Predigt „Wir“ (27.9.2015) Predigt „Wir“ „Wir“ ist die Überschrift dieser

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Predigt „Wir“ (27.9.2015)
Predigt „Wir“
„Wir“ ist die Überschrift dieser morgendlichen Feier Gottes, und
das erlaubt mir die Anrede: guten Morgen, liebe Schwestern und
Brüder. „Wir“ sagen wir ständig. Wir sind hier. Wir leben gut.
Wir sind traurig. Wir haben Angst. Wir sind herausgefordert. Wir
müssen kooperieren. Wir sind das Volk. Das sind, mit Verlaub,
sehr unterschiedliche und je andere Wirs. Was heißt es, ein Wir
zu sein? Das ist das Thema der nächsten Viertelstunde, für die
mich Pfarrerin Schlemmer eingeladen hat, hier zu sprechen – keine
Predigt im Sinne einer Textauslegung zu halten, schon gar nicht
eine Predigt in einfacher Sprache: da hätte sie den Bock zum
Gärtner gemacht. Nein, eher einen Vortrag, der versucht mit Ihnen
ein paar Überlegungen zu teilen, die aus meiner Arbeit als
Religionswissenschaftler
hervorgegangen
sind.
Vieles
davon
betrifft ferne Zeiten und manchmal auch ferne Länder, aber
einiges ist vielleicht auch für uns heute und hier bedenkenswert.
Wir reden leicht vom „Wir“ und denken dann immer, das sind wir
auch – „sind“ im Sinne von: Das bin ich, das macht mich aus, so
möchte ich sein, und vielleicht sogar: anders kann ich nicht
sein. Wenn ich das, was ich sagen werde, vorab in einem Satz
zusammenfassen sollte: Dieses „Wir“ und vor allem dieses „sind
wir“ ist komplizierter, wir sind viele und je nach Gelegenheit
ganz unterschiedliche Wirs. Das sich klar zu machen, hilft uns
und anderen.
Drei Gedankengänge sind es, denen ich dazu mit Ihnen nachgehen
möchte. Der erste ist ein historischer, der betrifft uns als
Christen
in
unserem
Christ-Sein.
Der
zweite
baut
auf
Beobachtungen soziologischer Forschungen auf, und er betrifft
uns als Christen vor allem in unserem Bürger-Sein. Der dritte
schließlich lebt von Ergebnissen psychologischer Forschung, und
er betrifft uns als Einzelne in unserem Wir-Sein.
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Ich beginne mit der historischen Überlegung. Die Begegnung
Gottes mit Mose im Dornbusch, von der wir gehört haben, löst den
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Auszug eines ganzen Volkes, ja überhaupt erst die Entstehung
einer
gemeinsam
handelnden
Gruppe
aus
Menschen
gleicher
Abstammung und gleicher sozialer Situation aus. Aber zuvorderst
ist
es
die
Begegnung
eines
Einzelnen
mit
Gott.
In
den
Jahrhunderten, als Einzelne begannen, diese Geschichte in dieser
Form zu verbreiten, war das das Neue, das Attraktive, das
Erfolgsrezept: Es war die Botschaft von diesem Gott, der sich
der und dem Einzelnen offenbart, die sich vom Reden über und vom
Reden mit anderen Göttern unterschied. Der Blick in die Praxis
religiöser Kommunikation – wie ich das Singen, Beten, Opfern mit
und für Gottheiten nenne – macht das deutlich: Der Psalm 25, den
wir vorhin gebetet haben, setzt den oder die einzeln Betende in
eine direkte Beziehung mit Gott, eine Beziehung, die sie im
Moment des Betens aus allen anderen heraushebt, die sie stark
machen kann gegen all ihre Feinde. Ich nenne das religiöse
Individualisierung.
Religiöse
Individualisierung
heißt
aber
nicht
religiöse
Einzelkämpfer. Gerade dann, wenn die Botschaft neu ist, meine
Vorgesetze,
mein
Nachbar,
ja
vielleicht
sogar
meine
eigene
Familie mich nicht mehr versteht, brauche ich Stützen. Nirgendwo
kann man das besser ablesen, als im frühen Christentum. Man war
ja schon als Jüdinnen und Juden anders, und dennoch führt die
Zuspitzung der Botschaft von Gott als dem Gott Jesu Christi, wie
sie ein Paulus verbreitete, zu weiterer Gruppenbildung. Man traf
sich auch außerhalb der Synagoge, beherbergte einen Propheten.
