Beobachtungen im Alten Testament Bernd Janowski „Heile mich, denn ich habe an dir gesündigt!“ (Ps 41,5) Zum Konzept von Krankheit und Heilung im Alten Testament Wer sich als Ausleger biblischer Texte anschickt, einen Beitrag zum Thema „Krankheitsdeutung in der postsäkularen Gesellschaft“ beizusteuern, steht vor der Aufgabe, die methodischen Prämissen und begrifflichen Implikationen zu benennen, unter denen er dieses Thema in Angriff nehmen will. Die Frage ist dabei zunächst, wie das Adjektiv „postsäkular“ zu verstehen ist: als Normbegriff oder als Problemanzeige. Ich verstehe es als Problemanzeige und das heißt im Sinn der Ausführungen von J. Habermas, der in seiner Friedenspreisrede „Glauben und Wissen“ weiterführende Reflexionen über die Restbestände religiöser Tradition und deren politische Bedeutung vorgetragen hat. Die These war, dass die Annahme M. Webers von der zunehmenden Rationalisierung des gesellschaftlichen Handelns als Königsweg der Moderne spätestens durch die Anschläge vom 11. September 2001 Risse bekommen habe und nun neu über die Restbestände religiöser Tradition gerade im Westen nachgedacht werden müsse. Denn in der religiösen Sprache liegen, so Habermas, Ausdruckspotentiale bereit, die der säkularen Gesellschaft durch eine „rettende Übersetzung“ zugänglich zu machen sind,2 um die Einseitigkeiten eines bloß säkularistischen Bewusstseins und seines „aufgeklärten Selbstinteresses“3 zu überwinden. Wir werden fragen müssen, worin das für unser Thema relevante Ausdruckspotential besteht. Zuvor aber einige Bemerkungen zu den begrifflichen Implikationen des Tagungsthemas. 1 Habermas, J., Glauben und Wissen. Friedenspreis des Deutschen Buchhandels 2001, Frankfurt a. M. 2001,9-31. 2 Vgl. Habermas, 2001, 2 0 ff. 3 Habermas, 2001. 23 48 Bernd Janowski 1 „Krankheitsdeutung in der postsäkularen Gesellschaft“ „Säkulare Sprachen, die das, was einmal gemeint war, bloß eliminieren, hinterlassen Irritationen“4 - sie eröffnen aber nicht die Chance des Verstehens, nicht einmal diejenige, den historischen Abstand zur Vergangenheit zu überbrücken oder überhaupt zu thematisieren. Rechnet man demgegenüber mit dem Ausdruckspotential der religiösen Sprache, so könnte gerade die postsäkulare Gesellschaft ein Verständnis für vorneuzeitliche, religiös konnotierte Krankheits- und Heilungskonzepte zurückgewinnen, auch wenn die meisten ihrer Mitglieder diesen Konzepten distanziert gegenüberstehen. Wann immer man die Neuzeit epochengeschichtlich ansetzt5 - das Adjektiv „vorneuzeitlich“ meint auf jeden Fall ein Stadium, das vor dem Beginn der Neuzeit und ihren vernunftbestimmten Einstellungen zu Gott, Mensch und Welt liegt. Um die Logik und Eigenbegrifflichkeit dieses vorneuzeitlichen Konzepts von Krankheit und Heilung soll es im Folgenden gehen. Eine zweite Schwierigkeit besteht in der Verwendung des Krankheitsbegriffs. Dessen Undifferenziertheit lässt ihn offenbar „für den wissenschaftlichen und besonders den medizinischen Sprachgebrauch als ungeeignet erscheinen“6: „Denn dasselbe Wort Krankheit sollte nicht unterschiedslos gebraucht werden zur Kennzeichnung des Krankseins, der Erscheinungsweise von Krankheit, zur Abgrenzung von Gesundheit und Krankheit im Krankheits-Begriff und nicht bedeutungsgleich mit Krankheits-,Vorstellung’. Ferner kann ,Krankheit’ den Aspekt des Kranken (sein Befinden), den Aspekt des Arztes (den Befund) und den Aspekt der Gesellschaft (die Notlage und Hilfsbedürftigkeit des Kranken) meinen, und das beinhaltet jedesmal eine andere Seite des Phänomens mit anderen Merkmalen. Schließlich tritt der Ausdruck ,Krankheit’ in anderen geistigen Bezügen (in Theologie, Philosophie usw.) auf, in denen mit ihm nichts Medizinisches gemeint ist.“7 Zur Klärung des Begriffs „Krankheit“ wurden deshalb Unterscheidungen vorgeschlagen, die den pathologischen Befund, d.h. die nachweisbare Desorganisation der körperlichen Struktur und Funktion, das subjektive Befinden des Kranken, d.h. das Sich-Krankfühlen des Leidenden, und das Krankheits-Bild, d.h. die jeweilige klinische Einheit, in Rechnung stellen. Als krank gilt danach der Mensch, „der wegen eines Verlustes des abgestimmten Zusammenwirkens der leiblichen, seelischen oder leibseelischen Funktionsglieder des Organismus subjektiv oder klinisch hilfsbedürftig wird“8. Die sich daran anschließende Frage betrifft schließlich den Sinn der Krankheit, der ihr vom Leidenden unterlegt wird. Da wir nur etwas als „sinnvoll“ bezeichnen, was für etwas anderes innerhalb eines bestimmten Zusammenhangs Bedeutung hat,9 kommt es darauf an, wie dieser Zusammenhang definiert ist bzw. 4 Habermas, 2001,24. 5 Vgl. Graf, F. W., Art. Neuzeit I, RGG4 6 (2003) 254-259. 6 Rothschuh, K.E., Art. Krankheit, HWP 4 (1976) 1184-1190, hier: 1186. 7 Rothschuh, 1976, 1186. 8 Rothschuh, 1976, 1187. 9 „Heile mich, denn ich habe an dir gesündigt!“ (Ps 41,5) 49 gesehen wird: als ein religiöser, ein philosophischer, ein psychoanalytischer, ein medizinischer oder ein psychosomatischer. Welcher Aspekt als Deutungsrahmen im Einzelfall auch immer leitend ist – „unser Denken und Sprechen über Krankheit und Heilung ist in eine Vielzahl von Bezügen eingebettet und bleibt in mancherlei Hinsicht, trotz unendlicher gedanklicher Bemühung in den letzten Jahrtausenden, reich an Rätseln“10. Deutlich ist dabei, dass Krankheit und Heilung bzw. Gesundheit letztlich nicht ein rein biologischer Tatbestand, sondern eine gesellschaftliche Konstruktion sind, deren Plausibilität auf dem Zusammenspiel deskriptiver und normativer Aspekte bzw. von Seins- und Werturteilen beruht, und zwar für den einzelnen wie für die Gesellschaft11 Dieser Sachverhalt soll am Beispiel des Alten Testaments verdeutlicht werden. 