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Dr. Helmut Gross
19.12.2012
Politischer Frieden und europäische Einigung wie?
Die Entscheidung des Nobelkomitees in Oslo, mit dem Friedenspreis 2012 die Europäische
Union auszuzeichnen, war gut und richtig. Das soll hier mit einem weiten Ausgriffin die
Geschichte zum Thema Krieg und Frieden gezeigt werden. Aus Umfangsgründen ist der
Ausgriff selektiv. Dabei bleiben Teilnahmen von EU-Mitgliedsstaaten an Friedensmissionen
der UNO oder Militäreinsätzen der NATO außer Betracht, genau wie die Entkolonialisierungskriege Indochinas und Algeriens gegen Frankreich.Denn sie sind alle Resultat anderer
politischer Verhältnisse.
1. Militärisch oder politisch erreichter Frieden
Von dem spätrömischen Militärtheoretiker Publius Vegetius ist der Leitspruch bekannt
geblieben: „Wenn du Frieden willst, bereite Krieg vor“. Nach diesem paradox formulierten
Prinzip handelten im Mittelalter Rittergeschlechter, später die Fürstenhäuser, später die
Nationalstaaten. Die Annahme dabei ist: Der Aufbau einer starken Verteidigung bildet den
besten Schutz vor feindlichen Angriffen. Jedoch, und das ist die Kehrseite dieses
Friedensprinzips: Eine starke Rüstung verlockte Herrscher im Verlauf der Geschichte auch
immer wieder selbst zu Angriffen auf missliebige Rivalen und Gegner.Das blieb also nicht
defensiv.
Den bisherigen Höhepunkt der Kriegsvermeidung durch Aufrüstung setzten die beiden
Supermächte in der Zeit nach dem 2. Weltkrieg, die USA und die Sowjetunion, mit einer
beidseitig erreichten „Overkill-Kapazität“. Dies bedeutet: Sie waren so militarisiert, dass sie
einen atomaren Erstschlag ihres potentiellen Gegners gegen ihr Territorium mit riesigen
Opfern und Verheerungen durch von geheim gehaltenen Abschussrampen oder von
auftauchenden U-Booten abgefeuerten Raketen mit atomaren Sprengköpfen durch
mehrfache Gegenschläge mit ebensolchen Opferzahlen und Verheerungen beantworten
konnten. Dieses unsinnige „Gleichgewicht des Schreckens“ bewirkte, dass bis zum Zerfall der
Sowjetunion 1990 kein großer Krieg zwischen den beiden Blöcken ausbrach. Es verhinderte
jedoch nicht sogen. Stellvertreterkriege: kleinere bewaffnete Konflikte mit oder ohne
Unterstützung durch eine der Großmächte in vielen Teilen der Welt.
Der preußische General Carl von Clausewitz hingegen hatte den Krieg um 1830 als
„Fortsetzung der Politik mit anderen Mitteln“ bezeichnet. Dies bedeutet: Wenn Staaten mit
Verhandlungen, Propaganda, Drohungen oder Nötigungen bei für sie wichtigen Zielen nicht
weiter kamen (den Dynastien stand vor der Herausbildung der Nationalstaaten auch das
Mittel der Heiratspolitik zur Verfügung ), dann ließ man eben die Waffen sprechen. Das
Vorgehen war formalisiert: Kriegserklärung, Kampfhandlungen und dann Friedensschluss mit
politischen Veränderungen entsprechend den Ergebnissen der Waffen.
Diese Formalisierung stand am Ende des bisher schrecklichsten Krieges der Weltgeschichte,
dem 2. Weltkrieg, nicht mehr zur Verfügung. Dieser endete für Deutschland mit der
bedingungslosen Kapitulation seiner Wehrmacht am 8.5.1945 und mit der Verhaftung der
Mitglieder der Reichsregierung Dönitz durch die britische Besatzungsmacht am 23.5., nicht
durch einen Friedensschluss. Für Japan endete er mit einer Rundfunkansprache des Tenno
am 15.8. zur Ankündigung der bedingungslosen Kapitulation der Armee sowie dann dem
Friedensvertrag von San Francisco 1951, der aber von drei wichtigen Kriegsgegnern, nämlich
der Volksrepublik China, der Sowjetunion und Indien, nicht mit unterschrieben wurde.
