Liebe Gemeinde! In diesem Predigttext geht es darum, wie Menschen seelische Widerstandskraft, psychische Muskeln entwickeln können, um Schweres zu überstehen. Dazu will ich zunächst zwei belastende Situationen ansprechen. Ich schildere ihnen zunächst kurz eine Situation im heutigen Indien, die ich bei einer Reise als Beauftragter für Brot für die Welt kennen gelernt habe. Danach geht es um die Situation der Hebräer, an die der Brief mit unserer Bibelstelle gerichtet ist. In einer armen indischen Familie der Unberührbaren, bringt die Mutter ein Mädchen zur Welt. Vater und Mutter sind geschockt. Sie hatten sich einen Jungen gewünscht, nur kein Mädchen. Ein Mädchen, - das ist die Katastrophe, weil die Familie einmal immens viel Geld bei einer Heirat zu bezahlen hat. Da gibt es keinen Ausweg. Um den Brautpreis bezahlen zu können, wird sich die Familie später ungeheuer verschulden müssen und in eine Art Schuldsklaverei kommen. Gegenüber ihren Brüdern werden Mädchen deshalb meist vernachlässigt, sie bekommen weniger zu essen und weniger medizinische Versorgung, Sie sterben häufiger als ihre männlichen Geschwister, besonders häufig vor ihrem fünften Lebensjahr. Und so schlägt auch in dieser Familie die Anspannung und Erwartung bei der Geburt um in massive Enttäuschung. Wenn sie nur nicht geboren wäre, denkt der Vater und gibt der Tochter den Namen Nakusa, das bedeutet übersetzt: unerwünscht! Nakusa bekommt weniger zu essen und soll mehr arbeiten, als die Brüder. Oft wird sie gehänselt wegen ihres Namens. Nakusa ist oft sehr traurig und weint viel. Welche Fähigkeiten und Kräfte können helfen, dass das Mädchen Nakusa diese bedrückende Situation ohne dauerhaften Schaden überstehen kann? Und nun zur Gemeinde der Hebräer, an die der Brief gerichtet ist. In welcher Situation befanden sich die Menschen damals? Voller Begeisterung und Zuversicht waren sie einst Christen geworden, die Hebräer. Ihr Glaube gab ihnen viel Freude. Sie bildeten eine feste Gemeinschaft in den ersten Jahren, in der frühen Zeit. Aber dann mussten sie schlimme Erfahrungen machen und nichts war mehr wie früher. Es gab zuerst wohl Auseinandersetzungen mit der jüdischen Gemeinde. Viel schlimmer waren aber die häufiger werdenden harten Verfolgungen seitens der römischen Staatsmacht. Die Christen wurden Freiwild. Sie wurden von Denunzianten angezeigt, in der Nacht aus ihren Häusern gezerrt und eingesperrt. Wer in dieser Situation als Christ überlebte, befand sich in einer trostlosen Lage. Der neu gewonnene Glaube konnte einem da ziemlich bald verloren vergehen. Da ist es nur zu verständlich, wenn die Hebräer damals unter „müden Händen und wankenden Knien“ zu leiden hatten und ihre Schritte sehr unsicher waren. Manche werden sich gefragt haben: "Wie sollen wir das aushalten? War es richtig, Christ zu werden?“ Liebe Gemeinde, müde Hände, wankende Knie, unsichere Schritte, - Situationen, die das Leben massiv belasten, - das alles sind Erfahrungen, die viele Menschen gemacht haben und machen: im Leben und im Glauben. In mancher Kirchengemeinde fragt man sich heute: Was gibt mir mein Glaube noch? Ich gehe Sonntag für Sonntag in die Kirche und es werden immer weniger, die zum Gottesdienst kommen. Steht man mit seinem Glauben bald allein? Die Freude an der Gemeinschaft ist geschwunden. Durch die vielen Veränderungen, durch Zusammenlegungen von Gemeinden gibt es auch in der Gemeinde, auch in der Kirche Streit, Missgunst und Ausgrenzung. Keine Lust mehr, in das Leben der Gemeinde, der Kirche zu investieren, weil es sich nicht zu lohnen scheint. Wie kann denn in einer solchen Situation die Kraft zum Standhalten und die seelische Widerstandsfähigkeit gestärkt werden? Kann es trotz widriger Umstände ein Gedeihen geben? Warum zerbrechen manche Menschen an Schicksalsschlägen und andere gehen gar gestärkt daraus hervor? Ein Mann schildert, wie er aus Krise und Tiefpunkt wieder herauskam: Er sagt: „Ich glaube, das erste Geheimnis ist, die Schwäche zuzulassen. Nicht: optimistisch sein und dann wird alles gut. Man muss durch diese Phase durch, man muss eine Anfechtungszeit durchstehen, das ist eine ganz wichtige Voraussetzung dafür, neu anfangen zu können und sein Leben neu ordnen zu können. Das Entscheidende ist dann, dass man sich nicht aufgibt. Und dass andere Menschen um dich sind, die dich nicht aufgeben.