2 Krankheit und Heilung im Alten Testament 2.1 Krankheit als Thema alttestamentlicher Anthropologie Die Deutung von Krankheit und Heilung „beruht zu allen Zeiten auf einer Anthropologie, einer Lehre vom Menschen“12, die nach dem Zeugnis des Alten Testaments als konstellative Anthropologie zu bezeichnen ist. Deren Kontur habe ich an anderer Stelle anhand der Aspekte „Einheit der Person“, „Sphäre des Sozialen“ und „Wahrnehmung der Welt“ skizziert und in ihrem gegenseitigen Verhältnis zu bestimmen versucht.13 Der Mensch des alten Israel bewegt sich immer in allen drei Kontexten zugleich – dem individuellen, dem sozialen und dem symbolischen Kontext –, wobei die Gewichtung je nach literarischem Profil und historischem Ort der Textzeugnisse unterschiedlich ausfällt: - Einheit der Person: der Leib/,Seele’- Zusammenhang Kennzeichnend für die alttestamentliche Anthropologie ist zunächst die Korrelation von Körperorgan und Lebensfunktion. Da der Leib die Verankerung des Menschen in der Welt ist, ist für den alttestamentlichen Personbegriff neben der Leibsphäre auch die Sozialsphäre konstitutiv. - Sphäre des Sozialen: der konstellative Personbegriff Zu den Charakteristika alttestamentlicher Anthropologie gehört darüber hinaus die Auffassung von der Gemeinschaftsbezogenheit des hebräischen Denkens, derzufolge das Verhalten des Einzelnen durchgängig in Bezug auf den sozialen Kontext gesehen wird, in dem es sich vollzieht. 10 Rothschuh, 1976, 1190. 11 Vgl. dazu auch Kontier, U. H. /., Mit Krankheit leben. Der Krankheitsbegriff in der medizinischen Diskussion, ThLZ 130 (2005) 1273-1290, hier: 1275 unter Rekurs auf von Engelhardt, D., Krankheit, Schmerz und Lebenskunst. Eine Kulturgeschichte der Körpererfahrung, München 1999, 7. 12 Rothschuh, 1976, 1190. 13 Vgl. Janowski, B., Der Mensch im alten Israel. Grundfragen alttestamentlicher Anthropologie, ZThK 102 (2005) 143-175 und ders., Konfliktgespräche mit Gott. Eine Anthropologie der Psalmen. 50 Bernd Janowski - Wahrnehmung der Welt: das religiöse Symbolsystem Jede Religion, auch diejenige des alten Israel, verfugt schließlich über ein Symbolsystem bzw. ein Weltbild, mit dem sie die Autorität beansprucht, die Wirklichkeit im ganzen zu strukturieren und Interpretamente für die Lebensgestaltung des Einzelnen bereit zu stellen. Bei dem Versuch, das spezifisch alttestamentliche Konzept von Krankheit und Heilung und dessen anthropologische Dimensionen zu umreissen, treffen wir allerdings auf eine Grundschwierigkeit, nämlich auf die Frage nach den Kriterien für die Bestimmung der Krankheits- und Heilungspsalmen des Alten Testaments.14 K. Seybold15 hat zur Beantwortung dieser Frage vier Aspekte benannt, die ein komplexes Bild von Krankheit und Heilung im alten Israel vermitteln. Es sind dies: • Sprachelemente Krankheits- und Heilungsbezeichnungen wie „ חלהschwach, krank werden/sein“, „ כּאַבSchmerz empfinden, leidend sein“, „ צלעhinken, lahmen“ u.a. und חיה qal./pi./hif. „Wiederaufleben, genesen (lassen)“, „ חלםkräftig werden, erstarken“, „ רפאheilen“ u.a. •Vorstellungsformen Bestimmte Auffassungen über Tod und Leben, Scheol/-Motiv, Reste magischer Vorstellungen, Sünde-Strafe-Korrelation u.a. •Soziale Implikationen Vereinsamung, Aussatz, Ächtung, Anfeindung, kultische Unreinheit u.a. •Religiöse Praktiken Beschwörungen, Orakeleinholungen, Krankengebete, Bußriten, kultische Heilpraktiken u.a. „Heile mich, denn ich habe an dir gesündigt!“ (Ps 41,5) Dass sich dennoch ein relativ klares Bild von der Situation des Kranken ergibt, liegt nach Seybold daran, „ ... daß die besondere physische, psychische, soziale, religiöse Situation des Kranken bestimmte sprachliche Ausdrücke, feste Vorstellungen und Verhaltensformen in praxi hervorgebracht und ausgebildet hat, welche als Herkommen und Gewohnheit einen geradezu stereotypen Charakter annahmen und normativen Einfluß gewannen (bis hin zur Institutionalisierung). Die konventionierte Typik bildet darum einen Ersatz für fehlende begriffliche Klarheit und erweist sich gerade gegenüber der Psalmdichtung als vorteilhaft, insofern sie der Eigenart dieser Texte entgegenkommt.“16 Es gibt demnach so etwas wie ein Grundmuster des Krankheits- und Heilungsablaufs, das auf einer Kombination der genannten Einzelelemente beruht und das sich anhand von Texten wie Ps 6 (KE), 30 (DE), 38 (KE), 41 (DE mit Zitat eines KE), 69 (DE), 88 (KE), 102 (KE) und 116 (DE) idealtypisch darstellen lässt (Abb. 1). Diese Skizze veranschaulicht die Hauptlinie der alttestamentlichen Krankheitsund Heilungsdeutung: die Schuld/Sünde- bzw. Strafe/Krankheit-Relation und die Begnadigung/Heilung-Relation.17 Innerhalb dieses Gesamtrahmens gibt es einige Besonderheiten, die in unterschiedlicher Kombination in vielen Psalmen begegnen: die Elendsschilderung (A-C: göttlicher Schlag aufgrund von „Sünde“, Fall, Lebensminderung), das Scheolmotiv (D: Gottesferne, soziale Desgration, 29 38,2-15; 41,5-11 A 6,2-4;30,7f;14b-19 B Sphäre der Krankheit 6,6; 69,2-5.14b-19 102,4-8 C Gottesferne 6,6; 30,10; D 88,4ff. 11ff; 115,17 Unterweltsnähe 14 15 Seybold, K., Das Gebet des Kranken im Alten Testament. Untersuchung zur Bestimmung und Zuordnung der Krankheits- und Heilungspsalmen (BWANT 99), Stuttgart/Berlin/Köln/Mainz 1973, 98 ff.123 ff. 153 ff. 169 f unterteilt in Psalmen mit sicherem Bezuges 38; 41; 88; Ps III [syr.3 = 1 lQPs* 155), Psalmen mit wahrscheinlichem Bezug (Ps 30; 39; 69; 102; 103; Jes 38,9-20) und Psalmen mit unsicherem Bezug zu Krankheit oder Heilung (Ps 6; 13; 32; 51; 91), vgl. zur Sache auch ders. /Müller, U., Krankheit und Heilung (Biblische Konfrontationen), Stuttgart u.a. 1978, 11-79; Wolff, H. W., Anthropologie des Alten Testaments, München 72002, 211 ff; Scharbert, f., Art. Krankheit II, TRE 19 (1990) 680-683; Oeming, M., „Mein Herz ist durchbohrt in meinem Innern“ (Ps 109,22). Krankheit und Leid in alttestamentlicher Sicht, in: ders. (Hg.), Krankheit und Leid in der Sicht der Religionen, Osnabrück 1994, 5-28; ders.. Das Buch der Psalmen. Psalm 1-41 (NSK.AT 13/1), Stuttgart 2000, 75 f; Briend, /., Krankheit und Heilung im