Max Fuchs Ästhetische Bildung als Entwicklung und Transformation von Welt- und Selbstverhältnissen Ein Exposé (Stand: 26.1.2016) Teil 1: Bildung In einer traditionellen Sicht versteht man im Anschluss an Wilhelm von Humboldt unter Bildung die Verschränkung von Mensch und Welt. Es geht dabei um die Entwicklung eines bewussten Verhältnisses des Menschen zu sich, zu seiner natürlichen, sozialen und kulturellen Umwelt und zur Zeit (Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft). In einer philosophischen Sprache kann man dies als Entwicklung der Welt- und Selbstverhältnisse des Menschen bezeichnen. Doch ergeben sich einige Fragen, z. B.: Was versteht man unter Welt- und Selbstverhältnissen, wie entstehen sie, welche Ausgestaltung erfahren sie, in welcher Beziehung stehen Welt- und Selbstverhältnisse zur betreffenden Person, wie verändern sie sich und warum? Akzeptiert man die Definition von Bildung als Entwicklung und Transformation von Welt- und Selbstverhältnissen, dann ergibt sich daraus, dass man mit der Klärung letzterer zugleich den schwierig fassbaren Bildungsbegriff definitorisch transparenter macht. Im Folgenden will ich in einer vorläufigen Skizze einige Hinweise zu der Lösung dieser Aufgabe geben. Zur Struktur des Problems Ich gehe davon aus, dass der Mensch aufgrund seiner anthropologischen Mitgift im Zuge der Ontogenese die Fähigkeiten entwickelt und ständig weiterentwickelt, eine bewusste Beziehung sowohl zur Welt als auch zu sich selber aufzunehmen. Eine anthropologische Basis für diese These liefert etwa der Gedanke der exzentrischen Positionalität, die Helmuth Plessner entwickelt hat. Der Mensch ist in der Lage, zu sich und seinen Lebensverhältnissen in eine gewisse Distanz zu treten, was die Möglichkeit einer reflexiven Selbstvergewisserung eröffnet. Ist diese Möglichkeit einmal benutzt worden, hat also der Mensch ein reflexives Verhältnis aktualisiert, so kann er wiederum auch zu diesem reflexiven Verhältnis in eine reflexive Beziehung treten. Der Prozess des Reflexivwerdens ist also grundsätzlich nicht abschließbar. Eine weitere Hilfe aus der Kulturphilosophie und Anthropologie kommt aus der Philosophie der symbolischen Formen von Ernst Cassirer. Sie zeigt, dass der Mensch auf unterschiedliche Weise in Beziehung zur Welt und zu sich selbst treten kann: Er entwickelt eine Vielzahl symbolischer Formen, die dazu führt, dass aus der Welt, in der er sich befindet, jeweils je nach symbolischer Zugangsform unterschiedliche Wirklichkeiten gebildet werden. So kann man nach Cassirer einen theoretischen, religiösen, mythologischen, politischen, ökonomischen, technischen oder ästhetischen (und einen bei Cassirer nicht berücksichtigten moralischen) Zugang zur Welt praktizieren. Eine wichtige Erkenntnis besteht hierbei darin, dass es zum einen keine Hierarchie zwischen den unterschiedlichen Zugangsweisen zur Welt gibt und dass ein vollständiges Bild der Welt nur durch Nutzung aller Zugangsweisen zu erreichen ist. Neben diesem Zugang zur Welt kann man aufgrund der unterstellten Parallelität von Welt- und Selbstverhältnissen von analogen Zugängen zu sich selbst ausgehen. Das bedeutet, dass man überprüfen kann, welches Bild von sich durch die Nutzung der unterschiedlichen symbolischen Formen in diesem selbstreflexiven Prozess der Selbsterkenntnis und Selbstgestaltung entsteht. Auf der