Ein Militär hat die Aufgabe, Befehle zu erfüllen Interview mit Ex-DDR-Verteidigungsminister Theodor Hoffmann TP: Herr Hoffmann, kann man heute das Grenzregime der DDR - so wie es war - noch mit gutem Gewissen - selbst mit rechtlichen Aspekten - rechtfertigen? Hoffmann: Das Erste, was ich sagen möchte, ist: Ich glaube, wir müssen das Grenzregime in die historischen Zusammenhänge stellen, die existierten, als dieses Grenzregime geschaffen worden ist. Wir müssen es sehen in der Zeit der Blockkonfrontation zwischen beiden Systemen, in der natürlich beide deutschen Staaten eine besondere Rolle spielten - sie waren im Grunde genommen die Speerspitze in dieser Konfrontation. Wir müssen dieses Grenzregime auch sehen als ein Teil der vorbereiteten militärischen Einrichtungen, die für den Fall einer möglichen Abwehr einer Aggression geschaffen worden sind; und von einer möglichen Aggression sind ja beide Seiten ausgegangen. Es stellt sich nicht so sehr die Frage der rechtlichen Rechtfertigung dieses Grenzregimes, denn es gab dazu Gesetze und staatliche sowie militärische Vorschriften. Nach meiner Auffassung steht vor allen Dingen die Frage, uns moralisch mit diesem Grenzregime auseinanderzusetzen und daraus Schlußfolgerungen abzuleiten. Wir müssen das tun, weil es an dieser Grenze Tote gegeben hat in Friedenszeiten, die man sehr bedauern muß - denn jeder Tote ist nun mal einer zu viel. Und ich kenne auch niemanden der ehemaligen Verantwortlichen der Deutschen Demokratischen Republik, der darüber sein Bedauern nicht ausgedrückt hat. Und dieses Grenzregime moralisch zu bewerten, uns darüber zu unterhalten, es allseitig zu beleuchten, ist ganz einfach notwendig im Interesse der Herstellung der Einheit Deutschlands. TP: Nun wurde ja von gerichtlicher Seite - bis zum obersten Gericht, dem Bundesverfassungsgericht argumentiert, dieses Grenzgesetz - so wie es bestanden hat und das Grenzregime rechtfertigen sollte - sei von Befehlen überlagert worden. Was können Sie dazu sagen? Hoffmann: Erstens würde ich sagen, daß die Deutsche Demokratische Republik als souveräner Staat natürlich das Recht hatte, sich ein Grenzgesetz zu geben. Und wenn man sich dieses Grenzgesetz ansieht, dann gibt es, glaube ich, kaum Abweichungen von Grenzgesetzen, die in anderen souveränen Staaten existierten. Und wenn Sie mich fragen, ob das Grenzgesetz durch Befehle überlagert gewesen ist, dann muß ich Ihnen sagen, ich kenne keine Befehle, ich habe keine Befehle erhalten und auch keine weitergegeben, die das Grenzgesetz oder andere Gesetze der Deutschen Demokratischen Republik überlagert hätten. TP: Das Gericht, z.B. im Politbüro-Prozeß, sieht das offensichtlich anders und argumentierte dahingehend, der Klassenauftrag sei eine Art „ideologischer Schießbefehl“ gewesen. Ist das für Sie nachvollziehbar? Hoffmann: Der Klassenauftrag war auf keinen Fall ein ideologischer Schießbefehl. Der Klassenauftrag - der Nationalen Volksarmee - bestand ja darin, durch hohe Gefechtsbereitschaft dafür zu sorgen, daß Friede ist für unser Volk und für die Nachbarvölker, sowie dafür zu sorgen, daß nicht geschossen wird. Es war kein ideologischer Schießbefehl. Dieser Klassenauftrag war für mich der politische Auftrag der Nationalen Volksarmee. Und mit diesem Auftrag, glaube ich - in der Fassung von 1985/86 widerspiegelte er sich in allen Befehlen -, konnten wir sehr gut leben. Dafür zu sorgen, daß durch hohe Gefechtsbereitschaft Frieden ist, haben wir durchaus auch persönliche Entbehrungen und Opfer auf uns genommen. TP: Kann man es überhaupt durch Gesetze oder Befehle, oder was auch immer, rechtfertigen, einen Bürger eines Staates an einem Ausreiserecht zu hindern? Hoffmann: Wissen Sie, ob man das rechtfertigen kann, das ist eine Frage, die Juristen einschätzen müßten. Ich bin kein Jurist, ich bin ein Militär. Und ein Militär hat die Aufgabe, Befehle zu erfüllen. Der Angehörige der Nationalen Volksarmee oder der Angehörige der Grenztruppen war nicht dafür verantwortlich, daß es diese Gesetze, diese Freizügigkeit, ohne besondere Genehmigung den Staat zu verlassen, in der Deutschen Demokratischen Republik nicht gab. Dafür ist er nicht verantwortlich zu machen. Und sicher ist es so, daß ich zum heutigen Zeitpunkt der Meinung bin: Jawohl, diese Freizügigkeit mußte es geben, die Freizügigkeit mußte sein, obwohl ich damals sicherlich ganz anders darüber gedacht habe. Da war ich schon der Meinung, daß ein Mensch, der