftsmonat auf die Welt gekommen, wog
er am Anfang gerade drei Pfund. Die Ärzte wollten ihn in einen
Brutkasten stecken. Dagegen aber sträubte sich Tante Hethe.
"Ich habe ihn zu Hause geboren und gebe ihn auch jetzt nicht
weg", sagte sie. "Wenn er sterben muß, dann kann er das auch
hier."
Diejenigen, die sie daraufhin als altmodisch und uneinsichtig
hinstellten oder sogar als Rabenmutter titulierten, belehrte sie
eines Besseren. Sie schaffte es tatsächlich, ihr Frühchen ohne
fremde Hilfe aufzupäppeln. Nach etwa einem Jahr hatte sie das
139
Baby außer Gefahr. Nun entwickelte sich der Kleine ganz
normal und wurde ein hübscher Junge.
Einmal bekamen wir unerwartet Besuch. Vor der Tür
standen zwei junge Männer. Muttchen glaubte, sie nicht zu
kennen, und behandelte sie zunächst recht förmlich. Dann
stellte sich aber heraus, daß sie zwei meiner Cousins waren,
Karl und Kurt, die Söhne von Onkel Franz. So selten kamen
wir mit unseren in Hannover lebenden Verwandten zusammen!
Die beiden hatten Köthen bei einer großen Fahrradtour
gestreift. Sie wollten auch noch nach Berlin radeln und dort
Tante Emma überraschen. Wenig später brach Werner Bartlitz
mit ein paar Freunden nach Hannover auf, zum Gegenbesuch
gewissermaßen.
Das Jahr 1937 brachte für Werner Bartlitz und mich den
Beginn eines neuen Lebensabschnitts. Wir wurden am
Palmsonntag konfirmiert. Die Feier nahmen wir damals
tatsächlich sehr ernst. Schon der äußere Rahmen deutete auf
die besondere Bedeutung des Ereignisses hin. Werner trug zum
ersten mal in seinem Leben einen Anzug sowie ein weißes
Hemd und eine Krawatte. Ich bekam ein langes schwarzes
Kleid aus gutem Stoff geschenkt. Selbstverständlich reiste
Tante Emma mit ihrer Familie an. Daß ich plötzlich in dieser
Weise im Mittelpunkt stand, war mir gar nicht so sehr
angenehm. Die Erwachsenen erwarteten tadelloses Benehmen,
und ich hatte ständig Angst, daß mir ein Fehler unterliefe. Wir
waren damals mit vierzehn Jahren fast alle noch recht
schüchtern.
Für mich bedeutete dieses Jahr aber noch in anderer Hinsicht
einen Einschnitt im Leben. Muttchen meldete mich nach der
achten Klasse von der Mittelschule ab, und damit brach für
mich eine Welt zusammen. Die Entscheidung war ebenso
ungerecht wie unnötig. Ich hatte ausgezeichnete Zensuren und
war deshalb vom Schulgeld befreit. Auch die Lehrbücher
kosteten meine Eltern keinen Pfennig. Der Familie ging es
wieder gut. Niemand brauchte dringend meinen geringen
140
Lehrlingslohn. Warum also nahm Muttchen mich vorzeitig von
der Schule, so wie das normalerweise nur mit sehr dummen
Schülern geschah?
Zwei Tatsachen gaben zweifellos den Ausschlag: ich war ein
Mädchen und ich war eine Max. Wahrscheinlich hatte
Muttchen den Sticheleien von Tante Hethe und Tante Emma
schließlich nachgegeben. Für Werner Bartlitz wurde eine
ähnliche Entscheidung nicht einen Augenblick lang erwogen.
Diese Demütigung war für mich besonders schlimm. Als ich
mich von meinen Lehrern und Klassenkameradinnen
verabschiedet hatte und zum letzten Mal die Treppen am
Eingangsportal der Schule hinunterging, standen mir Tränen in
den Augen.
Danach bekam ich eine Lehrstelle in einer Drogerie, wo ich
zur Fotolaborantin ausgebildet wurde. Dort hatte ich eine
strenge Lehrmeisterin. Sie war deutlich größer als ich, und
wenn sie vor mir stand und mich aus ihren schwarzen Augen
durchdringend ansah, wurde ich unwillkürlich noch ein paar
weitere Zentimeter kleiner. Mit ihrem Mann, dem eigentlichen
Inhaber des Ladens, verstand ich mich dagegen sehr gut. Wenn
die Frau zu ihren Freundinnen Kaffeetrinken ging, was genau
einmal in der Woche vorkam, dann kaufte er für das
Ladenmädchen und mich ein paar Stücken Kuchen und
gewährte uns eine freie Stunde zusätzlich. An den
traditionellen Sommerausflügen dagegen beteiligten sich alle.
Wir fuhren zu viert mit dem Auto hinaus in den Wald. Dort
wurde für jeden eine Hängematte aufgespannt. Das sah recht
lustig aus.
Die große Leidenschaft des Chefs war sein Schützenverein.
Er hatte Talent und besaß etliche Auszeichnungen. Seinen
größten Triumph feierte er genau in der Zeit, als ich bei ihm
lernte. Er wurde Schützenkönig von Köthen. Das Schützenfest
war alljährlich ein besonderes Ereignis in der Stadt. Somit
brachte der Sieg große Anerkennung mit sich.
141
Natürlich unterliefen mir in meiner Unerfahrenheit auch
Mißgeschicke. Eines davon mündete in ein beinahe
drehbuchreifes Desaster. In der Woche nach dem Pfingstfest,
der wichtigsten Zeit für das Fotogeschäft der Drogerie, verfing
sich mein Kleid in der Dunkelheit des Labors am Hahn des
großen Entwicklertanks. Der Hahn riß ab, der Tank lief aus.
Verzweifelt versuchte ich, das Gefäß zu reparieren, stand aber
auf verlorenem Posten.
Der Schaden war gewaltig. Für eine neue Füllung mußte
telegrafisch neuer Entwickler bei AGFA Wolfen bestellt und
per Kurier herangeschafft werden. Sämtliche während des
Auslaufens im Tank befindlichen Filme hatten sich nicht mehr
retten lassen. Um die betroffenen Kunden zu besänftigen,
mußte ich zu jedem von ihnen nach Hause gehen und
ausdrücklich alle Schuld auf mich nehmen.
In Berlin hatte meine Cousine Irmgard inzwischen eine
Friseurlehre begonnen. Währenddessen bekam Tante Emma
immer größere Schwierigkeiten mit ihr. Was im Einzelnen
vorgefallen war, weiß ich nicht. Offensichtlich aber befürchtete
die Mutter ernsthaft, daß ihre Tochter auf die schiefe Bahn
gerate. In ihrer Ratlosigkeit erwog sie mal den einen, mal den
anderen Plan. Am Ende hielt sie es für das Beste, sie in einem
Internat erziehen zu lassen. Ich nehme an, daß sie sich für eine
kirchliche Einrichtung entschied.
Wie es dort zuging, kann ich wiederum nur vermuten.
Zweifellos herrschte ein strenges Regiment. Die Mädchen
lernten kochen, nähen und noch manch anderes, was man
damals für wichtig hielt, und mußten sich selbstverständlich in
eine größere Gemeinschaft einfügen. Irmgard, die gewohnt
war, im Mittelpunkt zu stehen, dürfte letzteres sehr schwer
gefallen sein. Vielleicht brachte sie sich mit ihrer
Angewohnheit, schon auf geringste Angriffe mit rabiater
Verteidigung zu reagieren, frühzeitig in eine Außenseiterrolle.
Wie dem auch gewesen sein mochte, fest steht, daß sie eines
Nachts tränenüberströmt vor der elterlichen Wohnung stand.
142
Sie war aus dem Internat geflüchtet und flehte nun ihre Mutter
an, sie nicht wieder dorthin zurückzubringen. Es werde von
nun an bestimmt nie wieder Ärger mit ihr geben, versicherte
sie. Tante Emma jedoch glaubte ihr nicht und blieb hart. Von
diesem Tage an verschlimmerte sich das Verhältnis zwischen
beiden dramatisch. Irmgard war nun nicht mehr nur
widerspenstig sondern haßte ihre Mutter regelrecht. Von
gewissen Schwankungen abgesehen, blieb das über die
Jahrzehnte hinweg auch so.
1938 verkündeten die Nazis ihre These vom "Volk ohne
Raum" buchstäblich Tag und Nacht über sämtliche, ihnen
verfügbaren Wege. Zeitungen und Rundfunksender berichteten
reißerisch über die angebliche Drangsalierung der deutschen
Bevölkerung in Polen und im tschechischen Sudetenland. Die
massive Propaganda blieb nicht ohne Wirkung. Bald glaubten
die meisten Leute, geradezu körperlich zu spüren, wie ihnen
der Platz in den bestehenden Grenzen fehlte. Auf den Straßen
marschierte die Hitlerjugend und sang "Nach Ostland laßt uns
reiten" und "Die Fahne ist mehr als der Tod".
Das Ausland unternahm nichts, um Hitlers Ehrgeiz zu
dämpfen. Im Gegenteil. Im September erklärten sich
Champerlein und Daladier im Namen Großbritanniens und
Frankreich durch das "Münchener Abkommen" mit der
Abtrennung des Sudetenlandes von der Tschechoslowakei
einverstanden. Wie jeder Räuber nahmen auch die deutschen
Faschisten am Ende mehr, als man ihnen anbot. Anfang 1939
besetzten sie auch noch die restlichen Gebiete des
Nachbarlandes und gründeten das "Reichsprotektorat Böhmen
und Mähren".
Von Krieg sprachen die Nazis noch immer nicht. Das
"Münchener Abkommen" habe den Weltfrieden gerettet,
versicherten sie. Die Eingliederung der "Rest-Tschechei" ins
Reich sei mit Willen der dort lebenden Menschen auf Grund
eines Abkommens mit dem Präsidenten Hacha erfolgt.
Überhaupt könne es gar keine bessere Friedensgarantie geben
143
als ein starkes Deutschland. Aus heutiger Sicht äußerst plumpe
Lügen, damals nur von wenigen Menschen durchschaut.
144
6. Kapitel
Margarete erzählt
Im Sommer des Jahres 1939 häuften sich die Meldungen über
angebliche Greueltaten an "Volksdeutschen" in Polen. Vor
allem der "Blutsonntag von Bromberg", ein angebliches
Pogrom an Deutschen in einer polnischen Stadt, wurde von den
Medien weidlich ausgeschlachtet. Der letzte Akt in der
Vorbereitung auf den großen Krieg hatte begonnen. Über
Nacht wurden ohne Begründung Lebensmittelkarten
eingeführt. Minister Göring fragte suggestiv in einer seiner
Reden: "Wollt ihr Kanonen oder Butter?"
Dennoch gaben die meisten Leute sich noch immer der
Illusion hin, die Dinge würden sich irgendwie schon wieder
einrenken, ohne daß der einzelne ernsthaft betroffen wäre. Ich
erinnere mich noch genau, wie es war, als Muttchen eines
Morgens in die Küche kam und sagte:
"Es ist Krieg."
Mir gingen so viele Gedanken zugleich durch den Kopf.
Krieg war immer etwas Schreckliches für mich gewesen. Ich
mochte mich nie damit abfinden, daß Menschen sterben sollten
für irgend ein Ideal oder irgend eine Religion. Nicht, daß ich
das schreckliche Ende vorausgesehen hätte. Ich wäre damals
kaum fähig gewesen, meine Empfindungen zu begründen. Ich
hatte einfach Angst, Angst vor der Zukunft, Angst vor dem
Unbekannten, welches sich hinter dem Wort "Krieg" verbarg.
Ob es vielen anderen Leuten in Deutschland ähnlich ging
wie mir? An jenem ersten Kriegstag vielleicht. In den nächsten
Wochen beruhigten sich die meisten wieder. Der Polenfeldzug
kam schnell zum erfolgreichen Abschluß. Hitler und Stalin
einigten sich in einem Vertrag auf Interessensphären, so daß
von Osten her nichts mehr zu befürchten war. England und
145
Frankreich traten zwar in den Krieg ein, weil ein Beistandspakt
mit Polen sie dazu verpflichtete, doch unternahmen sie aus
Feigheit oder Kalkül so gut wie nichts. Die Tatsache, daß
Verdunklung befohlen wurde - mit schwarzen Rollos, die es
plötzlich überall zu kaufen gab - verharmloste Göring mit den
Worten, er wolle Meier heißen, wenn auch nur ein einziges
feindliches Kampfflugzeug in den deutschen Luftraum
eindringe, ohne abgeschossen zu werden.
Mehr oder minder zog der Krieg freilich jeden in seinen
Strudel. Onkel Otto half im Westen beim Bau von
Befestigungsanlagen. Keine Grenze in der Welt war damals
auch nur annähernd so aufwendig gesichert wie jene zwischen
Deutschland und Frankreich, den "Erzfeinden". Dem Westwall
auf der einen Seite stand die Maginolinie auf der anderen
gegenüber, Tonnen von Beton, gespickt mit Tausenden
Kanonen aller Kaliber. Einer traute dem anderen nicht.
Immerhin bewahrte der Arbeitseinsatz unseren Onkel vor der
Front.
Werner Bartlitz lernte an der Fachhochschule in Magdeburg.
Er war noch zu jung für den Krieg. Das empfand er allerdings
durchaus nicht als Vorteil. Mit seinen Freunden träumte er von
Heldentaten an der Front. Die Jungen beschlossen, sich
freiwillig zu Eliteeinheiten zu melden, sobald sie das konnten.
Werner bewarb sich bei der Marine und wurde dort auch
angenommen. Als Einziger überlebte er den Krieg.
Vater gehörte zu den Jahrgängen, die man (noch) nicht
einzog. Mein Bruder Rudi hatte als Soldat wieder das Glück, in
einer Kleiderkammer eingesetzt zu werden, und zwar in
Magdeburg. Werner Schatz erreichte seines Studiums wegen
eine Zurückstellung.
Auf meiner Arbeitsstelle hatte ich nun eine ganz andere
Sorte Bilder zu entwickeln als früher. Die Fotos von spielenden
Kindern und fröhlichen Familienfeiern wurden seltener. Jetzt
waren heroische Motive gefragt. Portraits junger Männer in
Paradeuniformen gingen zu Hunderten durch meine Hände.
146
Manche der Soldaten trugen Blumenschmuck nach
glanzvollem Sieg. Viele ließen sich auch mit Freunden
zusammen ablichten. Die in der Heimat Zurückgebliebenen
sollten sich überzeugen, daß sie bei der Einnahme diesen oder
jenen Ortes dabei gewesen waren. Als ich in Swinemünde
meine Schwester Elly besuchte, sah ich die Soldaten mit
eigenen Augen - junge Matrosen voller Siegeszuversicht. Die
schändliche Niederlage von 1918 wird sich nicht wiederholen,
sprachen ihre Gesichter.
Übrigens gab es immer noch eine Menge normalen Alltags.
Zum Beispiel wurde mir eine Kur an die Nordsee verschrieben.
Ich verbrachte vier Wochen in Wyk auf der Insel Föhr und
sammelte viele Eindrücke dort. Schon die Anreise war ein
Erlebnis, denn es blies eine steife Brise und das Fährschiff
schaukelte reichlich in den Wellen. Das Phänomen von Ebbe
und Flut beeindruckte mich sehr, kannte ich doch bis dahin nur
die Ostsee. Schnell lernte ich neue Freundinnen kennen, mit
denen zusammen ich mehrere Wanderungen über das
Wattenmeer unternahm. Den Krieg hätte ich dabei wohl glatt
vergessen, wären nicht die Routinebelehrungen über das
Verhalten bei Fliegeralarm gewesen.