anderen Seite ist das Thema der Selbsterkenntnis schon immer ein eigenständiges Thema philosophischer Reflexion gewesen. Man denke etwa den Spruch des Orakels von Delphi: erkenne dich selbst! Die gesamte sokratische und damit platonische Philosophie kann als Versuch gedeutet werden, dieser Aufforderung zu folgen. Damit kommen etwa alle die Kategorien ins Spiel, die in diesem Kontext entwickelt worden sind und die alle mit „Selbst-" beginnen (Selbstbestimmung, Selbstbild, Selbstorganisation etc.; siehe unten). Analog zu dem obigen Vorgehen und aufgrund der Unterstellung einer Parallelität von Selbst- und Weltverhältnissen lässt sich fragen, inwieweit all diese Begriffe Sinn machen, wenn man den Begriff des „Selbst“ durch den Begriff der „Welt“ ersetzt. Im Zuge dieses Prozesses der Entwicklung von Welt- und Selbstverhältnissen entwickeln sich im Einzelnen Fähigkeiten und Kompetenzen, Haltungen und Einstellungen, die wiederum den Zugang des Einzelnen zu sich und zur Welt steuern. Diese individuellen Dispositionen werden mit unterschiedlichen Begrifflichkeiten erfasst: Haltung, Kompetenzen, Habitus, Persönlichkeitsmerkmale wie Interesse oder Neugierde, Fähigkeiten zur Empfindung von Liebe oder Hass, Dispositionen zur Sorge und Fürsorge, zur Anerkennung und Wertschätzung. In einer traditionellen Sprache nennt man dies Charakter. Heute diskutiert man dies im deutschsprachigen Bereich eher unter dem Begriff der Person und der Persönlichkeit. Dieser ganze Prozess der Entwicklung von Welt- und Selbstverhältnissen spielt sich nicht in einer isolierten Situation ab, in der ein singulärer Einzelner, quasi als Leibnizsche fensterlose Monade, der Welt und sich selbst begegnet. Vielmehr dürfte es inzwischen sowohl in der Philosophie als auch in den Einzelwissenschaften Standard sein, dass sich Individualität nur in sozialen Prozessen entwickelt. Dies bedeutet, dass auch die Entwicklung der Selbst- und Weltverhältnisse eingebettet ist in jeweils konkrete gesellschaftliche Rahmenbedingungen. Dies bedeutet aber auch, dass gesellschaftlich vorhandene Individualitäts- und Denkformen (Sozialcharaktere, Charaktermasken, Persönlichkeitstypen oder wie solche Begriffe heißen, die gesellschaftliche Rollenangebote beschreiben) den Rahmen für je individuelle Entwicklungsprozesse bilden. Dies bedeutet nicht, dass in einer milieutheoretischen Sichtweise eine feste Struktur für die jeweilige Persönlichkeitsentwicklung verbindlich vorgegeben ist. Es bedeutet allerdings auch nicht, dass individuelle Entwicklungen jenseits aller gesellschaftlichen Verhaltenserwartungen und Rollenangebote stattfinden können. Selbstverhältnisse Im Hinblick auf die Präzisierung dessen, was unter Selbstverhältnissen verstanden werden kann, bietet wie oben erwähnt die Moralphilosophie eine gute Quelle. So diskutiert der Berliner Ethiker Volker Gerhardt (1990) die folgenden Kategorien: Selbsterkenntnis, Selbstständigkeit, Selbstherrschaft, Selbstbestimmung, Selbstzweck, Selbstorganisation, Selbstbewusstsein, Selbststeigerung, Selbstverantwortung, Selbstbegriff, Selbstgesetzgebung und Selbstverwirklichung. Seine Überlegungen haben zum Ziel, die Unhintergehbarkeit der Individualität zu belegen (Gerhardt 2000) oder wie es der Philosoph Heiner Hastedt (1998) sagt: den Wert des Einzelnen und damit den Individualismus zu verteidigen. In eine ähnliche