Alten Testament, WUB 18 (2000) 84 f; Ebner, M, Art. Krankheit und Heilung III, RGG4 4 (2001) 1730 f; Otto, £., Magie Dämonen - göttliche Kräfte. Krankheit und Heilung im Alten Orient und im Alten Testament, in: Ritter, W. H. I Wolf, B. (Hg.), Heilung - Energie - Geist. Heilung zwischen Wissenschaft, Religion und Geschäft, Göttingen 2005, 208-225 und Frevel, Chr., Art. Krankheit / Heilung, in: Berlejung, A. / Frevel, Chr. (Hg.), Handbuch theologischer Grundbegriffe zum Alten und Neuen Testament (HGANT), Darmstadt 2006, 284-288. Seybold, 1973, 17 ff.165 f, vgl. zur Sache auch Achenbach, R., Zum Sitz im Leben mesopotamischer und altisraelitischer Klagegebete. Teil II: Klagegebete des Einzelnen im Psalter, ZAW 116 (2004) 581-594, hier: 584 ff. 51 Sphäre der Heilung A’ 30,5 f. 12 f* 69,31-34; 116,12-19 B’ 30,2; 41,2-4.12f C’ 30,2-6; 144,7 f Abb. 1: Idealtypischer Krankheits- und Heilungsverlauf 16 Seybold, 1973, 167 f, vgl. ders.. Die Psalmen (HAT 1/15), Tübingen 1996, 133 und Gerstenberger, E. S., Art. Krankheit, NBL 2 (1995) 542-544, hier: 542 f 52 Bernd Janowski so dass man oft nicht entscheiden kann, „ob der Leidende krank, bedrückt, gefangen, bedrängt, bedroht ist“30. Die „Unvereinbarkeit der Bilder“31 macht es oft unmöglich, die „eigentliche Not“ des Kranken zu identifizieren. Und dennoch werden die verschiedenen Eindrücke vom erlebenden Ich zu einer Einheit zusammengefügt. Gunkel hatte diesen Vorgang folgendermaßen beschrieben: „Heile mich, denn ich habe an dir gesündigt!“ (Ps 41,5) 2.2 Psalm 41 als Beispieltext 1 Für den Chormeister. Ein Psalm Davids. 2 Selig, wer auf den Geringen achtet: Am Tag des Unheils wird JHWH ihn retten. JHWH wird ihn behüten und ihn am Leben erhalten, und er wird glücklich gepriesen im Land – ja, du wirst ihn nicht preisgeben der Gier (naepaes) seiner Feinde. JHWH wird ihn stützen auf dem Siechbett – sein ganzes Lager hast du gewendet in seiner Krankheit. 3 „Nicht auf eine naturgetreue Wiedergabe der äußeren Umstände legt er so sehr Gewicht als vielmehr auf das Mitteilen seines Inneren, auf das Aussprechen der Eindrücke, die das äußere Geschehen in ihm auslöst. Er will ,vor Jahve seinen Kummer ausschütten’ (Ps 102,1, vgl. Ps 42,5). So greift er nach Bildern, welche seine Qual und Not, seine Verlassenheit und Anfeindung mächtig und erschütternd widerspiegeln. In dem Maße, in dem der Stimmungswert eines Bildes seinem (sc. des Beters) seelischen Zustande nahekommt, wird dieses geeignet, Ausdruck seiner Empfindung zu werden. Und will eines nicht genügen, so häuft er sie, unbekümmert darum, ob ihre Bildflächen zusammenstimmen, wenn sie nur mit ihren brennenden Farben erschüttern und rühren, m.a.W. einen lebendigen Eindruck von dem geben, was in seiner Seele vorgeht.“32 F. Crüsemann ist diesem Thema erneut nachgegangen und hat die seit H.Gunkel virulente Frage nach der „eigentlichen Not“ der Klagenden noch einmal gestellt und die These von der „nicht monokausalen Sicht des Leides“ plausibel gemacht: „Vielleicht ist die Art, wie die Klagen die Not beschreiben, realistischer als die Annahme einer einzigen Verursachung. Diejenigen Texte, die nur einen Faktor erkennen lassen, sei es Krankheit, sei es Anklage, sind dann, wie es ihrer Zahl entspricht, eher Randformen, während die uns verwirrende Vielzahl von Faktoren eher den Normalfall darstellt, an dem sich die Gattung orientiert hat. Vielleicht hängen Wirkung und Verwendbarkeit der Texte bis zum heutigen Tag gerade mit dieser nicht monokausalen Sicht des Leides zusammen.“33 Die Krankheit besteht danach nicht nur in körperlichem, sondern auch in sozialem Leiden: in Missachtung34, Desintegration und Einsamkeit, kurz in der Zerstörung der Lebenswelt des Beters. Dementsprechend spiegelt die Gesundheit die Balance wider, die der einzelne in der Auseinandersetzung mit seiner Mitwelt und den darin enthaltenen Anforderungen immer wieder herstellen muss – wenn er es denn kann! Gemeinsam ist dem alttestamentlichen Gesundheits- und Krankheitsbegriff aber nicht nur die Interaktion zwischen Subjekt und Mitwelt, sondern auch die Einordnung dieser Interaktion in die theologischen Vorstellungen des JHWH-Glaubens. Dieser Zusammenhang lässt sich am Beispiel von Ps 41 in besonders eindrücklicher Weise studieren. 29 Vgl. Ps 22; 35; 69; «8; 102; 109 U. ö. 30 Seybold, 1996, 133. 31 (Gunkel/Begrich, 1933/^1984, 190. 32 Gunkel/Begrich, I933/41984, 190. 33 Crüsemann, 2003, 160. 34 Zur sozialen Mißachtung im alten Israel s. Janowski, 22006, 19 6 ff. 53 4 5 Ich selbst sprach: JHWH, sei mir gnädig! Heile mein Leben/mich (naepaes), denn ich habe an dir gesündigt! 6 Meine Feinde reden Böses über mich: ,Wann stirbt er und vergeht sein Name?’ 7 Und wenn einer kommt, (mich) zu sehen, redet sein Herz Falsches, er sammelt sich Unheil zusammen, er geht hinaus, er redet. 8 Gemeinsam zischeln über mich alle, die mich hassen, gegen mich ersinnen sie Böses für mich: 9 ,Eine Sache des Verderbens ist über ihn ausgegossen, und wer einmal liegt, steht nicht mehr auf!’ 10 Sogar der Mann meines Friedens, dem ich vertraute, der mein Brot aß, hat groß getan (= geprahlt) gegen mich. 11 Aber du, JHWH, sei mir gnädig und richte mich auf, damit ich ihnen vergelten kann! 12 Daran habe ich erkannt, daß du Gefallen an mir hast: daß mein Feind nicht über mich triumphieren kann. 13 Aber ich – in meiner Integrität hast du mich festgehalten und mich hingestellt vor dein Gesicht/dich in Ewigkeit. 14 Gepriesen sei JHWH, der Gott Israels, von Ewigkeit zu Ewigkeit! Amen und Amen. Ps 41 ist in seinem Kern ein als Gebet an JHWH stilisiertes Klagelied des Einzelnen (V. 5-11), das einerseits von einer weisheitlich-paränetischen Sentenz (V. 2-4) und andererseits von einem Dankbekenntnis (V. 12 f) gerahmt wird. Während V. 2 - 4 von JHWH überwiegend in der 3. Person sprechen – wobei V. 3b // V. 4b aber in die Anredeform, d.h. den Gebetsstil, übergehen –, blicken V. 12 f auf die Heilung und kultische Restitution des Beters voraus und nehmen dabei Elemente eines Danklieds des Einzelnen auf. Der mittels einer Zitationsformel (V. 5a) eingeleitete Rückblick auf die Not mit abschließender Bitte (V. 5-11) enthält nicht nur zwei Feindzitate (V. 6b.9), er wird auch von dem gleichlautenden Gebetsruf „JHWH, sei mir gnädig!