Nach dem leichten Sieg über Polen und vor allem angesichts
der Unentschlossenheit der stärksten Gegner fühlten sich die
Nazis im Frühjahr 1940 stark genug für neue, größere
Feldzüge. Sie besetzten Dänemark und Norwegen. Dann fielen
sie über Holland und Belgien in Frankreich ein. Die mit so viel
Aufwand gebaute Maginolinie nutzte nichts, weil sie von den
deutschen Truppen einfach umgangen wurde. Nachdem sie
sich schon politisch so gründlich verrechnet hatten, scheiterten
die westlichen Verbündeten nun auch militärisch in
kläglichster Art und Weise. Bei Dünkirchen wurden die
geschlagenen Reste ihrer Armee ins Meer getrieben. Das stolze
Paris fiel am 14. Juni kampflos.
Inzwischen hielten die Nazis sich nicht mehr mit langen
Begründungen auf, wenn sie einen neuen Feldzug begannen.
147
Auf dem Balkan schufen sie im Frühjahr des folgenden Jahres
einfach nur "Ordnung". In Afrika eilte General Rommel den
Italienern zu Hilfe. Die versuchten dort schon seit ein paar
Monaten, sich ein paar zusätzliche Quadratkilometer Land
zusammenzuräubern, kamen aber nicht so recht voran.
Allerdings wurde das Volk zur Wachsamkeit ermahnt. In den
Hausfluren hingen eines Tages Plakate, auf denen ein großer,
menschenähnlicher Schatten und die Aufschrift: "Achtung,
Feind hört mit!" zu erkennen waren.
Für die Schulzes brachten die ersten beiden Kriegsjahre nicht
allzu viel Neues. Von Onkel Franz erfuhren wir durch einen
Brief, daß seine Söhne zwar an der Front seien, sich aber noch
bester Gesundheit erfreuten. Irmgard entging nur knapp einer
Zwangsverpflichtung in die Rüstungsindustrie. Onkel Gustav
verschaffte ihr einen Ausbildungsplatz bei der Bahn. Die galt
als ebenso wichtig. An den Lokomotiven stand in großen
Buchstaben geschrieben: "Räder müssen rollen für den Sieg".
Über das Schicksal von Irmgards Bruder Werner während des
Krieges weiß ich bis heute nicht gut Bescheid. Er wurde
eingezogen, aber offenbar aus irgend einem Grund nicht an die
Front geschickt.
Muttchen gelangte in dieser Zeit zu der Erkenntnis, ihre
Tochter Elly brauche einen Mann. Weil sie bekanntlich ein
Mensch schneller Entschlüsse war, und weil sie es sich - wie
damals die meisten Leute - abgewöhnt hatte, Unternehmungen
auf die Zeit nach dem Krieg zu vertagen, setzte sie im Namen
ihrer Tochter eine Anzeige in die Zeitung. Nun war es nicht so,
daß meine Schwester und ich keine Gelegenheit fanden, auf
direktem
Wege
Bekanntschaften
zu
schließen.
Tanzveranstaltungen wurden nur während der Feldzüge
untersagt. Zwischendurch gab es für junge Leute durchaus
Möglichkeiten, sich zu amüsieren. Aber das, was sie für sich
selbst ganz selbstverständlich in Anspruch genommen hatte,
das wollte Muttchen für ihre Kinder keineswegs gelten lassen.
148
Die waren zweifellos viel zu unaufmerksam, um die richtige
Wahl zu treffen. Das mußte sie selbst erledigen.
Die Anzeige erschien. Zuschriften trafen ein - ein ganzer
Waschkorb voll. Damit, daß so unglaublich viele "nette,
anständige Männer" dringend ein "junges, bescheidenes
Mädchen" suchten, hatte Muttchen nicht gerechnet. Die Sache
wuchs ihr über den Kopf. Sie brauchte einen Helfer - mich.
Während Elly ahnungslos in Swinemünde weilte, arbeiteten
wir uns zu Zweit durch den Berg der Bewerber. Die
Auswahlkriterien, die wir anlegten, waren stahlhart: Ohne
Bild - ab in den Papierkorb; einmal verschrieben - das selbe.
Wer die erste Runde überstanden hatte, fand sich in einem von
drei Haufen wieder und konnte immerhin damit rechnen, einer
gründlichen Bewertungsdiskussion unterzogen zu werden.
Bis zu diesem Punkt fand ich das alles noch recht
vergnüglich. Nun aber kam die eigentliche Arbeit. Um den
erfolgversprechendsten Herren gründlicher auf den Zahn
fühlen zu können, mußte eine Korrespondenz mit ihnen geführt
werden. Elly stand dafür nicht zur Verfügung. Sie wußte noch
immer nichts von ihrem sich anbahnenden Glück. Ich war Elly.
Selbstverständlich durfte ich nicht schreiben, was ich wollte.
Die Worte wurden mit Bedacht gewählt, die Sätze
gewissermaßen wie Monumente gemeißelt. Bis in die tiefe
Nacht hinein ging das so. Nach drei Wochen hatte ich Ringe
unter den Augen, und meine Kolleginnen argwöhnten ein
Doppelleben.
Am Ende blieben fünf Bewerber übrig. Um die mußte sich
Elly nun wohl oder übel persönlich kümmern. Nach
eindringlichen Ermahnungen ließ sie sich auch herbei,
nacheinander jedem von ihnen eine Audienz zu gewähren.
Selbstverständlich gefiel ihr keiner. Nicht einmal als einer ihr
bis Swinemünde nachreiste, die Verlobungsringe siegessicher
schon in der Jackentasche, ließ sie sich erweichen. Muttchen
war außer sich über diesen jämmerlichen Ausgang ihres mit so
viel Aufwand betriebenen Unternehmens. Die Zeiten, in denen
149
es auf das Einverständnis der Betroffenen nicht ankam, lagen
zu ihrem Ärger weit zurück.
Dann aber wendete sich das Blatt überraschender Weise
doch noch einmal. Ein gewisser Richard Flöter, ein wegen
Unentbehrlichkeit
vom
Kriegsdienst
zurückgestellter
Spezialarbeiter aus den Dessauer Junkerswerken, hatte - aus
welchen Gründen auch immer - noch Wochen später auf die
Anzeige geschrieben. Auswahlkriterien gab es nun nicht mehr.
Elly fand den Brief akzeptabel und traf sich sofort mit dem
jungen Mann. Bald danach heirateten beide. Elly kehrte aus
Swinemünde zurück und nahm eine Schwesternstelle am
Köthener Krankenhaus an.
Ich war damals noch nicht einmal achtzehn Jahre alt.
Deshalb hatte Muttchen beim Durchsehen der Zuschriften an
mich auch noch nicht gedacht. Mir selbst aber fiel einer der
Briefe auf. Er war so ordentlich geschrieben wie keiner sonst.
Die Druckbuchstaben standen exakt wie von einer Maschine
gesetzt. Eine in die rechte, obere Ecke geklebte Blüte und die
netten Formulierungen deuteten wiederum auf ein herzliches
Wesen hin. Auch war der junge Mann, dem Foto nach zu
urteilen, nicht häßlich, wenngleich es durchaus noch hübschere
Bewerber gab. Kurzum - ich bat Muttchen, ihm in meinem
eigenen Namen schreiben zu dürfen. Daraus entwickelte sich
eine ziemlich regelmäßige Korrespondenz. Wegen des Krieges
dauerte es allerdings noch fast ein Jahr, bis ich Werner - er hieß
tatsächlich genau so wie schon zwei meiner Cousins - endlich
persönlich kennenlernte.
Ja, es war noch immer Krieg! Wir planten unsere Zukunft,
schmiedeten die abenteuerlichsten Pläne, aber es war Krieg.
Auch Urlaubsreisen wurden unternommen. Nachdem ich die
Nordsee kennengelernt hatte, ging es nun ins Hochgebirge. Das
Quartier verdankte ich meinem Chef. Es lag in Tirol, malerisch
inmitten gewaltiger Berge. Und dennoch: Es war Krieg. Als ich
von einer Wanderung zurückkehrte, hörte ich in den
Nachrichten vom Einmarsch in die Sowjetunion. Von diesem
150
Tage an wechselten nicht mehr schnelle Feldzüge mit
glanzvollen Siegesparaden. Vom frühen Morgen des
21. Juni 1941 an gab es keine Ruhepause mehr. Die
Heeresgruppen rückten zügig vor, auf Leningrad, auf Moskau,
auf Kiew. Mitten im Siegen aber hatte, unmerklich noch für die
meisten, die Niederlage begonnen.
Die Nazis indes hielten ein Ende ihrer Herrschaft für
gänzlich undenkbar. Nachdem sie halb Europa besetzt hatten,
genügten ihnen die militärischen Erfolge allein nicht mehr. Sie
wollten die totale "Neuordnung". "Deutsches Kulturgut" sollte
sich ausbreiten. Dahinter verbarg sich natürlich das Ziel, die
Eroberungen abzusichern. Mit Militärverwaltungen und
"Reichsbevollmächtigten" allein ließ sich das nicht
bewerkstelligen. Deshalb riefen sie dazu auf, im Osten auf
ehemals polnischem Land zu siedeln. Denjenigen, die sich
darauf einließen, winkten zahlreiche Vergünstigungen. Häuser
und Grundeigentum waren spottbillig. Junge Männer wurden
vom Militärdienst befreit.
Auch den Bartlitzens erschien das Angebot verlockend. Als
Onkel Otto ganz konkret vor der Wahl stand, in Südwestpolen
in der Nähe der Stadt Kalisch eine Fleischerei zu übernehmen,
wurde am Schloßplatz ein Großfamilienrat einberufen. In einer
schier endlosen Diskussion wägte man Vor- und Nachteile
gegeneinander ab. Am Endsieg der Deutschen bestand kein
Zweifel.
"Eines Tages werden alle nach dem Osten drängen. Wenn
wir den anderen zuvor kommen, haben wir Vorteile."
Das waren Ottos Argumente. Tante Hethe und Tante Emma
pflichteten ihm bei. Es wäre geradezu eine Dummheit, die
große Chance aus Trägheit vorbeigehen zu lassen. Muttchen
und Vater dagegen vermochten sich für den Plan dennoch nicht
zu erwärmen. Vielleicht fürchteten sie - zweifellos nicht ganz
zu Unrecht - sich damit auf Gedeih und Verderb den
Bartlitzens auszuliefern. Onkel Franz hatte schon zuvor in
einem Brief höflich abgesagt. Eine endgültige Entscheidung
151
fiel freilich noch nicht. Erst einmal sollte Otto sich an Ort und
Stelle überzeugen, ob das Angebot auch wirklich redlich war.
In den nun folgenden Wochen brach ein wahres
Umsiedlungsfieber aus. Ottos Bruder Hermann bekam eine
Pferdeschlächterei in der selben Gegend in Aussicht gestellt.
Schwester Ida wollte ein Gemüsegeschäft eröffnen. Ihr Mann
erklärte sich bereit, für seine beiden Schwager auf den Dörfern
Vieh aufzukaufen. Onkel Gustav, der Bahnarbeiter, war
sowieso wenig zu Hause, so daß es ihm leicht fiel, einem
Umzug zuzustimmen. Tante Emma hatte noch keine genauen
Vorstellungen über ihre Zukunft in Polen, aber sie war
überzeugt, daß man auch sie gut würde gebrauchen können.
Auf ihre Kinder brauchten die Schatzens keine Rücksicht mehr
zu nehmen. Werner und Irmgard wohnten beide nicht mehr bei
ihnen. Helga sollte in eine deutsche Schule gehen, von deren
Vorhandensein Otto sich überzeugt hatte.
Am Ende war nur noch unklar, was aus Großmutter werden
sollte. Ein Sprichwort besagt: "Einen alten Baum verpflanzt
man nicht". Muttchen bot unser überzähliges Zimmer an, das
wir sonst vermieteten. Dort wäre Großmutter nicht nur in ihrer
vertrauten Heimatstadt geblieben sondern auch in der Nähe
ihres geliebten Problemkindes Max. Letztlich aber entschied
sie sich dann doch dafür, ihre jüngere Tochter Hedwig zu
begleiten und mit ihr die lange Reise nach Polen anzutreten.
Für Hermann, der in Köthen bereits eine Fleischerei besaß,
gab es einen besonderen Grund, sein Glück in der Fremde zu
wagen. Daß er es mit der Treue zu seiner Frau Bertha nicht
allzu genau nahm, davon war schon einmal kurz die Rede.
Meistens gingen die Affären verhältnismäßig schnell vorüber.
Bertha wußte oft sogar davon und verzieh ihm. Einmal aber
verliebte er sich während eines Urlaubs in Thüringen mehr als
sonst. Ein gemeinsames Kind kam zur Welt und die Beziehung
blieb - trotz der räumlichen Trennung - über Jahre hinweg von
Bestand.
152
Hermann brachte das in größte Verlegenheit. Bertha wollte
er nicht verlieren, weil sie eine vorzügliche Geschäftsfrau war.
Seine Freundin hatte ihm sein einziges Kind geboren. Der
Umsiedlungsplan nun brachte ihn auf einen großartigen Einfall.
Was in einer deutschen Kleinstadt wie Köthen geradezu
ungeheuerlich und allemal geschäftsschädigend gewesen wäre,
das ließ sich in Polen unauffällig in die Tat umsetzen. Er
beschloß, künftig mit beiden Frauen zusammen zu leben. Für
Bertha war das natürlich eine Zumutung ersten Ranges. Am
Ende aber ließ sie sich darauf ein. Ihre Liebe zu Hermann
besiegte ihren Stolz.
Die Verträge für die Übernahme der polnischen Geschäfte
wurde nun unterschrieben. Wegen des großen Interesses der
Nazis am Gelingen ihres Siedlungsprojektes gab es
ungewöhnlich wenig bürokratische Hindernisse. Die meisten
Formalitäten erledigten sich praktisch von selbst. Nur um den
Verkauf des Hauses am Schloßplatz mußte Onkel Otto sich
selbst kümmern. Allzu hoch war der Erlös nicht, denn das alte
Haus bedurfte dringend einer ganzen Reihe von Reparaturen.
Dann kam bald der Tag des großen Aufbruchs.
Muttchen wurde erst in diesem Moment die Tragweite ihrer
Entscheidung gegen den Plan ihres Schwagers richtig bewußt.
Die regelmäßigen Zusammenkünfte am Schloßplatz gab es nun
nicht mehr. In den vertrauten Räumen wohnten fremde Leute.
Die Besuche in Berlin fielen weg. Wir waren eben die
Zurückgebliebenen. Am Ende vermißte Muttchen wohl gar
Onkel Ottos wüste Späße. Um sich abzulenken, suchte sie sich
eine neue Arbeit in der Flugplatzkantine. Den Weg am Schloß
vorbei vermied sie noch wochenlang.
Daß sich gleichzeitig tief in Rußland Ereignisse abspielten,
die unser Schicksal sehr viel einschneidender und nachhaltiger
beeinflussen sollten, das war uns ebenso wenig bewußt wie den
meisten unserer Landsleute. An der Ostfront hatte sich die
Lage dramatisch geändert. Der deutsche Angriff war ins
Stocken geraten. Vor den Toren Moskaus versteifte sich der
153
Widerstand. Schließlich gingen die Russen gar zum
Gegenangriff über und eroberten einen beträchtlichen Teil
ihres Landes zurück. Die deutsche Armee verlor den Nimbus
der Unbesiegbarkeit.