Richtung gehen Arbeiten, die sich etwa mit einer Philosophie der Person befassen (Sturma 1997). Im Hinblick auf den besonderen Fokus dieser Arbeit lässt sich daher fragen, inwieweit eine ästhetische Praxis dazu beiträgt, diese Dimensionen des Selbstverhältnisses zu entwickeln. Im Bereich der ästhetischen Theorie spielt seit langem die These eine Rolle, dass Kunst eine Form der Selbstvergewisserung des Menschen ist. Bei Shakespeare taucht etwa die berühmte Spiegel-Metapher auf, derzufolge das Theater der Gesellschaft einen Spiegel vorhält. Der Spiegel ist das klassische Bild der Selbstreflexion. Weitere Thesen in diesem Zusammenhang betreffen etwa die Aussage, dass ästhetische Erfahrungen gestatten, Erfahrungen über Erfahrungen zu machen. Auch die Kantsche These, dass man das Empfinden von Schönheit auf der Freude darüber beruht, dass der eigene Erkenntnisapparat auf die gegenständliche Welt passt (Bertram 2014, Fuchs 2011, Kleimann 2002), gehört in diesen Kontext. Natürlich muss dies noch genauer analysiert werden, etwa im Hinblick auf die Vollständigkeit des Katalogs von Gerhardt; so sind etwa auch die Aspekte der Selbstachtung und der Selbstliebe zu berücksichtigen. Es sind zudem die Gegensätze oder negative Aspekte von Selbstverhältnissen in Rechnung zu stellen wie etwa Selbsthass oder Selbstaufgabe. Es können dabei die Diskussionen rund um die Lebenskunst (die wesentlich eine Sorge um sich enthält) einbezogen werden. Weltverhältnisse Entsprechend dem oben formulierten Vorschlag wäre zu überprüfen, inwieweit es Sinn macht, in all den genannten Begriffen das Wort „Selbst“ durch das Wort „Welt“ zu ersetzen. Bei einigen der Begriffe ist es unmittelbar einsichtig, dass dies gut funktioniert: Welterkenntnis, Weltgestaltung, Weltverbesserung, Weltsteuerung, Weltorganisation, Weltbild. Dabei ist es keineswegs so, dass all diese Begriffe positiv bewertet werden müssen. So wird es heute etwa in ökologischer Hinsicht sehr kritisch diskutiert, was man im Zuge der Moderne unter Weltsteuerung verstanden hat. Auch dies ist ein wichtiger Hinweis, der auch für die Selbstverhältnisse gilt: Man kann zu viel des Guten wollen. Dies führt zum einen zu Überforderungen, dies kann zum anderen aber auch zu unbeabsichtigten Schäden führen. Daher ist zu fragen, wie sicherzustellen ist, dass all diese Prozesse der Entwicklung der Selbst- und Weltverhältnisse in die richtige Richtung gehen. Gefragt ist also nach einem Kompass, wobei im Hinblick auf das Handeln der Menschen die dafür zuständige philosophische Disziplinen, nämlich die Ethik und Moralphilosophie, in den Blick geraten. Zugänge zur „Welt“ Bei Kant gibt es das „Ding an sich“, das zwar die Sinne affiziert und Erkenntnisprozesse auslöst, das aber im Wesentlichen unerkennbar bleibt. Als moderatem Konstruktivisten entstehen bei ihm Wirklichkeiten erst durch die Erkenntnistätigkeiten des Subjekts. Ähnliches gilt für Ernst Cassirer, der zwar mit seinen symbolischen Formen das Spektrum der Welt-Zugangsweisen erheblich erweitert hat, bei dem aber auch unterschiedliche Wirklichkeiten entsprechend der angewandten symbolischen Formen entstehen. Wichtig ist zudem folgender Hinweis: Der Begriff des Verhältnisses ist zurückzuführen auf den Begriff des Verhaltens. Verhalten ist aber eine Aktivität des Subjekts, so dass hier unterstellt wird, dass es Tätigkeiten oder Praktiken