“ (V. 5a.l la ) gerahmt. Schematisch dargestellt ergibt sich folgende Übersicht: 54 Bernd Janowski Überschrift 1 Für den Chormeister. Ein Psalm Davids Weisheitlich-paränetische Sentenz 2 Allgemeiner Makarismus 3-4 Explikation im Blick auf 3 Feindbedrängnis 4 Krankheit Klage mit abschließender Bitte 5a Zitationsformel a.b Bitte und Sündenbekenntnis 6-10 Notschilderung (= Feindklage) 11 Bitte und Vergeltungswunsch Dankbekenntnis 12 Erhörungsgewißheit 13 Kultische Reintegration Schlussdoxologie zum 1. Davidpsalter (Ps 3-41) 14 Gepriesen sei JHWH, der Gott Israels, von Ewigkeit zu Ewigkeit! Amen und Amen Den Hintergrund von Ps 41 bildet die Situation der Krankheit. Dennoch ist dieser Psalm kaum auf dem Krankenbett verfasst worden, sondern nur sein Mittelstück, nämlich das Klagegebet V. 5-11. Der Ort des Gesamtpsalms ergibt sich demgegenüber aus dem um diese Klage gelegten Rahmenteil V. 2-4 und V. 12 f, wonach der Psalm nach erfolgter Heilung des Beters (V. 4b.l3) zum Vortrag (im Tempel?) kam. Die Heilung des Kranken ist demnach in der Zeit zwischen dem Klagegebet auf dem Krankenlager (V. 5-II)35 und dem öffentlichen Vortrag des gesamten Psalms (V. 2-13) in der Kultgemeinde eingetreten. Die Situation des Beters, in der er diesen Psalm spricht, wird durch V. 12 f und besonders durch V. 13b („vor deinem Gesicht“) angegeben. Der Beter befindet sich danach „ ... in einer kultischen Situation ..., in der ohne Gebetsanrede und -formel die als präsent gedachte Gottheit und zugleich eine zuhörende Gemeinde angesprochen werden kann“36. Woraufhin er diese anspricht, macht die Klage V. 5-11 anhand der Korrelation von Sünde und Krankheit sowie von Leibsphäre und Sozialsphäre deutlich. a) Zur religiösen Dimension der Krankheit Im Zentrum von Ps 41 steht das ausführliche Klagegebet (V. 5-11), das nach einer Zitateinleitung (V. 5aa) zwei Bitten enthält: die eine um Erbarmen (V. 5ab // V. 11 aa) und die andere um Heilung (V. 5b): 35 Vgl. die Nennung des „Siechbetts“ in V. 1a. 36 Seybold, 1973, 109 (Hervorhebung im Original). „Heile mich, denn ich habe an dir gesündigt!“ (Ps 41,5) 55 Ich selbst sprach: JHWH, sei mir gnädig! Heile mich/mein Leben (naepaes), denn ich habe an dir gesündigt! Eine Heilungsbitte findet sich auch in anderen Klageliedern37, wobei Ps 6,2-438 besonders interessant ist, weil diese Bitte zeigt, dass „heilen“ ( )רפאnicht allein das Verbinden von Wunden, sondern das „Beleben“ von Leib und Seele meint: 2 JHWH, nicht in deinem Zorn weise mich zurecht und nicht in deiner Glut züchtige mich! 3 Sei mir gnädig ()חנן, JHWH, denn ich verdorre, heile mich ()רפא, JHWH, denn schreckensstarr ( בהלnif.) sind meine Gebeine! 4 Mein Leben ( )נפשist schreckensstarr sehr ( בהלnif.), du aber, JHWH – bis wann? Auch nach Ps 104 führt das Verbergen des göttlichen Gesichts zum „Erschrecken“( בהלnif.)39 aller Lebewesen und zum Entzug des lebenspendenden Odems. In seinem resümierenden Schlußabschnitt (V. 27-30) wird JHWH als Spender des Lebens gepriesen, d.h. die Erfahrung formuliert, dass die Versorgung mit Nahrung („Speise“ V. 27 f) und die Ermöglichung von Leben („Lebensgeist“ V. 29 f) Gaben des Schöpfergottes sind: 27 Sie alle (sc. Tiere und Menschen) warten auf dich, daß du ihnen Speise gibst zur rechten Zeit: 28 gibst du ihnen, so lesen sie auf, öffnest du deine Hand, so sättigen sie sich an Gutem; 29 verbirgst du ( סתרhif.) dein Gesicht, so erschrecken sie ( בהלnif.), nimmst du ihren Lebensgeist weg, so verscheiden sie und kehren zurück zu ihrem Staub; 30 sendest du deinen Lebensgeist aus, so werden sie geschaffen, und du erneuerst die Oberfläche des Erdbodens. Das Thema ,Lebensversorgung durch Gott’ klingt bereits in V. 13-15 (Gras für das Vieh und Pflanzen für die Arbeit des Menschen) und in V. 21 (Junglöwen „fordern, erbitten“ ihre Nahrung von Gott) an. In V. 27-30 ist die Angewiesenheit von Mensch und Tier darüber hinaus in das Bild einer kreatürlichen Sehnsucht nach dem lebenspendenden Gott gefasst, der seine Geschöpfe mit allem Lebensnotwendigen (Nahrung und Lebensodem) versorgt. Der Aspekt „Lebensgeist“ ( – )רוחGen 2,7 spricht in einem ähnlich grundsätzlichen Zusammenhang ebenfalls von „Lebensodem“ ( – )נשמהist dabei mit dem göttlichen Gesicht 37 Vgl. Ps6,3; 30,3; 60,4; 107,20; 1-17,3 u. ö. 38 Vgl. zu diesem Text und zur Frage nach einem etwaigen kultischen Sitz im Leben der Klagegebete, Achenbach, 2004, 584 ff. 39 Vgl. Janowski, 22006, 62 ff. Dass die Abwendung des göttlichen Gesichts den Einbruch des Chaos („Totenstille“) sowie die Auflösung aller sozialen Bindungen („Schutzdach“) zur Folge hat, ist auch ein Topos der mesopotamischen Gebetsliteratur, vgl. ders., 22006, 63 f. 56 Bernd Janowski verbunden, dessen Abwendung den Tod (V. 29)40 und dessen Zuwendung für alle Geschöpfe Leben (V. 30) bringt.4' Diese Todeserfahrung kann nach Ps 41 nur durch einen Akt der „Heilung“, durch eine „Wiederbelebung“ bzw. die Rückführung ins Leben42 überwunden werden. „Da die Krankheit als Ergriffenwerden vom Tod betrachtet wurde, ist Heilung ein Zurückführen ins Leben“43 - und zwar ein Zurückführen, das allein von „JHWH, dem Arzt“ - „Ich bin JHWH, dein (sc. Israels) Arzt“ (Ex 15,26) - bewerkstelligt werden kann.44 Mit dem Sündenbekenntnis von Ps 41,5bß - „Heile mich, den ich habe an dir gesündigt!“45 - deutet der Beter an, daß er um die Sünde als Ursache der Krankheit weiß. Vielleicht kennt er die Regel: „Heile mich, denn ich habe an dir gesündigt!“ (Ps 41,5) 57 16 Meinen Knecht rufe ich, und er antwortet nicht, mit meinem Mund muß ich ihn anflehen. 