Schwestern, Brüder, Ein Stuhl begleitet uns in diesem Jahr. Er soll ein Zeichen sein, ein Symbol für unser Jahresthema „Ein Platz für dich“. Es ist ein roter Stuhl. Ich weiß nicht, ob derjenige, der die Idee hatte, einen roten Stuhl zu wählen, an die Symbolkraft der Farbe Rot gedacht hat. Rot ist zunächst die Farbe für alles Irdische. Es ist also ein sehr irdischer Stuhl, sozusagen ein Stuhl, der mit seinen vier Beinen auf der Erde steht. Der Platz, den der Stuhl bietet, ist kein himmlischer Platz. Oder doch? Jedenfalls steckt noch mehr in der Farbe Rot: Rot symbolisiert Kraft. Das sehen wir zum Beispiel an der Kraft des Feuers. Und so kennen wir die Farbe auch noch in einem anderen Zusammenhang: In unserem Kirchenjahr ist Rot die Farbe für Pfingsten, und in unseren Gottesdiensten zeigt sie uns auch alle Feste an, in denen es um uns als Gemeinschaft, als Kirche geht. Rot zeigt uns die Kraft, die uns verbindet als Gemeinschaft. Wir sprechen dann von der Kraft Gottes und nennen sie Gottes Geist. Also könnte der Platz doch etwas Himmlisches haben. Doch zunächst halten wir fest: Der Stuhl ist mit seiner Farbe Rot ein Zeichen für einen Platz mitten unter uns, mitten in unserer Gemeinschaft als Freundinnen und Freunde Jesu, ein Platz mitten in unserer Gemeinschaft untereinander, mitten in unserer Gemeinschaft mit Jesus, mitten in unserer Gemeinschaft mit Gott. Genauso ist es umgekehrt: Der Stuhl ist mit seiner Farbe Rot ein Zeichen für einen Platz, den Gott mitten unter uns anbietet, den Jesus mitten unter uns anbietet. Das ist ein Platz, der einen besonderen Geist hat, das heißt eine besondere Gestaltungskraft und besondere Ideen, einen besonderen Scharfblick und eine besondere Phantasie, dazu eine verbindende Kraft, eben alles das symbolisiert, was wir Gottes Kraft, Gottes Geist nennen. Wenn wir einmal genau betrachten, was nun Menschen aufgeschrieben haben und zwischen den biblischen Buchdeckeln gesammelt haben, dann können wir ahnen, was Gottes Gestaltungskraft und seine Ideen, was seinen Scharfblick und seine Phantasie, was seine verbindende Kraft ausmacht. Immer wieder, so erzählen Menschen seit Jahrtausenden, haben wir etwas davon erfahren können. Immer wieder erzählen Menschen: Gott hat einen Platz für uns. Das beginnt bereits mit dem ersten Buchstaben in der Bibel. Es ist der hebräische Buchstabe Bet. Bet ist auch ein hebräisches Wort und heißt in unserer Sprache Haus. Gleich am Anfang, als noch alles, wie die Bibel schreibt, wüst und leer ist, ist Gottes Idee: Ihr sollt ein Haus haben, einen Platz, der Schutz und Wärme bietet. Dann erzählen die Menschen der Bibel, dass Gott einen Platz schafft, einen Platz, der alles zu bieten hat, was der Mensch zum Leben braucht. Und auch als der Mensch diesen Platz verspielt, gibt Gott seine Idee nicht auf. Ja sogar demjenigen, der seinem Bruder den Platz nicht gönnt, dem Brudermörder Kain bietet Gott weiterhin einen Platz. Dann, von Abraham an verspricht Gott: Ich zeige dir einen Platz, oder: Dies wird dein Platz sein. Bis er schließlich einem ganzen Volk verspricht: Dies wird euer Platz sein. Ich teile diesen Platz mit dir. Ich teile meinen Platz mit dir. Doch Gottes Idee ist auch, dass ein Mensch, dass die Menschen diesen Platz, den Gott mit ihm teilt, ebenso mit anderen teilen. Wir haben vorhin eine dieser Ideen Gottes gehört, eine der Lebensregeln, die Gott damit verbindet: Teile diesen Platz ebenso mit einem Fremden. Im zweiten Testament geht es weiter. Die Evangelisten erzählen: Jesus saß mit anderen Menschen an ihren Tischen, redete oder diskutierte in ihren Häusern. Diese Menschen vergaßen, dass eigentlich sie die Gastgeber waren. Hauptsache, sie hatten einen Platz an seiner Seite. Er selbst hatte kein Haus, keinen Tisch, an den er einladen konnte. Er versammelte die Menschen unter freiem Himmel. Für einen Augenblick deutete sich mitten unter ihnen dieser Himmel an. In seinen Worten und in seiner Nähe, an seiner Seite war Platz für sie und für das, was sie bewegte, für ihre Fragen und ihre Begabungen. Oftmals waren es diejenigen, die im Alltagsleben