sind, aufgrund derer Welt- und Selbstverhältnisse und die entsprechenden Welt- und Selbstbilder entstehen. Bei einer Untersuchung dessen, was konkret bei der Genese von Weltund Selbstverhältnissen geschieht, kann man daher auf die in letzter Zeit eine Konjunktur erlebende Theorie der Praktiken (Schmidt 2012) zurückgreifen. Eine der interessantesten soziologischen Untersuchungen zur Genese von Subjektivität (Reckwitz 2006) geht genauso vor: Reckwitz untersucht etwa bürgerliche Praktiken der Arbeit, er untersucht bürgerliche Technologien des Selbst (Lesen, Schreiben, ästhetische Praxen). Er untersucht nach-bürgerliche Praktiken des Konsums oder gegen-kulturelle Praktiken (Rock und Pop, sexuelle Revolution), er untersucht Praktiken der Ästhetisierung der Körperlichkeit etc.). Ein weiteres ist zu berücksichtigen. Der einzelne Mensch ist niemals mit „der Gesellschaft“ als Ganzer konfrontiert, er bewegt sich vielmehr in je konkreten Lebenswelten. Dieser Gedanke eröffnet die Möglichkeit, die vielfältigen phänomenologischen Theorien der Lebenswelt zu nutzen, sie zu identifizieren, sie im Hinblick auf notwendige Handlungslogiken zu analysieren. Dabei ist die durchaus die kontroverse Karriere des Lebensweltbegriffs von Husserl über Schütz bis zu Habermas in Rechnung zu stellen (Welz 1996). Es ist dabei zudem zu berücksichtigen, dass jeder Einzelne eine gewisse Souveränität im Umgang mit sehr unterschiedlichen Lebenswelten benötigt, weil die jeweiligen Lebenswelten auch mit jeweiligen Lebensformen korrespondieren. Man muss insbesondere sehen, dass die unterschiedlichen Lebenswelten, in denen der Einzelne lebt, durchaus widersprüchliche Verhaltenserwartungen an diesen Einzelnen stellt, was zu persönlichen Krisen führen kann. Und ein weiteres ist interessant und führt zu dem nächsten Abschnitt: Individuelle Dispositionen wie etwa die, Vertrauen entwickeln zu können, aber auch Neid zu empfinden, sind die Basis für soziales Zusammenleben (Schoeck 1987, Endress 2002, Sennett 2002). Person, Persönlichkeit und Charakter Wie oben angedeutet ist davon auszugehen, dass sich im Individuum individuelle Dispositionen einer Haltung zur Welt im Wechselspiel mit der Entwicklung der Welt- und Selbstverhältnisse ergeben. Bei diesen individuellen Dispositionen handelt es sich also um Antworten auf die Frage, in welcher Haltung man auf die Welt und auf sich selbst zugeht. Es geht also um den Bereich der Gefühle und Sympathien, was überhaupt keine neue Erkenntnis ist, denn in der Geschichte der Philosophie spielten diese immer schon eine wichtige Rolle. So hat etwa der Begründer einer Theorie des Kapitalismus, der schottische Moralphilosoph Adam Smith, vor seinem Hauptwerk eine Theorie der Gefühle beschrieben. Auch die Philosophen der griechischen und römischen Antike beschäftigen sich ausführlich mit den Gefühlen. Man kann etwa die große Rolle, die die Rhetorik im öffentlichen Leben der Polis und der römischen Republik spielte, damit begründen, dass diese eine Technik der Weckung solcher Gefühle ist, die die Zuhörer dem eigenen Anliegen gewogen machen sollten. Alle sozialen Beziehungen wie etwa Liebe, Freundschaft, Solidarität, Mitleid, Sympathie, Empathie und Antipathie haben ihre Basis in der Emotionalität aller Beteiligten (vgl. Fuchs 2016b). In diesem Kontext spielen auch Tugenden und Laster eine Rolle: „Tugenden sind jene individuellen Kompetenzen, die es Individuen ermöglichen, sich gegenüber gesellschaftlichen Zumutungen aller Art zu behaupten und eigenständig, wenngleich im Verein mit anderen, Motive eines guten Lebens auszubilden und ihnen nachzugehen. Tugenden sind nicht kulturunabhängig zu bestimmen, aber ihre kontextuelle Verankerung nimmt ihnen im Rahmen ihrer Kultur nichts von ihrer Geltung.