Allerdings konnte die Propaganda der Nazis diese Tatsache
noch erfolgreich bemänteln. Des ungewöhnlich strengen
Winters wegen habe man die Offensive wohldurchdacht
unterbrochen und sich geordnet in strategisch vorteilhafte
Stellungen zurückgezogen. Moskau werde im nächsten
Frühjahr fallen. Der Endsieg stünde dicht bevor.
Tatsächlich gelang es den deutschen Truppen im Sommer
des Jahres 1942 noch einmal, die Initiative an sich zu reißen.
Die Russen wurden bei Charkow geschlagen. Dann fiel die
Krim mitsamt der Festung Sewastopol. Die Spitzen der
17. Armee erreichten den Kaukasus. Ein zweiter Keil stieß in
Richtung Stalingrad vor. Die deutschen Soldaten marschierten
also wieder, unaufhaltsam, wie es schien.
Durch den Krieg und seine Folgeerscheinungen verlor ich
meine Verwandten, die "Schulzes", deren Schicksal
darzustellen, ich mir vorgenommen habe, ein wenig aus den
Augen. Die einen wohnten nun fern in Polen, die anderen
dienten irgendwo als Soldaten. Erst später - ich bin geneigt
"sehr viel später" zu sagen, obwohl es nur um wenige Jahre
geht - erfuhr ich, wie es ihnen ergangen war. Manches blieb
mir, aus unterschiedlichen Gründen, bis heute rätselhaft. So
werde ich jene schicksalhafte Zeit zunächst nur aus meinem
eigenen Erleben beschreiben und hoffe, daß dies niemand als
Selbstsucht mißversteht.
Als ich Werner zum ersten Mal in seiner Heimatstadt
Dresden besuchte, wußte ich schon eine ganze Menge über ihn
154
und seine Familie und hatte mir im Kopf bereits ein bestimmtes
Bild gebastelt. Nun war ich gespannt, inwieweit dieses Bild mit
der Wirklichkeit übereinstimmte.
Zwischen Werners Eltern bestand ein Altersunterschied von
dreißig Jahren. Der Vater hatte als Witwer ein zweites mal
geheiratet. Er entstammte sehr armen Verhältnissen. Seine
Mutter mußte sich allein mit sechzehn Kindern durchschlagen.
Jedoch, er schaffte das, wovon viele in ähnlicher Lage
inbrünstig träumen und wobei fast alle scheitern - den
gesellschaftlichen Aufstieg. Auf dem Höhepunkt seines
Lebensweges besaß er zwei Hotels, eines in Stettin und eines in
Swinemünde. In den Wirren der Inflation verlor er allerdings
den Großteil seines Vermögens wieder. Nun, alt und nicht
mehr ganz so unternehmungslustig wie einst, führte er ein
gutbürgerliches Leben.
Werners Mutter hatte im ersten Weltkrieg ihren Verlobten
verloren. Damit sie mit ihrem Kummer nicht allein bliebe,
holte ihr Onkel sie nach Stettin. Dort arbeitete er als Verwalter
in einem Hotel und nutzte seine Beziehungen, sie als Pflegerin
für die schwerkranke Frau des Besitzers zu vermitteln. So
lernte sie ihren späteren Ehemann kennen. Daß er dem
Altersunterschied nach hätte ihr Vater sein können, empfand
sie nie als ernsthaften Nachteil. Die Ehe war durchaus
glücklich.
Meine ersten Erfahrungen mit Werners Familie waren ein
bißchen zwiespältig. Mit seinen Eltern verstand ich mich recht
gut. Die übrigen Verwandten hatten sich wohl mehr von mir
versprochen. Aber letztlich belastete mich das nicht besonders.
Viel wichtiger war mir, daß ich viel Zeit mit Werner
verbringen
konnte.
Wir
unternahmen
ausgedehnte
Wanderungen durch die bizarre Bergwelt der Sächsischen
Schweiz, besichtigten die Sehenswürdigkeiten Dresdens,
gingen ins Theater.
Daß wir so bald nicht wieder so unbeschwert
zusammentreffen würden, ahnten wir natürlich nicht. Werner,
155
der von Beruf Vermessungstechniker war, wurde einer auf
Artilleriebeobachtung spezialisierten Einheit zugeordnet und
nach Rußland geschickt. Von der Ostfront gab es nur selten
Urlaub. Selbst die eigene Hochzeit war oft kein ausreichender
Grund. Die Heeresleitung hatte sich nämlich die "Ferntrauung"
ausgedacht. Während die Braut in der Heimat auf dem
Standesamt saß, wurde im fernen Rußland der Bräutigam von
seinem Vorgesetzten in den Stand der Ehe versetzt. Ein
blumengeschmückter Stuhl ersetzte den jeweils fehlenden
Partner. Eine reichlich perverse Idee. Werner und mir blieb
dieses Possenspiel zum Glück erspart, aber davon wird später
die Rede sein.
Ende 1942 bekam ich die Einberufung zum
Reichsarbeitsdienst. Mein Einsatzort lag irgendwo in der
Slowakei. Dort sollte ich den "volksdeutschen" Bauern helfen.
Ich mußte mich auf dem Magdeburger Hauptbahnhof einfinden
und wurde dann gemeinsam mit Hunderten anderen in einen
Sonderzug gesetzt. Für die meisten von uns begann ein völlig
neuer Lebensabschnitt. Nur wenige waren schon einmal für
längere Zeit von zu Hause fort gewesen. Kaum einer von uns
kannte den anderen. Als sich der Zug in Bewegung setzte,
flossen die Tränen. Wir waren ein ziemlich kläglicher Haufen
bei unserem Aufbruch.
Dabei wußten wir noch nicht einmal, welch gefährliche und
ungewisse Reise wir tatsächlich angetreten hatten. Nicht
einmal ein halbes Jahr früher war der "Reichsprotektor"
Heydrich von Exiltschechen erschossen worden. Die Nazis
hatten darauf mit unvorstellbaren Greueltaten an der
Zivilbevölkerung reagiert. Noch immer wußte niemand genau,
ob das zu lähmender Angst oder zu einem allgemeinen
Volksaufstand führen würde. In dieser politischen Lage rollte
unser Zug quer durch die Tschechei. Wir merkten nichts und
wunderten uns nur, daß bei der Fahrt durch Prag die Türen
verschlossen und die Vorhänge zugezogen wurden.
156
Nach stundenlanger Fahrt stiegen wir tief in der Slowakei
aus dem Zug und wurden mit Autobussen an unsere
Bestimmungsorte verteilt. Die Bauern, bei denen wir später
arbeiten sollten, erwarteten uns schon. Sie musterten uns wie
Pferde, die zu verkaufen waren, und ihr Urteil fiel vernichtend
aus: Blasse, viel zu magere Stadtpflänzchen.
Unser Lager war nicht besonders komfortabel und lag zudem
ziemlich einsam auf einer Anhöhe. Es bestand aus vier
Schlafbaracken,
der
Führerbaracke
und
einem
Wirtschaftsgebäude mit dem Speiseraum. Eine Woche lang
hatten wir Zeit, uns einzurichten. Wir bekamen unsere
Uniformen und brachten die Quartiere in Ordnung. Dann
gingen wir jeden Tag acht Stunden zu den Bauern arbeiten.
Der Begriff "Volksdeutsche" ist irreführend. Die meisten
Familien, die ich kennenlernte, lebten schon seit etlichen
Generationen in der Slowakei und fühlten sich dort durchaus
heimisch. Das bewahrte sie freilich nicht davor, daß sie nach
dem Krieg vertrieben wurden. Uns blieben sie bis zuletzt
fremd.
Die Arbeit fiel uns am Anfang sehr schwer. Beim Dreschen
beispielsweise mußte ich die großen Ährenbündel über den
schwankenden Tennenboden schleppen, die Halteseile
entfernen und dann die losen Garben auf den Tisch der
Dreschmaschine werfen. Dort nahm die Magd sie in Empfang.
Die ausgedroschenen Körner fing der Bauer in Säcken auf. Die
Säcke wiederum trug der Knecht fort. So ging das den ganzen
Tag. An Ablösung war nicht zu denken. Es fehlte allenthalben
an Arbeitskräften.
Wenn wir am Abend ins Lager zurückkehrten, spürten wir
jeden Knochen im Leib und konnten uns vor Erschöpfung
kaum noch auf den Beinen halten. Unangenehm war auch der
Dreck, den wir nie mehr ganz los wurden. Wenn Gerste
gedroschen wurde, verhakten sich die langen Grannen in der
Kleidung und in den Haaren. Alles in allem allerdings schadete
157
die Arbeit uns nicht. Allmählich gewöhnten wir uns an die
körperliche Anstrengung und wurden sichtbar kräftiger.
Einige Mädchen blieben im Lager zurück. Dadurch fanden
die Zurückkehrenden heißes Wasser zum Waschen und eine
warme Mahlzeit vor. Das war sehr angenehm. Auch das
Waschen der schmutzigen Kleidung übernahmen die
Diensthabenden.
Das Weihnachtsfest hat in der Fremde einen völlig anderen
Charakter als zu Hause im Kreise der Familienangehörigen.
Wir alle empfanden es viel tiefer als in anderen Jahren. Am
Vormittag gingen wir zu den Bauern, bei denen wir arbeiteten,
sangen ihnen Lieder und schenkten ihnen Adventskränze, die
wir zuvor selbst gebunden hatten. Danach wanderten wir ein
Stück. Die Tannen trugen ein Kleid aus Schnee. Ringsum
herrschte tiefe Stille. Sacht fielen Flocken. Uns umgab eine
Atmosphäre, wie für einen kitschigen Film arrangiert.
Gegen Abend kehrten wir zum Lager zurück. Der
Speiseraum war mit einem großen Weihnachtsbaum
geschmückt. Darunter lagen die Päckchen aus der Heimat,
welche die Lagerleitung für diesen Augenblick zurückgehalten
hatte. Wir heulten und waren zugleich irgendwie glücklich.
Vor allem fühlten wir einander so nah wie noch nie zuvor. Als
sich herausstellte, daß ein Mädchen kein Paket bekommen
hatte, gaben die anderen ihm von ihrem etwas ab.
Ganz
anders
verlief
Silvester.
Eine
meiner
Zimmerkameradinnen besorgte eine Milchkanne mit zehn
Litern Obstwein und schmuggelte sie ins Lager. Jeder nahm
sich nun seinen Zahnputzbecher, und es begann ein lustiges
Gelage. Uns fehlte jede Erfahrung mit Alkohol, und wir
konnten nicht viel davon vertragen. Folglich waren wir
blitzschnell betrunken. Die Lagerleitung ließ uns gewähren,
indem sie sich taub stellte. Bestraft wurden wir von Mutter
Natur - mit fürchterlichen Brummschädeln.
Unterdessen tobte bei Stalingrad jene Schlacht, die dem
Krieg die Wende bringen sollte. Die 6. Armee unter General
158
Paulus hatte bis Mitte November etwa 90 Prozent der Stadt
eingenommen, als die Gegenoffensive begann. Nach der
Vereinigung der beiden russischen Stoßkeile westlich von
Stalingrad waren die deutschen Truppen eingeschlossen. Ein
Entsatzversuch scheiterte Mitte Dezember. Seitdem
verschlechterte sich die Lage von Tag zu Tag.
Diese Schlacht betraf mich aber auch ganz persönlich, denn
zu den Soldaten der 6. Armee gehörte Werner, mit dem ich
inzwischen verlobt war. Seine Einheit operierte zwar weit
entfernt von den feindlichen Linien, doch nutzte ihm das
wenig, als sich der Kessel schloß. Ich bekam plötzlich keine
Briefe mehr von ihm. In großer Sorge verfolgte ich jede
Meldung, doch mißtraute ich bald den Wehrmachtsberichten,
die wie schon bei der Schlacht um Moskau die Lage völlig
verzerrt darstellten. Das, was da behauptet wurde, konnte gar
nicht stimmen. Weil die Bauern, bei denen ich arbeitete, auch
verbotene
Sender
hörten,
erfuhr
ich
zumindest
andeutungsweise die Wahrheit.
Der Untergang der 6. Armee war ein Ereignis, das
niemanden in Deutschland unberührt ließ. Erstmals wurde
Volkstrauer ausgerufen. Viele Menschen begannen, ihre
Meinung zum Krieg zu überdenken. Für Hitler und seine
Gefolgsleute allerdings traf das nicht zu. Sie wollten siegen,
gleich um welchen Preis. Um der schlechter werdenden
Stimmung entgegenzuwirken, hielt Propagandaminister
Göbbels eine Rede, die in die Geschichte eingehen sollte. Sie
gipfelte in dem Ausruf:
"Wollt ihr den totalen Krieg?"
Eine ausgewählte Menge brüllte:
"Ja!"
Ich hörte die Rede gemeinsam mit den anderen Mädchen im
Essensaal. Meine Empfindungen ähnelten denen bei der
Kundgebung auf dem Tempelhofer Feld. Allerdings war ich
inzwischen kein Kind mehr und erlebte das Geschehen viel
bewußter. Auch umgaben mich diesmal nicht ausschließlich
159
bedingungslos begeisterte Leute. Der Glaube an den Endsieg
ließ sich mehr als Selbstverständlichkeit verkaufen. Die
Lagerleitung tat deshalb alles, um uns bei großdeutscher
Gesinnung zu halten. Der militante Charakter des
Arbeitsdienstes drückte sich nicht nur in den Uniformen aus.
Regelmäßig fanden politische Schulungen statt. Die
Morgenappelle, bei denen feierlich die Hakenkreuzfahne
gehißt wurde, glichen Ritualen.
Der "Totale Krieg" veränderte den Alltag der Menschen
auch in Deutschland selbst. Alles wurde ihm untergeordnet.
Nur noch der Krieg zählte. Wer darüber öffentlich murrte,
konnte schnell in den Ruf eines Vaterlandsverräters kommen.
Zudem litten die Leute in den Städten unter den immer
häufigeren anglo-amerikanischen Bombenangriffen. Die
deutsche Luftabwehr erwies sich als machtlos gegen die
feindlichen Geschwader. Göring änderte seinen Namen
trotzdem nicht.
Es dauerte mehrere Monate, bis ich wieder ein
Lebenszeichen von Werner erhielt. Fast unglaubliche
Glücksumstände ließen ihn nahezu unversehrt dem Inferno
entkommen. Bei einem Einsatz in vorderster Linie - mit dem
Dienst weit hinten war es inzwischen vorbei - traf ihn ein
Granatsplitter am Kinn. Er büßte einen Großteil seine Zähne
ein, litt aber kaum Schmerzen. Da das Kinn bekanntlich zum
Kopf gehört, fiel er unter jene Kategorie Verwundeter, die man
mit Flugzeugen zu retten versuchte. Unter den Kopf- und
Bauchverletzten wiederum war er aber einer derjenigen, die
sich selbst behelfen konnten. Das verhalf ihm zu einem der
erbittert umkämpften Plätze an Bord. Wenig später errangen
die Russen die absolute Lufthoheit, und die Versorgungsflüge
für die Eingekesselten mußten eingestellte werden.