Wenig später entstand, womit die Dichterin Ingeborg Bachmann ihr Gedicht „Alle Tage“
beginnen lässt, nämlich: „Der Krieg wird nicht mehr erklärt, / sondern fortgesetzt.“ Das
betrifft die Situation im Nahen Osten: Der Unabhängigkeitskrieg, den Israel gleich nachseiner
Staatsgründung 1949 gegen sechs arabische Nachbarländer führen musste, begann mit
deren Kriegserklärung und endete mit einem Waffenstillstand. Die fünf weiteren Kriege mit
wechselnden Gegnern seither (einschl. der sogen. Suezkampagne 1956, zusammen mit
Großbritannien und Frankreich durchgeführt) brachen dann einfach aus und endeten nach
kurzer Zeit per Waffenstillstand. Ohne wirklichen Friedensschluss kann es aber keine
Befriedung oder Aussöhnung zwischen den Gegnern geben, das zeigt sich an diesem
ungelösten Konfliktfeld bis heute.
2. Alternativer Ansatz der Europäischen Gemeinschaft
Im westlichen Europa begann man dagegen nach dem 2. Weltkrieg einen völlig neuen Weg.
Frankreich, von Deutschland 1940 militärisch besiegt, schaffte es, vor allem durch das
politische Geschick des Generals de Gaulle, 1945 dennoch Siegermacht zu werden,
gleichberechtigt neben den USA, der Sowjetunion und Großbritannien. Genau wie letzteres
war es damals noch Kolonialmacht.
Und aus diesem vom Krieg zerstörten, international aber mächtigen Land machten
weitsichtige Politiker (federführend Außenminister Robert Schuman und der „Vater der
Montanunion“,Jean Monnet) der 1949 gegründeten Bundesrepublik Deutschland den
Vorschlag, aus der unseligen Kette von Kriegen zwischen beiden Völkern, die zur Hassidee
ihrer angeblichen „Erbfeindschaft“ geführt hatte, auszubrechen und durch friedliche
Zusammenschlüsse zusammen auch mit Italien, Belgien, Luxemburg und den Niederlanden
ein neues Kapitel der Geschichte zu beginnen. Diese sechs kerneuropäischen Länder
gründeten 1952 eine Hohe Behörde für Kohle und Stahl, die sogen. Montanunion, um
dadurch die beiden Schlüsselindustrien für neuerliche Aufrüstungen durch eine
Vergemeinschaftung zu neutralisieren. Als nächstes folgte der Plan einer Europäischen
Verteidigungsgemeinschaft, der aber 1954 von der Französischen Nationalversammlung
abgelehnt wurde. Daraufhin wurde der Beitritt der Bundesrepublik zur NATO forciert und
1955 vollzogen. Alle Teile der neu geschaffenen Bundeswehr wurden diesem
Nordatlantischen Verteidigungsbündnis unterstellt, um neuerliche militärische Alleingänge
zu verhindern.
Stand zuerst politisches und militärisches Planen zu einer kerneuropäischen Einigung im
Vordergrund, setzte man dann auf dieWirtschaft. Mit den Römischen Verträgen von 1957
gründeten die genannten sechs Länder die Europäische Wirtschaftsgemeinschaft (EWG),
bauten Zölle und andere Handelshemmnisse ab, schufen untereinander einen gemeinsamen
Markt und formulierten weitere Ziele einer immer engeren Zusammenarbeit. Ein Schwerpunkt lag auf der Agrarpolitik, die seit 1962 voll vergemeinschaftet ist.Die Verhandlungen
über Anbauquoten waren in der Folgezeit langwierig. Wenn Termine dafür um Mitternacht
abzulaufen drohten, dann behalf man sich damit, symbolisch die Uhren anzuhalten und bis
zu einer Einigung weiter zu diskutieren. Diese Krisen und die als Folge der Abnahme- und
Preisgarantien entstandenen Überproduktionen mit anschließenden Vernichtungs- oder
Verramschungsaktionen bei Butter, Wein, Tomaten usw. sind heute weitgehend vergessen.