“ (Brumlik 2002, 149) Es ist darauf hinzuweisen, dass es seit der griechischen Antike – und sicherlich auch in den vor-griechischen Kulturen – Kataloge von Tugenden und Lastern gibt (ein besonderes Beispiel ist etwa die Nikomachische Ethik von Aristoteles). Auch die christlichen Tugenden wie Glaube, Liebe und Hoffnung spielen in der westlichen Tradition eine wichtige Rolle. Auch für die Pädagogik ist die Frage nach der Entwicklung entsprechender Haltungen von entscheidender Bedeutung. Man kann sogar behaupten, dass diese Frage zu den Grundmotiven der Entstehung einer systematischen Reflexion pädagogischer Fragen gehört. So spielten im Zuge der Entwicklung der Moderne die Domestizierung der Leidenschaften eine entscheidende Rolle, was unter anderem dazu geführt hat, die sinnliche Seite des Menschen zu unterdrücken (weswegen Descartes der Hauptfeind aller späteren leibbezogenen philosophischen Ansätze wie etwa der Phänomenologie ist). Auch eine weitere These aus dem zitierten Buch von Micha Brumlik ist zu berücksichtigen: Er geht wie selbstverständlich von einer Struktur-Homologie zum einen zwischen dem Charakter und familiären Umgangsformen und zum anderen von einer Homologie familiärer Umgangsformen mit gesellschaftlichen Machtverhältnissen aus. Teil 2: Kunst als (selbst-)reflexive Praxis im Rahmen menschlicher Weltverhältnisse Zum Zusammenhang von Kunst und Bildung Die Überschrift dieses Abschnittes scheint unverständlich genug zu sein, um eine Erläuterung notwendig zu machen. Dabei ist der Grundgedanke einigermaßen banal oder zumindest alltäglich: Der Mensch steht in seinem Lebensvollzug sowohl in ständigem Kontakt mit seiner gegenständlichen, sozialen und kulturellen Umwelt. Dies kann man Weltverhältnis nennen, wobei man bei dem Begriff des Verhältnisses stets an Verhalten zu denken kann: Verhältnisse werden konstituiert durch Handeln. Jedes äußere Handeln ist aber stets mit Bewegungen im Innern des Menschen verbunden. Dies kann man Selbstverhältnis nennen. Es gilt dabei als spezifisches Merkmal des Menschen, die Fähigkeit zu einem bewussten Verhalten und Verhältnis zu sich selbst, zu seiner Umwelt und zur Zeit (Vergangenheit, Gegenwart, Zukunft) entwickeln zu können. Reflexivität - und damit immer eng verbunden Selbstreflexivität - ist ein entscheidendes Merkmal der Gattung Mensch. Daher kann man jede Artikulation des Menschen im Hinblick auf diesen Aspekt der (Selbst-) Reflexivität untersuchen. Man kann sogar versuchen, unterschiedliche Artikulationsformen des Menschen danach zu bewerten, inwieweit sie eine Relevanz für die Entwicklung einer solchen Reflexivität haben. Bieten sie neue Möglichkeiten, stellen sie bisherige Formen der Selbst- und Weltverständigung infrage, regen sie zur Entwicklung und Kultivierung von vorhandenen Selbst- und Weltverhältnissen an? Hinter diesen Fragen steckt der Grundgedanke der Entwicklungsbedürftigkeit und Entwicklungsfähigkeit des Menschen. Dies muss insbesondere die