Werners erster Brief nach der Rettung erreichte mich aus
einem Lazarett in Krakau. Dann verlegte man ihn nach
Göttingen, wo ihn katholische Ordensschwestern betreuten, die
sich sehr fürsorglich um die Kranken kümmerten. Angenehm
160
war auch, daß ich ihn dort besuchen konnte. Ich beantragte
Urlaub außer der Reihe, und weil ich einen Stalingradhelden
seelisch aufrichten wollte, bekam ich ihn wider Erwarten
tatsächlich genehmigt.
Stannern, mein Einsatzort, lag so ziemlich am Ende der
Welt. Lediglich einmal in der Woche fuhr ein Autobus zur
zehn Kilometer entfernten Kreisstadt Iglau, die einen
Eisenbahnanschluß besaß. Deshalb benutzten wir Fahrräder,
um dorthin zu gelangen. Diese wurden an einem bestimmten
Gasthof abgestellt. Diebstahl kam praktisch nie vor.
Nach einer strapaziösen Reise traf ich in Göttingen ein. Das
Wiedersehen mit Werner war glücklich aber leider viel zu kurz.
Schon am Morgen danach mußte ich mich wieder in den Zug
setzen. In Iglau erlebte ich dann eine böse Überraschung.
Jemand hatte das Fahrrad nach Stannern zurückgebracht.
Dramatisch war das insofern, als wir am nächsten Tag verlegt
werden sollten. Ich mußte also bis zum Morgen um jeden Preis
wieder im Lager sein.
Diesen Fußmarsch durch die Nacht sehe ich noch heute in
allen Einzelheiten vor mir. Am Ortsausgang von Iglau traf ich
ein kleines, weinendes Mädchen. Als ich die Kleine fragte, was
ihr Kummer sei, stellte sich heraus, daß sie das selbe Ziel hatte
wie ich. Sie war eine Volksdeutsche, absolvierte ihr Pflichtjahr
beim Bürgermeister von Stannern und hatte sich aus Heimweh
davongestohlen. So taten wir uns also zusammen. Ein Bauer
nahm uns freundlicher Weise ein Stück auf seinem
Pferdewagen mit. Unterwegs erzählte er uns, daß es in der
Gegend von Partisanen nur so wimmle. Das war nicht gerade
beruhigend.
Das letzte Stück des Weges mußten wir beiden wieder
mutterseelenallein gehen. Hinter jedem Baum glaubten wir
einen Mann mit Maschinenpistole zu sehen. Da ich aber die
Große war, durfte ich mir meine Angst nicht anmerken lassen.
Ich erzählte lustige Geschichten und behauptete überdies
161
entschieden, daß Partisanen an Montagen in ihren Verstecken
blieben. Am Schluß glaubte ich mir sogar selber.
Als ich mich weit nach Mitternacht in der Führerbaracke
meldete, bekam ich einen strengen Tadel. Alles in allem aber
ging das Abenteuer glimpflich für mich aus. Meine
Stubengefährtinnen hatten meine Habseligkeiten längst für die
Abreise vorbereitet. Die Verlegung bedeutete für uns allerdings
die Trennung. Mit ihr ging der "Reichsarbeitsdienst" in den
"Kriegshilfsdienst" über, und wir wurden völlig neu verteilt.
Ich kam in die "Mariankaschule". Das war ein großes
Gebäude am Stadtrand von Prag. Ich schlief dort mit meinen
neuen Kameradinnen in den ehemaligen Klassenzimmern. Die
Wände entlang standen zwanzig Betten. Die Mitte füllte ein
langer Tisch mit Stühlen aus. Dann gab es noch zwei große
Gemeinschaftsschränke und für jeden einen Nachttisch für die
persönlichen Dinge. Gegessen wurde in der ehemaligen
Turnhalle. Es war unbehaglich in der zweckentfremdeten
Schule, sogar verglichen mit dem Lager in Stannern.
Wenigstens durften wir jetzt Zivil tragen.
Eingesetzt wurde ich in einem Forschungsinstitut. Woran
man dort arbeitete, weiß ich nicht. Ehrlich gesagt, möchte ich
es so genau auch gar nicht erfahren. Wenn ein Mitarbeiter
seinen Raum verließ, mußte er abschließen und den Schlüssel
einstecken. Meine konkrete Aufgabe bestand darin, im
Auftrage eines jungen Doktor der Physik zu einem anderen
Institut zu fahren und dort Vergrößerungen wissenschaftlicher,
für einen Laien kaum zu deutender Aufnahmen anzufertigen.
Die Freizeit verbrachte ich hauptsächlich mit Ruth, dem
einzigen Mädchen aus dem Lager von Stannern, das ebenso
wie ich in der Mariankaschule gestrandet war. Wir
schlenderten durch Prag und sahen uns die Sehenswürdigkeiten
an, den Wenzelsplatz und den Veitsdom, die Karlsbrücke und
den Hradschin - ganz so wie Touristen. Wenn ich heute daran
denke, wie naiv wir das damals taten, kann ich nur den Kopf
schütteln und unserem Schutzengel danken. Wir fragten
162
Einheimische nach dem Weg, in Deutsch, versteht sich. Wir
scherten uns nicht darum, wenn wir uns einmal ein wenig
verspäteten und die Dunkelheit uns überraschte. Wir fanden
nicht einmal etwas dabei, daß wir für die Rüstungsindustrie
jenen Landes arbeiteten, das nun schon seit mehr als drei
Jahren ganz Europa mit Krieg überzog.
Werner wurde nach Arnsdorf bei Dresden verlegt. Es ging
ihm inzwischen wieder so gut, daß er ab und zu Urlaub bekam.
Einmal besuchte er mich in Prag. Als romantische Umgebung
für unser Stelldichein schlug ich einen großen Erholungspark
am Stadtrand vor. Als wir dort jedoch ankamen, fanden wir
halb Prag versammelt. Es herrschte ein solches Gewimmel, daß
wir gleich wieder umkehrten und mit einer gewöhnlichen
Parkbank irgendwo in der Stadt vorlieb nahmen.
Die Zeit, die Werner noch frontuntauglich war, wollten wir
nutzen, um zu heiraten. Gleich bei der nächsten Gelegenheit
leiteten wir die Formalitäten ein. Unter anderem mußte ein
Nachweis der "Deutschblütigkeit" erbracht werden. Das
dauerte seine Zeit. Um die Vorbereitung der Feier kümmerte
sich unterdessen Muttchen.
Obwohl sie mitten im "Totalen Krieg" stattfand, hatte ich
eine wirklich prächtige Hochzeit. Mit einer weißen Kutsche
fuhren Werner und ich zur Jakobskirche in Köthen. Als wir
einzogen, spielte die Orgel "So nimm denn meine Hände".
Nach dem Gottesdienst erwarteten uns vor dem Portal viele
Leute, die uns beglückwünschten. Kinder spannten nach alter
Tradition vor uns ein Band, um den Bräutigam aufzufordern,
eine Hand voll kleiner Münzen in die Menge zu werfen. Über
Blumen schritten wir schließlich zur Kutsche zurück. Auch bei
der anschließenden Feier bei uns zu Hause fehlte es an nichts,
was sich irgendwie auftreiben ließ in dieser Zeit. Muttchen
hatte sich buchstäblich aufgerieben dafür. Entsprechend war
dann allerdings auch ihre Verfassung. Ich fürchte, sie hatte von
uns allen am wenigsten Spaß.
163
Gleich am nächsten Morgen brachen Werner und ich zur
Hochzeitsreise in den Harz auf. Ein ganzer Schwarm von
Verwandten begleitete uns zum Bahnhof. Nach einer nicht
ganz hindernisfreien Fahrt - wir erwischten beim Umsteigen
einen falschen Zug, landeten spätabends in einem uns völlig
unbekannten Ort und mußten ein außerplanmäßiges
Nachtquartier beziehen - erreichten wir das lieblich gelegene
Städtchen Gernrode. Acht Tage lang vergaßen wir dort den
Krieg. Wir wanderten durch die Umgebung und durch das
wildromantische Bodetal und unternahmen Ausflüge zur
Roßtrappe und zum Hexentanzplatz.
Mit dem Trauschein in der Hand beantragte ich meine
Versetzung nach Dresden. Dem Gesuch wurde stattgegeben,
und ich arbeitete von nun an für das Serumwerk der Stadt. Das
hatte den Vorteil, daß ich oft mit Werner zusammen sein
konnte. Der Nachteil war, daß ich täglich acht Stunden lang
Etiketten auf Ampullen kleben mußte. Eine Idiotenarbeit! Ich
entsinne mich nicht, jemals im Leben etwas monotoneres getan
zu haben. Eines Tages dann blieb nur noch der Nachteil übrig,
denn Werner wurde zurück nach Meißen versetzt. Dort diente
er ein halbes Jahr als Ausbilder. Anschließend wurde er zu
einem Offizierslehrgang nach Frankreich geschickt.
Glücklicherweise
lief
meine
Verpflichtung
zum
Kriegshilfsdienst wenig später aus. Nun mußte ich allerdings
befürchten, in eine Waffen- oder Munitionsfabrik geschickt zu
werden. Um das zu vermeiden, sah ich mich selbst nach einer
neuen Anstellung um und fand schließlich eine an der
Luftkriegsschule Klotzsche bei Dresden. Dort konnte ich
wieder in meinem Beruf als Fotolaborantin arbeiten, und das
war natürlich eine gewaltige Verbesserung gegenüber dem
Serumwerk. Unterkunft fand ich bei meiner Schwiegermutter.
Werners Vater lebte inzwischen nicht mehr.
Einige Monate später fuhr ich zu einem Lehrgang nach
Hildesheim. Dort sollte ich lernen, Karten zu lesen und mit
großen Luftbildfilmen umzugehen. Die Schule befand ich auf
164
dem Gelände des Fliegerhorstes der Stadt. Deshalb sammelte
ich zugleich meine ersten ernsthaften Erfahrungen mit den
anglo-amerikanischen Bombardements. Hildesheim, das nach
dem Krieg fast vollständig zerstört war, hatte wegen seiner
militärischen Einrichtungen schon zu dieser Zeit sehr unter den
Angriffen zu leiden. Die Nächte verbrachte ich häufig im
Luftschutzkeller. Gab es tagsüber Alarm, mußten wir uns im
Gelände verteilen. Ich hatte furchtbare Angst vor Tieffliegern.
Denen nämlich waren wir praktisch wehrlos ausgeliefert.
Interessant fand ich die Werksbesichtigungen, die man mit
uns durchführte. Einmal erlebte ich einen Hochofenabstich mit.
Es sah gespenstisch aus, wie das flüssige Metall grellweiß und
zischend in die bereitstehenden Formen floß. Ein andermal
fuhren wir zu einer Talsperre. Man erklärte uns, daß bei
Fliegeralarm das Tal vernebelt werde, um eine Zerstörung der
Staumauer zu verhindern. Der Gedanke, in den Wassermassen
des Stausees zu ertrinken, war nicht sehr angenehm. Allerdings
sollten die Besichtigungen ohnehin nicht dem Vergnügen
dienen. Vielmehr ging es darum, die auf den Luftbildern
erkennbaren Objekte mit der Wirklichkeit zu vergleichen.
Echte Freizeit gab es wenig. So hatte ich leider auch kaum
Gelegenheit, mir die schöne, alte Stadt mit ihren berühmten
Kirchen und Fachwerkhäusern anzusehen. Immerhin besuchte
mich Werner dort. Er war inzwischen von Frankreich
zurückgekehrt und absolvierte gerade den zweiten Teil seines
Offizierslehrganges in Großborn, einem kleinen Ort irgendwo
in Mecklenburg. Jedoch nicht einmal diese Episode blieb frei
von häßlichen Zwischenfällen. Mitten in der Nacht klopften
zwei uniformierte Männer an die Tür des Hotelzimmers und
wollten unsere Ausweise und Werners Urlaubsschein
kontrollieren.
165
Jetzt wird es aber allerhöchste Zeit, daß ich nachtrage, wie es
den anderen "Schulzes" in dieser Zeit ergangen ist. Ich will
beginnen mit meine Schwester Elly. Sie wurde bereits im April
1942 Mutter eines Sohnes, dem sie den Namen Helmut gab. Da
man sie kurz nach der Geburt, ihrer Vorkenntnisse wegen, zum
Roten Kreuz einzog und ins Baltikum abkommandierte, konnte
sie sich um das Baby nicht selbst kümmern. An ihrer Stelle
übernahm Muttchen die Pflege.
Von unseren nach Polen übergesiedelten Verwandten
wußten wir durch gelegentlich eintreffende Briefe lange Zeit
nur vage, daß es ihnen recht gut ging. Im Übrigen luden sie uns
regelmäßig zu einem Besuch ein. Muttchen war nicht
abgeneigt, die Einladung anzunehmen, schob die Reise aber
immer wieder auf. Vor allem hinderte sie der kleine Helmut,
dem sie die Strapazen einer so langen Fahrt noch nicht
zumuten wollte. Eines Nachts aber hatte sie einen bösen
Traum. Sie sah ihre Mutter schwerkrank im Bett liegen und
hörte sie nach ihr rufen. Nun fand sie keine Ruhe mehr, traf
schon am nächsten Tag alle notwendigen Vorbereitungen und
setzte sich dann in den nächsten, nach Osten rollenden Zug.
Tante Hethe verschlug es glatt die Sprache, als ihre
Schwester so unvorbereitet vor der Tür stand. Die beiden
Frauen umarmten sich und tauschten erst einmal die
wichtigsten Neuigkeiten aus. Dabei erfuhr Muttchen, daß ihr
Traum sie nicht belogen hatte. Die inzwischen 83 Jahre alte
Mutter lag tatsächlich im Bett. Als Folge eines Schlaganfalls
konnte sie nicht mehr sprechen. Allerdings nahm sie noch sehr
genau wahr, was um sie herum geschah. Muttchen setzte sich
mit dem kleinen Helmut zu ihr ans Bett und erzählte ihr, was
sich in den zurückliegenden Jahren in Köthen ereignet hatte.
Ab und zu lächelte die alte Frau.
Am späten Abend sprachen Hethe und Muttchen noch
darüber, ob es notwendig sei, einen Arzt zu holen. Das war in
dieser Gegend kein so leichtes Unterfangen. Der nächste
wohnte immer noch weit genug entfernt, daß er mit dem
166
Pferdewagen geholt werden mußte. Deshalb entschlossen sich
die Schwestern, nichts zu überstürzen und erst noch die
Entwicklung am nächsten Tag abzuwarten.
Als Tante Hethe die Mutter aber am Morgen wecken wollte,
fand sie sie tot auf dem Bettrand sitzen. Wahrscheinlich hatte
sie noch versucht, Hilfe zu holen. Das war für alle
Familienmitglieder ein harter Schicksalsschlag, obwohl sie im
Grunde schon seit mehreren Monaten ständig hatten damit
rechnen müssen. Am tiefsten von allen traf es zweifellos Max,
der - telegrafisch benachrichtigt - schon einen Tag später
eintraf. Die Mutter war der einzige Mensch gewesen, der ihn
mit all seinen Charakterschwächen geachtet und geliebt hatte.
Er nahm keinen Bissen Essen an und blieb bis in die Nacht
hinein an ihrem Bett sitzen. Er streichelte sie und redete auf sie
ein, so als könne er ihren Tod damit ungeschehen machen.