17 Mein Atem ist widerlich geworden meiner Frau, und den Söhnen des Leibes meiner Mutter ekelt es vor mir. 18 Sogar Buben weisen mich zurück; ich erhebe mich, und sie reden über mich. 19 Es verabscheuen mich die Männer meines Vertrauenskreises; die ich geliebt habe, sind von mir ganz umgewandelt. 20 An meiner Haut und meinem Fleisch kleben meine Knochen, und ich bin entronnen mit der Haut meiner Zähne. (Hi 19,13-20)49 Wer seine Vergehen bedeckt, wird keinen Erfolg haben, aber wer bekennt und ablässt, wird Erbarmen finden. (Spr 28,13)46 Die Feinde, die in Ps 41,6-10 auftreten und das Leiden des Beters definitiv zu machen suchen, gehören zu unterschiedlichen Gruppen: b) Zur sozialen Dimension der Krankheit Die anschließende Feindschilderung von Ps 41,6-10 erinnert in vielem an Hi 19,13-20, wo die Krankheit Hiobs nicht nur als körperliches Leiden (vgl. V. 17 und V. 20),47 sondern auch als psychische und soziale Bedrängnis geschildert wird, die durch das Verhalten der sog. In-Group, dem gewohnten Familien- und Freundeskreis, noch verstärkt wird:48 aus Nachbarn werden Fremde und aus Freunden Feinde. Sogar die Menschen aus der nächsten Umgebung Hiobs, seine Frau und seine Kinder, seine Mägde und Knechte, gehen auf Distanz und meiden den Kontakt mit dem Geschundenen: • Zuerst treten die sog. איבים-Feinde auf. Ihr Gegensatz zum Beter steigert sich zur Todfeindschaft, die sich vor allem im vernichtenden Wort äußert. Das Feindzitat V. 6b („Wann wird er sterben und sein Name vergehen?“) formuliert einen doppelten Todeswunsch: die damnatio vitae und die damnatio memoriae. Der physische Tod des Beters soll durch das Verschwinden seines „Namens“ ( )שםaus dem sozialen Gedächtnis der Gemeinschaft noch überboten und besiegelt werden. Auch in Ägypten kontrastiert das Todesbild der sozialen Isolation dem Lebensbild der sozialen Konnektivität. Dieses Lebensbild, so schreibt J. Assmann, 13 14 15 Meine Brüder hat er (sc. Gott) von mir entfernt, und meine Vertrauten sind mir fremd geworden. Es bleiben aus, die nah sind, und meine Bekannten vergessen mich. Die Schutzbefohlenen meines Hauses und meine Mägde halten mich für einen Fremden, und ein Ausländer bin ich geworden in ihren Augen. 40 Zu V. 29a vgl. außer Ps 13,2 noch Ps 10,1; 30,8; 44,25; 69,18; 88,15, 143,7 u.ö.; zu V.29b-30 vgl. Ps 146,4; Hi 10,12; 12,10 und 34,14 f. 41 Zum Zusammenhang von ,Lebensodem' und ‚Lebendigkeit’ vgl. Wolff, 7 2002,96 ff. 42 Vgl. Ps 41,3a: היהpi. „beleben, am Leben erhalten“! 43 Lohfink, N., „Ich bin Jahwe, dein Arzt“ (Ex 15,26). Gott, Gesellschaft und menschliche Gesundheit in einer nachexilischen Pentateuchbearbeitung (Ex15,25b.26), in: ders., Studien zum Pentateuch (SBAB 4 ) , Stuttgart 1988, 9 1 -1 5 5 , hier: 126 Anm. 102, vgl. zur Sache Niehr, H,. JHWH als Arzt, Herkunft und Geschichte einer alttestamentlichen Gottesprädikation, BZ 35 ( 1 9 9 1 ) 3 - 1 7 , hier: 11 f. 44 Vgl. Dtn 32,29 f; 1 Sani 2,6; Hos 6,1 und zur Sache Lohfink, 1988, 1 2 1 ff und Brown, M. /.., Art. רפא, ThWAT 7 (1993) 617-625, hier: 623 f. 45 Vgl. 2 Sam 12,13 und Hi 33,27 f. 46 Vgl. Hossfeld, F.-L./ Zenger, E., Die Psalmen I. Psalm 1-50 (NEB 29), Würzburg 1993, 263 (Hossfeld) 47 Vgl dazu Lang, B., Ein Kranker sieht seinen Gott, in: ders. Wie wird man Prophet in Israel? Aufsätze zum Alten Testament, Düsseldorf 1980, 137- 148, hier: 138 f. 48 Vgl. Ps 27,10; 31.12; 35,13 f; 38.10-15; 4 1 , 6 f.10; 55,14 f; 69,9; 88,9.19 u. o. „ ... läßt sich am besten von zwei Sprichwörtern her erschließen ... Das eine lautet: ,Der eine lebt, wenn der andere ihn geleitet’, und bezieht sich vor allem auf das Leben vor dem Tode. Das andere lautet: ,Der eine lebt, wenn sein Name genannt wird’, und bezieht sich vor allem auf das Leben nach dem Tode. Beide aber beziehen sich auf einen Begriff des Lebens, der auf dem Prinzip der sozialen ,Konnektivität’ basiert. Einer allein ist gar nicht lebensfähig bzw. im vollen Sinne lebendig. Da muß ein anderer dabei sein, der ihn geleitend an die Hand nimmt. Dafür ist er aber auch keineswegs tot, solange es noch Menschen gibt, die seinen Namen nennen, solange das Band der Konnektivität nicht zerrissen ist.“50 • Nach Ps 41,7 („Und wenn einer kommt, [mich] zu sehen ...“) machen offenbar Nachbarn und/oder Verwandte (?) einen Krankenbesuch. Dieser Feind macht dreierlei: sein Herz, das Zentralorgan des Menschen, 51 redet „Falsches“ ()שוא, er sammelt sich „Unheil“ ()און, d.h. Belastungsmaterial an und geht damit hinaus52 um es auf der Straße oder Gasse weiterzuerzählen. Der AbschnittV.8f, 49 Übersetzung Ebach, J., Streiten mit Gott. Hiob, Teil 1: Hiob 1-20, Neukirchen-Vluyn 1996, 151 f. s. zu diesem Text auch Seybold, 1973, 51 ff. 50 Assmann, J., Tod und Jenseits im Alten Ägypten, München 2001, 54 (Hervorhebung im Original), vgl. 73 u.a. Wie die Namengebung ein schöpferisch-aneignender bzw. anerkennender Akt ist, so ist das Vergehen des Namens gleichbedeutend mit der Tilgung jeglicher Erinnerung an seinen Träger, vgl. Hossfeld/Zenger, 1993, 263 (Hossfeld) und Keel, O./ Schroer, S., Schöpfung. Biblische Theologien im Kontext altorientalischer Religionen, Göttingen/Freiburg (Schweiz) 2002, 135. 51 vgl. dazu Janowski, 2 2006, 166 ff. 52 Zu beachten i s t der Kontrast „sein Herz“ (innen) - „nach draußen“ (außen). 58 „Heile mich, denn ich habe an dir gesündigt!“ (Ps 41,5) Bernd Janowski der die bisherige Feindschilderung vervollständigt, ist mit großer Sensibilität für (sozial-)psychologische Vorgänge formuliert. Denn die „Sache des Verderbens“, die die Feinde dem Kranken anhängen wollen, geht bei Licht besehen von ihnen selbst aus. In Spr 6,12-15 kann man nachlesen, wie ein solcher Mechanismus funktioniert: 12 Ein belija 'al-Mensch, ein Unheils-Mann (ist), wer wandelt in Falschheit des Mundes, 13 mit seinem Auge zwinkert, mit seinem Fuß scharrt, mit seinen Fingern deutet. 14 Aus Tücke in seinem Herzen richtet er Böses an, immerzu entfacht er Streit. 