Pädagogik interessieren, denn man kann Bildung - als ein Kernbegriff der Pädagogik - als Entwicklung, Kultivierung und Transformation von Welt- und Selbstverhältnissen betrachten. Vor diesem Hintergrund wird die Frage relevant, welchen Beitrag unterschiedliche Aktivitätsformen und die Beschäftigung mit unterschiedlichen Gegenständen bei der Entwicklung einer so verstandenen Bildung leisten. Insbesondere wird man im Bereich der kulturellen und ästhetischen Bildung also danach fragen müssen, welchen Beitrag ästhetische (produktive und rezeptive) Praxen und eine Beschäftigung mit Gegenständen und Prozessen der Künste (bei aller Schwierigkeit, diese zu definieren und von Alltagsgegenständen abzugrenzen) bei der Entwicklung einer so verstandenen Bildung leisten können. Die Überschrift dieses Textteils behauptet, dass es zu dem „Wesen“ der Künste gehört, einen solchen Beitrag leisten zu können. Man kann sogar noch weiter gehen, so wie es die Ästhetikerin Annemarie Gethmann-Siefert (im Anschluss an Hegel) formuliert, dass nämlich der Aspekt der kulturellen Relevanz von Kunst die gemeinsame Basis eines jeglichen Umgangs mit der Kunst sei. Sie präzisiert dies: „Die kulturelle Aufgabe der Kunst liegt im Bereich der Humanisierung der Kultur, und zwar dient die Kunst dabei nicht allein der Bearbeitung der Natur zu Lebenszwecken, sondern der Gestaltung der Natur zum Zweck der Einrichtung des Menschen in einer menschlichen, ihm gemäßen Welt.“ (1995, 268) Zur anthropologischen Basis Die These von der Reflexivität als zentralem Wesensmerkmal des Menschen wird inzwischen durch zahlreiche Arbeiten sowohl aus der philosophischen Anthropologie, mittlerweile aber auch aus dem Feld der evolutionären Anthropologie (als einer Naturwissenschaft) gestützt. Ein wichtiger Autor in diesem Bereich ist der Philosoph und Soziologe Helmuth Plessner, der bereits in den 1920er Jahren seine philosophische Anthropologie vorgelegt hat, bei der der Gedanke der exzentrischen Positionalität eine zentrale Rolle spielt. Damit ist gemeint, dass der Mensch – und nur der Mensch – in der Lage ist, in eine Distanz zu sich zu treten und damit sich zum Gegenstand von Betrachtungen zu machen. Dies ist der Motor für die Entwicklung des Menschen als Homo Sapiens, wobei zu beachten ist, dass diese Form der Selbstreflexivität keineswegs bloß auf kognitive Weise und nur im Bereich des Kognitiven geschieht, sondern für alle Persönlichkeitsdimensionen des Menschen gilt (neben der Kognition also etwa auch für die Emotionalität, seine Soziabilität, Motivation und Volition, die Wahrnehmung und die Fantasie). Ernst Cassirer wiederum untersucht in seiner Philosophie der symbolischen Formen die unterschiedlichen Weisen der Welt- und Selbstaneignung und -gestaltung (Technik, Politik, Wirtschaft, Wissenschaft, Sprache, Religion, Mythos, Kunst) und identifiziert als generelles Entwicklungsziel der Selbstgestaltungsprozesse des Menschen Freiheit. Freiheit bedeutet im Wesentlichen die Fähigkeit zur Selbstbestimmung, bedeutet die Entwicklung einer Souveränität im Hinblick auf die Bedingungen des individuellen und gesellschaftlichen Lebens. Freiheit ist also kein Zustand, sondern ein aktiver Gestaltungsprozess. Ästhetische Praxis als Element der Selbstbefreiung des Menschen In vielen Theorien zur Anthropologie der Kunst, die sich mit der Rolle einer ästhetischen