Großmutters Beerdigung fiel weit weniger prächtig aus als
die des Großvaters. Die Familien befanden sich, wenn sie es
sich auch nicht recht eingestehen wollten, in einem fremden
Land. Ein nicht geringer Teil der einheimischen Bevölkerung
sah in ihnen nichts als Eroberer und stand ihnen unverhohlen
feindselig gegenüber. Die politische Entwicklung nach
Kriegsende löschte dann die letzten Spuren der Ruhestätte
meiner Großmutter aus.
Max reiste am nächsten Tag wieder ab. Muttchen blieb noch
etwas länger und erfuhr dadurch einige Einzelheiten über das
Schicksal der Bartlitzens und Schatzens während der ersten
Kriegsjahre. Onkel Otto war mit seinem Fleischerladen recht
erfolgreich. Er hatte einen fleißigen und ehrlichen polnischen
Gesellen, mit dem er sich auch über die Arbeit hinaus gut
verstand. Tante Hethe bediente im Geschäft. Dabei fiel ihr
auch
die
recht
komplizierte
Abrechnung
der
Lebensmittelkarten zu. Von Tante Emma erhielt Otto ebenfalls
viel Hilfe. Allerdings wohnte sie nicht mit im selben Haus
sondern hatte für sich und ihre Familie eine eigene Wohnung.
Da Gustav und Irmgard dienstlich oft unterwegs waren, kam
167
sie sich in ihren drei Zimmern manchmal ein bißchen verloren
vor.
Auch Hermanns Pferdeschlächterei im Nachbardorf ging
gut. An altersschwachen Pferden herrschte kein Mangel, und
die Käufer bekamen auf ihre Lebensmittelkarten die doppelte
Menge. Wie der Schwerenöter mit seinen zwei Frauen zurecht
kam, und wie die sittenstrengen polnischen Katholiken darauf
reagierten, danach fragte Muttchen lieber nicht.
Werner Schatz wohnte mittlerweile im westfälischen Hamm.
Dorthin hatte er geheiratet. Inzwischen gab es auch schon einen
Sohn mit Namen Claus. Werner Bartlitz dagegen war ein
schmucker Marinesoldat geworden. Ob er ähnlich viele
Mädchen hatte wie etliche seiner Waffenbrüder? Niemand
wußte das so genau. Von einer festen Verbindung jedenfalls
war noch nicht die Rede. Helga blieb die ganze Woche über in
einem Internat. Die deutsche Schule, die sie besuchte, lag
ziemlich weit entfernt.
Als Muttchen nach Köthen zurückkehrte und von ihren
Erlebnissen berichtete, sagte Vater:
"Nur gut, daß wir hier geblieben sind."
Es fällt mir heute oft schwer, jüngeren Menschen, die jene
Jahre nur aus Geschichtsbüchern kennen, unsere Reaktionen,
Gedanken und Gefühle zu begründen. Wenn ich sage: "Wir
haben vieles verdrängt und deshalb nicht wahrgenommen",
dann entsteht leicht der Eindruck, wir seien auf diese Weise
vor unserem eigenen Gewissen geflohen. Wir verdrängten aber
nicht nur das Leid der anderen sondern auch die Gefahr, die
uns selbst drohte. Ich glaube, wir verfielen, je länger der Krieg
dauerte, immer mehr in einen Zustand chronischer
Abstumpfung, der die sonderbarsten Erscheinungen mit sich
brachte.
Zum Beispiel sprachen Muttchen, Tante Hethe und Tante
Emma in Polen nicht ein einziges Mal über die Entwicklung an
der Ostfront. Dabei war die im zurückliegenden Jahr äußerst
beängstigend verlaufen. Im Juli 1943 unternahmen die
168
deutschen Truppen bei Kursk ihre letzte große Offensive. Die
Operation "Zitadelle" mündete in eine gigantische
Panzerschlacht, bei der jene Eliteeinheiten zu Grunde gingen,
die zwei Jahre zuvor noch die russische Verteidigung in
wenigen Tagen hunderte Kilometer tief aufgerissen hatten.
Seitdem lag die Initiative ausschließlich auf der Seite der
Russen. Ende des Jahres erreichten sie den Dnjepr und
befreiten Kiew. Nun näherten sie sich mit nahezu pausenlosen
Angriffen in großem Tempo der ehemaligen polnischsowjetischen Grenze. Die Bartlitzens und Schatzens waren akut
gefährdet, doch sie kümmerten sich nicht darum. Der Führer
wird's schon richten!
Im September 1944 landeten die westlichen Alliierten in der
Normandie. In Italien, wo sich die Amerikaner und Briten
schon im Jahr davor festgesetzt hatten, verlief die Front kurz
vor Bologna. Die Russen waren in Bulgarien und Rumänen
eingedrungen. In Polen standen sie nur wenige Kilometer vor
Warschau. Es sah nicht mehr gut aus für Deutschland. Durch
hektische Truppenverlegungen versuchte das Oberkommando
der Wehrmacht, die Lage zu verbessern. Auch Rudi wurde nun
häufig versetzt. Jedes dieser taktischen Manöver aber brachte
nur örtlich eng begrenzte und zeitweilige Entlastung und riß an
anderen Stellen Löcher auf.
Dennoch war Vaters plötzliche Einberufung zur Wehrmacht
sonderbar. Sein Jahrgang wurde noch verschont zu dieser Zeit.
Später erfuhren wir die Zusammenhänge. Er hatte zu einem
Nachbarn gesagt, daß seiner Ansicht nach der Krieg nicht mehr
zu gewinnen sei, und war denunziert worden. Allein weil er zu
den frühen NSDAP-Mitgliedern zählte, entging er der
Verhaftung und kam "nur" zu den Marinepionieren an die
Nordsee.
Im Frühsommer 1944 merkte ich, daß ich schwanger war.
Als ich es Muttchen erzählte, bat sie mich, nach Köthen zurück
zu kommen. Ich konnte das verstehen und stimmte zu. Das
wiederum ärgerte aber meine Schwiegermutter. Zwischen den
169
beiden Frauen spielten sich nahezu ständig kleine
Eifersüchteleien ab. Jede Mutter versuchte, das eigene Kind
gegen den Partner zu "beschützen". Da ich zwischen beiden
stand, kostete es mich viel diplomatisches Geschick und vor
allem viel Nerven, einen bösartigen Streit zu vermeiden.
Mitte Dezember 1944 kam Manfred, mein erstes Kind, auf
die Welt. Man könnte beinahe sagen, daß ich damit eine
Tradition fortsetzte, eine nicht sehr schöne Tradition freilich.
Manfred verbrachte sein erstes Lebensjahr ebenso wie ich einst
in einer Zeit des Zusammenbruchs und des Hungers. Zum
Glück gab es bei der Geburt keine Komplikationen. Das
Gesundheitswesen, mit der Versorgung der Verwundeten
hoffnungslos überlastet, war nicht mehr sehr vertrauenswürdig.
Gegen Ende des Jahres besuchte uns Werner Bartlitz. Er war
in großer Sorge um seine Angehörigen, von denen er seit zwei
Monaten nichts mehr gehört hatte. Niemand wußte, wann die
Russen ihre nächste Offensive beginnen würden. Das von der
Nazipropaganda versprochene Wunder durfte sich nicht mehr
sehr viel Zeit lassen. Leider konnten wir Werner nicht
beruhigen. Uns ging es nicht anders als ihm.
Drei Wochen später klopfte es an die Tür. Vor uns standen
Tante Hethe, Heinz und Helga. Onkel Otto kam ein wenig
später. Abgehärmt, wie sie alle vier waren, erkannten wir sie
kaum wieder. Wir empfanden Freude und Trauer
zugleich - Freude darüber, daß sie überhaupt noch lebten,
Trauer über die Art unseres Wiedersehens. Ein Pferdewagen
mit ein paar geretteten Habseligkeiten, mehr gab es nicht mehr
von ihrem großen Traum. Die Geflüchteten hatten nicht einmal
mehr eine Wohnung. Wir nahmen sie vorläufig in unserem
Haus auf. Sie zogen in das große Zimmer im Obergeschoß, das
wir für sie räumten. Otto hatte sich zu allem Unglück am Fuß
verletzt und brauchte dringend ärztliche Hilfe.
Vier Familien waren einst fröhlich in Richtung Osten
gezogen. An jenem kalten Januartag trafen aber nur die
Bartlitzens und Helga wieder in Köthen ein. Die Flucht hatte
170
die Menschen voneinander gerissen. Als Tante Hethe uns
berichtete, was in den zurückliegenden Wochen mit ihnen
geschehen war, mußte sie viele Fragen offen lassen.
Der Befehl zur Flucht nach Deutschland kam von einem Tag
zum anderen. Da die Züge längst nur noch Soldaten und
Kriegsmaterial transportierten und auch das Benzin nahezu
ausschließlich den unersättlichen Bedürfnissen der Front zur
Verfügung stand, blieben die Zivilisten auf einfache Fuhrwerke
angewiesen. Was man nicht zurücklassen wollte, wurde in
hektischer Eile in Säcke, Kisten und Körbe verstaut. Es war ein
chaotischer Aufbruch. Für Sentimentalitäten blieb kein Platz.
Der polnische Geselle flehte Otto an, ihn mitzunehmen. Er
fürchtete sich wohl vor der Rache seiner Landsleute, weil er
sich mit einem Deutschen gut verstanden hatte. Sein Flehen
jedoch nutzte ihm nichts. Er mußte zurückbleiben.
Die drei Bartlitzgeschwister und ihre Familien fuhren mit je
einem eigenen Wagen. Emma und Helga wurden von Otto
mitgenommen. Von einem geordneten Zug konnte man
allenfalls ganz am Anfang reden. Die Ost-West-Straßen waren
hoffnungslos mit Flüchtlingstrecks verstopft. Gleichzeitig
mußte das Tempo gesteigert werden, denn die Offensive stand
allem Anschein nach unmittelbar bevor.
Weil die völlig erschöpften Pferde die überladenen Wagen
schließlich nicht mehr zogen, landeten von den ohnehin
spärlichen Habseligkeiten der Familien immer mehr Säcke im
Straßengraben. Noch schlimmer war, daß auch die Menschen
die Strapazen schließlich nicht mehr aushielten. Sie starben an
Entkräftung, und ihre Verwandten hatten oft nicht einmal
genügend Zeit, sie würdig zu beerdigen.
Daß Menschen in diesem Inferno spurlos verschwanden, war
beinahe alltäglich. So geschah es auch mit Tante Emma. Sie
suchte während einer Rast nach Wasser, um sich ein wenig zu
waschen. Die Kolonne setzte sich aber früher als erwartet
wieder in Bewegung. Auszuscheren war nicht möglich. Es
blieb nur die Hoffnung, daß Emma sie noch einholte. Sie kam
171
aber nicht. Anfang Januar wußte noch niemand der
Verwandten, was mit ihr geschehen war. Die Fuhrwerke
Hermanns und Idas hatten Hedwig und Otto ebenfalls aus den
Augen verloren. Die waren aber zumindest noch als Familien
zusammen gewesen. Deshalb sorgten wir uns um deren
Schicksal nicht ganz so sehr.
Onkel Otto brach sich seinen Fuß, als ihm ein Wagen
darüber fuhr. Da die Verletzung unterwegs nur notdürftig
versorgt werden konnte, mußte er unter großen Schmerzen
weiter laufen. Es war erstaunlich, daß er überhaupt so viele
Kilometer noch durchhielt. In Köthen dann wurde der Knochen
endlich gerichtet und ruhig gestellt.
Ich hatte den Onkel etwa vier Jahre lang nicht mehr gesehen,
und mein Verhältnis zu ihm war nun völlig anders. Ob es daran
lag, daß ihm nach den Erlebnissen der vergangenen Monate
nicht mehr der Sinn nach seinen gefürchteten groben Späßen
stand, oder ob er mich nun, als erwachsene, verheiratete Frau
mit Kind ganz einfach ernster nahm, das kann ich schwer
beurteilen. Jedenfalls unterhielt ich mich mit ihm einige Male
über den Krieg und über Deutschlands Zukunft. Irgendwie hielt
ich ihn für jemanden, der sich auskennt und die
Zusammenhänge besser versteht als andere. Er vertraute auf
die "Geheimwaffe" und glaubte noch immer an den Endsieg.
Beruhigen konnte mich das freilich nicht. Was sollte die
Geheimwaffe noch bringen? Weitere sechs Jahre des
Abschlachtens? Ich hatte genug davon.
Ab wann wußte ich, daß dieser Krieg für Deutschland in
einer Katastrophe enden mußte - trotz der noch immer
großspurigen Wehrmachtsberichte? Ab wann gelang der
Selbstbetrug nicht mehr? Vielleicht im Februar 1945, als ich
meine Schwiegermutter besuchte und mich in der völlig
zerstörten Innenstadt von Dresden nicht mehr zurechtfand,
obwohl ich hier einmal jede Straße gekannt hatte. Daß die
Familie meines Mannes verschont geblieben war, weil ihr Haus
ein wenig außerhalb lag, nahm dem Eindruck nur einen
172
geringen Teil seines Schreckens. Die Bomben hatten nicht nur
unersetzliche Kunstschätze vernichtet sondern auch Tausende
Menschen getötet, fast ausschließlich Zivilisten. Die Stadt war
vollgestopft gewesen mit Flüchtlingen aus dem Osten. Bis zum
heutigen Tage kennt niemand die Zahl der Opfer.
Auch für Werner wendete sich das Schicksal zum
Schlechten. Bis Ende 1944 hatte er sich noch als Ausbilder in
Meißen halten können. Dann aber war er mit einer neu
aufgestellten Einheit zuerst nach Coswig und dann direkt an
die Front verlegt worden. Die Russen standen jetzt an der Oder
und bereiteten den Sturm auf die Reichshauptstadt Berlin vor.
Die allerletzte Phase des Krieges hatte begonnen. Sie sollte
noch einmal Tausenden Soldaten das Leben kosten. Für mich
blieb lange unklar, ob auch Werner zu diesen letzten Opfern
gehörte. Im Durcheinander des Zusammenbruchs verlor ich die
Verbindung zu ihm.
Im Frühjahr 1945 erreichte uns der Krieg in Köthen. Wir
hörten in der Ferne Artilleriefeuer. Auf den nahegelegenen
Landstraßen rollten in den Nächten nahezu ununterbrochen die
Panzer. Fuhren sie in Richtung Front oder kamen sie von dort?
Die Männer über 60 und die Jungen ab 15 wurden zum
Volkssturm einberufen. Mit Panzerfäusten sollten sie die
feindlichen Truppen aufhalten, jene Truppen, vor denen die
regulären Einheiten längst auf der ganzen Linie flüchteten. Das
letzte Aufgebot. Die allerletzte Steigerung des Wahnsinns. In
diesen Tagen setzte Elly sich ab von ihrer Sanitätseinheit, die
nach Berlin verlegt werden sollte. Sie hatte wenig Verlangen,
beim "Endkampf" dabeizusein und stand plötzlich bei uns vor
der Tür.
Zeitweilig erwogen wir, mit den Kindern zu flüchten. Aber
wohin sollten wir flüchten? Deutschland war klein geworden.
Vom Osten näherten sich die Russen, vom Westen die
Amerikaner. So beschlossen wir am Ende, in der Stadt zu
bleiben und uns im Keller einzurichten. Wir schafften Bettzeug
und Lebensmittel hinunter. Dann versteckten wir uns selber
173
dort. Nur Onkel Otto blieb in der Wohnung und bezog dort
gewissermaßen Beobachtungsposten.