15 Darum: Plötzlich wird sein Unglück kommen, schlagartig wird er zerschmettert, und es gibt keine Heilung.53 • Mit dem Auftreten des „Mannes meines Friedens“ ( )איש לומיund des „Essers meines Brotes“ ( )אכל לחמיerreicht die Feindbeschreibung ihren durch „sogar“ ( )נםeingeleiteten Höhepunkt. Der „Mann meines Friedens“, also der Mensch, mit dem der Beter bisher in Schalom zusammenlebte,54 war der, dem der Beter vertraute ( )בטחund mit dem er die Mahlgemeinschaft pflegte. Dieser „prahlt“ nun gegen ihn. Das Ungeheuerliche dieses Vertrauensbruchs machen Hi 19,19 und vor allem die „Freundklagen“ Ps 55,13-15 und Sir 37,2 deutlich: Ist es nicht ein Kummer, der bis an den Tod heranreicht, wenn ein Freund, der dir ganz nahe steht, sich in einen Feind verwandelt? (Sir 37,2)56 Die Feindschilderung Ps 41,5-11, die eine kleine Phänomenologie des sozialen Todes 57 darstellt, ist ausgesprochen dramatisch. Sie beginnt mit dem vernichtenden Todeswunsch zunächst außenstehender „Feinde“ (V. 6), lässt dann einen einzelnen Krankenbesucher (Nachbar oder Familienangehöriger?), der die Hilflosigkeit des Beters ausnutzt, auftreten (V. 7) und begleitet diesen vom Krankenbett nach draußen auf die Straße, wo man bereits dabei ist, dem Opfer mittels Zusammenrottung und regelrechter Todesdeklaration den Garaus zu machen (V 8 f). Damit nicht genug, tritt auch noch der vertraute Freund in Erscheinung, der aus der Menge der Feinde hervorsticht, weil er zur unmittelbaren Umgebung des Geschundenen gehörte (Tischgemeinschaft)58 und jetzt zur höchsten Gefahr für ihn geworden ist. Dieser Kontrast von intimer Nähe und höchster Gefahr wird in V. 10 mit der Steigerungspartikel „sogar“ eingeführt: „Feinde“, Nachbar(n), Verwandte 6 Todeswunsch: „Wann wird er sterben ...?“ 7 Krankenbesuch: Falsches reden // Unheil sammeln 8 Zusammenrottung: zischeln // Böses planen 9 Todesdeklaration: „Eine Sache des Verderbens ...“ Vertrauter Freund 10a Der Mann meines Friedens a.b Der mein Brot aß Es verabscheuen mich die Männer meines Vertrauenskreises; die ich geliebt habe, sind von mir ganz umgewandelt. (Hi 19,19) 13 Ja, wenn ein Feind mich schmähte, ich würde es ertragen. Wenn mein Hasser über mich großgetan hätte, ich würde mich vor ihm verbergen. 14 Aber du, ein Mensch meinesgleichen, mein Vertrauter, mein Bekannter, 15 die wir gemeinsam süß machten den Kreis, im Hause Gottes wandelten wir im Getöse der Menge. (Ps 55,13-15)55 53 54 55 Im Übrigen lässt sich - trotz der Unterschiede zwischen dem Hiobbuch und den Krankenpsalmen des Psalters – aus Hi 2,11-13 ersehen, wie sich die Krankenbesucher von Ps 41,6-9 hätten verhalten sollen: die drei Freunde Hiobs „verabredeten sich hinzugehen, um ihn (sc. Hiob) zu beklagen und ihn zu trösten“ (V. 11). Schon von fern erhoben sie ihre Augen „(12) und erkannten ihn nicht wieder. Da erhoben sie ihre Stimmen und weinten. Sie zerrissen ein jeder sein Obergewand und streuten Asche auf ihr Haupt zum Himmel hin. (1 3 ) Dann setzten sie sich zu ihm auf die Erde, sieben Tage und sieben Nächte lang. Keiner sprach ein Wort, denn sie sahen, daß der Schmerz sehr groß war“, vgl. dazu die Auslegung von Lohfink, N., Enthielten die im Alten Testament bezeugten Klageriten eine Phase des Schweigens?, in. VT 12 (1962), 260-277, hier: 263 ff. Vgl. Jer 20,10; 38,22 und Ob 7. Übersetzung Hossfeld, F.-L I Zenger. fc\, Psalmen 51-100 ( I I ThK.AT), I-Yeiburg/Basel/Wien 2000, 94 (Hossfeld). Zum Ausdruck „Freundklage“ vgl dies., 2000, 97.100 (Hossfeld) und bereits Keel, 59 Die Feindschaft gegen den Kranken äußert sich nach Ps 41,8 als „Haß“, der sich gleichsam konspirativ entlädt: „alle“, die ihn hassen, zischeln gegen den kranken Beter und planen Unheilvolles gegen ihn. Worin dieses Unheil besteht, sagt die Todesdeklaration V. 9 mit Hilfe der seltenen Wendung „eine Sache des Verderbens“ (רֿֿבליעל ֿ )דב,59 die auf den Kranken wie eine Flüssigkeit „ausgegossen“ ist ()יצק. Damit wird, genau wie in Ps 18,5 f, das Bild eines Menschen evoziert, der bereits die Unterwelt betreten und deren lebenzerstörende Macht erfahren hat: 56 57 58 59 O., Feinde und Gottesleugner. Studien zum Image der Widersacher in den Individualpsalmen (SBM 7), Stuttgart 1969, 132 ff, ferner Bauks, M, Die Feinde des Psalmisten und die Freunde IJobs. Untersuchungen zur Freund-Klage im Alten Testament am Beispiel von Ps 22 (SBS 203), Stuttgart 2004, 76 ff. In Sir 37,1-6 ist auch von der Tischgemeinschaft mit dem Freund die Rede, die aber in der Zeit der Not zerbricht: „Wie schlecht ist ein Freund, der zwar mit dir am Tisch sitzt, in der Zeit der Not aber gegen dich aufsteht!“ (V. 4). Zum Begriff ,Sozialer Tod' s. Janowski, 22OO6, 47 f. Der Aspekt der sozialen Nähe und ihres Missbrauchs kommt außer in den genannten Texten auch in Ps 35,13 f, vgl. Jer 20,7-18 u. ö. zum Ausdruck, vgl. dazu Bau, U., Gegen das Schweigen klagen. Eine intertextuelle Studie zu den Klagepsalmen Ps 6 und Ps 55 und der Erzählung von der Vergewaltigung Tamars, Gütersloh 1998, 171 ff. Vgl. Ps 18,5 und 101,3. 60 Bernd Janowski „Heile mich, denn ich habe an dir gesündigt!“ (Ps 41,5) 61 5 Schlingen des Todes ( )חבלי מותumgaben mich, und Ströme des Verderbens ( )נחלי בליעלerschreckten mich. 6 Stricke der Unterwelt ( )חבלי שאולumfingen mich, Fangnetze des Todes ( )מוקשי מותnäherten sich mir. 60 Im Licht dieser Klage deutet die Todesdeklatation von Psalm 41,9 an, dass der Beter in den Augen seiner Feinde bereits von chaotischen „Strömen des Verderbens“ (Ps 18,5b) erfaßt und allseits umgeben ist.61 Da das Wort בליעל, wie auch die Semantik von Ps 18,5 f zeigt,62 einen Bezug zum Chaotischen hat, wird es vorzugsweise für das Gottfeindliche und Gemeinschaftswidrige benutzt.63 Eine Sachparallel für diese kosmische Dimension der Krankheit bietet das berühmte Bronzetäfelchen aus Assur (Abb. 2), 64 wonach sich der Kranke dem Wirken dämonischer Kräfte ausgesetzt sah und auf die kämpferische Überwindung der bösen durch die guten Mächte hoffte. Im Hintergrund dieser und ähnlicher Darstellungen steht ein spezifisches Konzept von Krankheit und Heilung, das auf der engen Korrelation von magisch-religiösen und medizinisch-therapeutischen Aspekten basiert und das sich besonders durch seine weltbildhafte, auf das Verhältnis zwischen dem erkrankten Menschen und den Göttern ausgerichtete Dimension auszeichnet.65 Abb. 2: Assyrisches Lamactu-Amulett (Anfang 1. Jt. v. Chr.) 60 61 62 63 64 65 Zur Chaostopik von Ps 18,5 f vgl. Adam, K.