Praxis bei der Menschwerdung (Anthropogenese) auseinandersetzen, spielt der Aspekt der Befreiung eine zentrale Rolle. So spricht der Anthropologe Arnold Gehlen davon, dass der Genuss musikalischer Darbietungen seine Ursache darin hat, dass diese ihre primäre Funktion als Warnsignale, auf die der Mensch zwanghaft instinktmäßig reagieren muss, aufgrund seiner gewachsenen Souveränität in der Beherrschung seiner Lebensumstände verloren haben, so dass die Freude an der Musik ihre Ursache an der Freude an der gewonnenen Souveränität und Freiheit hat. Dies steht durchaus in der Traditionslinie der Ästhetik Kants, bei dem ebenfalls Gefühle der Lust und Unlust nicht dadurch entstehen, dass ein bestimmter Gegenstand als schön oder nicht schön empfunden wird, sondern sie basieren auf dem Erlebnis des Subjekts, dass sein Erkenntnisvermögen auf die gegenständliche Umwelt passt. Das Subjekt feiert sich und seine gewachsenen Freiheitsgrade geradezu im Rahmen einer ästhetischen Praxis. Auch in aktuellen Theorien der Künste spielt der Gedanke der Selbstreflexivität als genuines Bestimmungsmerkmal des Menschen eine zentrale Rolle. Neu ist dieser Gedanke natürlich nicht, denn bereits in der griechischen Antike formulierte Sokrates das zentrale Ziel: Erkenne dich selbst. Die Griechen wussten sehr genau, inwieweit das Theater oder die überlieferten Mythen und Epen die Funktion hatten, Selbstreflexivität zu ermöglichen. Auch Shakespeare sprach daher später folgerichtig davon, dass sich im Theater die Gesellschaft einen Spiegel vorhalte. Aktuelle Ästhetiken in formulieren analog den Gedanken, dass ein Umgang mit den Künsten ein wesentliches Element der Selbstverständigung des Menschen ist (zum Beispiel Bertram 2005, 2014). Einige Aspekte der Steigerung von Reflexivität in der ästhetischen Praxis Die Basis eines jeglichen Umgangs mit Kunst ist die Leiblichkeit aller Lebensvollzüge. Unterschiedliche Kunstsparten haben dabei einen Schwerpunkt in bestimmten Sinnen. Es liegt etwa auf der Hand, dass die Malerei etwas damit zu tun hat, sehen zu lernen und dabei bestimmte, bislang praktizierte Sichtweisen infrage zu stellen. Ähnliches gilt für die Musik im Hinblick auf das Hören oder für Skulpturen im Hinblick auf das Tasten. Das Kognitive findet statt, wenn man bestimmte ästhetische Prozesse zu verstehen versucht, sie interpretiert und wertet. Da dies oft in sozialen Kontexten geschieht, bedeutet das, dass man für seine ästhetischen Werturteile Argumente anführen muss. Dass die Künste unmittelbar mit der Emotionalität des Menschen zu tun haben, ist Thema der Kunsttheorien und Ästhetiken seit Jahrtausenden. In den Künsten werden Emotionen geweckt, sie werden infrage gestellt und gelegentlich auch manipuliert. Reflexivität drückt sich darin aus, dass der Mensch nicht hilflos seiner Emotionalität ausgeliefert ist, sondern auch zu dieser ein bewusstes Verhältnis entwickeln kann. Dies gilt insbesondere auch für den Bereich des moralischen Urteilens, da richtiges und falsches Verhalten der Menschen in konkreten Situationen der zentrale Gegenstand in den Künsten ist. Man kann daher unterstellen, dass eine wesentliche Motivation für einen Umgang mit den Künsten in einer Neugierde auf sich selbst und die Welt besteht. Man will herausfinden, was es für einen persönlich heißt, ein Mensch zu sein. Bei vielen Kunstwerken liegt es