Auf Befehl irgend eines Kommandanten wurden nun überall
am Stadtrand Barrikaden errichtet. Dahinter bezog der
Volkssturm Stellung. Die Amerikaner, die inzwischen wenige
Kilometer entfernt standen, waren daraufhin fest
entschlossen - wie in vielen Fällen zuvor - die Luftwaffe
anzufordern. Auf diese Weise pflegten sie ihre Opfer gering zu
halten, zu Lasten der Zivilbevölkerung des Gegners. Zum
Glück für Köthen rissen buchstäblich in letzter Minute mutige
Leute die Barrikaden wieder ab. Die Amerikaner konnten
kampflos einmarschieren, und es kam zu keinen nennenswerten
Zerstörungen.
Wir hatten bewußt die Türen nicht verschlossen, um zu
zeigen, daß wir keinen Widerstand leisten wollten. Ein
wirksamer Schutz wären unsere banalen Schlösser ohnehin
nicht gewesen. Besonders sicher fühlten wir uns so natürlich
nicht, und als wir Maschinengewehrfeuer in unmittelbarer
Nähe hörten, gingen uns viele Gedanken durch den Kopf. Wir
hatten keine Vorstellung, was das Schicksal uns bringen würde.
Alles war möglich. Durch das Kellerfenster sahen wir
Soldatenstiefel. Der Krieg hatte also unseren Garten erreicht.
Als Muttchen sich für einen Moment in die Küche wagte, um
Milch für den kleinen Manfred aufzuwärmen, berichtete sie
entsetzt, daß überall "Schwarze" herumlaufen.
Bald aber wurde es ruhiger in unserem Viertel. Die Soldaten
hielten sich hauptsächlich in der Innenstadt auf. Zu uns kam
nur noch einmal ein Lautsprecherwagen, der uns aufforderte,
vorläufig in den Häusern zu bleiben und weitere Anweisungen
abzuwarten. Wir fürchteten aber, daß die Kämpfe erneut
ausbrechen könnten. Immerhin sprachen die Nazis davon, daß
dem Feind an der Elbe erbitterter Widerstand entgegen
schlagen werde. Dabei ergingen sie sich in vage Andeutungen
über Mittel, die sie bisher noch gar nicht ins Feld geführt
hätten. Erst die Meldung von der bedingungslosen Kapitulation
174
zerstreute diese letzte Sorge. Wir konnten endlich wieder ruhig
schlafen.
175
7. Kapitel
Margarete erzählt
Wir unterstanden nun der amerikanischen Besatzungsmacht.
Später war in den Geschichtsbüchern zu lesen, dies sei die
Befreiung gewesen, die Befreiung vom Faschismus. Objektiv
ist das zweifellos eine richtige Einschätzung. Die Nazis hatten
uns zu Komplizen beispielloser Verbrechen werden lassen.
Wer aber empfand das damals schon so? Onkel Otto hatte erst
an das Ende des "Großdeutschen Reiches" geglaubt, als sich
die Meldung von Hitlers Selbstmord verbreitete. Tante Hethe
trauerte ihren zerplatzten Träumen nach. Auch Muttchen liebte
sie nicht, die Fremden, die mit Lautsprecherwagen durch die
Straßen fuhren, Befehle erteilten und Ausgangssperren
verhängten, bei denen sich alle wehrfähigen Männer zur
Registrierung melden mußten, bei denen sämtliche
Rundfunkempfänger abzuliefern waren. Nur in einer Hinsicht
fühlten wir alle uns befreit: Wir waren befreit vom Krieg.
Sieben Jahre, die (von ein paar Monaten der Siegtrunkenheit
abgesehen) Jahre des Schreckens gewesen waren, sie hatten die
Menschen zermürbt. Sie wollten nicht den Nazigrößen in den
Tod folgen. Sie wollten Frieden, Frieden nahezu um jeden
Preis.
Jeder war verunsichert. Jeder fragte sich, wie die Soldaten,
die praktisch mit uns tun konnten, was sie wollten, sich
verhalten würden. Wenn sie nach Einbruch der Dunkelheit mit
schußbereiten Maschinenpistolen durch die Straßen
patrouillierten, wagten sich die Leute nicht einmal mehr in
ihren eigenen Vorgarten hinaus. Unseren Nachbarn geschah
einmal Folgendes. Sie hatten sich gerade ins Bett gelegt, da
hörten sie plötzlich Geräusche, lautes Reden in einer fremden
Sprache, Gelächter. Der Großvater faßte sich ein Herz und
176
schlich sich bis zum Küchenfenster. Von dort aus sah er, daß
sich in der Veranda mindestens fünfzehn Uniformierte
gemütlich niedergelassen hatten. Sie aßen, tranken und sangen.
Ihre Waffen lagen vergessen auf der Erde. Nach kurzer
Beratung beschlossen die Leute, sich nicht zu rühren.
Tatsächlich waren die Soldaten am nächsten Morgen
verschwunden. Sie hatten ihren Sieg gefeiert, ohne das Haus zu
betreten.
Daß wir Maxens ein paar Jahre zuvor nicht mit den
Bartlitzens und Schatzens gen Osten aufgebrochen waren,
erwies sich jetzt als großer Glücksfall für die Schulzes
insgesamt. Niemand sah uns mehr als die armen Verwandten
an. Niemand wollte mehr zu uns gesagt haben, es sei eine
Dummheit, das großzügige Angebot des Führers
auszuschlagen. Wir bildeten nun den Punkt, um den sich das
Großfamilienleben drehte, und Muttchen genoß ihre neue
Rolle.
Weil wir immer Wert auf einen kleinen Vorrat gelegt hatten,
gab es in unserem Keller noch einige Gläser Obst und
Pflaumenmus. Sogar Kartoffeln besaßen wir noch. Wurst und
Fleisch steuerten die Bartlitzens bei. Es war dies ein letzter
Rest ihres einst unerschöpflich scheinenden Reichtums an
Lebensmitteln. So ging es uns besser als vielen anderen in
dieser Zeit. Nur die Beschaffung der Milch für die kleinen
Kinder stellte ein Problem dar. Auch für Brot mußten wir uns
in die langen Schlangen der Hungernden einreihen.
Eine Dauerlösung war das Zusammenleben in unserem
kleinen Haus natürlich nicht. Zum Glück hatte Otto in Köthen
viele Freunde. Trotz seiner Grobheit war er eben doch immer
ein hilfsbereiter Mensch gewesen. Mit Hilfe jener Freunde
trieben die Bartlitzens schon recht bald eine eigene Wohnung
auf. Auch mit Möbeln wurden sie versorgt. So hatten sie
schließlich zumindest wieder ein Heim, wenngleich kein
besonders komfortables.
177
An eine Arbeit im Schlachthof oder gar eine eigene
Fleischerei war freilich nicht zu denken. Otto mußte versuchen,
auf andere Weise den Lebensunterhalt zu verdienen. Als der
Mann seiner Schwester Ida ihm anbot, seine Obstplantagen zu
bewachen, nahm er ohne Zögern an. Das war damals übrigens
ein gar nicht so leichtes Unterfangen. Die hungernden
Menschen stahlen die Früchte schon unreif und schlangen sie
ohne Rücksicht auf die Folgen in sich hinein. Ehe sie sich
allerdings mit Otto anlegten, plünderten sie lieber woanders.
Von den Schatzens hatten wir noch nichts gehört, und das
bereitete uns Sorgen. Als eines Tages wenigstens meine
Cousine Irmgard vor der Tür stand, waren wir deshalb sehr
froh. Unsere Hoffnung, durch sie Neuigkeiten über Tante
Emma zu erfahren, erfüllte sich jedoch nicht. Irmgard wohnte
inzwischen in Bitterfeld. Es ging ihr nicht schlecht, zumal sie
bei der Bahn nach wie vor einen sicheren Arbeitsplatz hatte.
Wahrscheinlich aber fühlte sie sich einsam, denn sie bat darum,
Helga zu sich nehmen zu dürfen.
Das Mädchen lebte noch immer wie selbstverständlich bei
uns und fühlte sich allem Anschein nach auch recht wohl. Daß
es da noch einen Vater gab, davon war nie die Rede. Helga
hatte ihn wohl für alle Zeit aus ihrem Gedächtnis gestrichen.
Erstaunlich aber war, daß sie sich auf Irmgards Ansinnen sofort
einließ. Als hätte es zwischen den beiden nie Streit und
Eifersüchteleien gegeben, bedrängte die Vierzehnjährige unser
Muttchen so lange, bis sie sich einverstanden erklärte.
Deutschland war noch weit davon entfernt, zur Ruhe zu
kommen. Flüchtlinge aus den verloren gegangenen Gebieten
im Osten irrten umher auf der Suche nach einem neuen
Zuhause.
Junge
Soldaten
flüchteten
vor
der
Kriegsgefangenschaft. Auch sie wußten nicht, wohin sie sich
wenden sollten. Frauen reisten viele Kilometer weit, um etwas
zu Essen für sich und ihre Familien aufzutreiben. Ein ganzes
Volk war in Bewegung geraten. Weil es keinen regelmäßigen
Eisenbahnverkehr gab, konnten die Züge den Ansturm nicht
178
bewältigen. Die Menschen hingen an den Türen, saßen auf den
Puffern, kletterten auf den Waggondächern herum. Manch
einer fand dabei den Tod. Allerdings erzeugte das allgemeine
Elend auch eine erstaunliche Form von Solidarität. Klopfte
zum Beispiel jemand abends bei wildfremden Leuten an und
bat um ein Nachtquartier, so konnte er fest damit rechnen, es
auch zu bekommen. Die Soldaten wurden mit Zivilkleidung
und mit Ratschlägen über die sichersten Schleichwege
versorgt.
Arbeit war knapp. Als Elly und ich zum Arbeitsamt gingen,
hatten wir nicht allzu viel Hoffnung auf Erfolg. Plötzlich aber
kamen amerikanische Soldaten und erklärten, daß sie drei
Frauen brauchten. Selbstverständlich gewährten die Beamten
ihnen die Bitte, sich unter den Anwesenden selbst die ihrer
Meinung nach am besten geeigneten auszusuchen. Unter
denen, für die sie sich schließlich entschieden, waren auch Elly
und ich. Wir wurden gleich mit einem Auto mitgenommen.
Weil uns niemand sagte, wohin die Reise eigentlich gehen
sollte, fühlten wir uns recht unwohl. Immerhin hätte unser Ziel
ein Bordell sein können. Am Ende aber erwies sich unser Los
doch als ein Glückstreffer.
In einer beschlagnahmten Villa war ein Kasino eingerichtet
worden. Es gab eine Küche und zwei Speiseräume für die
Offiziere der hier stationierten Einheit. Elly half in der Küche,
ich servierte das Essen. Für die Reinigung war ein Mann
angestellt. Wir konnten uns also über zu schwere Arbeit nicht
beklagen. Außerdem bekamen wir etwas ab von den
vorzüglichen Gerichten, deren Zutaten zu einem großen Teil
direkt aus Amerika eingeflogen wurden. Allerdings durften wir
nichts mit nach draußen nehmen. Was übrig blieb, landete auf
dem Müll, denn die Deutschen waren ja die Feinde. Uns, die
wir für sie arbeiteten, behandelten die Amerikaner nicht so sehr
als Feinde. Es kam sogar vor, daß ich auf meinem Platz einen
Blumenstrauß fand.
179
Auf der Grundlage von Verträgen zwischen den vier
Siegermächten übergaben die Amerikaner und Briten im Juni
1945 Teile Mecklenburgs, Thüringens, Anhalts und Sachsens
im Austausch für die Berliner Westsektoren an die UdSSR. In
den Gebieten, die auf diese Weise eine neue Besatzungsmacht
erhielten, lag auch Köthen. Für uns, die wir wegen der
Nazipropaganda die Russen fürchteten wie kaum sonst etwas
auf der Welt, war die Nachricht ein Schock. Viele sahen sich
bereits nach Sibirien abtransportiert. Wie schon nach der
Kapitulation nahmen sich wieder einige Menschen aus Angst
vor der Zukunft das Leben.
Ich erlebte gemeinsam mit Elly den Wechsel am Rande einer
Landstraße unmittelbar mit. Auf der einen Seite fuhren die
Amerikaner in gepflegten Uniformen auf großen Autos davon.
Auf der anderen Seite kamen, sehr viel ärmlicher ausschauend,
die Russen herein. Die Vorhut bildeten Panjewagen. Die
kleinen, stämmigen, äußerst zähen Pferde aus dem Osten sah
ich an diesem Tage zum ersten Mal. Auch die Soldaten, die auf
den Wagen saßen, gaben mir das Gefühl, unvermittelt in einen
sonderbaren Film hineingeraten zu sein. Sie kamen aus dem
asiatischen Teil der endlosen Sowjetunion. Hinter ihnen
marschierten russische Soldaten in Kolonne. Die sahen im
Gesicht so ähnlich aus wie unsere Männer - immerhin. Als sie
uns jungen Frauen ein paar Scherzworte zuwarfen und dazu
gutmütig lachten, schöpften wir Hoffnung. Mit so wenig waren
wir schon zufrieden in dieser Situation.
Am Tage nach dem Einmarsch klebten an den
Häuserwänden und Litfaßsäulen Plakate mit einem Aufruf
Stalins. Er versicherte darin, sein Ziel sei die Vernichtung des
deutschen Faschismus, nicht aber die Vernichtung des
deutschen Volkes. Das war schon ein konkreterer Anhaltspunkt
für die Annahme, daß wir uns selbst mit den Russen würden
irgendwie arrangieren können. Uns hatte ein gehöriges Maß
Schicksalsergebenheit zu beherrschen begonnen.
180
Inzwischen war zum Glück auch Werner, mein Mann,
wieder bei mir. Die Leute seines Vermessungstrupps hatten
sich gemeinsam kurz nach Beginn der russischen Offensive
gegen die Seelower Höhen heimlich abgesetzt. Wenige Tage
später versanken sie in einem Strudel des Chaos, in welchem
nichts ehedem Normales mehr Gültigkeit besaß und dafür das
Wahnwitzigste so normal wurde, daß kein Mensch sich mehr
darüber wunderte. In einer Villa trafen sie Außenminister von
Ribbentrop. Er hatte Hitlers besonderes Vertrauen besessen. Er
hatte mit den Mächtigen der Welt verhandelt. Vor
hunderttausenden Menschen hatte er im Scheinwerferlicht
gestanden. Jetzt war er ein vorzeitig gealterter Mann, der etwas
schier Unmögliches versuchte - seine Haut zu retten. Mit
widersinniger Besorgtheit um lieb gewonnene Begleiter
zeichnete er Werner mit seinem kostbar verzierten
Spazierstock aus, ehe er kopflos davonrannte. Es war der
Zusammenbruch. Sie waren jämmerlich, jene allerletzten
Wochen des Reiches, nicht nibelungenheroisch, wie die
Nazigrößen es gern gehabt hätten.
Von den Russen ebenso gehetzt wie von der eigenen
Militärpolizei trieben die Geflüchteten immer weiter nach
Westen. Manchmal sahen sie auf den befestigten Straßen die
auf Berlin zurollenden Panzerspitzen. Endlich erreichten sie
jene Gebiete, in welche die Amerikaner vorstießen. Dort
wurden sie festgenommen und voneinander getrennt. Werner
kam in ein Auffanglager. Von dort flüchtete er abermals. Als
Termin für das Unterfangen suchte er sich den 12. Mai aus,
unseren Hochzeitstag. Am 28. Mai, seinem Geburtstag, traf er
dann wohlbehalten in Köthen ein.
