Zeit für einen Themenwechsel

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FINANCIAL TIMES DEUTSCHLAND 27 . AUGUST 2003, Seite 26
KOMMENTAR
Zeit für einen Themenwechsel
Die deutschen Gewerkschaften sind zu technokratisch. Um wieder kampagnenfähig zu
werden, müssen sie das moralische Gerechtigkeitsempfinden der Bevölkerung ansprechen
VON ROLAND ERNE
Ende der Woche wählt die IG Metall ihre
neue Führungsspitze. Doch tatsächlich
geht es um mehr. Die Gewerkschaften
brauchen eine neue Kommunikationsstrategie.
Auf den ersten Blick läuft die Entwicklung
gegen die Arbeitnehmerorganisationen:
Die Produktionsprozesse werden
internationaler und zugleich lokal immer
weiter ausdifferenziert. Der nationale
Flächentarifvertrag ist für die großen
Probleme oft zu klein und für die kleinen
Probleme zu groß. Stehen die
Gewerkschaften damit vor dem Ende?
Zweifel an dieser Einschätzung sind
angebracht, denn die Gewerkschaften sind
nicht nur Opfer der veränderten
Rahmenbedingungen. Sie können diese
auch selbst verändern.
In Großbritannien etwa erleben die
Gewerkschaften zur Zeit eine Renaissance.
Seit 1998 verzeichnen sie wieder leicht
steigende Mitgliederzahlen. Und auch ihre
Kampfbereitschaft hat in den vergangenen
Jahren wieder zugenommen: Zwischen
1998 und 2002 hat sich die Zahl der
Streikenden von 93 000 auf 841 800
nahezu verzehnfacht. Zudem wählten die
Basismitglieder mehrheitlich radikale,
regierungskritische Aktivisten in die
nationalen Vorstände.
Diese Entwicklung ist ironischerweise
auch Margaret Thatchers „AntiGewerkschafts-Gesetzen“ zu verdanken.
Sie verpflichtete die Gewerkschaften, ihre
Leitungsgremien mittels Urabstimmungen
zu wählen, „um die Macht des Apparates
zu brechen“. Die Abschaffung der
Flächentarifverträge hat sich –
gesamtwirtschaftlich gesehen – in
Großbritannien ebenfalls nicht ausgezahlt.
Während die Lohnquote in Deutschland
von 74,5 Prozent im Jahr 1980 auf 65
Prozent im Jahr 1998 gesunken ist, blieb
die britische Lohnquote nahezu konstant:
72,2 im Jahr 1980, 71,1 Prozent 1998.
Dieses Resultat scheint nur auf den ersten
Blick paradox. Je dezentraler über das
Gehalt verhandelt wird, desto weniger
spielt gesamtwirtschaftliche
Rücksichtnahme eine Rolle. Daher
konnten sich gut organisierte
Kernbelegschaften in produktiven
Betrieben hohe Lohnsteigerungen sichern,
während die Beschäftigten in prekären,
gewerkschaftlich kaum organisierten
Arbeitsverhältnissen von der
gesamtwirtschaftlichen Lohnentwicklung
abgehängt wurden.
Diese Polarisierung zwischen
verschiedenen Beschäftigtengruppen stellt
jedoch den urgewerkschaftlichen
Anspruch auf Chancengleichheit und
Verteilungsgerechtigkeit in Frage. Je
weniger Beschäftigte durch
Flächentarifverträge geschützt werden
können, desto mehr gewinnt die politische
Gewerkschaftsarbeit an Gewicht. Nicht
nur die französischen, sondern auch die
staatsfernen britischen, irischen und
schweizerischen Gewerkschaften haben
deshalb versucht, mit einer
Mindestlohnkampagne die Lohnfrage zu
politisieren. Mit beachtlichem Erfolg:
Sogar die Blair-Regierung, die politische
Interventionen in den Arbeitsmarkt
grundsätzlich ablehnt, führte einen
staatlichen Mindestlohn ein.
Politische Macht setzt jedoch immer
politische Kampagnenfähigkeit voraus.
Dies gilt heute mehr denn je, da sich die
Gewerkschaften nicht mehr auf die
Unterstützung durch verbündete Parteien
verlassen können.
Während sich in
den vergangenen Monaten
Millionen Menschen
in vielen europäischen
Ländern an gewerkschaftlichen
Demonstrationen und Generalstreiks gegen
den „Sozialabbau“ beteiligten, ist es den
deutschen Gewerkschaften nicht gelungen,
die Bevölkerung für Proteste gegen die
Agenda 2010 zu gewinnen. In Italien
dagegen ist es gelungen, die
vergleichsweise bescheidene
Deregulierungsvorlage zur Lockerung des
Kündigungsschutzes zu einer moralischen
Grundsatzfrage zu erheben – dabei betraf
diese gar nicht die gewerkschaftlich
organisierten Beschäftigten von
Großbetrieben, sondern nur Arbeitnehmer
in Kleinbetrieben und in befristeten
Arbeitsverhältnissen. Die Regierung
musste zurückstecken.
Auch die Kampagne des Europäischen
Gewerkschaftsbundes (EGB), die die
Würde des Menschen in den Mittelpunkt
stellte, hatte Erfolg: Bei den EUGipfeltreffen in Porto, Nizza, Brüssel,
Barcelona und Sevilla demonstrierten
mehrere Hunderttausende Menschen für
die Verankerung sozialer und politischer
Rechte in der EU-Verfassung. Während
etwa der DGB kaum Mitglieder für diese
„Euro-Demos“ mobilisierte, fand der EGB
massive Unterstützung sozialer
Bewegungen sowie einzelner EuroBetriebsräte, die täglich mit den
Auswirkungen der Globalisierung
konfrontiert werden.
Wenn auch die deutschen Gewerkschaften
wieder kampagnenfähig werden möchten,
müssten sie eine Agenda erarbeiten, die
nicht nur technokratisch rational ist,
sondern vor allem auch das moralische
Gerechtigkeitsempfinden der Bevölkerung
anspricht. Nur so werden sie auch wieder
junge Mitglieder gewinnen, wie etwa das
Beispiel des linken italienischen
Gewerkschaftsbundes CGIL zeigt. Rund
ein Drittel der erwerbstätigen CGILMitglieder sind heute unter 30 Jahre alt.
ROLAND ERNE lehrt Europäische
Arbeitsbeziehungen an der Michael
Smurfit Graduate School of Business,
University College Dublin
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