“ Ein funktionierendes, unterstützendes Umfeld war Ihm ganz wichtig. Und: Immer wieder habe ihm seine grundlegende Überzeugung geholfen, dass Gott es gut mit ihm meint, trotz schlimmer Situation, erklärt er. Bei Gott konnte er Unterstützung und Wertschätzung einklagen. „Bei Gott kommt die Welt in Ordnung und für ihn bin ich ein liebenswürdiger Mensch, auch wenn jetzt alles dagegen spricht. Wer sich von guten Mächten umringt sieht, kann zuversichtlicher sein, auch in schlimmsten Lagen“, sagt er. Auch Kinder können Fähigkeiten erwerben, die helfen Schweres zu überstehen. Es ist deshalb wichtig, Kindern die biblischen Geschichten von Heilung und Rettung zu erzählen; sie brauchen Vergewisserung und Ermutigung durch Gott, der die Wirklichkeit mit seinen guten Mächten umfasst. Auch Kindergeschichten wie Pippi Langstrumpf, Ronja Räubertochter oder Swimmy beschreiben schön, wie Kinder psychische Muskeln und seelische Widerstandskraft entwickeln können. Das Kindermutmachlied in unserem Gesangbuch gehört auch dazu. Liebe Gemeinde, wie werden denn nun die müden Hände und wankenden Knie der Hebräer gestärkt? Mitten hinein in diese Ermüdungserscheinungen, Probleme und Enttäuschungen kommt der Verfasser des Hebräerbriefes mit einer großen Schatzkiste voller Lebens- und Glaubenserfahrung. Wer den Deckel aufmacht, dessen Blick wird frei auf eine Fülle ermutigender Erfahrungen. Zunächst sagt unser Bibeltext: o Eure Situation ist ernst, aber nicht hoffnungslos! o Ihr seid all dem, was euch in eurem Leben widerfährt aber nicht einfach ausgeliefert. o Ihr habt ein Wort mitzureden bei alldem! Ihr braucht euch nicht stumm eurem Schicksal zu ergeben. Ihr könnt etwas tun. Nämlich: "Stärkt die müden Hände und die wankenden Knie, und macht sichere Schritte mit euren Füßen, damit nicht jemand strauchle wie ein Lahmer, sondern vielmehr gesund werde." Das klingt fast wie ein Fitnessprogramm. Die 1. ) Stufe des Fitnessprogramms, das uns der Hebräerbrief also vorschlägt lautet: Nicht erstarren! Kommt wieder in Bewegung! Was ist der nächste Schritt? 2) Die Resilienzforschung sagt: Nicht einfach im Loch sitzen bleiben. Wieder Verantwortung für dich und für die Situation übernehmen. Du selbst hast auch eine Verantwortung, wie es weitergeht. Gorbatschow hat das auf seine Weise ausgedrückt: „Entweder bist du Teil des Problems oder Teil der Lösung“. Die Bibel hat hier einen ähnlichen Gedanken. Sie nennt das Heiligung. Sie sagt hier im Bibeltext: „Jagt dem Frieden nach mit jedermann und der Heiligung, ohne die niemand den Herrn sehen wird, und seht darauf, daß nicht jemand Gottes Gnade versäume;“ Als Charlie Chaplin, der unter ärmsten Verhältnissen in London aufwuchs, als 5Jähriger einmal sehr krank war und sterben wollte, um zu Jesus zu kommen, von dem ihm seine Mutter erzählt hatte, sagte seine Mutter: „Jesus will, dass du zuerst lebst und deine Bestimmung hier erfüllst“. Wir haben eine Bestimmung, eine Verantwortung, eine Lebensaufgabe. Die Bibel bezeichnet das mit dem alten Wort „Heiligung“. Ihr habt eine Lebensaufgabe und eine Verantwortung sagt unser Briefschreiber den Hebräern: Jagt dem Frieden nach mit jedermann, das ist die Aufgabe jetzt. Hinzu kommt eine weitere Herausforderung: 3) Du musst die Opferrolle verlassen. Das ist der 3.) Schritt. Menschen sind oft voll Verbitterung, Wut und Ärger. Es gelingt ihnen nicht, Ungerechtigkeiten oder Kränkungen hinter sich zu lassen. In ihren Gedanken kreisen sie um die Ungerechtigkeit, die ihnen angetan wurde, sie fühlen sich als ohnmächtige Opfer und