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Die epische Diskussion über die «Hockeyschlägerkurve»
Paläoklimatologische Daten weisen auf einen holprigenVerlauf der
Temperaturhistorie der Erde hin
Indem sie Baumringe und andere Daten untersuchen, enthüllen Forscher die Klimageschichte
der vergangenen Jahrhunderte. Immer mehr Indizien weisen auf starke Schwankungen der
einstigen Temperatur hin. Sven Titz, NZZ, 9. 2. 2011
Sie ist eine der berühmtesten Kurven der Klimaforschung und wird ihrer Form wegen mit einem Hockeyschläger verglichen. Vor zehn Jahren wurde sie mit
einem Schlag einer grösseren Öffentlichkeit bekannt,
weil die Autoren des Uno-Klimarats (IPCC) sie im damaligen Bericht an prominenter Stelle placierten. Die Kurve stellt den Verlauf der Lufttemperatur auf der Nordhalbkugel während der letzten 1000 Jahre dar und wird
aus Indizien für einstige Klimazustände berechnet, zum
Beispiel aus der Breite von Baumringen.
Rasanter Anstieg
Als ein Pionier der Analysemethode gilt der amerikanische Forscher Michael Mann; seine Studie mit der Urform der Hockeyschlägerkurve erschien 1999. In der
damaligen Version schien die Temperatur über Jahrhunderte flach zu verlaufen, bevor sie im 20. Jahrhundert der Form eines Hockeyschlägers ähnelnd - emporschnellte. Bald nach der Publikation des IPCC-Berichts entzündete sich an der Kurve eine Kontroverse, die bis heute
andauert und inzwischen auch um neuere Temperaturkurven kreist. Dass die Auseinandersetzung so scharf
geführt wird, hat viele Gründe.
Da ist zum einen der öffentliche Gebrauch, der von der
Kurve gemacht wurde. Zeitweise diente der Hockeyschläger als ikonenhafter Nachweis einer starken globalen Erwärmung. Dabei wurde die Kurve allerdings oft
vereinfacht: In vielen Präsentationen war der Temperaturverlauf ohne die Fehlerabschätzung zu sehen, die
strenggenommen dazugehört. Andererseits haben skeptische Aktivisten Mann und anderen Paläoklimatologen
sogar vorgeworfen, die Kurve gefälscht zu haben. Zeitweise geriet Mann unter enormen öffentlichen Druck.
Dabei sei der Vorwurf der Fälschung unsinnig, urteilen
selbst Forscher, die seiner Rekonstruktion aus wissenschaftlichen Gründen kritisch gegenüberstehen.
Auch ohne die öffentliche Debatte ist es eine vertrackte
Aufgabe, die Temperaturen vergangener Zeiten zu bestimmen: Weil das Thermometer erst seit dem 19. Jahrhundert global zur Temperaturmessung verwendet wird,
müssen für frühere Zeiten andere Hinweise herhalten.
Paläoklimatologen untersuchen Baumringe, Eisbohrkerne, die Schichten in Tropfsteinhöhlen, Korallen, Sedimente in Seen und viele andere Objekte, die Rückschlüsse auf die einstige Temperatur erlauben. Auch
historische Aufzeichnungen gehen in die Rekonstruktionen ein. Inzwischen sind in den Datenbanken Hunderte
solcher Stellvertreterdaten verfügbar, die sogenannten
Proxydaten.
Die Forscher stehen vor vielen Fragen: Heikel ist zum
Beispiel die Auswahl der Proxys. Welchen Daten traut
man verlässliche Hinweise auf die einstige Wärme oder
Kälte zu, welchen eher weniger? Baumringe zum Beispiel
sind die beliebtesten Proxys. «Für die Zeit um das Jahr
1000 herum müssen wir uns zu über 90 Prozent auf
Baumringe verlassen», sagt der Paläoklimatologe Jan
Esper von der Universität Mainz. Doch oft liessen sich
aus den Ringen nur Rückschlüsse auf die Temperatur im
Sommerhalbjahr ziehen, wenn die Bäume wachsen.
Gerade in den hohen Breiten mit einem langen Winter
ist das ein Problem. Ausserdem geben die Baumringe
langfristige Temperaturschwankungen wahrscheinlich
nicht verlässlich wieder. Zu allem Überfluss werden
viele Proxys, je weiter man in die Vergangenheit zurückgeht, immer seltener und lückenhafter, was die
statistische Auswertung zusätzlich erschwert.
Die Bedeutung der Statistik
Gerade an der Schnittstelle zwischen Paläoklimatologie
und Statistik entbrennt der Streit um die Hockeyschlägerkurve immer wieder von neuem. 2010 bot das Fachjournal «Annals of Applied Statistics» ein Forum für eine
Debatte über Rechenmethoden. Der Auslöser war ein
Artikel der amerikanischen Statistiker Blakeley McShane
und Abraham Wyner: Sie hatten mit einem Test in Frage
gestellt, dass Proxys überhaupt genug Informationen
enthalten, damit die Temperatur rekonstruiert werden
kann. Paläoklimatologen wiesen den Test zwar als untauglich zurück. Doch die Debatte war nicht für die
Katz: Es wurde klar, dass Paläoklimatologen noch nicht
ausgelernt haben, was die Kalibrierung der Proxys angeht.