Die EWG entwickelte sich sehr erfolgreich. Großbritannien hatte zunächst versucht, siedurch
ein Konkurrenzmodell in Schach zu halten, die 1960 gegründete Europäische
Freihandelszone (EFTA), die auch freien Handel, jedoch keine politischen Einigungsbestrebungen wollte.1973 gaben die Briten aber die Mitarbeit dort auf und traten, zusammen
mit den Iren und den Dänen, der EWG bei. Damit begann deren Ausweitungsphase und
juristische Weiterentwicklung als supranationalem Staatenbundzur Europäischen
Gemeinschaft (EG) 1993 und schließlich zur Europäischen Union (EU) 2009. Seit 2007 hat
dieser Staatenbund 27 Mitglieder, 2013 kommt mit Kroatien ein weiteres Mitglied hinzu.
Über seine Finanz- und Währungsprobleme wird seit 2008 viel diskutiert in Medien und
Öffentlichkeit, und Gegenmaßnahmen wurden eingeleitet durch die Politiker auf eilig
einberufenen Regierungsgipfeln. Dass die EU auch politische, kulturelle, infrastrukturelle und
soziale Komponenten hat, ist aus dem Blick der Zeitgenossen weitgehend verschwunden. Es
drängt sich sogar der Eindruck auf, dass „Europa“ zum Kollektivsündenbock geworden ist für
alle Unzuträglichkeiten im Leben seiner Bürger. Die Vorteile, die sie ihnen gebracht hat
(demokratische Ordnung, bürgerliche Rechte,gemeinsamer Wirtschaftsraum,
Niederlassungsfreiheit, Reisefreiheit ohne Grenzkontrollen u.a.m.) werden nicht als
Errungenschaften, sondern als Selbstverständlichkeiten gesehen. Und man schimpft auf den
„Moloch Brüssel“. Das ist eine frappante Undankbarkeit als Folge einer verbreiteten Politikund Geschichtsvergessenheit.
Dass die politischen Leistungen im Fortgang der EWG zur EG und zur EU nicht
selbstverständlich, sondern erreichte Leistung sind, zeigt ein Rückblick auf die Geschichte
genau wie ein Blick auf Struktur und Inhalte vieler anderer Staaten und Staatenbündnisse in
der Welt. Und vor allem zeigt es der politische Frieden in Europa seit über 65 Jahren. Nur
Frankreich und Großbritannien wurden 1956 bei der Suezkampagne durch Entsendung von
Bodentruppen nach Ägypten kolonial rückfällig, letzteres 1982 postkolonial mit dem
Falklandkrieg noch ein weiteres Mal. Beide Kriegsschauplätze lagen jedoch außerhalb
Europas.
Die EU-Mitgliedsstaaten haben sich mit ihrem Beitritt verpflichtet, alleInteressenkonflikte
und sonstigen Streitigkeiten zwischen ihnen nicht durch Gewalt, nationale Alleingänge und
Nötigungen, sondern durch Verhandlungen und Kompromisse zu regeln. Das ist der
demokratische Weg für friedliches Handeln. Er ist mühsam, langwierig und bei den
Ergebnissen oftmals unbefriedigend. Aber das bringen Kompromisse mit sich, weil keine
Seite dafürihre Maximalziele durchbringen kann und es auch nicht versuchen soll. Sondern
alle Beteiligten sollen an akzeptablen Lösungen für alle arbeiten. Dieses Prinzip hat erreicht,
dass auf dem früher immer wieder von Eroberungszügen, von Kriegen und Bürgerkriegen
zerrissenen Kontinent nun ein Gebiet von 500 Millionen Menschen entstanden ist, deren
politische Strukturen aus ihren unterschiedlichen Tradition heraus zwar Verschiedenheiten
aufweisen, die aber gleichzeitig auf die Gemeinsamkeiten demokratische Politik, unabhängige Justiz, freier Handel, Verbesserung der Lebensbedingungen, Infrastrukturentwicklung,
Minderheitenschutz usw. verpflichtet sind.
