2. Die Zeit vor der Stillen Revolution 2.1 La Grande Noirceur Die Ära Duplessis ist von Historikern später oft als eine dunkle Periode - La Grande Noiceur - in der Geschichte Quebecs bezeichnet worden 3 . Tatsächlich stellte das Regime von Maurice Duplessis, welches von 1936 bis 1940 und von 1944 bis 1959 regierte, einen Inbegriff der Rückständigkeit und Stagnation in der Entwicklung Quebecs dar. Die konservative Partei 2 Erstmalige nationale Bestrebungen wurden durch die Patriote-Bewegung im 19. Jh. angeführt. 3 Dickinson, John A./Young, Brian. 1993. S. 263. Union National war bekannt für ihre antiquierte Staatsführung, zu dem wurde sie von der katholischen Kirche stark beeinflusst. Kritisiert wurde die Regierung besonders wegen ihrer mangelhaften sozialen und demokratischen Institutionen sowie aufgrund des ausgeprägten Patronagesystems in der Provinz. Innerhalb der Partei konzentrierte sich das Machtmonopol um die Person Duplessis, der es zu folgen galt 4 . Dies zeigte sich besonders deutlich darin, als dass die Regierung durch entsprechende Verordnungen eigenmächtig demokratische Elemente hemmen konnte. So schaffte Duplessis mit dem Gesetz von 1948 einen neuen Code du travail, um die Streikrechte und den Einfluss der Gewerkschaften einzugrenzen. Die außenpolitischen Beziehungen mit anderen Provinzen und Ottawa waren durch einen Nationalismus gekennzeichnet, der die Einheit Kanadas jedoch nicht bedrohte, sondern nur die Rechte der Frankokanadier im Rahmen des Constitutional Act von 1867 verteidigte, wobei er sich auf Sprache und Glaube berief. Fernerhin war Duplessis` Politik durch einen Liberalismus gekennzeichnet, der den Staat von seiner Rolle als wichtigster Akteur in den Bereichen von Wirtschaft und Gesellschaft entband. Die gesetzlichen Interventionen betrafen lediglich die Agrarwirtschaft, die als wirtschaftliche Hauptaktivität und zum Überleben der Frankophonen als unabdingbar angesehen wurde. Im Zuge dessen kreierte Duplessisis 1936 Le Crédit Agricole, später 1956 L´Office des Marchés Agricoles und erweiterte die ländliche Elektrifizierung. Demgegenüber stellte er die wirtschaftliche Entwicklung der belle province anderen Kräften frei. Während angloamerikanische Konzerne und Investoren von der laisser-faire-Politik sowie dem geringen Lohnstand in Quebec profitierten und in der Provinz einen stabilen Standort sahen, lehnte die Regierung jegliche Unterstützung der kapitalschwachen frankokanadischen Unternehmen ab. So blieb die Wirtschaftsentwicklung Quebecs in anglokanadischen Händen, obwohl die frankophone Bevölkerung in der Mehrheit war. Der Politologe Udo Kempf nennt als maßgebliche Punkte der politischen Praxis der Duplessis - Regierung: „[d]ie religiösen Werte, die Verteidigung der Provinzautonomie gegenüber Ottawa, eine stabile, auf den Respekt vor dem Gesetz und Autorität gestützte staatliche Ordnung und ein uneingeschränktes Bekenntnis zum privaten Unternehmertum.“ 5 Unterstützt wurde diese Politik von der katholischen Kirche, die in Quebec tiefe Wurzeln hat. Bereits nach dem Vertrag von Paris 1763 wurde die Kirche zu eine natürlichen Autorität, als die zurückgelassenen Siedler in Quebec vom Mutterland isoliert wurden und sie sich 4 Tessier, Yves. 1994. S. 216. 5 Kempf, Udo. 1994. S. 14ff. demzufolge vor allem ihrer Sprache und Religion - Französisch und Katholizismus zuwandten. Besonders nach der Niederlage der Patriote - Bewegung wuchs das Ansehen des Letzteren, da seine Rolle als vertraute Institution noch mehr gefestigt wurde, indem er nationale und religiöse Interessen verband und dadurch die frankophone Identität beschützte. Politisch versuchte die Kirche in allen Bereichen Einfluss zu nehmen und lehnte progressive Ideen sowie eine Erweiterung des Parteiensystem und Gewerkschaften ab, um ihre ideologische Vorherrschaft zu erhalten. Nach dem Britisch North America Act im Jahre 1867, konnte die Kirche sich Verwaltungs- und Entscheidungskompetenzen über das frankophone Gesundheitssystem und Wohlfahrtswesen sichern, deren Ausgestaltung sie bis zur Stillen Revolution lenkte. Da die Kirche auch Verantwortungen über das Erziehungssystem und die universitäre Ausbildung innehatte, konzentrierten sich frankophone Universitäten bis zum Anfang des Zwanzigsten Jahrhunderts auf Fächer wie Recht, Medizin und Theologie, was zu einem Bildungswesen führte, das sich stark auf den Klerikalismus richtete. In dieser Hinsicht orientierten sich Moral- und Wertevorstellungen der frankophonen Mehrheit immer noch an der Kirche, die beständig für viele einen Zufluchtsort vor der anglophonen Dominanz darstellte und die sich gleichzeitig gegen Veränderungen wehrte, um ihre Vormachtstellung in sozialen Fragen zu verteidigen. Angesichts des reformfeindlichen Politikstils der Regierung Duplessis konnte die Provinz kaum an jenem sozialen Wandel teilnehmen, der andere Regionen Kanadas schon längst erfasst hatte. Denn während die anglophonen Provinzen von der bereits im 19. Jh. einsetzenden Industrialisierung profitierten, setzte diese in Quebec erst in den 20er und 30er Jahren allmählich ein 6 , nicht zuletzt nach der Weltwirtschaftskrise und im Zusammenhang mit jenem dem Zweiten Weltkrieg dienendem Produktionszuwachs. Mit der Industrialisierung wuchs die Urbanisation in Quebec beständig an, zum Beispiel wurde bis zu ca. 70% der Provinzbevölkerung im Jahre 1960 7 im Raum Montreal registriert. Dies ist deshalb bemerkenswert, wenn sogleich bedacht wird, dass 1871 der Anteil der ländlichen Bevölkerung noch 77% betrug. 8 Dennoch war Quebec im Vergleich zum Rest der Konföderation keine moderne Industriegesellschaft; diese war geführt von einer konservativen Regierung, die sich stark auf der katholischen Kirche sowie der Agrarwirtschaft stützte und deren Situation sich negativ auf den frankokanadischen Bevölkerungsteil auswirkte. 6 Vgl. Tessier, Yves. 1994. S. 199. 7 Kempf, Udo. 1994. S. 27. 8 Erst 1921 stellte die urbane Bevölkerung mit 50% zum ersten Mal in der Geschichte von Französisch - Kanada eine Relevanz dar.