Das waren Strukturen, die sich nur langsam herausbildeten. Rund
einhundertfünfzig Jahre dauerte es, bis die Idee aufkam, man
benötige einen starken Vorsitzenden, einen, wie es griechisch
hieß
„Episkopos“,
einen
Auf-Seher,
rund
zweihundertfünfzig
Jahre, bis man meinte, über die Treffen in Wohn- und Esszimmern
hinaus eigene Versammlungsbauten zu benötigen. Das machte stark,
verlieh dem Wir-Gefühl eine institutionelle, eine räumliche
Basis.
Aber es gab auch eine Kehrseite. Es dauerte keine zweihundert,
ja
nicht
einmal
einhundertfünfzig
Jahre,
bis
manche
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Predigt „Wir“ (27.9.2015)
Gemeindeleiter
Bedarf
sahen,
Abweichler
an
den
Pranger
zu
stellen. Wenn man Irenäus von Lyons Schrift gegen die Häretiker
vom Ende des zweiten Jahrhunderts liest, wundert man sich, wie
sich Dutzende von Häresien, von „Sekten“, wie wir heute sagen
würden, in so kurzer Zeit hatten bilden können. Wenige Jahrzehnte
später
schürt
Hippolyt
in
Rom
die
Angst,
in
den
Gemeindeversammlungen könnten Beschnittene oder Heiden anwesend
sein, die nur darauf warteten, einzelne zu packen und vor Gericht
zu zerren. Der „Sieg des Christentum“ im vierten Jahrhundert
führte dazu, dass solche Regelungen Teil des Strafgesetzbuches
und der Regelungen für den öffentlichen Dienst wurden.
Und
all
das
ist
natürlich.
Sie
können
keine
Organisation
aufbauen, die ihre Mitglieder schützt, wenn Sie von diesen
Mitgliedern nicht ein Minimum an Konformität einfordern, ihr
Verhalten
zu
standardisieren
versuchen.
Starke
religiöse
Einzelne, so fasse ich zusammen, sind wir nur, wo wir durch eine
Gemeinschaft gestärkt werden, aber genau diese Gemeinschaft kann
uns in anderen Momenten auch einengen, beschränken – und oft
genug sind wir Teil dieses Tuns, die Splitter in den Augen der
Anderen zu entdecken.
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Wir sind hier unter uns – und indem ich das sage, mache ich
es Anwesenden, die nicht so ohne Weiteres diesem Wir zugehören
wollen, schon schwer, das laut zu sagen. In meiner zweiten
Überlegungen geht es aber um die entgegengesetzte Situation. Wie
verhalten sich Angehörige religiöser Gruppen außerhalb ihrer
Gruppe in Situationen bürgerlichen Engagements? Das ist die
Frage von soziologischen Forschungen, die sich mit der Gegenwart
beschäftigen und noch immer laufen. Wer denkt wie ich? Wen kann
ich als Verbündete gewinnen? Mit wem würde ich die Zusammenarbeit
gefährden,
wenn
ich
offen
als
Christ
oder
als
Religiöser
aufträte? Das sind Fragen, die sich uns gerade auch in diesen
Tagen etwa bei Bürgerversammlungen zur Flüchtlingsproblematik
stellen. Da sind zwar alle Beteiligten ein „Wir“, aber im
Konkreten fällt das Wir-Sein doch sehr unterschiedlich aus, und
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Predigt „Wir“ (27.9.2015)
Wir trennt sich oft von Wir. Wir sind dann auch gerne oder
jedenfalls gezwungenermaßen anders als „die“, die mit uns im
selben Raume sitzen.
Was sich zeigt, ist, dass Angehörige religiöser Gruppen sehr
unterschiedlich, aber auch je ähnlich agieren. Sie reden die
anderen nicht als erstes mit „Schwestern und Brüder“ an. Was
gängiger Stil in der eigenen Gruppe sein mag, ist gerade deshalb
ungeeignet für die anderen. Und doch ist Sprache das wichtigste
Mess-Instrument. Eine Gruppe pflegt bestimmte Sprachstile, ein
bestimmtes Vokabular, von dem sie annimmt, dass es auch andere
auf ähnlicher Wellenlänge benutzen könnten. Dann spricht man von
„teilen“, wo andere informieren sagen würden, vom „in den Raum
stellen“, wo andere äußern sagen würden, vom „aufnehmen“, wo
andere sprechen sagen würden. Da geht es nicht um biblische
Sprache
oder
Jargon,
der
„political
auch
Jugendsprachen
correctness“,
schnell
sehen.
wechseln
Aber
er
sondern
kann,
hilft,
wie
schlicht
wir
gleiche
das
um
bei
Gesinnung
auszuloten. So kann man auch grundlegende moralische Haltungen
kommunizieren,
etwa
wenn
man
auffordert,
doch
erst
einmal
zuzuhören, den anderen ausreden zu lassen. Dieses Ausloten hat
immer zwei Seiten, muss immer zwei Seiten haben: Gleichgesinnte
zu suchen
kann nur dann erfolgreich sein, wenn man selbst
erkennbar wird. Das macht stark, aber auch verletztlich: Wenn
man wie in der Wende „Dona nobis pacem“ singt, identifiziert
einen das auch für die anderen.