3. Die nächsten Ziele der EU und ihre Vorbildfunktion
Die derzeitig wichtigsten kurzfristigen Ziele für diesen Staatenbund sind die Überwindung
der von den USA ausgelösten Finanz- und Wirtschaftskrise auf ihrem Gebiet, der Aufbau
einer europäischen Rating-Agentur und eine Verbesserung des Regelwerks für die
Gemeinschaftswährung, den Euro. Dass in die Verfassungen der Mitgliedsländer
Schuldenbremsen eingebaut werden sollen, ist im Fiskalpakt bereits beschlossen, und dass
bei Verstößen gegen die Stabilitätskriterien die vorgesehenen Sanktionen auch angewendet
werden, ebenfalls.So wurde aus begangenen Fehlern gelernt.
Wer nicht von seiner eigenen, Europa angelasteten Alltagsunzufriedenheit und von der
Furcht um Verlust seiner Ersparnisse oder seinem in den letzten Jahrzehnten erarbeiteten
kleinen Vermögen angetrieben wird und wer gleichzeitig auf den Weg der Europäischen
Gemeinschaftsentwicklung seit 1952 zurückblickt, der kann sehen: Das gemeinsame Europa
ist immer eine Baustelle gewesen und hat sich für Schritt vorwärts gearbeitet, indem es
Fehlentwicklungen korrigierte oder indem es sich einvernehmlich und gewaltfrei die
nächsten zu erreichenden Ziele vornahm. Solches politische Handeln ist ungewohnt und
kann sich an Präzedenzfällen nicht orientieren – deswegen nicht, weil es keine gibt. Das ist
aber nicht schlechter, sondern besser als Pläne durch markige Politikerworte, die nach der
nächsten Wahl oft wieder vergessen werden, oder garals die Möglichkeit zum Durchgriff von
ganz oben bis ganz unten durch Diktatoren und anderen Potentaten.
Das nächste Fortschreiten des gemeinsamen Europa muss der Befriedung und Integration
der jetzt auf dem Balkan bestehenden kleinen Staaten gelten. Wenn man so will: da
anzuknüpfen, wo das Konzert der damaligen europäischen Großmächte 1878
(Balkankongress in Berlin), 1908 (Annexion Bosnien-Herzegowinas durch Österreich-Ungarn)
und 1914 (Ermordung des österreichischen Thronfolgers und seiner Frau in Sarajevo)
versagt hat. Nach dem Zusammenbruch von Jugoslawien gab es dort in den 1990er Jahren
vier Nachfolgekriege und zwei Abspaltungen. Als geschichtliche Folge existieren auf dem
Balkan noch bzw. wieder kleine und größere politische Einheiten mit gemischten Ethnien
und nicht wenigen Minderheiten (katholisch, orthodox oder muslimisch), mit viel Misstrauen
untereinander, mit einigen Gewaltherrschaften in wechselnden Konstellationen und ohne
demokratische Tradition.
Anders als die Türkei, deren gewünschter Beitritt seit Jahren bei uns ein emotional geführtes
Thema ist und von der Bevölkerung meist abgelehnt wird, gehören diese Staaten
unbestreitbar zu Europa. Auch diese Integration muss nach dem dafür festgelegten Acquis
communautaire der EU und in der Praxis nach dem erwähnten Baustellenprinzip begonnen
und Schritt für Schritt gemeinsam gegangen werden. Zum Balkan gehört nun auch ein anders
gelagertes Sorgenkind, Griechenland. Auch hier liegt eine Baustelle. Es gibt also einige
zukünftige Herausforderungen, und nach den Grundsätzen und Zielen, die sich die
Europäische Union gegeben hat, gibt es keinen anderen Weg als den des Fortschreitens
mittels langwieriger Verhandlungen und schließlich erreichten Kompromissen, kein
Durchstechen und keine Nötigungen. Anders wäre der erreichte Frieden in Europa wieder
schnell dahin.
Dr. Helmut Gross ist Akademischer Oberrat für Soziologie i.R. und
Schriftführer im Kreisverband Vechta der Europa-Union Deutschland
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