Für Werner brachte die neue Besatzungsmacht ebenfalls
neue Risiken mit sich. Er war im Krieg als Leutnant immerhin
Offizier gewesen und konnte keine Entlassungspapiere
vorweisen. In der Hoffnung, in seiner Heimatstadt seine
Angelegenheiten besser regeln zu können, ging er nach
181
Dresden. Ich blieb mit Manfred in Köthen zurück. Später
wollten wir dann hier oder dort wieder zusammenziehen.
Das Leben mußte irgendwie weitergehen. Muttchen suchte
sich Arbeit in einer russischen Küche. Die Nahrungssuche
hatte Vorrang vor allem anderen. Wir glichen emsigen Tieren.
Die Russen erlaubten ihren Bediensteten, Essenreste für ihre
Familien mitzunehmen. Das half uns sehr. Freilich waren die
Gerichte weit weniger auserlesen als bei den Amerikanern.
Auch Elly ging zu den Russen. Ihr Arbeitgeber war in seiner
Heimat Bauer gewesen und verwaltete nun als Offizier ein
Rittergut. Die enteigneten Besitzer hatten sich in den Westen
abgesetzt. Ellys Aufgabe bestand darin, einen dreijährigen
Jungen zu betreuen. Das Kind war verhältnismäßig artig,
gewöhnte sich rasch an die neue Tante und lernte ihr zuliebe
sogar ein paar deutsche Worte. Der Haken bei der Sache
bestand in der panischen Angst des russischen Ehepaars vor
ansteckenden Krankheiten. Elly wurde praktisch wie eine
Gefangene gehalten. Sie durfte sich mit dem Kind nur im
Herrenhaus und im angrenzenden Park aufhalten.
Der Verwalter war überhaupt ein sonderbarer Mensch. Hatte
sich jemand auf dem Hof etwas zu Schulden kommen lassen,
mußte er mit seiner gesamten Familie reisefertig auf dem Hof
vor ihm erscheinen, um in die Verbannung geschickt zu
werden. Standen die armen Menschen dann angstschlotternd
vor ihm, hielt er ihnen eine Strafpredigt in Russisch.
Anschließend entließ er sie wieder nach Hause. Als die Köchin
einmal die Suppe versalzen hatte, zwang er sie, den gesamten
Topf allein leerzuessen. Sein Lieblingswort war "Sabotasch".
Das verstand man auch ohne Übersetzung.
Onkel Otto fand einmal auf der Obstplantage, die er
bewachte, eine Pistole. Sie gefiel ihm, und er zeigte sie seinem
Schwager.
"Bist du von allen guten Geistern verlassen?!" rief dieser.
"Schmeiß das Ding weg! Wer weiß, was es damit auf sich hat."
182
"Was soll es damit auf sich haben? Sie ist jemandem bei der
Flucht aus der Tasche gerutscht. Sieh doch mal: Sie ist wirklich
schön und gut erhalten."
"Mach damit, was du willst! Von meinem Grund und Boden
jedenfalls verschwindet sie."
Otto nahm sie mit nach Hause. Seine Frau riet ihm ebenfalls,
sich mit der Waffe nicht zu belasten. Leider war er mitunter
stur wie ein Panzer. Er versprach, die Pistole in einen See zu
werfen, in Wirklichkeit versteckte er sie in der Wohnung.
Drei Tage später bekamen die Bartlitzens unerwartet Besuch
von einem ihrer alten Freunde. Der gehörte zu den wenigen,
die sich nicht mit den Nazis eingelassen hatten und deshalb das
Vertrauen der Besatzungsbehörden besaßen. Jetzt arbeitete er
für eine Polizeidienststelle und verfügte dadurch über
Informationen, die anderen verborgen blieben. Zu Otto war er
gekommen, um ihn zu warnen.
"Verschwinde von hier! Du stehst auf der Schwarzen Liste.
Die wollen dich abholen."
Otto bedankte sich, doch zu seiner Frau sagte er hinterher:
"Das muß ein Mißverständnis sein. Ich bin doch kein
Verbrecher. Ich brauche mich nicht zu verstecken. Das wird
sich alles aufklären."
Kaum aber hatte er am darauffolgenden Morgen das Haus
verlassen,
da
standen
Polizisten
mit
einem
Durchsuchungsbefehl vor der Tür. Die Pistole wurde schnell
gefunden, der illegale Waffenbesitz weisungsgemäß an die
russische Kommandantur gemeldet. Noch am selben Vormittag
verhaftete man Otto und dessen Schwager auf der Plantage.
Beim Verhör erfuhren sie dann die Geschichte jener
unglückseligen Pistole.
Nahe der Plantage befand sich ein Friedhof. In der
dazugehörigen Kapelle war ein russischer Soldat erschossen
aufgefunden worden. Der wahre Täter hatte sich der
Mordwaffe dann offenbar bei seiner Flucht auf einfache Art
und Weise entledigt. Dieser Hergang ließ sich aber schwer
183
beweisen. Für die russischen Militärs bestand kein Zweifel bei
diesem Fall. Sie tödlichen Schüsse waren eindeutig aus der
fraglichen Pistole abgegeben worden. Auf dem Griff hatte man
die Fingerabdrücke eines SS-Mannes gefunden. Wer also sollte
der Mörder sein, wenn nicht jener Otto Bartlitz? Der Schwager
kam bald wieder frei. Otto wurde in ein Gebäude gebracht, das
als Spezialgefängnis der Kommandantur berüchtigt war.
Als Tante Hethe von dieser schlimmen Entwicklung der
Dinge erfuhr, lief sie verzweifelt von einer Behörde zur
anderen und bettelte um Gnade für ihren Mann. Überall aber
wurde sie kalt abgewiesen. Schließlich stellte sie sich vor das
Gefängnis, um vielleicht wenigstens zu erfahren, wie es ihm
gerade ging. Dort traf sie noch andere Frauen, deren Männer
ebenfalls inhaftiert waren. Jeden Tag gaben sie ein Paket mit
Lebensmitteln oder warmer Kleidung bei den Wachposten ab.
Ob sie ihr Ziel erreichten, blieb ungewiß.
Es gab zahlreiche Verhaftungen in dieser Zeit und wenige
faire Prozesse. Nicht immer lag der Fall zumindest dem
Anschein nach so eindeutig wie bei Onkel Otto. Oft reichte
eine einfache Denunziation. Gefährdet war so gut wie jeder.
Wer schon immer einmal Rache nehmen wollte an irgend
jemandem für irgend etwas, jetzt hatte er reichlich Gelegenheit
dazu.
Tante Hethe litt vor allem unter ihrer völligen Ohnmacht
gegenüber den Mühlsteinen des Schicksals. Nach ein paar
Wochen befahl man den Frauen in einer gewissen Entfernung
stehen zu bleiben. Eines Tages wurden ihnen auch die Pakete
nicht mehr abgenommen. Leute aus den Nachbarhäusern
berichteten, in der Nacht sei eine Anzahl Gefangener auf
Lastkraftwagen abtransportiert worden.
Werner Bartlitz war nach der Entlassung aus der Marine
nicht nach Köthen zurückgekehrt sondern hatte sich in Bremen
niedergelassen. Ab und zu kam er illegal über die
Zonengrenze, um seine Mutter zu überreden, mit Heinz zu ihm
zu ziehen. Tante Hethe wollte sich zunächst aber noch nicht
184
damit abfinden, ihren Mann nie wieder zu sehen, und blieb. Je
unwahrscheinlicher ein glückliches Ende wurde, desto mehr
klammerte sie sich an absurden Hoffnungen fest. Bei jedem
Geräusch in der Nacht wachte sie auf und glaubte, ihm sei die
Flucht gelungen.
Auch Hermann hatte sich nicht wieder in seiner Geburtsstadt
blicken lassen. Ich vermute, daß weniger seine SSZugehörigkeit als sehr private Gründe dafür ausschlaggebend
gewesen waren. Er zog zu seiner Freundin nach Thüringen. Die
besaß dort ein Haus. Bertha fand endlich den Mut, sich von
ihm zu trennen. Sie suchte sich in Köthen eine neue Bleibe.
Die Ironie des Schicksals wollte es nun, daß sie, die Gattin des
Nazis, schließlich zusammenzog mit einer Jüdin, deren Mann
im Konzentrationslager ermordet worden war.
Als sich die Verhältnisse ein klein wenig zu normalisieren
begannen und die Züge wieder halbwegs regelmäßig
verkehrten, stand plötzlich Tante Emma vor unserer Tür. Wir
umarmten sie einer nach dem anderen und waren
überglücklich, denn wir hatten kaum noch damit gerechnet, daß
sie noch lebte. Sie suchte nach Irmgard und Helga. Über ihren
Mann Gustav, der gesund über den Krieg gekommen war, und
ihren Sohn wußte sie schon Bescheid.
Gegen Ende des Krieges hatte man meinen Cousin Werner
Schatz nach Peenemünde abkommandiert. Er sollte dort beim
Bau der so genannten Geheimwaffen mithelfen. Weil er aber
an den Endsieg nicht mehr glaubte und ihn im Grunde auch gar
nicht wünschte, und weil er nicht mitschuldig werden wollte an
der Vernichtung weiterer Menschenleben, setzte er sich ab. Um
niemanden zu gefährden, verbarg er sich in den Wäldern. Als
der Krieg zu Ende war, ging er zu seiner Familie nach Hamm,
nachdem er noch einmal kurz seine Eltern besucht hatte.
Am meisten aber interessierte uns natürlich Tante Emmas ei
genes Schicksal. Als sie auf dem Wege von Polen zurück nach
Deutschland nach Wasser gesucht hatte, war sie an ein von den
Bewohnern offenbar unmittelbar zuvor überstürzt verlassenes
185
Haus geraten. Auf dem Herd stand noch warme Suppe. Diese
märchenhafte Gelegenheit wollte sie sich nicht entgehen
lassen. Sie aß sich satt, wärmte sich ein wenig auf und schlief
schließ lich ein.
Beim Aufwachen stellte sie entsetzt fest, daß der Treck
schon nicht mehr zu sehen war. Auf der Straße rollten jetzt
Wehr machtswagen vorbei. Als sie nun so verlassen am Rand
stand, bekam ein Soldat Mitleid mit ihr und zog sie auf ei nen
der Wagen hinauf. Die Kolonne hatte Berlin als Ziel. Das war
eine glückliche Fügung. In Falkensee besaß sie ja noch ihr
Garten häuschen. Etliche Kilometer vor Berlin mußte sie dann
aber von dem Wagen wieder herunterklettern. Sie bekam noch
ein wenig zum Essen, dann war sie wieder ganz auf sich
gestellt.
Von nun an wurde der Weg zur Tortur. Nur selten nahm ein
Fahrzeug sie mit. Nur selten konnte sie unter einem soliden
Dach übernachten. Und der Winter war bitterkalt. Als sie end
lich ihr Häuschen erreichte, hatte sie schwere Erfrie rungen an
Händen und Füßen.
Es war, als habe in den zurückliegenden Jahren trotz aller
Zuversicht im Unterbewußtsein ständig eine Ahnung sie beglei
tet. Während der gesamten Flucht hatte sie den Schlüssel zur
Tür des Häuschens stets in einem Brustbeutel bei sich getragen.
Beim Eintreten fand sie die Möbel aus ihrer Wohnung vor. Vor
dem Aufbruch nach Polen waren sie hierher gebracht worden
wie auf einen Speicher. Im Schuppen hatte sie Gustav eine
große Menge Holz aufstapeln lassen, vorsorglich für einen Fall,
an den niemand glaubte.
Dennoch wäre Emma beinahe noch gestorben. Die Flucht
hatte sie ausgelaugt, körperlich und vor allem seelisch. Sie
heizte den Ofen, bis er glühte. Dann schmolz sie sich Schnee
und trank gierig das so gewonnene Wasser. Dann legte sie sich
ins Bett. Drei Tage lang tat sie nichts anderes, als
Schneewasser zu trin ken und immer wieder den Ofen zu
heizen. Essen konnte sie nichts. Das hohe Fieber versetzte sie
186
in eine Art Delirium. End lich entdeckten Nachbarn sie und
holten einen Arzt.
Später kam Gustav, und beide bauten sich gemeinsam
wieder ein Heim auf. Mit Hilfe der Nachbarn brachten sie das
Häus chen so gut in Schuß, daß sie sich darin wohl fühlen konn
ten. Jenen Rest ihrer Habe aus Polen, der auf dem Wagen der
Bart litzens bis nach Köthen gelangt war und nun bei uns la
gerte, konnten sie natürlich gut gebrauchen. Emma wollte bald
mit ihrem Mann wiederkommen und die Körbe abholen.
Gegen Ende des Jahres 1945 faßte ich den Entschluß, wie
der zu meinem Mann nach Dresden zu ziehen. Das war keine
so ganz leichte Entscheidung. Erstens mußte ich mich dabei ge
gen Muttchen durchsetzen, der es ganz und gar nicht paßte, ihr
En kelchen Manfred wieder herzugeben. Zweitens erinnerte ich
mich noch recht gut daran, daß auch mit meiner Schwie germut
ter nicht immer gut auszukommen war. Anderseits wußte ich,
daß Muttchen niemals in mir eine erwachsene Frau sehen
würde. Ich suchte nach einem Weg, mein Leben in meine eige
nen Hände zu nehmen, und dabei fiel mir nichts Besseres ein.
Nach langem zähen Tauziehen gab Muttchen nach. Sie be
stand lediglich darauf, daß Manfred noch in Köthen getauft
werde. So geschah es dann auch.
Am Heiligen Abend wollten wir noch einmal als Familie
vollzählig zusammen sein. Wir packten die beiden Kinder in
ihre Wagen und zogen los, Elly zu besuchen. Das war ein
Fußmarsch von zwei Stunden. Des besonderen Anlasses wegen
wurde meiner Schwester sogar erlaubt, am Gottesdienst in der
Dorfkirche teilzunehmen, trotz der Ansteckungsgefahr.
Am zweiten Weihnachtsfeiertag brach ich mit Manfred nach
Dresden auf. Muttchen begleitete mich mit Helmut. Wir
benutzten die Eisenbahn. Damals fuhren nur Personenzüge,
und aus Sparsamkeit gab es kein Licht. Mit Einbruch der
Dunkelheit saßen wir also in einem völlig finsteren Abteil.
Plötzlich riß jemand die Tür auf. Männer, die wir nur
schemenhaft wahrnahmen, drangen ein, griffen nach unseren
187
Taschen und verschwanden wieder. Dabei gingen auch alle
Wertsachen und Papiere verloren.
In Leipzig meldeten wir den Vorfall der Bahnhofspolizei.
Die Beamten jedoch zuckten nur mit den Schultern. Die
Räuber waren von Trittbrett zu Trittbrett gesprungen und
hatten den ganzen Zug heimgesucht. Sie zu verfolgen, erwies
sich als unmöglich. Die Bande besaß Schußwaffen, die
Ordnungshüter besaßen keine. Letztlich beschränkte man sich
darauf, den Menschen, die zu Dutzenden das Dienstzimmer
umlagerten, ihre Verluste auf Zuruf und Gutglauben zu
bescheinigen.