keinen Platz gefunden hatten, ja, denen man einen Platz verwehrte: Menschen, die man wegen ihrer Krankheit mied, wie den Blinden vor Jericho oder überhaupt die Kranken, weil man meinte, ihre Krankheit käme von ihrer Schuld, und man Angst hatte, auch die Schuld könnte ansteckend sein. Jesus teilte mit den Menschen einen Platz, von denen man sich betrogen fühlte, wie zum Beispiel dem Zöllner Zachäus mit den Menschen, die moralischen Prinzipien nicht entsprachen, wie zum Beispiel der Ehebrecherin, mit den Menschen, die religiösen oder gesellschaftlichen Ansprüchen nicht genügten wie zum Beispiel der Samaritanerin am Brunnen, mit den Menschen, die als Verbrecher verurteilt waren, wie zum Beispiel dem neben ihm am Kreuz. Der Mann aus Nazareth hatte einen Platz für sie. Damit hat er ihnen geholfen, ihren Platz in der Gemeinschaft neu wahrzunehmen. Und er hatte dabei nichts anderes im Sinn, als den Menschen die Einladung Gottes weiterzugeben: Du hast einen Platz, den teile ich mit dir. Ein Stuhl begleitet uns in diesem Jahr. Er soll ein Zeichen sein, ein Symbol für unser Jahresthema „Ein Platz für dich“. Dieser Stuhl ist ein Zeichen für den Platz, den Gott mit uns teilt. Und darum ist der Stuhl auch ein Fragezeichen: Mit wem teilst du den Platz? Und weiter: Wie teilst du den Platz? Oder soll ich leer bleiben? Siehst du deinen Platz in Gefahr, wenn jemand neben dir einen Platz hat? Gönnst du dem anderen diesen Platz nicht? Siehst du dich in Gefahr, weil der andere anders ist, weil dir der andere fremd ist? Der Stuhl ist auch ein Fragezeichen, das gerade oder besonders hinter uns steht als Gemeinschaft derer, die sich zu Gott bekennen, ein Fragezeichen, dass wir uns als Menschen in einer christliche Gemeinde prüfen: Verstehen Menschen unsere Worte, mit denen wir eigentlich einladen möchten? Nehmen Menschen unsere Gottesdienste als einladend wahr? Haben wir für sie Platz, wenn sie unsere Gemeinschaft oder unsere Hilfe suchen? Laden wir ein oder vereinnahmen wir? Erreichen die Menschen den Platz, der für sie da ist? Welche Barrieren oder Grenzen sind da noch, die wir womöglich aufgebaut haben, mit denen wir meinen, uns schützen zu müssen? Der rote Stuhl soll ein Zeichen sein, er erinnert uns an Gottes Idee: Hier ist ein Platz für dich. Der Stuhl erinnert uns an Gottes Idee, diesen Platz mit anderen zu teilen. Den Platz mit anderen teilen bedeutet eine Haltung, bedeutet, dass der oder die andere in uns, in unserem Denken, in unserer Vorstellung, in unseren Worten einen Platz hat. Den Platz mit anderen teilen, bedeutet, dass wir die Würde und den Wert des oder der anderen wahrnehmen und aufnehmen, dass wir sie ernst nehmen, ihr Denken und Fühlen, ihren Glauben, ihre Sorgen und Ängste, ihre Fähigkeiten und ihr Wissen ernst nehmen. Die Würde und der Wert des oder der anderen stehen bei Gott an erster Stelle. Schließlich sind sie sein Spiegelbild, als sein Ebenbild hat er sie gedacht. Den Platz mit anderen teilen bedeutet, dass wir anerkennen und gelten lassen, dass sie anders sind, dass dieses Anderssein nicht weniger Wert hat, als Idee Gottes zu schätzen ist. Die erste Seite der Bibel erzählt, Gott hat das Leben vielfältig geschaffen und zu allem ohne Ausnahme gesagt, es sei gut. Den Platz mit anderen teilen bedeutet darum auch, denen zu widersprechen, ja, sich ihnen entgegenzustellen, die Ängste vor anderen schüren, die urteilen auf Grund von Vorurteilen. Das bedeutet in diesen Tagen, allen zu widersprechen, die mit teilweise radikalen Parolen, mit herabwürdigenden Worten gegen Menschen Stimmung machen, die fliehen müssen vor anderen Radikalen. Es gilt den Platz mit diesen Flüchtenden zu teilen, ihnen einen Platz geben, der ihnen wieder Schutz und Geborgenheit bietet. Der rote Stuhl möge für uns ein Zeichen sein, möge uns erinnern an Gottes Idee: Hier ist ein Platz für dich. Der Stuhl möge uns erinnern an Gottes Idee, diesen Platz mit anderen zu teilen. Der rote Stuhl möge uns so im Sinn, im Gedächtnis bleiben, möge in uns einen Platz geben nicht nur dieses eine Jahr lang. Amen. © Klaus-Uwe Nommensen