unmittelbar auf der Hand, dass der Wunsch nach Selbstreflexivität, nach der Erkenntnis dessen, wer man eigentlich ist, die Motivation für das künstlerische Schaffen ist. Dies gilt etwa für Autobiografien von Künstlern oder für Bildungsromane. Berühmte Beispiele sind die Romane „Anton Reiser“ von Karl Philipp Moritz oder „Wilhelm Meister“ von Goethe zusammen mit „Dichtung und Wahrheit“, der „Grüne Heinrich“ von Gottfried Keller (vergleiche etwa Alheit/Brandt 2006). Ein aufschlussreiches aktuelles Beispiel ist das mehrbändige Werk von Karl Ove Knausgard (im norwegischen Original: Mein Kampf). Klausgard erzählt mit einem geradezu übersteigerten Interesse an sich selbst seine Biografie, und er tut dies mit einer unglaublichen Radikalität und Rücksichtslosigkeit gegenüber sich selbst und seinen Freunden und Verwandten. Er beschreibt seine Unfähigkeit, soziale Beziehungen einzugehen, und setzt sich ausführlich mit den Erfahrungen von Fremdheit auseinander, die er als Norweger während seines Aufenthaltes in Schweden erlebt. Auf den vielen tausend Seiten seiner Biografie geschieht relativ wenig, es gibt kaum eine Handlung in dem Sinne, dass es einen Anfang, einen Spannungsbogen und ein Ende gibt, und trotzdem hat dieses mehrbändige voluminöse Werk weltweit inzwischen den Rang eines Bestsellers. Man kann sich daher fragen, woher dieses Interesse an diesem gnadenlosen Prozess der Selbstanalyse kommt: Ist es Voyeurismus, ist es die Erwartung, bislang verheimlichte Charakterzüge von sich selbst in literarischer Form beschrieben zu finden, ist es die Freude daran, ein negatives Identifikationsobjekt gefunden zu haben? In jedem Fall ist das Interesse an den Büchern verbunden mit einem Genuss an der sprachlichen Form. Knausgard ist ein Meister bei der Beschreibung von Alltäglichem, in der minutiösen Darstellung von Dingen und Prozessen, die man im Alltag nicht bewusst wahrnimmt. Diese elaborierte künstlerische Form ist es letztlich, die die Besonderheit der Reflexivität als Kern der ästhetischen Erfahrung ausmacht und ermöglicht. Dies macht letztlich den Herausforderungscharakter des Werkes aus, von dem Bertram 2014 (120 ff.) spricht. Genau dies ermöglicht bei der Rezeption diese eigenartige Haltung, sich zu identifizieren, das Dargestellte auf sich zu beziehen und gleichzeitig eine Distanz zu wahren. Das Kunstwerk ist also keineswegs – wie es verschiedene Vertreter einer Autonomieästhetik formulieren – etwas vom Alltag völlig Getrenntes, sondern es ermöglicht gerade durch seinen Bezug zum Alltag einen Transfer der Ergebnisse eines kunstinduzierten Reflexionsprozesses in das eigene Leben: „In der Kunst arbeiten wir uns an Gegenständen ab, aber dies nicht um der Gegenstände, sondern um unserer selbst willen. Die Objekte stehen nicht für sich, sondern sind auf menschliche Praktiken bezogen. In Bezug auf letztere müssen sie sich immer wieder aufs Neue als herausfordernd bewähren.“ (ebd., 219). Literatur Bertram, Georg (2005): Kunst. Stuttgart: Reclam. Bertram, Georg (2014): Kunst als menschliche Praxis. Eine Ästhetik. Berlin: Suhrkamp. Brumlik, Micha (2002): Bildung und Glück. Versuch einer Theorie der Tugenden. Berlin/Wien: Philo. Cassirer, Ernst (1990): Versuch über den Menschen. Frankfurt/M.: Fischer. Endress, Martin (2002): Vertrauen. Bielefeld: transcript. 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