empfinden eine tiefe, aber aussichtslose Wut. Sie beschäftigen sich mit Rachegefühlen und sehnen sich nach Vergeltung. Dabei zerstören sie sich selbst, die Verbitterung ist wie eine bittere Wurzel, die ihr Leben vergiftet. „Achtet darauf, dass nicht eine bittere Wurzel aufwachse und Unfrieden anrichte“, so heißt es hier in unserer Bibelstelle (Hebr. 12,15). Verlasse die Opferrolle, stelle dir vor, wie das Leben aussieht, wenn du aktiv wirst, damit dich nicht Verbitterung zerstört. In Bewegung kommen, Verantwortung übernehmen und die Opferrolle verlassen, nicht verbittern - das ist ein Weg, den schon viele zurückgelegt haben, sagt der Hebräerbrief. 4.) Du bist nicht allein und nicht von Gott verlassen. Du gehörst zu einer großen Gemeinschaft, die diesen Weg schon gegangen ist, allen voran Jesus. Geht auch ihr diesen Weg. Im Kapitel zuvor erzählt der Hebräerbrief, wie eine lange Reihe von Menschen Krisen bewältigen konnten durch den Glauben und wie neue Wege daraus erwuchsen. Euer Weg hat einen guten Anfang und ein gutes Ziel. Der Glaube ist eine feste Zuversicht auf das, was man hofft und ein Nichtzweifeln an dem, was man nicht sieht. Vier Schritte werden aufgezeigt, wie Menschen damals wie heute eine schwere Situation überstehen, wie „psychische Muskeln“ aufgebaut werden können. Und in Indien - Wie ging es weiter mit dem Mädchen Nakusa? Konnten auch bei ihr die „müden Hände und die wankenden Knie“ gestärkt werden, dass sie sichere Schritte gehen konnte? Wer weiß, wie die Geschichte für Nakusa noch verlaufen wäre, wenn nicht Brot für die Welt mit seiner indischen Partnerorganisation Ankur in diesem Gebiet arbeiten würde. Auch hier war die Situation ernst, aber nicht hoffnungslos. Eines Tages steht ein Mann vor der Tür und will den Vater sprechen. Es ist wegen Nakusa. Ein anderes Mädchen hatte dem Mann von Nakusa erzählt. Nun bittet der Mann, dass Nakusa einmal in der Woche zu Ankur kommen darf. Bei Ankur treffen sich viele Kinder aus dem Armenviertel. Der Vater will nicht. Nakusa soll arbeiten. „Sie wird aber kostenlos lesen und schreiben lernen“, sagt der Mann. Das beeindruckt den Vater. Denn er selbst kann nicht lesen und schreiben. Wenn ein Kind das könnte, wäre das vielleicht ein Vorteil für die ganze Familie über-legt er. Und weil der Mann nicht locker lässt und immer wieder kommt, stimmt der Vater schließlich zu. Ein bis zwei mal pro Woche kommen Kinder bei Ankur nachmittags zusammen, um Geschichten zu hören und zu erzählen und um lesen, schreiben und rechnen zu lernen. Ankur fördert Fantasie, Kreativität und soziales Verhalten, aber auch Computerkenntnisse. Und so lernt Nakusa ganz begierig. Langsam beginnt sich die Enttäuschung in der Familie über das Mädchen zu verwandeln. Nakusa freut sich immer schon riesig auf das nächste Treffen bei Ankur. Und sie ist überglücklich, dass sie als Mädchen erwünscht, anerkannt und geachtet ist. Sich nicht aufgeben und eine Gemeinschaft, die stärkt, das war auch hier wichtig. Nakusa erfährt besondere Wertschätzung und entdeckt und entwickelt die eigenen Fähigkeiten. Liebe Gemeinde, in sehr alten Worten beschreibt die Bibel wie eine Resilienz – eine seelische Widerstandsfähigkeit wächst. Sie wächst offenbar dadurch, dass Menschen Krisen, Kummer und Leid erleben, aber die Erfahrung machen, dass sie nach solchen Härten des Lebens auch immer wieder Glück empfinden können. So sind die Täler der Trauer und Trostlosigkeit für viele Menschen auch eine Vertiefung ihrer Lebenserfahrung, die sie rückblickend stärker gemacht haben. Aus den positiven Erfahrungen, dass sie Hindernisse überwinden konnten, haben sie Kraft geschöpft. Kann das nicht auch für die Arbeit in einer Kirchengemeinde gelten? Euer Weg hat einen guten Anfang und ein gutes Ziel, sagt der Hebräer-Brief. Deshalb: nicht aufgeben. Der Glaube ist eine feste Zuversicht auf das, was man hofft und ein Nichtzweifeln an dem, was man nicht sieht. Amen Lied: 65, 1-3+7