Fehler liessen sich nur vermeiden, wenn die Gemeinschaften der Paläoklimatologen und der Statistiker eng
zusammenarbeiteten, kommentiert der Physiker Eduardo Zorita vom Helmholtz-Zentrum Geesthacht nahe
Hamburg, der selbst die Klimavergangenheit erforscht.
Die «richtige» Methode zur Rekonstruktion der Temperaturgeschichte habe man noch nicht gefunden.
Inzwischen gibt es ein ganzes Bündel von Hockeyschlägerkurven-Nachfolgern. Daran lässt sich gut die Entwicklung des Forschungsstands ablesen: Die Temperatur
schwankte in den vergangenen Jahrhunderten wohl
merklich stärker, als es 1999 ausgesehen hatte: Die
Temperaturwellen waren womöglich dreimal so stark.
Entsprechende Ergebnisse hat auch Michael Mann publiziert. Generell ist die Form der Kurve mit dem starken
Temperaturanstieg am Ende zwar gleich geblieben, doch
der «Schaft» des Hockeyschlägers hat starke Dellen
bekommen. «Wie gross die Temperaturamplitude in den
vergangenen Jahrhunderten war, ob nun 0,5 Grad oder 1
Grad, wissen wir allerdings noch nicht», erläutert Esper.
Eine Verbesserung der Kenntnisse erhofft er sich vor
allem von möglichst vielen neuen Proxys.
Temperaturrekonstruktionen für grössere Gebiete sind
aufwendig und werden darum nicht oft unternommen.
Doch Eduardo Zorita weist auf eine neue Studie hin, die
ihm gut gefallen habe. Sie stammt von einem Forscher
der Universität Stockholm und wurde vor kurzem in der
Zeitschrift «Geografiska Annaler» publiziert. Darin präsentiert Fredrik Ljungqvist eine Rekonstruktion der
Temperaturen für die letzten 2000 Jahre. Die Studie
beschränkt sich auf den Bereich der Nordhalbkugel nördlich der Tropen, da in Äquatornähe zu wenig gute Proxys
zu finden sind. Die Arbeit zeuge von viel Sorgfalt und sei
klar nachvollziehbar, meint Zorita.
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Kleine Eiszeit unterschätzt
Ljungqvist hat ausgeprägte Schwankungen der Temperatur gefunden, wie sie noch nicht oft belegt wurden:
Gemäss seiner Rekonstruktion war die Kleine Eiszeit, die
von 1400 bis 1850 dauerte, um bis zu 0,8 Grad Celsius
kälter als das Klimamittel der Jahre 1961-1990. So warm
wie in diesem Bezugszeitraum war es zuletzt in der
Mittelalterlichen Warmzeit (um das Jahr 1000 herum)
und zu römischen Zeiten. Höher hinaus stieg die Temperatur erst gegen Ende des 20. Jahrhunderts. Vielleicht
sind die Temperaturdellen der Vergangenheit sogar noch
grösser - Ljungqvist mutmasst, dass man die Kälte der
Kleinen Eiszeit nach wie vor unterschätzt.
Seit der ersten Studie hat sich die Hockeyschlägerkurve
deutlich gewandelt. Wie das zu interpretieren ist, darüber herrscht noch keine Einigkeit. In der Öffentlichkeit
wird gern diskutiert, ob die Gegenwart wärmer als die
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Mittelalterliche Warmzeit ist. Die jüngsten Studien deuten in der Tat darauf hin. Doch in Fachkreisen ist diese
Frage gar nicht so wichtig. Die Forscher wollen vor allem
verstehen, wie gross die Klimaschwankungen früher
waren und was sie verursacht hat.
Als Ursachen kommen äussere Faktoren wie Vulkanausbrüche und solare Veränderungen in Betracht, aber auch
innere Klimaprozesse. Um den plausibelsten Verlauf der
Klimaentwicklung zu bestimmen, nutzen die Wissenschafter neben Proxydaten vermehrt Computersimulationen. Dabei lernen auch die Modellierer hinzu. Die Paläodaten helfen, die Modelle realistischer zu machen, was
genauere Klimaprojektionen ermöglichen soll. Die Mühe
trägt Früchte: Nach und nach vollführen die Modelle
innere Klimaschwankungen, die immer näher an der
Wirklichkeit sind. Für die Klimaforschung ist die Hockeyschlägerkurve deshalb nach wie vor wichtig: nicht als
Ikone, aber als wichtige Erkenntnisquelle.
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