Der Bürger will weniger mitarbeiten als vielmehr selbst entscheiden

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CONCOURS INTERNE
ENA 2015
ALLEMAND
TEXTE N° 1
Geburtsstunde des Wutbürgers
Josef Kelnberger – www.sueddeutsche.de 30.09.2015
Wenn das Land Baden-Württemberg ein Gefängnis für 400 Häftlinge bauen will, ist das
normalerweise kein großes Politikum. In diesem Fall schon. Die Bewohnerinnen und Bewohner der
kleinen Stadt Tunningen nämlich haben vergangenes Jahr in einem Bürgerentscheid verhindert,
dass das Gefängnis vor ihrer Nase gebaut wird. Also plante man in Rottweil, doch dort stand der
Regierung schon bald ein ähnliches Schicksal bevor: Wieder ein Bürgerentscheid. Die für
Bürgerbeteiligung zuständige Staatsrätin Gisela Erler wurde gefragt, was denn geschehe, wenn das
Votum erneut negativ ausfalle. Dann, sagte Staatsrätin Erler, könne die Regierung rein rechtlich
trotzdem bauen.
Das gab ein großes Hallo. So also sehe die von Ministerpräsident Kretschmann proklamierte
„Politik des Gehörtwerdens“ aus, ätzte die Opposition. Die Rottweiler stimmten dann in der
vergangenen Woche doch für den Bau des Gefängnisses. So blieb der grün-roten Regierung die
Frage erspart, ob sie über die Köpfe der Bürger hinweg entscheiden soll […].
Der Tag steht noch heute für eine Politik, die keinen
Widerspruch duldet
An diesem Mittwoch jährt sich zum fünften Mal der umstrittene Polizeieinsatz im Stuttgarter
Schlossgarten, der die politische Kultur in Deutschland verändert hat. Die Beamten gingen damals
mit Wasserwerfern und Pfefferspray gegen Gegner des Bahnhofsprojekts Stuttgart 21 vor. Das Bild
eines Rentners, der im Wasserstrahl sein Augenlicht verlor, steht noch heute sinnbildlich für eine
Politik, die keinen Widerspruch duldet. Die CDU verlor ein halbes Jahr später erstmals die Macht in
Baden-Württemberg, ein grüner Ministerpräsident trat an mit dem Versprechen, einen neuen
Politikstil zu prägen. […]
Fünf Jahre [danach] lebt auch noch der „Wutbürger“. Der Begriff wurde in den Tagen des Protests
vom Spiegel geprägt und steht für Egoisten, die nicht zugänglich sind für Argumente, sich dem
Allgemeinwohl verweigern und so die Fortschrittsfähigkeit der Demokratie gefährden. Ob das
Etikett für die Stuttgart-21-Gegner passt, ist zweifelhaft. Sie haben neben ihrer Wut immer auch
gute Argumente. Aber viele Gegner von Infrastrukturprojekten nehmen sich vor allem die
Stuttgarter Wut zum Vorbild. […]
Die Regierung Kretschmann hat versucht, die Bürgerwut einzuhegen. Kretschmann berief Gisela
Erler in sein Staatsministerium, als Staatsrätin für Bürgerbeteiligung und Zivilgesellschaft. So ein
Amt gibt es sonst nirgends. Erler erarbeitete einen „Leitfaden für eine neue Planungskultur“. Es geht
darin um Information und Mitwirkung, Arbeitskreise und Runde Tische. Auf einem Online-Portal
können Gesetzestexte gelesen und kommentiert werden.
Der Dialog mit dem Bürger ist ein mühsames, aber doch lohnendes Geschäft, exemplarisch zu
verfolgen bei der Einrichtung des Nationalparks im Schwarzwald. Dabei handelte es sich um das
wohl umstrittenste Infrastrukturprojekt der Regierung Kretschmann. In einigen betroffenen
Gemeinden wurden Meinungsbilder erstellt, die gegen das Vorhaben ausfielen. Die Regierung
© sueddeutsche.de
30. September 2015
http://www.sueddeutsche.de/politik/baden-wuerttemberg-geburtsstunde-des-wutbuergers-1.2670269
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machte aber klar, dass es sich um ein Landesprojekt handle und deshalb die Entscheidung letztlich
das Parlament treffen werde. Das hat die Wut noch gesteigert. Und doch, so sagte der zuständige
Minister Alexander Bonde hinterher, sei das Projekt durch Kritik und Anregungen der Bürger besser
geworden. Der Nationalpark ist mittlerweile sehr beliebt, und einer Umfrage zufolge fühlten sich die
Bürger auch ausreichend eingebunden.
Der Bürger will weniger mitarbeiten als vielmehr selbst
entscheiden
Eine Erfahrung von damals lässt sich auf alle Beteiligungsprojekte übertragen: Wenn es darum
geht, den Politikern die Meinung zu geigen, ist der Andrang groß; wenn aber Leute gesucht werden,
die sich zum Beispiel im Arbeitskreis mit dem Borkenkäfer-Management befassen, wird es
schwieriger. Der Bürger will weniger mitarbeiten als vielmehr selbst entscheiden.
Gemeinsam mit CDU und FDP hat sich die grün-rote Koalition deshalb darauf verständigt, die
direkte Demokratie auf kommunaler und auf Landesebene in Baden- Württemberg auszubauen. Die
Hürden für Volksbegehren, Volksentscheide und Bürgerentscheide sollen gesenkt werden. Eines
aber ist […] so geblieben, wie es vorher war: Das Allgemeinwohl liegt vor allem in der Hand von
Regierung und Parlament.
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