hier ausgebildet worden ist, in den sehr viel investiert worden ist, nicht so einfach ausreisen kann. Insgesamt muß ich jedoch sagen, ist der Soldat dafür nicht verantwortlich zu machen für diese Gesetze, die Ausreise regelten. TP: Sie haben die historischen Zusammenhänge angesprochen, die man begreifen muß im Zusammenhang mit dem Grenzregime. Schließen solche historischen Zusammenhänge persönliche, individuelle Verantwortung aus? Hoffmann: Wissen Sie, von unserem damaligen Verständnis aus muß ich sagen, stimmte unsere individuelle Verantwortung immer mit der gesellschaftlichen oder militärischen Verantwortung, die wir trugen, überein. Darin habe ich niemals einen Trennstrich gezogen. Bei jeder Entscheidung oder bei jedem Befehl, den ich erteilt habe, habe ich schon überlegt: „Wie stehst du persönlich dazu?“ Und wenn ich persönlich nicht dazu stand, dann habe ich den Befehl auch nicht erteilt. So sehe ich das. Es gab da bei uns eine Übereinstimmung. TP: Egon Krenz hat häufig darauf hingewiesen, er persönlich wünscht sich solange keinen Freispruch - natürlich möchte er auch nicht ins Gefängnis - bis der letzte Grenzsoldat freigesprochen worden ist. Nun sind ja auch Grenzsoldaten wegen sogenannter Exzeßtaten verurteilt worden. Stellt sich Egon Krenz mit dieser Äußerung nicht selbst ein Bein? Hoffmann: Mir persönlich sind keine Exzeßtaten bekannt. Die Meinung, die Egon Krenz geäußert hat, achte ich sehr, weil sie in der Endkonsequenz sein Verantwortungsbewußtsein zeigt, zeigt, daß er zu seiner Verantwortung steht, und ich glaube, das wird von sehr Vielen anerkannt, von Menschen, die ihn mögen und auch von Menschen, die ihn nicht mögen. Ich war, bevor ich Minister für Nationale Verteidigung wurde, zu einem Gespräch bei Egon Krenz, und ich war dabei, als Egon Krenz mit dem Oberkommandierenden der Vereinten Streitkräfte der Teilnehmerstaaten des Warschauer Vertrages sprach, und ich hatte das Empfinden, daß Egon Krenz sehr zufrieden war, daß die Wende 1989/90 friedlich und ohne Waffeneinsatz verlaufen ist. Ich hatte von ihm den Auftrag, auch im weiteren dafür zu sorgen, daß es so bleibt, besonders auch innerhalb der Nationalen Volksarmee. In dieser Beziehung hat Egon Krenz meine Hochachtung. TP: Wenn ein „Grenzverletzer“ sich bereits ergeben hat und er trotzdem in diesem Zustand erschossen wird, was ist das anderes als eine Exzeßtat? Hoffmann: Sicherlich, wenn ein Grenzverletzer sich ergeben hat, wenn er von seiner Tat Abstand genommen hat, ist keinerlei Einsatz von Bewaffnung zu rechtfertigen - und auch keinerlei Anwendung von körperlicher Gewalt. TP: In Potsdam ist zum Beispiel ein Grenzsoldat diesbezüglich verurteilt worden. Hoffmann: Da ich den Fall nicht kenne, möchte ich mich dazu nicht äußern. Ich verstehe das Leid der Menschen, die betroffen sind, bin aber auch gegen die Ungerechtigkeit, die heute ehemaligen Angehörigen der Nationalen Volksarmee und der Grenztruppen widerfährt. TP: Ich erwarte nicht, daß Sie sagen, die DDR sei ein Unrechtsstaat gewesen, war sie aber ein Rechtsstaat? Hoffmann: Wissen Sie, ich glaube, daß es an sich im juristischen Sprachgebrauch für Unrechtsstaat oder Rechtsstaat keine Definition gab. Insofern müßte man immer die Frage beantworten, „was versteht man unter einem Rechtsstaat und was versteht man unter einem Unrechtsstaat?“ Die DDR war ein Staat mit Defiziten an Demokratie, mit Defiziten an Rechten - das ist nicht von der Hand zu weisen. Aber ich glaube, das rechtfertigt nicht, zu sagen, sie war ein Unrechtsstaat. Sie war ein Staat mit Defiziten an Demokratie und an Rechten, die in entwickelten Staaten üblich sind. TP: Hatte die DDR nicht andere Mittel, um „Grenzverletzern“ habhaft zu werden als die Schußwaffe? Hoffmann: Ich glaube, daß wir nicht nur den Eindruck vermitteln können, als sei an der Grenze nur geschossen worden. Festnahmen zur Verhinderung eines Grenzdurchbruchs erfolgten in der überwiegenden Mehrheit ohne Anwendung der Schußwaffe. TP: „Nur“, hat keiner gesagt. Hoffmann: Wenn man alle versuchten Grenzdurchbrüche, wie das damals kategorisiert war, zusammennimmt, dann sind in etwa drei Prozent der Fälle Schußwaffen angewandt worden. Jeder Fall, der zu Opfern führte, ist natürlich sehr tragisch und zu bedauern. Um einschätzen zu können, war der Einsatz der Schußwaffe gerechtfertigt oder nicht, müßte ich jeden konkreten Fall überprüfen. Und das ist mir heute nicht möglich. Interview: Dietmar Jochum, TP Berlin