-P., Der königliche Held. Die Entsprechung von kämpfendem Gott und kämpfendem König in Psalm 18 (WMANT 91), Neukirchen-Vluyn 2001, 55 ff. Das Gefühl, von den Feinden eingekreist, umlagert und wie in einem Netz gefangen oder gebunden zu sein, ist typisch für die Leiderfahrung der Klagelieder des einzelnen, vgl. dazu Lamp, E / Tilly, M., Öffentlichkeit als Bedrohung. Ein Beitrag zur Deutung des ,Feindes' im Klagelied des Einzelnen. BN 50 (1989) 46-57, hier: 51 f. Zu beachten ist der Chiasmus „Tod“ – „Verderben“ (V. 5) x „Unterwelt“ – „Tod“ (V. 6). Zur Bedeutung von בליעלvgl. Otzen, R, Art. בליעל, ThWAT 1 (1973) 654-658 und Adam, 2001, 55 Anm. 37-39. Zur Beschreibung vgl. Janowski, 2006, 191. Vgl. dazu etwa Maul, S. M, Die „Lösung von Bann“: Überlegungen zu altorientalischen Konzeptionen von Krankheit und Heilkunst, in: Horstmanshoff, H.F.J ./ Stol, M. (ed.), Magic and Rationality in Ancient Near Eastern and Graeco-Roman Medicine (Studies in Ancient Medicine 27), Leiden/Boston 2004, 79-95, ferner Achenbach, R., Zum Sitz im Leben mesopotamischer und altisraelitischer Klagegebete, Teil I: Zum rituellen Umgang mit Unheilsdrohungen in Mesopotamien, ZAW 1 16 (2004) 364-378, hier: 367 ff. Legende zur Abbildung: Dieses assyrische Bronzetäfelchen aus dem Anfang des 1. Jahrtausends v. Chr. gibt einen authentischen Einblick in die geistige Welt des Kranken, wie sie uns auch Ps 41 und andere Krankenpsalme (Ps 38; 88 u. ö.) vermitteln. Im mittleren Register sieht man, wie der Kranke – ein erwachsener Mann – auf seinem Lager liegt und seine Hände zu den großen Göttern erhoben hat, die im oberen Register mit ihren Symbolen dargestellt sind: Anu (Hörnermütze), Ea (Widderkopf), Adad (Blitzbündel), Marduk (Grabstock), Nabu (Schreibzeug), Istar (Venusstern), Samas (Flügelsonne), Sin (Mondsichel) und Sebettu (Siebengestirn). Am Kopf- und Fußende seines Bettes agieren zwei in Fischmasken gekleidete Beschwörungspriester (asipu) mit Reinigungsgefäßen, in die sie offenbar Pflanzenbüschel eintunken, um den Kranken damit zu besprengen. Das Ganze spielt sich – wie die brennende Öllampe links zeigt – wohl nachts ab. Was die Szenerie bedeutet, ergibt sich aus dem unteren Register: die Fieberdämonin Lamastu mit Löwenkopf, doppelköpfigen Schlangen in jeder Hand und den unreinen Tieren Schwein und Hund an ihren Brüsten wird vom Dämon Pazuzu bedroht und aus der Umgebung des Kranken auf einem Boot auf die Reise über den Ulaja-Fluß und 62 Bernd Janowski „Heile mich, denn ich habe an dir gesündigt!“ (Ps 41,5) 63 das Meer geschickt (sog. Reiseszene). Sie kniet auf einem Onager (eine Art Wildesel), der in einem Schilfboot mit hochgezogenen Tierprotomen steht. Der Gestus der Vertreibung (erhobene Rechte) wird im zweiten und im dritten Register von Tiermasken tragenden Kultaktanten mitvollzogen und so verstärkt. Über den oberen Rand des Amuletts schaut der Kopf des apotropäischen Dämons Pazuzu („Packer“), der noch einmal auf dem unteren Register erscheint, wie er die Fieberdämonin vertreibt. – Aber so, als würde ihm dieser Vergeltungswunsch im Hals stecken bleiben, gibt der Beter in V 12 – „Daran habe ich erkannt, dass du Gefallen an mir hast: dass mein Feind nicht über mich triumphieren kann“ – der Erkenntnis Raum, dass Ende des Feindes auch ganz andere Gründe haben kann, als er es sich in seiner Not vorzustellen vermag.70 Wie man sieht, spielt die Symbolik der Tiere bei der mesopotamischen Heilungsprozedur eine zentrale Rolle: „Reine (genießbare) Tiere scheinen die positiven, unreine (ungenießbare) die negativen Mächte zu vergegenwärtigen. Dabei ist zu beachten, dass jede Kultur ihre eigenen Reinheitskriterien entwickelt hat. Einige Tiere allerdings haben, wie übrigens die Dämonen selber, ambivalenten Charakter und verkörpern beide Mächte (Löwe, Schlange)“66. Daneben treten Beschwörungspriester in Fischkostümen und Löwenmasken auf, während weitere Gestalten mit Tiermasken zwischen der Welt der oberen Götter (oberes Register) und der Welt der Menschen (mittleres Register) vermitteln. Sogar die Krankheit wird als tiergestaltiges Mischwesen dargestellt (Fieberdämonin Lamastu). Wichtig für unseren Zusammenhang ist schließlich der kosmische Aspekt der Darstellung. Denn der Fall des Kranken zieht „weite Kreise auf Erden, in zwei unteren und einem oberen Weltbereich (früher wurde vom ,Hadesrelief’ gesprochen), setzt Bewegungen in Gang, die im Sozialen, im KultischRituellen beginnen und die ganze belebte Welt berühren, Götter, Dämonen, löst Kämpfe im Zwischenbereich aus, wo die Geister um den Kranken streiten, und erst der Einsatz der oberen Weltkräfte durch die Ea-Priester vermag ihn zu retten“67. Kehren wir von hier aus zu Ps 41 zurück: Die Bitte von V. 11 beginnt nach der doppelten Anrufung „Aber du, JHWH“ mit der Bitte um Erbarmen ()חנן „gnädig sein“, vgl. V. 5a) und um Wiederaufrichtung ( קוםhif. „aufstehen lassen“).68 Befremdlich und singulär ist aber die Schlussbitte um das vergeltende Abrechnen des Beters mit seinen Feinden (V.11b). Im Zusammenhang der Racheproblematik hatte ich von der schmalen Grenze gesprochen, auf der sich die Klagepsalmen zwischen Racheanmaßung und Racheverzicht bewegen. Diese Grenze wird hier in Richtung einer Selbstermächtigung des Beters zur Rache überschritten. Damit widerspricht er der auch sonst beherzigten Mahnung von Spr 20,22: „Säkulare Sprachen“, so urteilte J. Habermas in seiner Friedenspreisrede von 2001, „die das, was einmal gemeint war, bloß eliminieren, hinterlassen Irritationen. Als sich Sünde in Schuld, das Vergehen gegen göttliche Gebote in den Verstoß gegen menschliche Gesetze verwandelte, ging etwas verloren.