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Du bist doch ein ... Kollektive Identitäten scheinen das
Leben leichter zu machen, bei einer Weltbevölkerung von sieben
Milliarden geht es doch gar nicht ohne Schubladen. Richtig, aber:
ganz so einfach ist das nicht mit der kollektiven Identität sagt
uns die psychologische Forschung. „Ich bin“ ist ja zunächst ein
„Ich
denke,
ich
bin
...“
Kollektive
Identitäten,
die
Vorstellung, zu einer Gruppe zu gehören, haben nicht Gruppen,
sondern Einzelne. Und hier wird es schnell bunt, wie die nähere
Untersuchung solcher Einzelnen zeigt. Es geht um Vorstellungen
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Predigt „Wir“ (27.9.2015)
von Zugehörigkeit, oft unabhängig davon, ob diese Gruppe auch in
den Vorstellungen anderer existiert oder andere diese Person
ebenfalls
zur
Gruppe
rechnen.
Selbstklassifikation;
es
Zugehörigkeit:
ich,
Glaube
geht
Es
geht
um
dass
es
die
gut
also
um
Bewertung
ist,
dieser
eine
dieser
Gruppe
zuzugehören, glauben das andere auch? Es geht um die Bedeutung,
die der Zugehörigkeit beigemessen wird: Ist sie mir wichtig? Es
geht um die gefühlte emotionale Verbundenheit und Abhängigkeit
bis hin zu dem Punkt, wo manche Einzelne glauben, allein durch
gerade diese Gruppenzugehörigkeit geprägt zu sein, personale und
kollektive Identität zusammenfallen. Es geht um den Grad der
Einbettung der Mitgliedschaft in Alltagsvollzüge und die Prägung
des eigenen Verhaltens dadurch; und schließlich geht es um die
mit diesen Vorstellungen verbundenen Erzählungen, um das Wissen
über die Werte, Charakteristika und Geschichte der Gruppe.
Das alles gibt es in den verschiedensten Kombinationen und
Schattierungen. Wann denken wir und Sie und Sie und Sie an ein
bestimmtes
So-Sein,
als
Frau
oder
Mann,
Protestant
oder
Katholik, Christ oder Religiöser, Deutsche oder Europäerin,
Mensch
oder
Lebewesen,
Lehrerin
oder
Verkäufer,
Kind
oder
Familienmitglied? Wie lange und wie häufig denken wir daran, in
welchen Situationen sicher, vermutlich oder eher nicht?
Das aber gilt es auch im Kopf zu behalten, wenn wir unser „Du
bist doch ein ...“ formulieren. Ist sie oder er das in diesem
Moment? Will sie es sein? Will er daran erinnert werden? Und
wenn, weiß sie oder er was das für andere heißt? Verhält sie
sich so, wie wir das voraussetzen? Will ich heute so Christ sein,
wie ich das vor zehn Jahren wollte? Will ich es bei einer
Beerdigung in gleicher Weise wie bei einer Taufe? So verschieden
wie Christen sind, sind auch Muslims. Und wir allen wissen, was
uns als „denen aus dem Westen“ im weltweiten Maßstab oder „denen
aus dem Osten“ in nationalem Maßstab so alles unterstellt wird.
Meine Wir ist nicht Dein Wir, auch wenn es dasselbe Wir ist.
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Predigt „Wir“ (27.9.2015)
Ich hoffe, Ihnen erschien nicht alles, was ich Ihnen vorgetragen
habe, so paradox. Deutlich machen wollte ich die Spannungen, die
sich mit unserem Wir-Sein verbinden. Wir zu sein, gibt uns als
Einzelnen Stärke. Aber es kann auch einengen. Ein größeres Wir
zu entdecken ist im gesellschaftlichen Handeln nötig. Aber es
erfordert
auch,
erkennbar,
selbst
identifizierbar
zu
sein,
gerade wenn wir Verbündete suchen. Und schließlich müssen wir
nicht nur uns selbst fragen, wann, wie oft, wie intensiv und wie
im einzelnen wir ein bestimmtes Wir sein wollen. Wir müssen diese
Fragen auch anderen zugestehen – und zugestehen, dass sie je
andere, je einzelne Antworten darauf gefunden haben oder suchen.
Und dann können wir Überraschungen erleben, Überraschungen wie
die Menschen in Jerusalem an Pentecoste, am „50er-Fest“, an
Pfingsten 50 Tage nach Ostern: Plötzlich verstehen wir andere
und werden selbst verstanden.
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