Für Werner hatte sich die Lage tatsächlich wie gehofft zum
Besseren gewendet. Zwar mußte er sich einmal im Monat bei
der Kommandantur melden, doch besaß er endlich
ordnungsgemäße Papiere und brauchte nicht mehr zu
befürchten, in Kriegsgefangenschaft geführt zu werden. Da das
Vermessungsamt wieder zu arbeiten begann und im Zuge der
Bodenreform sogar zu großer politischer Bedeutung gelangte,
bekam er als Vermesser eine Anstellung.
Bei mir lief nicht alles so glatt. Ich mußte ziemlich bald
feststellen, daß ich von einer Abhängigkeit in eine andere
geraten war. Daß ich meine Interessen gegen die
Schwiegermutter entschlossener durchsetzte als zuvor gegen
Muttchen, brachte mir vor allem ein, daß ich immer mehr in
Ungnade fiel. Da nutzte es am Ende auch nicht mehr viel, daß
Werners Mutter ihr Enkelchen Manfred von ganzem Herzen
liebte und mir viel bei der Betreuung half.
Wieder brauchte ich eine gute Idee. Die beste Lösung war
zweifellos eine eigene Wohnung. Woher aber sollte ich die
nehmen im völlig zerstörten Dresden? Werner glaubte, daß ich
das nie und nimmer schaffen würde. Ich versuchte es trotzdem.
Auf dem Wohnungsamt bettelte ich so lange, bis die Beamten
meinen Antrag annahmen. Nach erstaunlich kurzer Zeit
erhielten wir ein Angebot: zwei Zimmer zur Untermiete mit
Küchenbenutzung. Das reichte uns erst einmal. Meine
188
Schwiegermutter war darüber zunächst sehr böse. Sie fühlte
sich regelrecht verraten. Später aber verbesserte sich mein
Verhältnis zu ihr. Seit wir einander nicht mehr jeden Tag
sahen, gab es nicht mehr so viele Gelegenheiten zum Streit.
Eine große Überraschung erlebte ich, als es eines Tages
klingelte, und ich mich Muttchen und Elly gegenübersah.
Beide waren ohne Gepäck, hatten also offenbar keine lange
Reise hinter sich.
"Wo kommt ihr denn her?" wollte ich wissen.
"Na, aus Pirna, wir wohnen doch jetzt dort", bekam ich zur
Antwort.
Mir verschlug es die Sprache. Muttchen war tatsächlich
wieder einmal umgezogen. Sie hatte mit einem
Fuhrunternehmer getauscht. Der Beruf des Tauschpartners war
praktisch. Die gesamte Wohnungseinrichtung konnte mit
seinen Wagen bequem und preisgünstig von Köthen nach Pirna
transportiert werden. Es gab aber trotzdem einen Pferdefuß.
Der Keller war noch nicht geräumt worden. Vereinbart hatte
Muttchen Folgendes. Der Fuhrunternehmer schafft alles dort
unten Gelagerte - mehr als dreißig Zentner Kohlen, regelrechte
Berge von Holz, eine Zinkbadewanne, Kartoffeln,
Eingekochtes, vieles mehr - nach Roßlau zum Elbhafen. Dort
wird es auf ein Frachtschiff geladen. In Pirna holen wir es
selbst ab.
So weit, so gut. In der Realität war das Ganze ein gewaltiges
Unternehmen. Das begann schon in Köthen, wo bis auf die
Kohlen jedes Stück in Säcken verstaut werden mußte. In
Roßlau halfen uns ein paar kräftige Männer beim Verladen.
Ganz dick kam es für uns aber dann in Pirna. Dort stand uns
niemand zur Seite. Dort mußten wir drei Frauen - Muttchen,
Elly und ich - jeden Sack und jeden Zentner Kohlen mühsam
mit einfachen Handwagen von der Elbe hinauf in die Stadt
bringen. Als wir endlich damit fertig waren, hatte ich
wahrhaftig kein Verlangen, dergleichen so bald noch einmal zu
erleben.
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Elly fand Arbeit im Pirnaer Zellstoffwerk. Ihrem Köthener
Arbeitgeber, dem russischen Offizier, war sie bei Nacht und
Nebel entflohen. Freiwillig hätte er sie nicht gehen lassen. Für
Tante Hethe war der Umzug fast so etwas wie ein neuer
Schicksalsschlag. Die Schulzes hatten Köthen den Rücken
gekehrt. Nur sie war noch dort, weil sie auf ihren Mann
wartete, und sie kam sich ziemlich verloren vor. Während sie
uns beim Füllen der Säcke half, weinte sie viel.
Die Teilung Deutschlands, die schon unmittelbar nach
Kriegsende mit der Bildung der Besatzungszonen begann, und
die sich in den folgenden Jahren immer mehr festigte, trennte
auch die Schulze-Familien. Solange Tante Hethe und Tante
Emma noch lebten, sorgten sie gemeinsam mit Muttchen dafür,
daß die Verbindungen nicht abrissen. In der nächsten und
übernächsten Generation aber versandeten die Wege
zueinander allmählich. Das war kein böser Wille. Es ergab sich
so. Die Politik tat ein Übriges. Somit wäre ich, wollte ich die
Chronik bis in die Zeit der unabhängigen deutschen Staaten
hinein fortführen, auf vage Vermutungen und Spekulationen
angewiesen. Vieles weiß ich überhaupt nicht. Deshalb werde
ich meinen Bericht mit dem Jahr 1948 beenden.
Zu dieser Zeit bekamen wir Post aus Bremen. Tante Hethe
war schließlich doch in den Westen übergesiedelt. Werner
Bartlitz hatte inzwischen ein Haus gekauft und geheiratet. Das
Haus finanzierte er über einen großzügig verzinsten Kredit, den
ihm sein Vertriebenenstatus einbrachte. Seine Frau hieß
Margot Büntemeyer und stammte aus Bremen. Da im
Obergeschoß des Hauses eine abgeschlossene Wohnung lag,
die das junge Paar nicht brauchte, konnte Tante Hethe dort mit
dem mittlerweile zwölfjährigen Heinz gut leben.
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In Köthen hatte Hethe eine Nachricht für ihren Mann
hinterlassen. Noch immer glaubte sie daran, daß er
zurückkehrte. Genau aufgeklärt ist Ottos Schicksal übrigens bis
heute nicht. Tante Emma erkundigte sich beim Roten Kreuz
und anderen Organisationen. Nach vielen vergeblichen
Versuchen erhielt sie die Adresse eines Mitgefangenen. Der
war aber wenig auskunftsbereit. Offensichtlich hatte er Angst.
Mit hoher Wahrscheinlichkeit kann man jedoch davon
ausgehen, daß mein Onkel in einem russischen Lager an einer
Krankheit zu Grunde ging.
Interessant ist, daß sich auch nach Ottos Tod noch ein guter
Teil schulzeschen Gemeinsinns auf die Bartlitzens
konzentrierte. Jetzt stellte sich heraus, daß keineswegs in erster
Linie der Mann, der das große Wort geführt hatte, der ruhende,
den Zusammenhalt herstellende Pol gewesen war, sondern
vielmehr die zierliche, unscheinbare Hedwig. Es gibt Ursachen,
die sich nicht mit den gewohnten formal logischen Begriffen
erklären lassen. Man erkennt ihr Vorhandensein an den
Wirkungen. Vielleicht war der Samen für Tante Hethes
magische Anziehungskraft auf die Geschwister schon vor dem
ersten großen Krieg in Geuz gelegt worden, damals als alle sie
als das Nesthäkchen geliebt und verwöhnt hatten.
Zum Beispiel fuhr Onkel Franz aus Hannover öfter nach
Bremen. Seine Familie hatte sich um mehrere Enkelkinder
vergrößert. Von seinen Söhnen war nur Kurt aus dem Krieg
nicht zurückgekehrt. Eine enge Verbindung gab es auch
zwischen den Wernercousins. Tante Emma und Onkel Gustav
mußten für eine Reise an die Nordsee viele bürokratische
Hindernisse überwinden. Aber selbst das konnte sie nicht an
einer Reihe von Besuchen hindern. Und Muttchen stand den
beiden nicht nach.
Ihr Haus in Falkensee hatten sich Emma und Gustav im
Laufe der Jahre immer mehr ausgebaut. Man mochte kaum
noch glauben, daß es einmal eine kaum winterfeste Laube
gewesen war. Gustav bewies dabei erstaunlich viel
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handwerkliches Geschick. Auch die Nachbarn, die an
rechtschaffenen Dauerbewohnern großes Interesse hatten,
halfen gern. Es gab in der Siedlung zahlreiche Grundstücke,
um die sich niemand kümmerte und die allmählich verkamen.
Sie waren dadurch ideale Verstecke für Kriminelle, nach denen
die Polizei suchte. Entsprechend häuften sich die Einbrüche in
unerträglichem Maße. Dagegen half nur ständige Anwesenheit
möglichst vieler Siedler.
Irmgard war mit Helga nach Berlin zurückgekehrt. Hier
lernte sie einen elternlosen jungen Mann kennen, der seit seiner
Vertreibung aus Schlesien in einem Flüchtlingslager lebte. Als
Tante Emma davon erfuhr, erfaßte sie Mitleid mit ihm, und sie
bot ihm an, der fünfte Hausbewohner zu werden. Die Zeit unter
einem Dach brachte ihn und Irmgard immer näher. Sie
verliebten sich schließlich so sehr ineinander, daß sie
heirateten.
Kurz darauf begünstigte das Schicksal sie noch einmal. Ein
reicher Unternehmer aus Westberlin suchte für seine Villa in
Falkensee ein Hausmeisterehepaar. Außer einer mietfreien
Wohnung bot er eine gute Bezahlung an. Dafür mußten das
Haus und der Garten in Ordnung gehalten werden. Wer wäre
da abgeneigt gewesen? Als ich die beiden einmal besuchte,
hatte ich den Eindruck, daß sie sehr glücklich waren.
Werner Schatz wohnte noch in Hamm. Er war Vater von
Zwillingen geworden. Eines der Kinder aber hatte nicht
überlebt. So blieb den Eltern - neben Sohn Claus - nur die
kleine Heidi erhalten, die sich allerdings gut entwickelte. Auch
Werner war wohl recht zufrieden mit seinem Leben, so wie er
es sich nach dem Krieg eingerichtet hatte. Wenigstens einmal
im Jahr kam er mit seiner Frau und den Kindern nach
Falkensee zu Besuch.
Als wir in Köthen gewesen waren, um Muttchens Umzug
nach Pirna zu bewerkstelligen, hatten wir dort einen Brief von
unserem
Vater vorgefunden, demzufolge
es
ihm
verhältnismäßig gut ging. Als Kriegsgefangener der Engländer
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arbeitete er auf einem Flugplatz. Dort wurden Frachtflugzeuge
für die Versorgung Westberlins beladen. Wie wir aus seiner
kurzen Mitteilung entnahmen, wollte er möglichst nicht in die
sowjetische Besatzungszone kommen. Vielmehr sollten wir zu
ihm übersiedeln.
Muttchen war von dem Plan nicht sonderlich begeistert.
Dennoch riskierten wir ein paar Monate später einen illegalen
Grenzübergang. Diesem ersten "langen Marsch" folgten noch
eine Reihe anderer. Teilweise ging es darum, bezüglich unseres
künftigen Wohnortes endlich zu einer Einigung zu gelangen,
häufiger freilich um ganz profane Dinge, mit denen wir
unseren Nachkriegsalltag ein wenig angenehmer zu gestalten
versuchten. Die Abenteuer, die wir dabei erlebten, wären es
eigentlich wert, ebenfalls aufgeschrieben zu werden. Vielleicht
widme ich ihnen einmal eine eigene Erzählung. Hier sei nur
gesagte, daß wir Vater schließlich doch dazu überreden
konnten, uns in den Osten zu folgen.
Meine Schwester Elly hatte dagegen noch kein
Lebenszeichen von ihrem Mann Richard erhalten. Nach der
Verkündung des "totalen Krieges" war er doch noch
eingezogen worden. Das Chaos der letzten Kriegsmonate hatte
die Verbindung zu ihm abreißen lassen. Dadurch wußten wir
nicht einmal so genau, an welchem Frontabschnitt er am Ende
eingesetzt worden war. Freilich existierte auch keine
Anzeichen dafür, daß er gefallen wäre. Das gab uns Hoffnung.
Mein Bruder Rudolf hatte gleich nach Kriegsende die
Gelegenheit erhalten, an einem Lehrgang teilzunehmen und
den Meisterbrief zu erwerben. Aus seinem Durchgang
erreichten (aus unterschiedlichen Gründen) nur wenige das
Ziel. Rudolf gehörte zu denen, welche die Prüfung bestanden.
Eine Anstellung fand er über eine Zeitungsanzeige bei einer
Frau aus Seußlitz, einem kleinen Ort an der Elbe auf halber
Strecke zwischen Meißen und Riesa, deren Mann aus dem
Krieg noch nicht zurückgekommen war. Die Behörden
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drohten, ihrer Schneiderei die Konzession zu entziehen, weil
sie selbst keinen Meisterabschluß hatte.
Das Arbeitsverhältnis dort stand jedoch unter keinem guten
Stern. Nach ein paar Monaten wurde die Frau von der
russischen Militärpolizei verhaftet. Sie hatte einem russischen
Offizier einen Zivilanzug genäht und sich dadurch der Beihilfe
zur Fahnenflucht schuldig gemacht. Die Schneiderei schloß
man sofort. Mein Bruder mußte froh sein, nicht mit angeklagt
zu werden.
Erneut stand ihm aber das Glück zur Seite, so daß er
ziemlich schnell einen Ausweg fand. Er hatte inzwischen eine
junge Frau aus dem Ort kennengelernt. Sie hieß Marga
Heinrich. Ihre Vater war - vermutlich auf Grund einer
Denunziation - von der Straße weg verhaftet worden und aus
einem russischen Lager nicht zurückgekehrt. Die Familie besaß
ein verhältnismäßig geräumiges Haus. Die Mutter bot deshalb
dem Schneidermeister an, sich darin einen eigenen Betrieb
einzurichten.
Die Einladung zur Hochzeit kam für uns alle ziemlich
überraschend. Rudolf hatte zwar öfter einmal ein Mädchen
mitgebracht, sich aber nie fest binden gewollt. Inzwischen war
er schon über dreißig. Vielleicht hatte das ihm den Sinn
geändert. Bald kam ein Kind zur Welt - Barbara. Mit ihr hatten
meine Eltern nun also nach den beiden Enkelsöhnen Helmut
und Manfred auch eine Enkeltochter.
Auch für mich war der Neubeginn nach dem Krieg eine Zeit
voller Höhen und Tiefen. Vieles mußte ich allein bewältigen,
denn Werner, mein Mann, wurde schon bald versetzt, erst nach
Weißwasser und dann nach Großenhain. Man brauchte im
Rahmen der Bodenreform Leute als Leiter für die
neugegründeten Vermessungsämter. Abends wurde der Strom
abgeschaltet. Der Ofen spendete nur spärlich Wärme, denn es
fehlte an Brennmaterial. An kalten Winterabenden ging ich mit
dem kleinen Manfred schon bei Anbruch der Dunkelheit ins
Bett und erzählte ihm Geschichten. Erst im Jahre 1948 ergab
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sich für uns über einen ziemlich komplizierten Ringtausch die
Möglichkeit,
mit
Werner
in
Großenhain
wieder
zusammenzuziehen.
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