“71 Wenn deshalb an die Stelle von bloßer Elimination des einmal gemeinten Sinns dessen einfühlende Rekonstruktion tritt und diese Rekonstruktionsarbeit das Proprium der historischen Wissenschaften ist,72 besteht auch für eine postsäkulare Gesellschaft die Chance des Verstehens von Zusammenhängen, derer man bei einseitiger Betrachtung nicht ansichtig werden kann. Am Beispiel ausgewählter Krankheits- und Heilungspsalmen des Alten Testaments haben wir das Ausdruckspotential und die Eigenbegrifflichkeit skizziert, die als Kennzeichen der religiösen Sprache einer vorneuzeitlichen, darum aber nicht einfach irrationalen Logik verpflichtet ist. Diese Logik hat ihr Zentrum im Begriff der „Konstellation“, der seinerseits auf die komplexen Beziehungen und Grundsituationen verweist, die dem menschlichen Leben Sinn und Richtung verleihen.73 Für unser Thema sind dabei drei Aspekte von Bedeutung, die abschließend noch einmal hervorzuheben sind: Sage nicht: ,Ich will Böses vergelten (’!)אשלמה רע Hoffe auf JHWH, dann wird er dich retten!69 66 Staubli, Th., Warum man Hühner aß, aber keine Schweine. Biblische Speisetabus und ihre Folgen, in: Keel, O./ Staubli, Th. (Hg.). „Im Schatten deiner Flügel“. Tiere in der Bibel und im Alten Orient, Freiburg/Schweiz, 2001, 46-57, hier: 52, vgl. zur Sache auch Janowski, B. / Neumann-Gorsolke, U., Reine und unreine Tiere, in: Janowski, B. u.a. (Hg.), Gefährten und Feinde des Menschen. Das Tier in der Lebenswelt des alten Israel, Neukirchen-Vluyn 1993, 214-218. 67 Seybold/Müller, 1978, 24 (Seybold). 68 Vgl. die Kontrastformulierung aus dem Mund der „Hasser“ V. 9b: „und wer einmal liegt, wird nicht wieder aufstehen“ ( קוםqal). 69 Vgl auch Ps 31.24; 62,13; 943 und 109,15.20. 3 Krankheitsdeutung im Horizont einer konstellativen Anthropologie 3.1 Gottesverhältnis und Selbstverhältnis Das alttestamentliche Konzept von Krankheit und Heilung, wie es beispielhaft in Ps 41 zu Tage tritt, hat zunächst eine religiöse und eine soziale Dimension. Die religiöse Dimension der Krankheit zeigt sich daran, dass „Sünde“, die der kranke Beter nach Ps 41,5 vor Gott bekennt, das Zerbrechen und die Verkehrung – das Alte Testament spricht von „Verfehlung“74 – lebensförderlicher Balancen bedeutet. 70 Wir berühren damit wieder die Frage, wie in den Klageliedern des Einzelnen das Ende des Frevnlers/Feindes dargestellt wird. Die Antwort ist in der Regel: Die Frevler/ Feinde gehen am Selbst zerstörerischen ihres Tuns zugrunde, während JHWH die Gerechten aus ihrer Not/ vom Tod errettet, s. dazu jetzt Sticher, C, Die Rettung der Guten durch Gott und die Selbstzerstörung der Bösen. Ein theologisches Denkmuster im Psalter (BBB 137), Berlin/Wien 2002 und Janowski, B. Freude an der Tora. Psalm 1 als Tor zum Psalter, EvTh 67 (2007) 18-31, hier: 26 f. 71 Habermas, 2001,24, vgl. oben. 72 Vgl. dazu Brown, P., Wissenschaft und Phantasie, in: ders.. Die Gesellschaft und das Übernatürliche (Kleine Kulturwissenschaftliche Bibliothek 40), Berlin 1993, 7-20. 73 S. dazu oben. 74 „ חמאsich verfehlen“, „ חטאתVerfehlung“, vgl. dazu und zu den anderen Sündentermini des Alten Testaments Knieriem, R.P., Zur Gestalt alttestamentlicher Hamartiologie. in: Brandt, .S. / Suchocki. 64 Bernd Janowski Das Kriterium für Lebensförderlichkeit ergibt sich aus der Grundüberzeugung Israels von der „konstitutive(n) Bindung des Lebens an JHWH“75, die alle Daseinsäußerungen prägt und je nach Situation unterschiedlich konkretisiert wird. 3.2 Leibsphäre und Sozialsphäre Im Unterschied zur Moralisierung des Sündenverständnisses mit ihrer Dissoziierung von Selbstbeziehung und Sozialbeziehung76 wird das Problem der Sünde nach alttestamentlichem Verständnis nicht auf die individuelle Person eingeschränkt, sondern immer auch auf den sozialen Kontext bezogen, in dem diese sich bewegt. Diese soziale Dimension der Krankheit zeigt sich an der Korrelation von Leibsphäre und Sozialsphäre, d.h. daran, dass der Raum des Sozialen, wie Ps 41,6-10 plastisch vor Augen führt, von einer Konfliktstruktur geprägt ist, die aufgelöst werden muss, damit Heilung geschehen und Gerechtigkeit/Gemeinschaftstreue wieder Platz greifen kann. 3.3 Leben und Tod Eine grundsätzliche Frage ist schließlich diejenige nach der medizinischen Diagnostik und Therapeutik, für die es im Alten Testament keine begriffliche Klarheit gibt.77 Stattdessen ist von einer „konvenionierten Typik“78 auszugehen, die immer auf den Gesamtrahmen einer religiösen Daseinsbewältigung bezogen bleibt. Im Vordergrund steht nicht die exakte „wissenschaftliche“ Krankheitsdiagnose, sondern die „subjektive Empfindung des gestörten Lebens“79, also das Erlebnis des drohenden Todes, der die definitive Trennung von JHWH, dem Gott des Lebens, bedeutet. Diese Auffassung von Leben und Tod ist der Erfahrungs- und Deutungshorizont, in den alle Widerfahrnisse von Krankheit und Heilung im alten Israel eingeordnet wurden. Von hier aus dürfte es eine Brücke zum Verständnis des Lebendigen geben, das auch der postsäkularen Gesellschaft nicht gänzlich abhanden gekommen ist. 75 76 77 78 79 M. H. I Welker, M. (Hg.), Sünde. Ein unverständlich gewordenes Thema, Neukirchen-Vluyn 1997, 71-114, hier: 78 ff. Leuenberger, M, „Dein Gnade ist besser als Leben“ (Ps 63,4). Ausformungen der Grundkonstellation von Leben und Tod im alten Israel, Bib. 86 (2005) 343-368. hier: 366 Vgl. dazu von Soosten, J., Die „Erfindung“ der Sünde. Soziologische und semantische Aspekte zu der Rede von der Sünde im alttestamentlichen Sprachgebrauch, JBTh 9 (1994) 87-110, hier: 87 f. Vgl. Seybold, 1973, 168. Seybold, 1973, 16«. Brunert, 1996. 116.